Die Grotte der Nacht

Wohin wird mein Gesang verschlagen?
Der Ocean ist voller Glut:
Denn Titan kommt; sein strahlenreicher Wagen
Schwebt feurig über blauer Fluth:
Indessen auf bethauten Schwingen
Die braune Nacht entlassen flieht,
Und Nymphen sie zu ihrer Grotte bringen,
Die kein unheilig Auge sieht.
Wird meinem Blick im tiefsten Meere
Dort ihre Herrschaft aufgethan?
Es trennen sich erschrockner Schatten Heere;
Sie machen mir entfliehend Bahn.
O Ruh! o welch ein heilig Schweigen
Beherrscht ihr schattigtes Revier!
Kein Vogel schwatzt auf düstrer Ulmen Zweigen;
Der muntre West entschlummert hier.
[118]
Ein zitternd Schimmern bleicher Kerzen
Erleuchtet ihren dunkeln Sitz,
Wo rings umher die leichten Träume scherzen,
Geflügelt, wie der schnelle Blitz.
Von welchem angenehmen Kinde
Kommt hier der schöne Morgentraum?
Seht! Phantasus hüllt sich in rauhe Rinde
Und grünt, beblättert, als ein Baum.
Nun, da in junger Nymphen Händen
Gedämpfter Saiten Scherz erklingt:
Ertönt ein Lied von muschelreichen Wänden,
Das eine der Najaden singt.
Geneuß die Ruhe, die du zeugest,
O Göttin! singt sie; holde Nacht!
Der Lärm entschläft, wenn du zum Himmel steigest;
Und nur der Progne Schwester wacht.
Wie leise gehn in feuchten Büschen
Die Winde durch den finstern Hayn!
Die Ruhe will, was Odem schöpft, erfrischen:
Doch können Menschen ruhig seyn?
Umsonst sind ihre müden Glieder
Auf Sidons Purpur hingestreckt,
Wenn Mitternacht mit schweigendem Gefieder
Den Marmor der Paläste deckt:
Umsonst sind schwanenweiche Betten,
Bey stürmischer Begierden Wuth:
Der kranke Geist schleppt seine Sklaven-Ketten,
Stets ohne Ruh, wann alles ruht.
[119]
Der Mensch entflieht beblühmten Pfaden,
Wo ihm die stille Freude winkt.
Das Gute selbst misbraucht er sich zum Schaden:
Zu Gift wird Necktar, den er trinkt.
Wenn Tantalus im höchstem Glücke
Selbst an der Götter Tafel sitzt:
Denkt nicht sein Herz auf schwarze Bubenstücke,
Noch da ihn Himmelstrank erhitzt?
Fern von Olymps gestirnter Schwelle
Verbannt ihn Jupiters Entschluß:
Unseliger! ihn peinigt eine Hölle,
Mehr Hölle, denn der Tartarus.
Sein Reichthum wird ihm zum Verdrusse,
Zum Qual-Gepränge des Gesichts:
Er hungert, arm, in vollem Ueberflusse,
Hat alles und genießet nichts.
Wenn Wolken meinen Geist umziehen,
Durch stürmischer Begierden Wuth:
Beruhig' ihn mit süssen Harmonien,
O Muse, die auf Rosen ruht!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Uz, Johann Peter. Gedichte. Sämtliche poetische Werke. Lyrische Gedichte. Viertes Buch. Die Grotte der Nacht. Die Grotte der Nacht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-73B9-5