15. Wanderung

Ich nahm den Stab zu wandern,
Durch Deutschland ging die Fahrt,
Man pries mir ja vor andern
Der Deutschen Sinn und Art.
Dem Lande blieb ich ferne,
Wo die Orangen glühn;
[77]
Erst kennt ich jenes gerne,
Wo die Kartoffeln blühn.
Ich kam zum Fürstenhofe,
Wo man die Künste kränzt,
Wo Prunksaal und Alkove
Von Götterbildern glänzt.
Ein Baum, der nicht im groben
Volksboden sich genährt,
Nein einer, der nach oben
Sogar die Wurzeln kehrt!
Ich ging zur Hohenschule,
Da schöpft ich reines Licht,
Wo vom Prophetenstuhle
Die wahre Freiheit spricht;
Wo uns der Meister täglich
Den innern Sinn befreit,
Indes ihm selbst erträglich
Der ird'sche Leib gedeiht.
Ich schritt zum Sängerwalde,
Da sucht ich Lebenshauch;
Da saß ein edler Skalde
Und pflückt' am Lorbeerstrauch;
Nicht hatt er Zeit, zu achten
Auf eines Volkes Schmerz,
Er konnte nur betrachten
Sein groß, zerrissen Herz.
Ich ging zur Tempelhalle,
Da hört ich christlich Recht:
Hier innen Brüder alle,
Da draußen Herr und Knecht!
Der Festesrede Giebel
War: duck dich! schweig dabei?
Als ob die ganze Bibel
Ein Buch der Kön'ge sei.
Ich kam zum Bürgerhause,
Gern denk ich dran zurück,
[78]
Fern vom Parteigebrause
Blüht Tugend hier und Glück.
Lebt häuslich fort wie heute!
Bald wird vom Belt zum Rhein
Ein Haus voll guter Leute,
Ja! ein Gutleuthaus sein.
Ich ging zum Hospitale,
Da fand ich alles nett,
Viel Grütz und Kraut zum Mahle
Und reinlich Krankenbett;
Auch sorgt ein schön Erbarmen
Für manch verwahrlost Kind.
Wer denkt des Volks von Armen,
Die altverwahrlost sind?
Ich saß im Ständesaale,
Da schlief ich ein und träumt,
Ich sei noch im Spitale,
Den ich doch längst geräumt.
Ein Mann, der dort im Fieber,
Im kalten Fieber lag,
Er rief: nur nichts, mein Lieber,
Nur nichts vom Bundestag!
Ich mischte mich zum Volke,
Das nach dem Festplatz zog,
Wo durch die Staubeswolke
Manch dürrer Renner flog;
Da lernt es, daß die Eile
Den Reiter überstürzt
Und daß man gut die Weile
Mit Wurst und Bier sich kürzt.
Ein Adler, flügelstrebend,
War Reichspanier hievor,
Ich sah ihn noch, wie lebend,
Zu Nürnberg an dem Tor.
Jetzt fliegt man nicht zum Zwecke,
Der Wahlspruch ist: Gott geb's!
Das Wappen ist die Schnecke,
Schildhalter ist der Krebs.
[79]
Als ich mir das entnommen,
Kehrt ich den Stab nach Haus;
Wann einst das Heil gekommen,
Dann reis ich wieder aus:
Wohl werd ich's nicht erleben,
Doch an der Sehnsucht Hand
Als Schatten noch durchschweben
Mein freies Vaterland.
[80]

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TextGrid Repository (2012). Uhland, Ludwig. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Vaterländische Gedichte. 15. Wanderung. 15. Wanderung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-70A2-2