Jules Verne
Das zweite Vaterland


1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Die Wiederkehr der schönen Jahreszeit. – Fritz und Jack. – Die Abfahrt des Kajak. – Besuch der Haifischinsel. – Feuer aus zwei Geschützen. – Drei Kanonenschüsse auf dem Meere.

Die schönere Jahreszeit begann wieder in der zweiten Woche des Octobers, des ersten Frühlingsmonats der südlichen Erdhälfte. Der Winter unter dem [5] neunzehnten Breitengrade zwischen Aequator und Wendekreis des Steinbockes war nicht sehr rauh gewesen. Die Bewohner der »Neuen Schweiz« konnten ihre gewöhnlichen Arbeiten wieder aufnehmen.

Nach elf auf diesem Lande verlebten Jahren erschien es nicht zu frühzeitig, sich Gewißheit zu verschaffen, ob dieses zu einem der Festländer gehörte, die den Indischen Ocean begrenzen, oder ob es die Geographen einer Inselgruppe dieses Meerestheiles zurechneten.

Seit die junge Engländerin von Fritz an dem Rauchenden Felsen gerettet worden war, hatten sich Herr Zermatt, seine Gattin, seine vier Söhne und Jenny Montrose eines ungetrübten Glückes erfreut. Gewisse Befürchtungen wegen der Zukunft und die so unwahrscheinliche Aussicht, daß ihnen Rettung von außen kommen könne, die Erinnerung an die Heimat, das Verlangen, mit der übrigen Menschheit zu verkehren, machten sich wohl zuweilen fühlbar, doch das ist ja in Naturgesetzen begründet, denen sich keiner zu entziehen vermag.

Heute am frühen Morgen trat Zermatt durch die Umfriedigung von Felsenheim hinaus und ging am Ufer des Schakalbaches hin Fritz und Jack waren, mit ihren Fischereigeräthen ausgerüstet, schon vor ihm ausgegangen. Franz holte sie bald ein. Nur Ernst, der etwas träger und langschläfriger Natur war und immer gerne etwas länger unter den Decken träumte, hatte das Bett noch nicht verlassen.

Inzwischen waren Frau Zermatt und Jenny schon an die gewohnten häuslichen Beschäftigungen gegangen.

»Sieh, Vater, begann Jack, das scheint ein schöner Tag zu werden!

– Ich glaub' es auch, mein Kind, antwortete Zermatt. Ich hoffe auch, ihm werden noch andere folgen, die nicht weniger schön sind, da wir doch Frühlingsanfang haben.

– Und was wollt Ihr heute beginnen? fragte Franz.

– Wir wollen fischen gehen, erklärte Fritz, auf Netz und Schnüre zeigend.

– In der Bai? fragte Zermatt.

– Nein, erwiderte Fritz; wenn wir am Schakalbache bis zur Barre hinausgehen, werden wir dort mehr Fische fangen, als wir zum Frühstücke brauchen.

– Und nachher?... fragte Jack weiter.

– Nachher, liebes Kind, fiel der ältere Zermatt ein, wird es uns auch nicht an Arbeit fehlen. Heute Nachmittag denk' ich noch nach Falkenhorst zu [6] gehen, um nachzusehen, ob unsere Sommerwohnung nicht da und dort der Ausbesserung bedarf. Außerdem werden wir die ersten schönen Tage benützen, unsere anderen Meiereianlagen, Waldegg, Zuckertop, die Einsiedelei Eberfurt und die Villa auf dem Prospect-Hill zu besichtigen. Dann haben wir auch für die Thiere zu sorgen, die Anpflanzungen zu pflegen...

– Ganz recht, Vater, ließ sich Fritz vernehmen. Da wir aber heute Morgen noch über eine oder zwei Stunden verfügen können... so kommt nur mit, Jack und Franz, kommt mit!

– Wir sind bereit, rief Fritz, ich fühle schon eine prächtige Forelle an meiner Angel zappeln... Hope-la! Hope-la!«

Jack machte eine Bewegung, als ob er den mit seinem Angelhaken gefangenen imaginären Fisch schon tödtete, und darauf rief er mit heller, lustiger Stimme:

»Also vorwärts!«

Franz wäre vielleicht lieber in Felsenheim zurückgeblieben, wo er die Morgenstunden meist seinen Studien zu widmen pflegte. Sein Vater drängte ihn aber mitzugehen, und so schloß er sich den Brüdern an.

Die drei jungen Leute wendeten sich schon nach dem rechten Ufer des Schakalbaches, als der ältere Zermatt sie noch einmal zum Anhalten veranlaßte.

»Euer Verlangen, fischen zu gehen, meine Kinder, sagte er, hat Euch wohl ganz vergessen lassen...

– Was denn? fragte Jack.

– Was wir an den ersten Tagen der schönen Jahreszeit immer zu thun gewöhnt waren.«

Fritz kehrte noch einmal zum Vater zurück, rieb sich die Stirne und sagte:

»Was könnte das denn sein?

– Wie, Du entsinnst Dich dessen nicht, Fritz?... Und Du auch nicht, Jack? erwiderte Zermatt.

– Meinst Du vielleicht, daß wir es unterlassen hätten, Dich zu Ehren des Frühlings mit einer Umarmung zu begrüßen? fragte Jack.

– Ach nein, das nicht! ließ sich da Ernst vernehmen, der eben sich die Augen reibend und die Glieder dehnend, aus der Umfriedigung hervorgetreten war.

– Dann also wohl, weil wir ohne gefrühstückt zu haben aufgebrochen sind, Du Leckermäulchen Ernst? erwiderte Jack, der damit auf die kleine Schwäche seines Bruders anspielte, welcher immer zuerst ans Essen dachte und ein Liebhaber von guten Bissen war.

[7] – Nein, erklärte Ernst, darum handelt es sich nicht.


Franz und seine Mutter.

Der Vater will Euch nur daran erinnern, daß es bei uns Regel ist, zu dieser Zeit des Jahres jedesmal die beiden Geschütze der Haifischbatterie abzufeuern.

– Ganz recht«, bestätigte der ältere Zermatt.

Das war wirklich hier stets die Regel gewesen. An einem Tage der zweiten Octoberwoche, nach Beendigung der Regenzeit, hatten Fritz und Jack die Gewohnheit, sich nach dem Halm am Eingange der Rettungsbucht zu begeben, die Flagge der Neuen Schweiz zu entfalten und sie mit zwei Kanonenschüssen, die man in [8] Felsenheim deutlich hörte, zu begrüßen.


Jack und Fritz.

Dann ließen die beiden, eigentlich ohne jede Hoffnung, mehr maschinenmäßig, die Blicke über die weite Meeresfläche schweifen.

Vielleicht wurden die Schüsse auf einem Fahrzeuge, das diese Gegend kreuzte, doch einmal vernommen. Vielleicht wendete dieses daraufhin und kam in Sicht der Bai. Vielleicht konnten auch Schiffbrüchige irgendwo hier ans Ufer geworfen worden sein, die das Land für unbewohnt hielten, und diese würden dann durch den Geschützdonner eines Besseren belehrt worden sein.

[9] »Ja, ja, Du hast recht, sagte Fritz, wir hätten bald unsere Pflicht versäumt. Komm, Jack, wir wollen den Kajak klar machen; binnen einer Stunde können wir schon zurück sein.«

Da nahm Ernst noch einmal das Wort:

»Wozu nützt aber dieser Höllenlärm?... Jahr für Jahr haben wir unsere Geschütze hinausdonnern lassen, eigentlich nur, um das Echo von Falkenhorst und Felsenheim damit zu wecken. Warum aber sollen wir das Pulver in dieser Weise verschwenden?

– Daran erkenn' ich unseren Ernst, rief Jack. Wenn ein Kanonenschuß so und so viel kostet, hat er auch ebensoviel einzubringen, oder das Rohr hat zu schweigen!

– Du hast unrecht, in dieser Weise zu sprechen, sagte Zermatt zu seinem zweiten Sohne, ich finde diese Ausgabe gar nicht nutzlos. Eine Flagge auf der Haifischinsel zu hissen, das genügt nicht, denn sie kann auch vom Meere her nicht weit sichtbar sein, während unsere Kanonenschüsse sich noch in einer Entfernung von einer Meile vernehmbar machen. Es wäre unvernünftig, diese Möglichkeit, einem vorüberkommenden Schiffe unser Hiersein zu melden, ohne Noth unbenützt zu lassen.

– Dann wäre es aber geboten, wendete Ernst ein, wenigstens jeden Morgen und jeden Abend einen Signalschuß abzugeben...

– Gewiß, wie das bei allen Kriegsflotten Gebrauch ist, bestätigte Jack.

– Ja, bei den Kriegsflotten kommt man nur nicht in die Gefahr, sich seiner Munition zu berauben, bemerkte Ernst, der sich nicht so leicht überzeugen ließ und bei weitem der starrsinnigste der vier Brüder war.

– Sei nur darüber ruhig, mein Sohn, an Pulver wird es uns so bald nicht fehlen, versicherte Zermatt. Zweimal im Jahre, vor und nach dem Winter, je zwei Kanonenschüsse, das ist ein unbedeutender Aufwand. Ich meine, daß wir auf diese Gewohnheit nicht verzichten dürfen.

– Der Vater hat ganz recht, stimmte Jack ein. Sind die Echos von Felsenheim und Falkenhorst darüber unzufrieden, in ihrem Schlummer gestört zu werden, ei, so wird Ernst ihnen ein paar hübsche Verse widmen, über die sie entzückt sind. Nun vorwärts, Fritz!

– Vorher sollten wir doch wohl der Mutter eine Mittheilung machen...

– Und auch unserer lieben Jenny, setzte Fritz hinzu.

[10] – Das werd' ich schon besorgen, erklärte Zermatt. Sie könnten sich über die Kanonenschüsse wundern und vielleicht gar zu dem Glauben kommen, daß ein Schiff in die Rettungsbai einlaufe.«

In diesem Augenblick erschienen aber bereits Frau Zermatt und Jenny Montrose, die zufällig aus dem Hause getreten waren, am Thore der Einfriedigung.

Nachdem Fritz zuerst seine Mutter umarmt hatte, streckte er dem jungen Mädchen, das ihm zulächelte, die Hand entgegen. Und da diese Jack nach dem kleinen Einschnitte gehen sah, worin die Schaluppe und die Pinasse angebunden lagen, begann sie:

»Wollt Ihr denn diesen Morgen aufs Meer hinaus?

– Jawohl, Jenny, antwortete Jack zurückkommend. Fritz und ich, wir rüsten uns zu einer weiten Ueberfahrt aus.

– Einer weiten Ueberfahrt? wiederholte Frau Zermatt, die sich wegen solcher Ausflüge immer etwas beunruhigte, trotz des Vertrauens, das sie auf die Geschicklichkeit ihrer Söhne in der Führung des Kajaks hatte.

– Beruhige Dich nur, liebe Betsie, und Sie auch, Jenny, sagte Zermatt. Jack scherzt ja blos... es handelt sich nur um eine Fahrt nach der Haifischinsel, um dort bei dem Aufziehen der Flagge zwei Kanonenschüsse zu lösen. Unsere jungen Leute kehren dann sofort zurück, nachdem sie sich überzeugt haben, daß dort alles in Ordnung ist.

– Schön, antwortete Jenny, und während sich Fritz und Jack nach dem Eilande begeben, werden Ernst, Franz und ich unsere Angelschnüre auslegen, vorausgesetzt, daß Frau Betsie meiner nicht bedarf.

– Nein, mein liebes Töchterchen, antwortete Frau Zermatt; ich werde inzwischen alles für unsere nächste große Wäsche zurechtmachen.«

Alle gingen darauf nach dem Landeinschnitte am Bache hinunter, wohin Jack den Kajak gezogen hatte, in dem Fritz und er nun Platz nahmen. Die anderen wünschten ihnen noch glückliche Fahrt, und bald trieb das leichte Fahrzeug rasch nach der kleinen Bucht an der Mündung zu.

Das Wetter war schön, das Meer ruhig und die herrschende Ebbe für sie günstig. Einer vor dem andern und jeder in der engen, im Bootsdeck ausgesparten Oeffnung sitzend, ruderten die beiden Brüder geschickt mit den Pagaien und entfernten sich schnell von der Wohnstätte in Felsenheim. Da die Strömung etwas nach Osten zu lief, mußte der Kajak sich mehr an der gegenüberliegenden [11] Küste halten und durch den schmalen Sund fahren, der die Rettungsbucht mit dem offenen Meere verband.

Jener Zeit zählte Fritz fünfundzwanzig Jahre. Gewandt, kräftig, in allen Körperübungen erprobt, ein unermüdlicher Fußgänger und unerschrockener Jäger, machte der älteste der Familie dieser alle Ehre. Seine früher etwas barsche Natur hatte sich gemildert. Seine Brüder litten nicht mehr, wie vorher, von seiner an Hitze streifenden Lebhaftigkeit, die ihm von Vater und Mutter sonst manchen Vorwurf eingebracht hatte. Ferner hatte noch ein anderes Gefühl dazu geholfen, seine natürlichen Neigungen zum Besseren zu verändern.

Er konnte sich nämlich das junge Mädchen nicht aus dem Sinn schlagen, das er vom Rauchenden Felsen her ins Elternhaus gebracht hatte, und Jenny Montrose konnte es nicht vergessen, daß sie ihm Heil und Rettung verdankte. Jenny war eine liebreizende Erscheinung mit ihrem blonden, in seidenweichen Locken herabwallenden Haar, ihrer geschmeidigen Gestalt, mit ihren seinen Händen und dem frischen Teint, der ihr Gesicht schmückte. Als sie in die ehrenwerthe und arbeitsame Familie gekommen war, hatte sie dieser mitgebracht, woran es bisher fehlte: die Freude des Hauses, und so wurde sie zum guten Genius des häuslichen Herdes.

Doch wenn Ernst, Jack und Franz sie nur als Schwester betrachteten, lag das bei Fritz etwas anders. Es war ein anderes Gefühl, das sein Herz oft höher schlagen ließ. Auch Jenny empfand wohl etwas mehr als Freundschaft für den muthigen, jungen Mann, der ihr einst zu Hilfe gekommen war. Schon waren fast zwei Jahre seit dem aufregenden Vorfalle beim Rauchenden Felsen verflossen... Fritz hatte nicht in Jennys Nähe leben können, ohne sich von ihr bezaubern zu lassen. Und wie oft mochten wohl sein Vater und seine Mutter davon gesprochen haben, wie sich die Zukunft in dieser Beziehung noch gestalten möge!

Was Jack betrifft, hatte sich auch dessen Charakter ein wenig verändert, und zwar insofern, als seine an sich schon große Vorliebe für alles, was Kraft, Muth und Gewandtheit verlangte, noch weiter zunahm, und in dieser Hinsicht brauchte er seinen Bruder Fritz jetzt nicht mehr zu beneiden. Zur Zeit einundzwanzig Jahre alt, von mittlerer Größe, schlank und kräftig, war er immer der prächtige, lustige und gefällige Bursche, und auch so gut, dienstwillig und opferfreudig, daß er seinen Eltern niemals eine trübe Stunde bereitet hatte. Zuweilen trieb er wohl seinen Scherz mit Fritz, Ernst und Franz, doch diese [12] verziehen ihm das gerne, war er doch der beste Kamerad, den sie sich wünschen konnten.

Gleich einem Pfeile schoß inzwischen der Kajak über das glatte Wasser dahin. Das kleine Segel, das dieser bei günstigem Winde trug, hatte Fritz nicht gesetzt, weil es jetzt vom hohen Meere her wehte. Für die Rückfahrt sollte der Mast aber aufgerichtet werden, und dann bedurfte es der Pagaien nicht mehr, um die Mündung des Schakalbaches zu erreichen.

Nichts erregte bei der dreiviertel Lieue langen Ueberfahrt die besondere Aufmerksamkeit des Brüderpaares. Nach Osten zu wies das unfruchtbare, verödete Ufer nichts auf, als eine Reihe gelblicher Dünen. Auf der anderen Seite dehnte sich das grünende Uferland aus, das hier von der Mündung des Schakalbaches bis zu der des Flamingoflusses hin sichtbar war und sich jenseits dieses noch bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung hin fortsetzte.

»Offenbar, begann Fritz, liegt unsere Neue Schweiz nicht in der Fahrstraße der Schiffe, und dieser Theil des Indischen Oceans scheint überhaupt wenig besucht zu sein.

– O, erwiderte Jack, mir läge gar nichts daran, daß jemand unsere Neue Schweiz entdeckte. Ein Schiff, das hier anlegte, würde sie doch sofort in Besitz nehmen wollen. Wenn es hier seine Flagge aufpflanzte, was würde dann aus der unseren? Eine schweizerische Flagge könnte jene ja nicht sein, da die der Schweiz über keinem Meere flattert, und wir würden uns dann hier nicht mehr heimisch fühlen.

– Doch die Zukunft, Jack, bedenke die Zukunft! warf Fritz dagegen ein.

– Die Zukunft? wiederholte Jack. Ja, das wird die Fortsetzung der Gegenwart sein, und wenn Dir das nicht genügt...

– O... uns vielleicht... sagte Fritz. Du vergißt aber Jenny... ihren Vater, der in dem Glauben lebt, daß sie beim Schiffbruche des »Dorcas« umgekommen sei. Sollte sie nicht von ganzem Herzen wünschen, wieder bei ihm zu sein? Sie weiß, daß er weit da draußen in England lebt, und nie könnte sie zu ihm kommen, wenn hier nicht eines Tages ein Schiff auftaucht.

– Das ist ja richtig!« antwortete Jack lächelnd, der recht wohl errieth, was in der Seele seines Bruders jetzt vorging.

Nach einer Fahrt von vierzig Minuten legte der Kajak an den niedrigen Felsen der Haifischinsel an.

Fritzens und Jacks erste Sorge war es nun, deren Inneres zu besichtigen und dann noch um sie herumzugehen. Sie mußten sich überzeugen, in [13] welchem Zustande sich die Anpflanzungen befanden, die seit einigen Jahren rings um den Batteriehügel angelegt worden waren.

Diese Pflanzungen waren dem Nord- und dem Nordostwinde sehr ausgesetzt, und gerade diese stürmten am heftigsten gegen das Eiland an, ehe sie sich, durch den Sund der Rettungsbucht wehend, wie in einem Trichter singen. An dieser Stelle kam es zuweilen zu ungewöhnlich starken atmosphärischen Störungen, die die Bedeckung des offenen Schuppens, worin die beiden Geschütze standen, schon wiederholt abgerissen hatten.

Dieses Jahr hatten die Anpflanzungen nicht gelitten. Nur am nördlichen Theile lagen einige Bäume am Strande, und diese konnten recht gut zerlegt werden, um die Holzvorräthe in Felsenheim zu ergänzen.

Die Verhaue und Hütten, worin die Antilopen sich befanden, waren so fest hergestellt, daß Fritz und Jack daran nicht die geringste Beschädigung wahrnehmen konnten. Die Thiere fanden hier einen überreichen Graswuchs, der ihre Ernährung das ganze Jahr hindurch sicherte. Diese Heerde zählte augenblicklich etwa fünfzig Köpfe, versprach aber, sich noch weiter zu vermehren.

»Was sollen wir nun mit allen diesen Thieren anfangen? fragte Fritz, während er die graziösen Wiederkäuer betrachtete, die an der lebenden Hecke der Umfriedigung hin und her liefen.

– O, die verkaufen wir zuletzt, antwortete Jack.

– Du nimmst also doch an, daß eines schönen Tages hier Schiffe erscheinen, an die wir sie verkaufen könnten? fragte Fritz.

– Keineswegs, versetzte Jack, wenn wir sie einmal verkaufen, so wird das auf einem Jahrmarkte der Neuen Schweiz geschehen.

– Auf einem Jahrmarkte, Jack! Deiner Rede nach, wäre die Zeit nicht mehr fern, wo die Neue Schweiz besuchte Märkte hätte?

– Natürlich, Fritz, ganz wie sie Dörfer, Flecken, Städte und sogar eine Hauptstadt – selbstverständlich Felsenheim – haben wird.

– Und wann wäre das?

– Sobald die Bezirke der Neuen Schweiz mehrere tausend Einwohner beherbergen.

– Etwa Fremde?

– O nein, Fritz, nein! versicherte Jack, Schweizer, nichts als Schweizer. Unser Heimatland ist volkreich genug, uns einige hundert Familien herzusenden.

[14] – Es hat aber niemals Colonien gehabt, und ich bezweifle, daß das in Zukunft je der Fall sein werde.

– Nun gut, Fritz, so wird es später doch eine solche besitzen.

– Hm, machte Fritz. unsere Landsleute scheinen nicht viel Neigung zum Auswandern zu haben.

– Ja, was haben wir selbst denn gethan? rief Jack. Hat uns nicht das Verlangen getrieben, eine Colonie zu gründen, was uns auch nicht zum Schaden gereicht hat?

– O, wir... wir sind dazu gezwungen gewesen, erwiderte Fritz. Wenn sich die Neue Schweiz überhaupt einmal mehr bevölkert, fürchte ich sehr, daß sie ihren Namen nicht mehr rechtfertigen wird, und daß der größte Theil ihrer Bewohner angelsächsischen Stammes sein dürfte!«

Fritz hatte damit gewiß recht, und Jack verstand ihn so gut, daß er nichts anderes thun konnte, als das Gesicht zu verziehen.

Zur Zeit betrieb von allen europäischen Mächten Großbritannien mit größtem Eifer die Erweiterung seines Colonialreiches. Allmählich ging der ganze Indische Ocean in seinen Besitz über. Kam nun überhaupt ein Schiff vor der Neuen Schweiz in Sicht, so trug es höchst wahrscheinlich die britische Flagge und sein Capitän beeilte sich, das Land in Besitz zu nehmen, indem er sofort die Farben Großbritanniens auf der Höhe des Prospecthügels entfaltete.

Nach vollendeter Besichtigung des Eilandes stiegen die beiden Brüder die kleine Anhöhe hinauf und kamen nach dem offenen Schuppen der Batterie.

Zunächst blieben sie hier am Rande der oberen Fläche stehen und durchmusterten, das Fernrohr in der Hand, den weiten Meerestheil, der sich zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem andern, die Rettungsbai an der Ostseite abschließenden Cap ausdehnte.

Das Meer war verlassen wie immer. Bis zu der Linie, wo Himmel und Wasser sich berührten, konnten sie nichts entdecken, außer, etwa anderthalb Lieue im Nordwesten, dem Risse, an dem der »Landlord« einst gescheitert war.

Ihre Blicke nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung richtend, erkannten Fritz und Jack zwischen den Bäumen des Hügels die Terrasse und Veranda der Villa des Prospect-Hill. Diese Sommerwohnung stand noch immer auf dem alten Flecke, gewiß zur großen Befriedigung für den Vater Zermatt, der sich immer noch mit der Befürchtung trug, daß sie von den Winterstürmen einmal ganz hinweggefegt werden könnte.

[15] Die beiden Brüder traten unter den Schuppen, der ebenfalls unbeschädigt geblieben war, obgleich in den zweieinhalb Monaten des Winters recht oft heftige Winde und verderbliche Böen geweht hatten.

Während Jack nun die Flagge von ihrer Umhüllung befreite und ihre obere und untere Ecke an der Zugleine des Mastes befestigte, untersuchte Fritz die zwei kleinen Kanonen, deren Mündung nach dem Meere hinaus gerichtet war. Sie erwiesen sich bestens instand und brauchten also nur geladen zu werden. Um Pulver zu sparen, stopfte Fritz, wie er es immer gethan hatte, einen Lehm- und Graspfropf über dieses, wodurch der Knall des Schusses wesentlich verstärkt wurde. Dann steckte er in das Zündloch die Schnur, die die Explosion bewirken sollte, sobald die Flagge an der Mastspitze flatterte.

Es war jetzt halb acht Uhr morgens. Von den Dünsten des ersten Tagesgrauens befreit, strahlte der Himmel in voller Klarheit. Nur weit im Westen lagerten einzelne Wolken. Der Wind zeigte Neigung zum Abflauen. Die im Widerschein der Sonne glänzende Bai lag spiegelglatt vor ihnen ausgebreitet.

Als Fritz mit der Ladung fertig war, fragte er seinen Bruder, ob er bereit sei.

»Sobald Du willst, Fritz, antwortete Jack, der nur noch nachsah, daß sich die Zugleine nicht an einem Dachvorsprünge fangen könnte.

– Erstes Geschütz... Feuer!... Zweites Geschütz... Feuer!« rief Fritz, der seine Rolle als Artillerist immer sehr ernst nahm.

Kurz nacheinander krachten die beiden Schüsse hinaus, während die roth und weiße Flagge emporstieg und sich in dem schwachen Winde entfaltete.

Fritz machte sich schon daran, die beiden Rohre wieder zu laden, doch kaum hatte er die Kartusche ein Stück weit in das zweite Geschütz hineingeschoben, als er sich plötzlich aufrichtete.

Ein entfernter Knall hatte sein Ohr getroffen.

Sofort bogen sich Jack und er über den Schuppen hinaus.

»Ein Kanonenschuß! rief Jack.

– Nein, meinte Fritz, das ist nicht möglich! Wir müssen uns getäuscht haben!

– Horch!« fuhr Jack fort, der kaum zu athmen wagte.

Da erschütterte die Luft ein zweiter dumpfer Knall, dem nach etwa einer Minute ein dritter folgte.

»Ja... ja... das waren Kanonenschüsse! wiederholte Jack.


»Horch!« fuhr Jack fort, der kaum zu athmen wagte. (S. 16.)

[16] [19]– Die von Osten her kamen,« setzte Fritz hinzu.

Hatte wirklich ein Schiff, das in der Nähe der Neuen Schweiz dahinsegelte, auf die zwei Signalschüsse von der Haifischinsel geantwortet und würde es nun wohl seinen Curs nach der Rettungsbai einschlagen?...

2. Capitel
Zweites Capitel.
Die Rückkehr des Kajak. – Was man über den Zwischenfall dachte. – Entschlüsse. – Drei Tage lang Sturm. – Umschiffung des Caps im Osten. – Das vor Anker liegende Schiff.

Nach der doppelten Detonation auf der Haifischinsel gaben die Echos von Felsenheim sie von Fels zu Felsen wieder. Herr und Frau Zermatt, Jenny, Ernst und Franz konnten noch, als sie nach dem Strande eilten, den weißen Dampf von den beiden Geschützen sehen, der langsam nach Falkenhorst hin zog. Ihre Taschentücher schwenkend, antworteten sie mit einem Hurrah, das zwar weniger laut ausfiel, doch gewiß tief aus dem Herzen kam.

Darauf gingen alle schon wieder daran, ihre Beschäftigung aufzunehmen, während Jenny noch einmal durch ein Fernrohr nach dem Eiland hinaussah.

»Da draußen kommen Fritz und Jack zurück, sagte sie.

– Schon jetzt? meinte Ernst. Sie haben doch kaum Zeit gehabt, die Kanonen wieder zu laden, und müssen einen besonderen Grund haben, so schnell heimzukehren.

– Ja wirklich, sie scheinen es eilig zu haben,« bestätigte der ältere Zermatt, der ebenfalls zu erkennen glaubte, daß das Boot sich von der Insel bereits entfernt hatte.

Entschieden kannte der sich bewegende Punkt, den man durch das Fernrohr etwas rechts von der Haifischinsel erblickte, nichts anderes sein, als das leichte Fahrzeug, das, von den Pagaien getrieben, offenbar rasch durch das Wasser glitt.

»Das ist mindestens auffallend, bemerkte Frau Zermatt. Sollten sie uns eine Neuigkeit, vielleicht gar eine wichtige Neuigkeit mitzutheilen haben?

– Das glaub' ich fast,« antwortete Jenny.

[19] Ob diese Neuigkeit eine gute oder schlechte wäre, das fragte sich wohl ein jeder, doch freilich, ohne es beantworten zu können.

Alle Blicke waren nach dem Kajak gerichtet, der von Minute zu Minute größer erschien. Nach einer Viertelstunde befand er sich halbwegs zwischen der Haifischinsel und der Mündung des Schakalbaches. Wenn Fritz das kleine Segel nicht beigesetzt hatte, lag das nur daran, daß sich der Wind zu sehr abgeschwächt hatte, und ihre Pagaien tüchtig handhabend, kamen die beiden Brüder auf der kaum sich kräuselnden Wasserfläche schneller als der Wind selbst vorwärts.

Da fiel es dem älteren Zermatt ein, darauf zu achten, ob diese überstürzte Rückkehr nicht vielleicht eine Flucht wäre, ob nicht eine Pirogue mit Wilden, die den Kajak verfolgten, um die Ecke der Insel käme oder ob gar ein Seeräuberboot vom offenen Meere her auftauchen sollte. Diesen beunruhigenden Gedanken behielt er jedoch für sich. In Begleitung Betsies, Jennys, Ernsts und Franzens begab er sich nach der Bachmündung hinaus, um von Fritz und Jack sogleich, wenn sie ans Land stießen, Aufklärung zu erhalten.

Eine Viertelstunde später hielt der Kajak in der kleinen Bucht an der ersten Felsenbank an, die gewöhnlich als Landungsstelle diente.

»Was ist denn geschehen?« fragte der ältere Zermatt.

Jack und Fritz sprangen ans Ufer. Fast außer Athem, das Gesicht von Schweiß bedeckt, die Arme von Ermüdung halb gelähmt, konnten sie anfänglich nur durch eine Bewegung antworten, indem sie nach dem Uferlande im Osten der Rettungsbai hinwiesen.

»Was war denn nur los? fragte jetzt Franz, der Fritzens Arm ergriff.

– Ihr habt also nichts gehört? erwiderte dieser endlich, nachdem er die Sprache wieder etwas gewonnen hatte.

– O doch, die zwei Kanonenschüsse, die Ihr von der Haifischinsel abgefeuert habt, sagte Ernst.

– Nein, entgegnete Jack, die unseren mein' ich nicht, doch die, die uns geantwortet haben.

– Wie? Andere Kanonenschüsse? rief der ältere Zermatt erstaunt.

– Wär' es möglich?... Wär' es möglich?« wiederholte Frau Zermatt.

Jenny war bleich vor Erregung an Fritz herangetreten.

»Ihr habt von jener Seite her Kanonendonner gehört? erkundigte sie sich.

– Ja, Jenny, bestätigte Fritz, drei Schüsse in regelmäßigen Zwischenräumen.«

[20] Fritz sprach mit so zuversichtlichem Tone, daß an einen Irrthum seinerseits kaum zu denken war. Uebrigens bekräftigte auch Jack noch die Aussage seines Bruders.

»Es ist ganz unzweifelhaft, fügte er ferner hinzu, daß sich ein Schiff in der Nähe der Neuen Schweiz befindet, und daß seine Aufmerksamkeit durch die Entladung unserer zwei kleinen Geschütze erregt morden ist.

– Ein Schiff... ein Schiff!... murmelte Jenny.

– Und Ihr hörtet, daß der Knall von Osten her schallte? fragte der ältere Zermatt noch einmal.

– Ja gewiß... von Osten her, und ich schließe daraus, daß die Rettungsbai höchstens um eine oder zwei Lieues vom offenen Meere entfernt sein kann.«

Das konnte wohl zutreffen; wir haben indeß schon erwähnt, daß die entlegeneren Uferstrecken der Rettungsbai noch niemals besucht und besichtigt worden waren.

Man wird sich leicht vorstellen können, welchen Empfindungen, nach einem Augenblick der Ueberraschung – der Verblüffung könnte man sagen – sich die Insassen der Neuen Schweiz hingaben. Ein Schiff... ohne Zweifel war ein solches in der Nähe, ein Schiff, von dem aus der Geschützdonner vom Winde bis nach der Haifischinsel getragen worden war!... War das nicht etwas wie ein Band, das dieses unbekannte Fleckchen Erde, worauf die Schiffbrüchigen des »Landlord« seit elf Jahren lebten, mit der bewohnten Welt verknüpfte? Die Kanone ist die Stimme der Seeschiffe... durch sie sprechen sie auf weite Entfernungen hin und diese Stimme hatte sich jetzt zum erstenmale vernehmen lassen, seit die Batterie der Haifischinsel den Anfang und das Ende der schönen Jahreszeit begrüßte. Es schien, als ob dieser Vorfall, auf den sie kaum je noch gerechnet hatten, den Vater Zerniatt und die Seinen ganz unglaublich überrascht, als ob jenes Schiff eine Sprache gesprochen hätte, die sie verlernt hatten.

Sie beruhigten sich jedoch und dachten nur an die guten Seiten der neuen Sachlage. Dieses von fernher bis zu ihnen gedrungene Geräusch gehörte nicht zu den Geräuschen der Natur, an die sie gewöhnt waren, nicht zu dem Aechzen und Knarren der Bäume, wenn der Sturm sie rüttelte, nicht zum Rauschen und Brüllen des Meeres bei entfesseltem Orkane oder zu dem Donnergrollen bei den heftigen Gewittern dieser Tropengegend. Nein, es war sozusagen ein Werk von Menschenhand! Der Kapitän, die Mannschaft des Fahrzeugs, das hier das Meer kreuzte, mußten nun wissen, daß dieses Land nicht unbewohnt [21] war. Ankerten sie in der Bai, so begrüßte voraussichtlich ihre Flagge noch die der Neuen Schweiz.

Alle sahen in dem Zwischenfalle nichts anderes, als die Gewißheit einer baldigen Erlösung, Frau Zermatt fühlte ihre Befürchtungen vor der Zukunft schon verschwinden, Jenny gedachte ihres Vaters, den wiederzusehen sie kaum noch gehofft hatte, der ältere Zermatt und seine Söhne erwarteten wieder mit ihresgleichen zu verkehren, und vor Freude fielen sie einander in die Arme.

Der erste Eindruck, den die hier verlassen lebende Familie empfing, war also derselbe, den etwa die Erfüllung der innigsten Wünsche hervorbringt. Die Augen nur auf das gerichtet, was dieses Ereigniß ihr Gutes versprach, schwelgte sie in frohester Hoffnung und war voll aufrichtiger Dankbarkeit gegen den Himmel.

»Wir haben zuerst Gott zu danken für den Schutz, den er uns immer gewährt hat, begann Franz. Er ist es, dem wir unsere Erkenntlichkeit darzubringen, an den wir unsere Gebete zu richten haben!«

Es war ganz natürlich, daß sich Franz in dieser Weise ausdrückte. Von jeher erfüllte ihn schon eine tiefe Religiosität, und diese hatte, je mehr er heranreifte, nur noch zugenommen. Ein offener, ehrlicher Charakter, hegte er die wärmste Zuneigung für die Seinigen, d. h. für alles, was bis jetzt für ihn die Menschheit gewesen war. Der jüngste der Brüder, spielte er doch etwa die Rolle eines Vermittlers und Berathers gelegentlich der seltenen Reibungen, die zwischen den Gliedern dieser so herzensinnigen Familie vorkamen. Was wäre wohl sein Beruf gewesen, wenn er in seinem Mutterlande gelebt hätte? Er würde sich in der Medicin, in der Rechtskunde und in der Gottesgelehrtheit unterrichtet haben, um dem tief in ihm schlummernden Bedürfnisse, für alle opferfreudig einzutreten, genug thun zu können, einem Bedürfnisse, das mit ihm ebenso eng verwachsen war, wie das zu körperlicher Thätigkeit bei Fritz und das zu geistiger bei Ernst. Er richtete an die Vorsehung also ein inbrünstiges Gebet, dem sich sein Vater, seine Mutter, Jenny und seine Brüder anschlossen.

Unter den gegebenen Verhältnissen galt es nun, keine Stunde zu verlieren. Die wahrscheinlichste Annahme ging dahin, daß jenes Schiff, dessen Anwesenheit man nicht bezweifeln konnte, in einem der Ufereinschnitte verankert läge, nicht aber, daß es etwa auf offenem Meere an der Neuen Schweiz vorübersegelte. Vielleicht veranlaßten es die Kanonenschüsse, worauf es geantwortet hatte, eine nähere Besichtigung der Umgegend vorzunehmen; vielleicht versuchte es [22] sogar nach Umschiffung des Caps, das diese an der Ostseite begrenzte. in die Rettungsbai einzudringen.

Diese Ansichten äußerte Fritz und er schloß seinen Gedankengang mit den Worten:

»Unsere nächste Aufgabe ist es nun, dieses Schiff aufzusuchen, indem wir der östlichen, jedenfalls von Norden nach Süden verlaufenden Küste nachgehen.

– Und wer weiß, ob wir damit nicht schon zu lange gezögert haben, sagte Jenny.

– Das glaub' ich nicht. meinte Ernst. Es ist gar nicht anzunehmen, daß der Kapitän jenes Schiffes, was für eines es auch sein mag, nicht versucht hätte, Aufklärung zu erhalten...

– Macht keine unnützen Worte! fiel Jack ein. Vorwärts, wir wollen aufbrechen...

– Dazu muß erst die Schaluppe zurecht gemacht werden, bemerkte der ältere Zermatt.

– Das dauert zu lange, entgegnete Fritz. Der Kajak thut's auch.

– Meinetwegen!« stimmte der ältere Zermatt bei.

Dann setzte er aber hinzu:

»Von Wichtigkeit ist es jedenfalls, recht vorsichtig zu Werke zu gehen. Daß malaiische oder australische Eingeborene gelandet wären, glaube ich zwar nicht; auf dem Indischen Ocean treiben aber Seeräuber ihr Unwesen, und von solchen hätten wir das Schlimmste zu befürchten...

– Ja freilich, ließ sich Frau Zermatt vernehmen, und besser, wir lassen das Schiff wieder davonsegeln, wenn es...

– Nun, ich werde mich selbst aufmachen, erklärte der ältere Zermatt, und ehe ich mich mit den Fremdlingen in Verbindung setze, werd' ich mich schon zu vergewissern suchen, mit wem wir es zu thun haben.«

Dieser Plan war ja vernünftig, es galt nur noch, ihn auszuführen. Zum Unglücke schien noch in den ersten Vormittagsstunden das Wetter umzuschlagen. Der Wind, der sich vorher fast ganz gelegt hatte, war nach Westen umgesprungen und wurde zusehends frischer. Mit dem Kajak hätte man sich kaum auf die Bai hinaus, nicht einmal nach der Haifischinsel zu, wagen dürfen. Der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt, die von der Abendseite her aufstiegen, mit den charakteristischen Sturmwolken, von denen der Seemann sich nichts Gutes versieht.

[23] Konnte jetzt aber vom Kajak nicht mehr die Rede sein, und mußte man eine oder zwei Stunden mit dem Zurechtmachen verlieren, so fragte es sich nun, ob überhaupt auch die Schaluppe zu verwenden wäre, da jenseits der Einfahrt zur Bai voraussichtlich ein ziem lich schwerer Seegang herrschte.

Zu seinem lebhaften Bedauern mußte der ältere Zermatt auch auf dieses Fahrzeug verzichten. Noch vor der Mittagsstunde wühlte ein starker Sturm das Gewässer der Bai derartig auf, daß an die Benützung der Schaluppe nicht mehr zu denken war. War zur jetzigen Jahreszeit auch nicht ein längeres Anhalten des so plötzlichen Witterungsumschlages zu befürchten, so vereitelte dieser doch alle kaum entworfenen Pläne, und wenn der heftige Wind etwa vierundzwanzig Stunden lang andauerte, war es voraussichtlich zu spät, das vermuthete Schiff noch aufzusuchen. Bot diesem sein Ankerplatz keinen sicheren Schutz, so hatte es ihn jedenfalls verlassen müssen, und bei dem herrschenden Westwinde verlor es die Küsten der Neuen Schweiz gewiß bald aus dem Gesicht.

Andererseits – Ernst wies auf diese Möglichkeit hin – versuchte das Schiff vielleicht, in die Rettungsbai selbst einzulaufen, wenn es ihm gelang, das Cap im Osten zu umsegeln.

»Das ist thatsächlich möglich, antwortete der ältere Zermatt, und wäre sogar zu wünschen, vorausgesetzt, daß wir es nicht mit Seeräubern zu thun haben....

– Wir werden aufpassen, Vater, sagte Franz. Wir bleiben den ganzen Tag auf dem Ausguck... auch die ganze Nacht hindurch.

– Doch wenn wir uns nur nach dem Prospecthügel oder wenigstens nach Falkenhorst begeben könnten, setzte Jack hinzu; von da aus läßt sich das Meer besser übersehen.«

Das war wohl richtig, blieb aber vorläufig ausgeschlossen. Im Laufe des Nachmittags wurde das Wetter noch schlimmer; die Kraft des Sturmes verdoppelte sich. Dazu stürzte ein so massenhafter Regen herab, daß der Schakalbach aus den Ufern trat und die kleine, darüberführende Brücke enfernt werden mußte. Zermatt und seine Söhne blieben immer auf der Wacht und sie hatten arg zu thu »die Ueberschwemmung von der Einfriedigung Felsenheims abzuhalten. Betsie und Jenny konnten keinen Schritt nach außen thu. Noch nie war ein Tag hier so traurig verstriche und es erschien nur zu gewiß, daß das Schiff, wenn es einmal weitergesegelt war, in diese Gegend kaum je zurückkehren werde.

[24] Mit Einbruch der Nacht wuchs die Gewalt des Sturmes noch weiter Auf den Rath des älteren Zermatt hin, den seine Kinder nöthigten, sich einige Ruhe zu gönnen, lösten Fritz, Ernst, Jack und Franz einander bis zum Tagesanbruche von der Wache ab. Von der Galerie des Hauses, die sie nie verließen, konnten sie das Meer bis zur Haifischinsel hin übersehen. Wäre ein Schiffslicht in der Einfahrt zur Bai aufgetaucht, so hätten sie es bemerkt und den etwaigen Donner einer Kanone hätten sie gehört, trotz des Gebrauses der Wellen, die sich mit furchtbarer Gewalt am Felsenufer des Landeinschnittes an der Bachmündung [25] brachen.


Den Wachstuchmantel auf den Schultern, gingen sie nach der Mündung.

Als der wüthende Wind sich einmal mäßigte, gingen alle vier, den Wachstuchmantel auf den Schultern, nach der Mündung des Schakalbaches, konnten sich hier aber zum Glücke überzeugen, daß die Schaluppe und die Pinasse noch sicher an ihrem Platze lagen.

Das schlimme Wetter hielt volle vierundzwanzig Stunden an. Kaum vermochten in diesem Zeitraume Zermatt und seine Söhne bis halb nach Falkenhorst vorzudringen, um das Meer im weiteren Umfange übersehen zu können. Die weite Wasserfläche mit hochgehenden, sthaumgekrönten Wogen zeigte sich verödet. Es hätte sich bei diesem Sturme übrigens auch kein Schiff so nahe aus Land heranwagen dürfen.

Zermatt und seine Gattin hatten alle kaum aufgetauchten Hoffnungen schon wieder aufgegeben. Ernst, Jack und Franz, die von ganz jungen Jahren her das Leben hier gewohnt waren, bedauerten vielleicht gar nicht, daß jene Gelegenheit, es zu ändern, verloren gegangen schien. Fritz beklagte es freilich um seiner Brüder oder auch mehr um Jennys willen.

War jenes Schiff wirklich abgesegelt und sollte es in diese Meeresgegend nicht wiederkehren, wie hart enttäuscht mußte sich die Tochter des Obersten Montrose dann fühlen!

Die Möglichkeit, wieder zu ihrem Vater zu kommen, war ihr damit ja abgeschnitten. Wie lange Zeit würde wohl vergehen, ehe sich eine Gelegenheit, nach Europa zurückzugelangen, wieder darbot, wenn dieser Fall überhaupt noch einmal eintrat.

»Lassen wir die Hoffnung nicht sinken! redete Fritz dem jungen Mädchen zu, dessen Schmerz auch ihm so nahe ging. Jenes Schiff oder irgend ein anderes wird wieder hierherkommen, da jetzt das Vorhandensein der Neuen Schweiz bekannt geworden ist!«

In der Nacht vom 11. zum 12. October hatte sich der Wind mehr nach Norden gedreht und das schlechte Wetter nahm damit ein Ende. Im Inneren der Rettungsbai beruhigte sich das Meer sehr bald und mit Sonnenaufgang schäumten die Wellen am Ufer von Felsenheim schon nicht mehr empor.

Die ganze Familie trat ins Freie und ließ die Blicke in der Richtung nach dem offenen Meere hinausschweifen.

»Nun wollen wir sofort nach der Haifischinsel fahren, schlug Jack den anderen vor, selbst mit dem Kajak ist keine Gefahr mehr dabei.

– Und was thätet Ihr dort? fragte Frau Zermatt.

[26] – Vielleicht liegt jenes Schiff dort im Schutze des Ufers noch vor Anker... und selbst wenn der Sturm es genöthigt hätte, die hohe See zu gewinnen, könnte es ja wieder zurückgekehrt sein. Wir geben dort einige Kanonenschüsse ab, und wenn darauf eine Antwort erfolgt...

– Ach ja, Fritz, ja! rief Jenny, die gern auf dem Eiland selbst mitgewesen wäre.

– Fritz hat recht, erklärte der Vater Zermatt, wir dürfen nichts außer acht lassen. Ist das Schiff noch da, so wird es uns hören und sich ebenfalls bemerkbar machen.«

Der Kajak war schon in wenigen Minuten zur Abreise fertig; als aber Fritz darin Platz nehmen wollte, rieth ihm sein Vater, mit seiner Mutter, seinen Brüdern und Jenny in Felsenheim zu bleiben. Ihn sollte jetzt Jack begleiten. Er werde eine Flagge mitnehmen, um damit zu melden, ob sie gute Nachricht mit heimbringen würden oder ob ihnen irgendwelche Gefahr drohe Im zweiten Falle werde er die Flagge, nachdem er sie geschwenkt hätte, ins Meer schleudern und Fritz sollte dann die ganze Familie nach Falkenhorst überführen. Er selbst und Jack würden auch schleunigst dahin kommen und im Falle der Noth wollten sie sich entweder nach den Meiereien von Waldegg oder Zuckertop, oder sogar nach der Einsiedelei Eberfurt zurückziehen. Schwenkte er die Flagge dagegen nur zweimal und pflanzte er sie darauf neben der Batterie auf, so läge nichts Beunruhigendes vor und Fritz sollte seine Rückkehr in Felsenheim abwarten.

Natürlich waren die erwähnten Signale von der Mündung des Schakalbaches aus, wenigstens mit Hilfe eines Fernrohres, ganz deutlich zu erkennen.

Jack zog den Kajak an den felsigen Uferrand heran. Sein Vater und er stiegen hinein. Wenige Kabellängen vor dem Landeinschnitte der Bachmündung verminderte sich der Wellenschlag schon zu einem friedlichen Plätschern. Von den Pagaien getrieben, flog das leichte Boot schnell auf die Haifischinsel zu.

Dem älteren Zermatt klopfte das Herz recht fühlbar, als sie an dem Eiland landeten und dann eiligst den Hügel hinanliefen.

Beim Schuppen oben angelangt, machten sie Halt. Von hier aus konnten sie die Wasserfläche von dem Vorlande im Osten bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung übersehen. Kein Segel war zu erblicken auf dem öden Meere, das draußen noch immer einen starken Wellenschlag zeigte.

Als dann beide unter den Schuppen zurücktraten, fragte der ältere Zermatt noch einmal:

[27] »Dein Bruder und Du, Ihr seid also sicher, gestern gehört zu haben...

– Vollkommen sicher! antwortete Jack. Es waren unzweifelhaft Kanonenschüsse dort von Osten her...

»Gott gebe, daß es so ist!« sagte der ältere Zermatt.

Da die beiden kleinen Geschütze von Fritz gleich wieder geladen worden waren, brauchten sie jetzt nur abgefeuert zu werden.

»Jack, sagte dessen Vater, Du wirst zwei Schüsse im Zwischenraume von zwei Minuten abgeben und nach der Wiederladung des ersten Rohres noch ein drittesmal feuern.

»Wie Du willst, Vater, antwortete Jack. Und Du?...

– Ich werde mich an den nach Osten zugewendeten Rand der Hügelfläche stellen, und wenn eine Detonation von dieser Seite her käme, müßte ich sie da ja deutlich hören.«

Da überdies der Wind nach Norden umgesprungen war, doch nur sehr schwach wehte, erschienen alle Nebenumstände so günstig wie möglich. Der Donner von Geschützen, ob er nun von Westen oder von Osten her kam, mußte, wenn die Entfernung einundeinehalbe Lieue nicht übertraf, leicht vernehmbar sein.

Der ältere Zermatt nahm also an der Seite des offenen Schuppens Platz.

Unter Einhaltung der verabredeten Zwischenräume gab Jack jetzt dreimal Feuer. Dann eilte er neben seinen Vater hin und beide blieben, das Ohr nach Osten gewendet, regungslos stehen.

Da schallte eine Detonation deutlich bis zur Haifischinsel herüber.

»Vater... Vater... rief Jack, das Schiff ist noch da!

– Hören wir erst weiter!« antwortete Zermatt.

Sechs andere Schüsse folgten in regelmäßigen Zwischenräumen dem ersten. Das noch unsichtbare Schiff gab also nicht nur Antwort, sondern schien auch sagen zu wollen, daß es damit nicht sein Bewenden haben solle.

Nach zweimaligem Schwenken der Flagge, stellte der ältere Zermatt diese nun neben der Batterie auf.

War das Krachen der Geschütze auch nicht bis Felsenheim hörbar gewesen, so wußte man dort jetzt, daß keine Gefahr zu befürchten sei.

Uebrigens rief Jack, eine halbe Stunde nach der Rückkehr in die kleine Bucht, plötzlich

»Ein siebenter Schuß!... Sie haben siebenmal gefeuert!

– Und der Himmel sei siebenmal dafür gesegnet!« setzte Franz hinzu.

[28] Eine Beute der lebhaftesten Erregung, ergriff Jenny Fritzens Hand. Dann warf sie sich der Frau Zermatt in die Arme, die ihre Thränen durch innige Küsse trocknete.

An der Anwesenheit eines Schiffes konnte also kein Zweifel mehr sein, da dieses der Batterie der Haifischinsel geantwortet hatte. Aus einem oder dem anderen Grunde mußte es in einer der Buchten an der Küste im Osten vor Anker gegangen sein und war vielleicht sogar während des Sturmes nicht genöthigt gewesen, diese zu verlassen. Jetzt aber segelte es gewiß nicht ab, ohne mit den Bewohnern dieses unbekannten Landes in Verbindung getreten zu sein. Erschien es da nicht rathsamer, nicht erst darauf zu warten, daß es von der Bai aus in Sicht kam?

»Nein... nicht warten! Vorwärts! Fahren wir sofort dahin!« drängte Jack.

Der alles überlegende Ernst machte hierzu indeß noch einige Bemerkungen, die auch der ältere Zermatt als richtig anerkannte. Niemand wußte ja, welcher Nationalität jenes Schiff angehörte, ebensowenig, ob es nicht vielleicht gar Seeräuber trug, die zur Zeit in diesen Theilen des Indischen Oceans sehr zahlreich waren. Das Schiff konnte ja selbst solchen Verbrechern in die Hände gefallen sein, und damit wären Zermatt und seine Familie den schlimmsten Gefahren ausgesetzt gewesen.

Alle diese Gedanken tauchten ja ganz ungesucht auf.

»Nun gut, erklärte Fritz, was wir noch nicht wissen, müssen wir in kürzester Frist zu erfahren suchen...

– Ach ja... schnell... recht schnell! wiederholte Jenny, die ihre Ungeduld nicht bemeistern konnte.

– Ich werde mich des Kajaks bedienen, setzte Fritz hinzu, und da der Zustand des Meeres es erlaubt, werde ich das Cap im Osten umfahren....

– Thu' es, mein Sohn, antwortete Zermatt, denn wir können nicht in dieser Ungewißheit bleiben. Vor dem Anlegen an dem Schiffe aber muß es klar sein, welcher... Nun, Fritz, ich werde gleich mit Dir fahren.«

Jack wollte das nicht zugeben.

»Nein, Vater, sagte er, schon eine Pagaie holend, ich bin an so etwas gewöhnt. Nur bis zum Cap zu gelangen, dürften schon zwei Stunden vergehen, und von da aus bis zum Ankerplatze des Fahrzeugs könnte es auch noch eine größere Strecke sein. Ich bitte Dich, laß mich jetzt Fritz begleiten...

– Ja, das ist wohl richtiger,« stimmte dieser ein.

[29] Der ältere Zermatt zögerte noch. Ihm erschien es unerläßlich, an dieser Fahrt theilzunehmen, die mit größter Vorsicht ausgeführt werden mußte.

»Ja ja, Fritz und Jack mögen hinausfahren, mischte sich noch Frau Zermatt ein. Auf sie können wir uns ja verlassen!«

Der ältere Zermatt fügte sich, und den beiden Brüdern wurden die eindringlichsten Rathschläge mitgegeben. Nach Umschiffung des Caps sollten sie sich ganz nahe dem Lande halten, zwischen den Klippen jenes Theils der Küste hingleiten, sie sollten sehen, ohne selbst bemerkt zu werden, sollten sich nur von der Lage, womöglich auch von der Nationalität des Schiffes überzeugen, dieses aber nicht etwa betreten, sondern nach Erreichung ihrer Absichten sofort nach Felsenheim zurückkehren. Der ältere Zermatt wollte dann sehen, was weiter zu thun sei. Könnten es Fritz und Jack umgehen, selbst bemerkt zu werden, so wäre das um so besser.

Vielleicht empföhle es sich auch – dieser Gedanke ging von Ernst aus – daß Fritz und Jack selbst für Wilde gehalten würden. Sie könnten sich ja, neben Anlegung eines entsprechenden Costüms, Gesicht, Arme und Hände schwärzen, ein Mittel, dessen sich Fritz schon bedient hatte, als er Jenny bei der Perlenbucht rettete. Die Besatzung des fremden Schiffes würde jedenfalls weniger verwundert sein, bei diesem Lande im Indischen Ocean Schwarze anzutreffen.

Ernsts Vorschlag erschien recht zweckmäßig. Die beiden Brüder verkleideten sich als Eingeborene der Nicobaren und schwärzten sich dann Gesicht und Arme mit Ruß. Hierauf stiegen sie in den Kajak und eine halbe Stunde später war dieser schon außerhalb der engen Einfahrt verschwunden.

Selbstverständlich verfolgten ihn Herr und Frau Zermatt, Jenny. Ernst und Franz mit den Blicken, so lange er sichtbar war, und kehrten nach Felsenheim erst zurück, als sie das Boot aus der Rettungsbucht hatten hinausgleiten sehen.

Auf der Höhe der Haifischinsel angelangt, steuerte Fritz in der Weise, daß sie sich dem gegenüberliegenden Ufer näherten. Im Falle, daß eine von dem Fahrzeuge abgestoßene Schaluppe die äußerste Landspitze bereits passirt hätte, konnte der Kajak sich dann hinter den Uferfelsen verbergen und seine Insassen waren immer noch in der Lage, weitere Umschau zu halten.

Es bedurfte voller zwei Stunden, das Cap zu erreichen, das von hier noch über zwei Lieues entfernt lag. Bei der herrschenden Brise aus Norden [30] hätte das kleine Segel nichts nützen können. Die inzwischen eingetretene Ebbeströmung begünstigte indeß das Vorwärtskommen des leichten Fahrzeuges.

Das war das erstemal, daß das Cap umschifft werden sollte, seit die Familie Zermatt in der Rettungsbucht Zuflucht gefunden hatte. Welch ein Unterschied gegenüber dem Cap der Getäuschten Hoffnung, das sich in nordwestlicher Richtung vier Lieues von hier erhob! Wie dürr und unfruchtbar zeigte sich der östliche Theil der Neuen Schweiz! An der Küste hier zogen sich sandige, von schwärzlichem Gestein durchsetzte Dünen hin, vor denen sich bis auf mehrere hundert Toisen jenseit des Vorgebirges ein Klippenkranz ausdehnte, gegen den das offene Meer selbst bei schönem Wetter heftig anbrandete.

Als der Kajak um die letzten Felsen herumgekommen war, konnten Fritz und Jack das östliche Ufer weithin übersehen. Es verlief, die Neue Schweiz an dieser Seite begrenzend, ziemlich genau von Norden nach Süden. Wenn jene also keine Insel war, konnte sie wenigstens nur im Süden mit einem Festlande zusammenhängen. Der Kajak glitt längs des Ufers hin, und da er sich immer innerhalb des Klippengürtels hielt, konnte er sicherlich nur schwer entdeckt werden.

Eine Lieue von hier und in einer engen Bucht zeigte sich ein dreimastiges Schiff mit halbgereesten Bramsegeln, das hier offenbar nur wegen nothwendiger Ausbesserungen ankerte, und auf dem benachbarten Ufer waren mehrere Zelte errichtet.

Der Kajak näherte sich dem Schiffe bis auf sechs Kabellängen. Sobald er von jenem aus bemerkt worden war, konnten Fritz und Jack die Freundschaftszeichen gar nicht mißverstehen, die man ihnen von Bord her machte. Einige englische Worte, die sie gerade noch verstehen konnten, belehrten sie auch, daß man sie für Eingeborene ansah. Sie selbst konnten sich nicht täuschen, welcher Nalionalität das Schiff angehörte, denn vom Top seines Besanmastes wehte die britische Flagge. Es war eine englische Corvette mit zehn Geschützen.

Es lag also eigentlich gar kein Hinderniß vor, sich mit dem Kapitän der Corvette in Verbindung zu setzen.

Jack wollte das auch thun, doch Fritz widersprach ihm entschieden. Da sie einmal versprochen hätten, sogleich nach Feststellung der Lage und der Nationalität des gesuchten Schiffes nach Felsenheim zurückzukehren, bestand er darauf, Wort zu halten. Der Kajak drehte also wieder nach Norden bei und glitt nach zweiundeinhalbstündiger Fahrt durch die enge Wasserstraße der Einfahrt in die Rettungsbucht hinein.

[31]
3. Capitel
Drittes Capitel.
Die britische Corvette »Licorne«. – Die vernommenen Kanonenschüsse. – Ankunft der Pinasse. – Die Familie Zermatt. – Die Familie Wolston. – Trennungspläne. – Verschiedene Tauschgeschäfte. – Der Abschied. – Abfahrt der Corvette.

Die »Licorne«, eine kleine Corvette mit zehn Geschützen, die die britische Flagge führte, befand sich auf einer Art Rundfahrt und war jetzt auf dem Wege von Sydney (Australien) nach dem Cap der Guten Hoffnung. Der Befehlshaber, Lieutenant Littlestone, hatte eine Besatzung von sechzig Mann unter sich. Gewöhnlich nimmt ja ein Kriegsschiff keine Passagiere auf, die »Licorne« hatte aber Erlaubniß erhalten, eine englische Familie an Bord zu nehmen, deren Haupt aus Gesundheitsrücksichten nach Europa zurückkehren mußte. Die Familie bestand aus einem Herrn Wolston, Maschinen-Ingenieur, seiner Gattin, Merry Wolston, und aus seinen zwei Töchtern, Annah und Doll, von denen die eine siebzehn, die andere vierzehn Jahre zählte. Zu ihr gehörte außerdem noch ein Sohn, James Wolfton, der mit seiner Frau und seinem Kinde gegenwärtig in Capstadt wohnte.

Im Juli 1816 hatte die »Licorne« den Hafen von Sydney verlassen und sich, nach einer Fahrt längs der Südküste von Australien, nach den nordöstlichen Theilen des Indischen Oceans gewendet.

Bei dieser Fahrt sollte der Lieutenant Littlestone auf Befehl der Admiralität unter diesen Breiten kreuzen und ebenso an der Westküste Australiens wie auf den benachbarten Inseln nachforschen, ob es noch Ueberlebende von dem »Dorcas« gäbe, der seit dreißig Monaten verschollen war. Wo dieser gescheitert war, wußte niemand, obgleich an dem Unfalle kein Zweifel sein konnte, da der zweite Officier und drei Matrosen des Schiffes – die einzigen von denen, die dessen große Schaluppe besetzt gehabt hatten, aus dem Meere aufgefischt und nach Sydney zurückgebracht worden waren. Was den Kapitän Greenfield, die Matrosen und die Passagiere – darunter die Tochter des Obersten Montrose – betraf, konnte man nach dem Berichte, den der zweite Officier über den Schiffbruch erstattet hatte, kaum noch die Hoffnung hegen, sie wiederzufinden. Die Regierung von Großbritannien hatte aber dennoch weitere Nachforschungen veranlaßt, die sich über den östlichen Theil des Indischen Oceans bis in die Nähe des Meeres von Timor erstrecken sollten. Hier gab es zahlreiche, von Handelsschiffen [32] nur selten angelaufene Inseln, und es empfahl sich, davon alle zu besuchen, die in der Nachbarschaft des Meerestheiles lagen, wo der »Dorcas« jedenfalls gescheitert war.


Es war eine englische Corvette mit zehn Geschützen. (S. 31.)

Infolgedessen hatte die »Licorne« sich nach Umschiffung des Caps Leuwin nach Norden zu gewendet und nach vergeblichem Aufenthalte an einigen Sundainseln den Weg nach dem Cap wieder eingeschlagen. Da wurde sie von heftigen Stürmen überrascht, gegen die sie eine volle Woche, nicht ohne mehrfache Beschädigungen zu erleiden, ankämpfen mußte, und daraufhin war sie genöthigt [33] gewesen, eine geschützte Stelle aufzusuchen, um ihre Havarien auszubessern.

Am 8. October meldeten die Wachen Land im Süden, wahrscheinlich eine Insel, die aber auch auf den neuesten Seekarten noch nicht eingezeichnet war. Der Lieutenant Littlestone ließ auf das unbekannte Land zusteuern und fand auch glücklicherweise eine Zufluchtsstätte in einem Landeinschnitte an dessen östlicher Küste, der nicht nur gegen schlimme Winde Schutz gewährte, sondern auch einen vortrefflichen Ankergrund bot.

Die Mannschaft ging hier sofort ans Werk. Am Strande und am Fuße des felsigen Steinufers wurden einige Zelte aufgeschlagen. Man richtete ein förmliches Lager ein, immer unter Berücksichtigung der Maßnahmen, die die Klugheit erheischte. Dieser Küstenstrich konnte ja von Wilden bewohnt sein oder von solchen heimgesucht werden, und man weiß doch, daß die Eingeborenen im Indischen Ocean sich eines, leider gerechtfertigten, sehr übeln Rufes erfreuen.

Die »Licorne« lag nun hier erst seit zwei Tagen in Sicherheit, als die Aufmerksamkeit des Befehlhabers am Morgen des 10. October durch einen zweimaligen, von Westen herschallenden Kanonendonner erregt wurde.

Diese zweifache Detonation verdiente eine Antwort, und die »Licorne« gab sie durch eine Salve aus drei Geschützen, die in der Batterie an Backbord gelöst wurden.

Der Lieutenant Littlestone hatte nun alles weitere einfach abzuwarten. Sein in Reparatur befindliches Schiff hätte nicht die Anker lichten können, um aus der engen Bucht zu steuern und das im Nordosten sichtbare Cap zu umschiffen. Mindestens bedurfte es noch einiger Tage, ehe es wieder in See stechen konnte. Jedenfalls zweifelte der Befehlshaber indeß nicht daran, daß auch die Schüsse der Corvette vernommen worden wären, da gerade Seewind wehte, und er hielt das demnächstige Erscheinen eines Schiffes in Sicht der Bai für mehr als wahrscheinlich.

Es wurden deshalb mehrere Leute in die Takelage zum Ausguck befohlen. Am Abend hatte sich noch kein Schiff gezeigt. Das Meer blieb im Norden verlassen, ebenso verlassen der Theil des Ufers, der an die Bogenlinie der Bai grenzte. Von der Landung einer Abtheilung seiner Mannschaft und der Aussendung auf Kundschaft hatte der Lieutenant Littlestone abgesehen, da er seine Leute keinem gefährlichen Zusammentreffen aussetzen wollte. Die Umstände verlangten das ja auch so gebieterisch nicht. Sobald die »Licorne« in der Lage [34] wäre, ihren Ankerplatz zu verlassen, sollte sie der Linie des Landes folgen, dessen Lage – 19 Grad 30 Minuten südlicher Breite und 114 Grad 5 Minuten östlicher Länge von Ferro, jener im Atlantischen Ocean zur Gruppe der Canarien gehörigen Insel – mit größter Sorgfalt ermittelt worden war. Es unterlag keinem Zweifel, daß das Land eine Insel sei, denn in diesem Theile des Indischen Oceans giebt es kein Festland.

Drei Tage verstrichen ohne Aenderung der Sachlage. Freilich war ein heftiger Sturm losgebrochen, der Meer und Luft furchtbar aufwühlte, während die »Licorne« in Sicherheit unter dem Schutze der Uferwand lag.

Da ertönten am 13. October mehrere Kanonenschüsse, und zwar von derselben Richtung her wie die früheren.

Auf diese Salve, deren Schüsse durch einen Zeitraum von je zwei Minuten getrennt waren, antwortete die »Licorne« durch sieben Schüsse mit denselben Zwischenräumen. Daraus, daß die neuen Detonationen offenbar nicht aus geringerer Entfernung wie die ersten herkamen, schloß der Commandant, daß das Fahrzeug, von dem sie herrührten, seine Lage nicht verändert haben werde.

An diesem Tage gegen vier Uhr Nachmittags beobachtete der Lieutenant Littlestone, als er sich auf dem Verdeck erging, durch das Fernrohr ein leichtes Boot, das, mit zwei Männern darin, vom Vorgebirge aus zwischen den Klippen hinfuhr. Die Männer, die eine tiefdunkle Hautfarbe hatten, kannten nur Eingeborene von malaiischer oder australischer Rasse sein. Ihr Erscheinen bewies also, daß dieser Theil der Küste bewohnt war. Daraufhin wurden die nöthigen Maßregeln zur Abwehr eines etwaigen Ueberfalles getroffen, der in diesen Gebieten des Indischen Oceans immer zu befürchten war. Inzwischen näherte sich das Canot, eine Art Kajak. Man ließ es herankommen. Als es dann aber nur noch sechs Kabellängen von der Corvette entfernt war, hörte man ziemlich deutlich, daß sich die Männer einer völlig unverständlichen Sprache bedienten.

Der Lieutenant Littlestone und seine Officiere schwenkten ihre Taschentücher und streckten die Arme empor, zum Zeichen, daß sie keine Waffen führten. Der Kajak schien aber nicht geneigt, noch weiter heranzukommen. Schon im nächsten Augenblicke flog er, von den Pagaien kräftig angetrieben, davon und verschwand bald hinter dem Vorgebirge.

Die Nacht war schon angebrochen, als Lieutenant Littlestone sich mit seinen Officieren noch berieth, ob es rathsam sei, die große Schaluppe zur [35] Besichtigung der östlichen Küste auszusenden. Die Sachlage verlangte doch Aufklärung. Die Leute, die heute Morgen die Kanonenschüsse abgegeben hatten, waren doch sicherlich keine Wilden. Dagegen konnte man wohl annehmen, daß ein im Westen der Insel in Seenoth befindliches Schiff Hilfe verlange.

Daraufhin wurde denn beschlossen, am nächsten Tag eine Auskundschaftung in jener Richtung vorzunehmen, und die Schaluppe sollte um neun Uhr Morgens eben niedergelassen werden, als Lieutenant Littlestone dieses Manöver unterbrach.

Dicht vor dem Cap erschien jetzt – nicht ein Kajak oder eine Pirogue, wie sie die Eingeborenen benutzen, sondern – ein leichtes Fahrzeug von neuerer Bauart, eine Pinasse von etwa fünfzehn Tonnen. Sobald sie in die Nähe der »Licorne« gekommen war, hißte sie eine roth und weiße Flagge.

Wie erstaunten da der Lieutenant, seine Officiere und die Mannschaft der Corvette, als sie von der Pinasse ein Boot abstoßen sahen, das am Achter als Friedenszeichen eine weiße Flagge führte und auf die Corvette zusteuerte.

Zwei Männer kamen daraus an Bord der »Licorne« und stellten sich hier vor.

Es waren Schweizer, Johann Zermatt und sein ältester Sohn Fritz, Schiffbrüchige von dem Segler »Landlord«, von dem man seit reichlich zehn Jahren nichts gehört hatte.

Die Engländer geizten nicht mit herzlichen Begrüßungen des Vaters und des Sohnes. Auf ihre an den Lieutenant Littlestone gerichtete Einladung, mit an Bord der Pinasse zu kommen, ging dieser freudig ein.

Es kann wohl nicht auffallen, daß der ältere Zermatt einen gewissen Stolz darein setzte, dem Befehlshaber der »Licorne« erst seine blühend gesunde Lebensgefährtin und dann seine anderen drei Söhne vorzustellen. Jedermann mußte den entschlossenen Ausdruck ihres intelligenten Gesichtes and ihre strotzende Gesundheit bewundern. Es war in der That ein Vergnügen, diese prächtige Familie zu sehen. Darauf wurde auch Jenny dem Lieutenant Littlestone vorgestellt.

»Welches Land ist das aber, das Sie seit mehr als zehn Jahren bewohnen, Herr Zermatt? fragte dieser.

– Wir haben es die Neue Schweiz genannt, antwortete Zermatt, ein Name, der ihm hoffentlich bleiben wird.

– Ist es eine Insel, Herr Commandant? fragte Fritz.

– Ja, eine Insel im Indischen Ocean, die die Karten noch nicht enthalten.

[36] – Wir wußten bis jetzt noch nicht, daß es eine Insel sei, denn aus Besorgniß vor einer gefährlichen Begegnung haben wir diesen Theil der Küste niemals verlassen.

– Daran haben Sie recht gethan, denn wir haben wirklich Eingeborene bemerkt, erwiderte der Lieutenant Littlestone.

– Eingeborene? rief Fritz, der sein Erstaunen nicht verhehlte.

– Gewiß, versicherte der Commandant. Gestern... in einer Art Pirogue, oder richtiger, in einem Kajak.

– Diese Eingeborenen waren niemand anders als mein Bruder und ich, fiel Jack lachend ein. Wir hatten uns Gesicht und Arme geschwärzt, um für Wilde gehalten zu werden.

– Wozu aber diese Verkleidung?

– Weil wir nicht wußten, mit wem wir es zu thun haben könnten, Herr Commandant! Ihr Schiff konnte ja auch ein Seeräuberschiff sein.

– Oho! rief der Lieutenant Littlestone. Ein Schiff Seiner Majestät des Königs Georg des Dritten!...

– Ja, ja, ich bekenne unseren Irrthum, lenkte Fritz ein. Es erschien uns aber dennoch rathsamer, erst noch nach unserer Wohnstätte Felsenheim zurückzukehren, um dann alle zusammen wiederzukommen.

– Ich füge hinzu, fuhr der ältere Zermatt fort, daß wir uns das gleich für den nächsten Morgen vorgenommen hatten. Fritz und Jack hatten bemerkt, daß Ihr Schiff in Reparatur war, und wir nahmen daher an, daß wir es in der kleinen Bucht hier antreffen würden.«

Wie glücklich fühlte sich aber Jenny, als der Lieutenant Littlestone ihr sagte, daß ihm der Name des Obersten Montrose nicht unbekannt sei. Vor der Abfahrt der »Licorne« nach dem Indischen Meere hatten die Zeitungen überdies das Eintreffen des Obersten in Portsmouth und darauf in London gemeldet.

Seit jener Zeit aber, und nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, daß die Passagiere und die Mannschaft des »Dorcas«, mit Ausnahme des in Sydney gelandeten zweiten Officiers und dreier Matrosen, umgekommen wären, wurde der unglückliche Vater eine Beute der Verzweiflung, da er annehmen mußte, daß bei jener Katastrophe auch seine Tochter das Leben eingebüßt hätte. Das konnte für ihn nur ausgeglichen werden durch seine Freude, wenn er vernahm, daß Jenny aus dem Schiffbruche des »Dorcas« gerettet worden war.

[37] Inzwischen wurde die Pinasse zurecht gemacht, um nach der Rettungsbucht heimzukehren. Herr und Frau Zermatt wollten dem Lieutenant Littlestone in ihrem Heim Unterkunft bieten, dieser aber wollte sie wieder wenigstens bis zum Ende des Tages bei sich behalten. Da sie darauf eingingen, die Nacht über hier in der kleinen Bucht zu bleiben, wurden am Fuße der Felsen noch drei Zelte aufgeschlagen, eines für die vier Söhne, das zweite für Herrn und Frau Zermatt und das dritte für Jenny Montrose.

Nun konnte die Geschichte der Familie Zermatt seit deren erstem Betreten der Neuen Schweiz eingehend erzählt werden. Es war ja erklärlich, daß der Commandant und seine Officiere daraufhin den Wunsch äußerten, die Anlagen der kleinen Colonie und die bequemen Wohneinrichtungen von Felsenheim und Falkenhorst kennen zu lernen.

Nach einer vortrefflichen Mahlzeit, die an Bord der »Licorne« bereitet worden war, verabschiedeten sich Zermatt und seine Gattin, deren vier Söhne und Jenny vom Lieutenant Littlestone und begaben sich in ihre Zelte am Lande zur Ruhe.

Als sie allein waren, unterhielt sich der ältere Zermatt noch eine Zeit lang mit seiner Gattin.

»Meine liebe Betsie, begann er, da wäre uns nun Gelegenheit geboten, nach Europa heimzukehren und unsere Landsleute, unsere Freunde wiederzusehen. Wir müssen aber bedenken, daß unsere Lage sich jetzt wesentlich verändert hat. Die Neue Schweiz ist keine unbekannte Insel mehr; andere Schiffe werden bald genug hier eintreffen...

– Was willst Du mit dem allen sagen? fragte Frau Zermatt.

– Nun, wir werden uns entscheiden müssen, ob wir diese Gelegenheit benützen wollen...

– Darüber, lieber Mann, antwortete Betsie, hab' ich schon seit einigen Tagen nachgedacht und bin zu folgendem Ergebnisse gekommen: Warum sollten wir von hier weggehen, wo wir uns so glücklich gefühlt haben? Warum sollten wir versuchen, Verbindungen wieder anzuknüpfen, die die Zeit und unser Fernsein ja völlig zerrissen haben? Wir sind doch allmählich in die Jahre gekommen, wo man sich nach Ruhe und Frieden sehnt und kaum noch Lust hat, weite Reisen zu wagen.

– Ah, mein Herz, rief Zermatt, Betsie umarmend, Du hast in meinem Innern gelesen. Wahrlich, es wäre eine Undankbarkeit gegen die Vorsehung, [38] unsere Neue Schweiz zu verlassen! Es handelt sich hierbei freilich nicht um uns allein... unsere Kinder...

– Unsere Kinder? fiel Betsie ein. O, ich begreife recht wohl, daß sie das Verlangen haben, in ihr Vaterland zurückzukehren, sie sind ja jung, ihnen winkt noch eine Zukunft... und wenn auch ihr Fortgehen uns schwer genug ankommen wird, dürfen wir sie doch wohl nicht zurückhalten.

– Du hast recht, Betsie; hierin stimme ich mit Dir ganz überein.

– Unsere Söhne mögen sich getrost an Bord der »Licorne« einschiffen. Wenn sie fortgehen, werden sie ja auch einmal wiederkommen.

– Wir dürfen indeß auch Jenny nicht vergessen, fuhr Zermatt fort, jetzt, wo wir wissen, daß ihr Vater seit zwei Jahren nach England zurückgekehrt ist, daß er sie seit zwei Jahren beweint! Es ist doch nur natürlich, daß sie zu ihrem Vater heimzukehren wünscht.

– Es wird uns freilich sehr schmerzlich berühren, sie von hier scheiden zu sehen, wo sie so gut wie unsere Tochter geworden ist, antwortete Betsie; Fritz empfindet für sie eine tiefe Zuneigung, die von ihr offenbar erwidert wird. Immerhin haben wir Jenny ihren freien Willen zu lassen!«

Die beiden Gatten plauderten über diese Angelegenheit noch eine Zeit lang weiter. Sie waren sich völlig klar über die Folgen, die die unerwartete Veränderung ihrer Lage mit sich führen konnte, und erst in später Nachtstunde fanden sie infolge ihrer Gemüthserregung eine Stunde unruhigen Schlummers.

Am folgenden Tage setzte die Pinasse, nachdem sie durch die Bai und um das Cap im Osten gesegelt war, den Lieutenant Littlestone, zwei seiner Officiere, die Familie Zermatt und die Familie Wolston an der Mündung des Schakalbaches ans Land.

Der Engländer beinächtigte sich dasselbe Gefühl der Bewunderung und des Erstaunens, wie vor Jahren Jenny Montrose's, als sie zum erstenmale nach Felsenheim kam. Der ältere Zermatt empfing seine Gäste in der Winterwohnung und wollte sie später nach dem »Schloß« Falkenhorst, nach dem Landhause des Prospect-Hill, den Meiereien von Waldegg und Zuckertop und nach der Einsiedelei Eberfurt geleiten.

Der Lieutenant Littlestone und seine Officiere bewunderten rückhaltlos das fröhliche Gedeihen dieses Gelobten Landes, das es der Thatkraft, der Einsicht und der herzlichen Einigkeit einer Familie von Schiffbrüchigen verdankte, die nun schon fast elf Jahre auf dieser menschenleeren Insel weilte. Bei Beendigung[39] des bescheidenen Gastmahles, das ihnen im größten Zimmer von Felsenheim dargeboten worden war, unterließen es die Gäste auch nicht, zu Ehren der Colonisten der Neuen Schweiz zu trinken.

Im Laufe des Tages hatten Wolston, seine Frau und seine Töchter Gelegenheit, mit Herrn und Frau Zermatt näher bekannt zu werden. So erscheint es nicht auffallend, daß gegen Abend vor der Abfahrt Wolston, der seiner Gesundheit wegen recht gut einen mehrwöchigen Aufenthalt auf dem Lande brauchen konnte, sich noch einmal an den älteren Zermatt wendete.

»Herr Zermatt, begann er, darf ich mit vollem Vertrauen und ganz aufrichtig zu Ihnen reden?

– O, natürlich!

– Das Leben, das Sie hier auf der Insel führen, könnte mir ausnehmend gefallen, fuhr Wolston fort. Mir kommt es vor, als befände ich mich in dieser herrlichen Natur gleich besser, und ich würde mich glücklich schätzen, irgendwo in Ihrem Gelobten Lande eine Zeit lang verweilen zu dürfen... selbstverständlich, wenn Sie dagegen nichts einzuwenden haben.

– Nicht das geringste, Herr Wolston, beeilte sich Zermatt zu antworten. Meine Frau and ich werden hoch erfreut sein, Sie in unsere kleine Colonie aufzunehmen, und vielleicht etwas zu Ihrem Besten beitragen zu können. Was übrigens uns beide betrifft, haben wir beschlossen, unsere Tage in der Neuen Schweiz zu beschließen... sie ist uns ja zum zweiten Vaterlande geworden, darum wollen wir sie auch nie mehr verlassen.

– Ein Hurrah der Neuen Schweiz!« riefen die Tischgäste in freudiger Begeisterung.

Dabei leerten sie ihre Gläser mit dem köstlichen Canarienwein, den Frau Zermatt an Stelle des hiesigen Gewächses bei besonderen Gelegenheiten vorzusetzen pflegte.

»Und ein Hoch auch auf die, die auf jeden Fall hier bleiben wollen!« riefen Jack und Ernst dazu.

Fritz hatte kein Wort geäußert und Jenny senkte schweigend den Kopf.

Als die Gäste darauf weggefahren waren, um auf die »Licorne« zurückzukehren, und Fritz sich mit seiner Mutter allein sah, umarmte er diese, doch ohne eine Silbe zu sprechen. Als er sie aber so betrübt sah bei dem Gedanken, daß ihr ältester Sohn sie verlassen könne, rief er, vor ihr niedersinkend:

»Nein, Mutterherz! Eher als sie niemals... Nein, eher gehe ich nicht fort!«


[40]
Nach einer vortrefflichen Mahlzeit, die an Bord... (S. 38)

[41] [43]Auch Jenny, die inzwischen herangetreten war, schluchzte, während sie sich Frau Zermatt in die Arme warf:

»Verzeihung! Verzeihung, wenn ich Ihnen Kummer bereite, ich, die Sie wie die eigene Mutter liebt und verehrt! Fern von hier weilt aber mein armer Vater... darf ich da zaudern?«

Frau Zermatt und Jenny blieben noch beisammen und nachdem sie sich gründlich ausgesprochen hatten, schien sich Betsie mit dem Gedanken an eine Trennung vertraut gemacht zu haben.

Da trat der ältere Zermatt mit Fritz herein, und Jenny wandte sich an den ersteren:

»Mein liebster Vater – es war das erstemal, daß sie ihm diesen Namen gab – segnen auch Sie mich, wie meine zweite Mutter mich gesegnet hat! Lassen Sie uns gehen... Lassen Sie uns nach Europa reisen... Ihre Kinder kehren bestimmt hierher zurück, und fürchten Sie nicht, daß irgend etwas sie jemals von Ihnen scheiden könnte! Der Oberst Montrose ist ein Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, er wird für alles, was seine Tochter Ihnen schuldet, aufkommen!... Fritz muß ihn in England mit aufsuchen! Vertrauen Sie uns einen dem anderen an!... Ihr Sohn wird für mich einstehen, wie ich für ihn!«

Mit Zustimmung des Befehlshabers der »Licorne« kam es nun zu folgender Abmachung: Durch die Ausschiffung der Familie Wolston wurden auf der Corvette mehrere Plätze frei. Fritz, Franz und Jenny sollten diese einnehmen, und auch Doll, die jüngste Tochter Wolston's, die sich zu ihrem Bruder nach Capstadt begeben und mit ihm, seiner Gattin und seinem Kinde, nach der Neuen Schweiz zurückkehren sollte. Ernst und Jack gedachten dagegen bei den Eltern zu bleiben.

Was den Lieutenant Littlestone betraf, war die ihm übertragene Aufgabe ja erledigt, erstens, weil er Jenny Montrose, die einzige Ueberlebende vom »Dorcas«, gefunden hatte, und zweitens, weil diese Insel, die Neue Schweiz, einen vorzüglichen Zufluchtshafen im Indischen Ocean darbot. Da der ältere Zermatt, der sie jetzt, als der erste, der sie betreten hatte, thatsächlich besaß, sie Großbritannien anzubieten wünschte, versprach Lieutenant Littlestone die hierbei nöthigen Schritte zu thun und ihm seiner Zeit die Einwilligung der britischen Regierung zu melden.

Es war hiernach anzunehmen, daß die »Licorne« zum Zwecke der Besitzergreifung hierher zurückkehren werde. Die Corvette sollte dann auch Fritz, Franz[43] und Jenny Montrose wieder mitbringen und in Capstadt James Wolston, dessen Schwester Doll und dessen Frau und Kind an Bord nehmen. Was Fritz betraf, sollte dieser mit Zustimmung seiner Eltern die für seine Verheirathung – eine Ehe, die Oberst Montrose sicherlich mit Freude begrüßen würde – nöthigen Papiere gleich mitnehmen, und man gab sich sogar der Hoffnung hin, daß der Oberst die jungen Ehegatten nach der Neuen Schweiz begleiten werde.

In dieser Weise war also alles besprochen. Immerhin würde es eine schmerzliche, herzbrechende Trennung werden, wenn die Mitglieder der Familie Zermatt sich für eine, doch nicht gar so kurze Zeit trennen mußten. Mit der Rückkehr Fritzens, Franzens, Jennys, ihres Vaters und vielleicht gar einiger Colonisten, die sich diesen zu folgen entschlossen hätten, zog dann das Glück wieder hier ein, ein Glück, das nichts mehr stören sollte und das das weitere Aufblühen der Colonie jedenfalls fördern mußte.

Jetzt wurden sofort die nöthigen Vorbereitungen in Angriff genommen. Noch wenige Tage, und die »Licorne« würde bereit sein, die Einbuchtung der östlichen Küste zu verlassen, die nach ihr getauft worden war. Sofort nach vollendeter Auftakelung sollte die englische Corvette auslaufen und nach dem Cap der Guten Hoffnung segeln.

Jenny wollte natürlich einige suchen, die sie eigenhändig auf dem Rauchenden Felsen angefertigt hatte, mitnehmen oder vielmehr dem Oberst Montrose mitbringen. Jeder Gegenstand erinnerte sie ja an das Leben, das sie in mehr als zweijähriger Verwaistheit so muthig ertragen hatte. Fritz bekümmerte sich auch um diese Gegenstände, die er gleich einem Schatze behüten wollte.

Der ältere Zermatt übergab seinen Söhnen allerlei, was einen Handelswerth hatte und auf den Märkten Englands voraussichtlich verkauft werden konnte, darunter Perlen, die in großer Menge aufgefischt worden waren und einen hohen Werth repräsentirten, Korallen, die man an den Eilanden und längs der Nautilusbai gesammelt hatte, und Vanilleschoten, mit denen mehrere Säcke gefüllt wurden.

Mit dem durch den Verkauf dieser verschiedenen Dinge erlangten Gelde sollte Fritz allerlei einkaufen, was für die Colonie gebraucht würde, einen Vorrath, der auf dem ersten Schiffe verfrachtet werden sollte, das die Colonisten für ihre Rückfahrt gewählt hätten. Diese Waaren bildeten übrigens eine so bedeutende Ladung, daß sie ein Fahrzeug von mehreren hundert Tonnen zu ihrer Ueberführung beanspruchten.

[44] Andererseits schloß Zermatt mit dem Lieutenant Littlestone auch verschiedene Tauschgeschäfte ab. Er verschaffte sich dadurch mehrere Fäßchen Wein und Branntwein, Kleidungsstücke, Wäsche und Schießbedarf, darunter ein Dutzend Tönnchen Pulver nebst Gewehrkugeln, Blei und Geschosse. Konnte die Neue Schweiz auch die gewöhnlichen Bedürfnisse ihrer Bewohner befriedigen, so war es doch räthlich, mit allem wohlversorgt zu sein, was die Benützung der Feuerwaffen sicherte. Das machte sich nicht allein wegen der Jagd nöthig, sondern auch in Hinblick auf die Vertheidigung für den – wenn auch wenig wahrscheinlichen – Fall eines Ueberfalles der Colonisten durch Seeräuber oder durch wilde Eingeborene, wenn es solche in der noch unbekannten Berggegend im südlichen Theile der Insel gab. Gleichzeitig übernahm es der Commandant der »Licorne«, den Angehörigen der früher umgekommenen Passagiere die Werthsachen zuzustellen, die von dem gescheiterten »Landlord« noch geborgen worden waren. Neben baarem Gelde im Betrage von mehreren tausend Piastern befanden sich darunter Halsbänder, Spangen, Ringe, goldene und silberne Uhren, kurz, eine ganze Sammlung kostbarer, wenn auch oft unnützer Dinge. Abgesehen von ihrem Geldwerthe, mußten diese Gegenstände für die Verwandten der Verunglückten doch auch als Andenken von hohem Werthe sein.

Ein Tagebuch, das der ältere Zermatt seit der ersten Zeit seines Aufenthaltes hier sorgsam geführt hatte, sollte Fritz nach England mitnehmen, um der Neuen Schweiz ihren Platz in der geographischen Nomenclatur zu sichern. 1

Am Tage vor der Abfahrt waren diese Vorbereitungen beendigt. Alle Stunden, über die er frei verfügen konnte, hatte der Lieutenant Littlestone im angenehmsten Verkehr mit der Familie Zermatt verbracht. Man gab sich hier der sicheren Erwartung hin, daß er vor Ablauf eines Jahres, nach dem Anlaufen des Caplandes und nachdem er in London die Befehle der Admiralität bezüglich der Colonie erhalten hätte, zurückkehren werde, um von dieser officiell im Namen Großbritanniens Besitz zu ergreifen. Mit dem Wiedereintreffen der »Licorne« würde die ganze Familie Zermatt wieder beisammen sein und sich in Zukunft niemals mehr trennen.

Schließlich kam der 19. October heran.

Seit dem Tage vorher hatte die Corvette die »Licorne«-Bucht verlassen und eine Kabellänge von der Haifischinsel entfernt Anker geworfen.

[45] Ein trauriger Tag für das Zermatt'sche Ehepaar und für Ernst und Jack, von denen Fritz, Franz und Jenny am folgenden Morgen scheiden sollten, ebenso wie für Herrn und Frau Wolston, da ja deren Töchterchen Doll auch mit abfuhr. Wer hätte jetzt von all diesen muthigen Herzen eine ihre Kräfte übersteigende Festigkeit fordern können, und wie hätten sie vermocht, ihre Thränen zurückzuhalten?

Der ältere Zermatt bemühte sich zwar, seinen Schmerz zu verhehlen, doch gelang ihm das nur wenig. Betsie und Jenny lagen einander weinend in den Armen. Mit Tagesanbruch entführte die kleine Schaluppe die Abreisenden nach der Haifischinsel. Zermatt und seine Gattin, Ernst, Jack und Herr und Frau Wolston nebst deren älteren Tochter gaben ihnen das Geleit.

Hier auf der kleinen Insel, nahe der Einfahrt zur Rettungsbucht wurde zum letztenmale Abschied genommen, während die Schaluppe das gesammte Gepäck nach der Corvette beförderte. Alle preßten einander lang und innig in die Arme. Schriftlich in Verbindung zu bleiben, davon konnte keine Rede sein, denn zwischen England und der Neuen Schweiz war kein Briefverkehr möglich. So sprachen alle nur von dem ersehnten Wiedersehen, von der möglichst schnellen Heimkehr und von der Wiederaufnahme des gemeinschaftlichen Lebens. Dann nahm das große Boot der »Licorne« Jenny Montrose, Doll Wolston, sowie Fritz und Franz auf und brachte sie an Bord des Kriegsschiffes.

Ein halbe Stunde später lichtete dieses die Anker und steuerte bei recht günstigem Nordostwind auf die hohe See hinaus, nachdem es mit drei Kanonenschüssen die Flagge der Neuen Schweiz salutirt hatte.

Diesen drei Schüssen antworteten die jetzt von Ernst und Jack bedienten Geschütze der Haifischinsel. Nach einer weiteren Stunde waren auch die obersten Segel der »Licorne« hinter den äußersten Felsen des Caps der Getäuschten Hoffnung verschwunden.

[46]
Fußnoten

1 Dieses Tagebuch erschien später unter dem Titel »Der Schweizer Robinson«.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Die Vergangenheit der Neuen Schweiz. – Ein Rückblick auf zehn Jahre. – Die erste Ansiedlung der Familie Zermatt. – Die wichtigsten Vorkommnisse nach dem Tagebuche des älteren Zermatt. – Das Ende des zehnten Jahres.

Zum besseren Verständniß für den Leser folge nun hier eine gedrängte Uebersicht über die ersten Jahre, die die Schiffbrüchigen vom »Landlord« in der Neuen Schweiz zugebracht hatten.

Am 7. October 1806 wurde eine ganze Familie an ein unbekanntes Land im Osten des Indischen Oceans geworfen.

Das Haupt der aus der Schweiz stammenden Familie nannte sich Johann Zermatt; seine Gattin hieß Betsie. Der erstere zählte damals sechsunddreißig, die zweite dreiunddreißig Jahre. Sie hatten vier Kinder, vier Söhne, dem Alter nach geordnet: Fritz von fünfzehn, Ernst von zwölf, Jack von zehn und Franz von fünf Jahren.

Am siebenten Tag eines furchtbaren Sturmes war der »Landlord«, auf dem sich Zermatt mit den Seinen befand, inmitten dieses ausgedehnten Meeres aus seinem Curs verschlagen worden. Wahrscheinlich weiter nach Süden, als die Linie seiner Fahrt, getrieben, war das Schiff an seinem Bestimmungsorte Batavia, ohne diesen gesehen zu haben, vorübergekommen und auf einer Felsenbank, etwa zwei Lieues von der Küste, gescheitert.


Die steigende Fluth trieb das Wasser dem Strande zu. (S. 50.)

Zermatt war ein intelligenter und wohlunterrichteter Mann, Betsie eine muthige und opferwillige Frau. Ihre Kinder zeigten von einander abweichende Charakterzüge. Fritz war unerschrocken und körperlich sehr gewandt, Ernst der lernbegierigste, dabei aber etwas egoistisch, Jack war ziemlich unüberlegt und recht muthwillig, und Franz jener Zeit ja noch ein Kind. Im übrigen hielt die Familie aber fest zusammen und war sicherlich fähig, sich in jeder Lage zu helfen, selbst unter den höchst traurigen Verhältnissen, in die ein unglückliches Geschick sie gestürzt hatte. Daneben hegten alle ein tiefes, religiöses Gefühl. Sie hatten den einfachen und aufrichtigen Glauben des Christen, der an den Lehren der Kirche nicht mäkelt und dessen Freudigkeit auch abweichende Anschauungen nicht zu trüben vermögen.

[47] Zermatt hatte nach Veräußerung des Besitzthums der Familie jener Zeit die Heimat verlassen, um sich in einer der überseeischen holländischen Colonien anzusiedeln, die gerade in verlockendster Blüthe standen und einem unternehmenden, fleißigen Manne die günstigsten Aussichten boten.

[48] Nach einer glücklichen Fahrt über den Atlantischen Ocean und einen großen Theil des Indischen Meeres sollte aber der »Landlord«, auf dem er sich mit seiner Familie eingeschifft hatte, zu Grunde gehen. Von der ganzen Besatzung und den Passagieren des Fahrzeuges blieben er selbst, seine Gattin und seine [49] Kinder als die einzigen übrig, die sich aus dem Schiffbruche retten konnten.


Zermatt gelangte zu einem ungeheuern Magnolienbaume. (S. 52.)

Dazu war es aber nöthig gewesen, das zwischen den Rissen auf und ab schwankende Wrack so schnell wie möglich zu verlassen. Dessen Rumpf war schon geborsten, die Masten geknickt, der Kiel fast durchgebrochen, und es lag die Gefahr nahe, daß es bei seiner gegen den Wogenschlag ungeschützten Lage durch den nächsten heftigen Windstoß vollends zertrümmert und versenkt werden könnte.

Durch die Vereinigung eines halben Dutzends leerer Tonnen mittelst tüchtiger Taue und starker Planken war es Zermatt mit Unterstützung seiner Söhne gelungen, noch vor Ablauf des Tages eine Art Boot oder Floß herzustellen, das alle die Seinen aufnehmen konnte. Das Meer hatte sich inzwischen so weit beruhigt, daß es nur noch eine mäßige Dünung zeigte, und die steigende Fluth trieb das Wasser dem Strande zu. Nachdem das Nothfahrzeug an einem ausgedehnten, an der Steuerbordseite liegenden Vorgebirge vorübergekommen war, stieß es bei einem kleinen Einschnitte, durch den ein Bach ausmündete, ans Land.

Während noch die verschiedensten vom Schiffe mitgenommenen Gegenstände ans Ufer geschafft wurden, errichtete man schon ein Zelt an dieser Stelle, die später den Namen Zeltheim erhielt. Nach und nach wurde das Lager hier vollständiger ausgestattet mit vielen Frachtstücken, die Zermatt und seine Söhne an den nächsten Tagen noch aus dem Laderaume des »Landlord« bargen. Darunter befanden sich Geräthe und Werkzeuge aller Art, Leibwäsche, conservirtes Fleisch, Sämereien, Pflanzen, Gewehre, Fässer mit Wein und Liqueuren, Kistchen mit Bisquit, Käse und Schinken, Kleidungsstücke, Bettzeug – kurz alles, was ein Fahrzeug von vierhundert Tonnen an Bedürfnissen für eine neue Niederlassung mitzuführen pflegt.

Außerdem erwies sich die Küste sehr reich an Haar- und Federwild. Gruppenweise zogen Agutis, eine Art Hafen mit Eberkopf, Ondatras, eine Art Moschusratten, Büffel, Enten, Flamingos, Trappen, Auerhähne, Wasserschweine und Antilopen vorüber. Im Gewässer einer Bai, die sich vor der Bucht ausbreitete, wimmelte es von Lachsen, Stören, Heringen und vielerlei anderen Fischen; von Mollusken gab es da Miesmuscheln und Austern, von Krustenthieren Hummern, Langusten (Heuschreckenkrebse) und Krabben. Das benachbarte Land erzeugte Cassava und Bataten und war von Baumwollstanden, Cacaobäumen, Magnolien, Palmen und anderen Gewächsen der Tropenzone bedeckt.

[50] Auf diesem Lande, von dessen Lage sie keine Ahnung hatten, schien das Leben der Schiffbrüchigen reichlich gesichert zu sein.

Wir erwähnen nebenbei, daß auch einige Hausthiere nach und nach bei Zeltheim ans Ufer gesetzt werden konnten: Türk, eine englische Dogge, Bill, eine dänische Hündin, zwei Ziegen, sechs Schafe, eine tragende Zuchtsau, ein Esel, eine Kuh, eine Menge Federvieh, wie Hähne, Hühner, Kapaune, Gänse, Enten und Tauben, die sich voraussichtlich an den Wasserlachen, Sümpfen und auf den Wiesenstrecken in der Nähe der Küste halten und vermehren würden.

Die letzten Fahrten nach dem Schiffe entleerten dieses vollständig von allem, was es an werthvollen und nützlichen Dingen noch enthielt. Mehrere kurze Vierpfünder wurden ans Land geschafft, um im Nothfalle zur Vertheidigung des Lagers zu dienen, ebenso wie eine Pinasse, ein leichtes Fahrzeug, dessen sorgsam numerirte Stücke ohne große Mühe zusammengestellt werden konnten, und das man zu Ehren Betsies auf den Namen »Elisabeth« taufte. Zermatt verfügte damit über ein als Brigantine getakeltes Fahrzeug von fünfzehn Tonnen mit viereckigem Heck und mit Verdeck über dem Hintertheile. Mit diesem war es nun leicht, die Gewässer nach Osten und nach Westen hin zu befahren und die naheliegenden Vorgebirge, das eine, das sich scharf zugespitzt im Norden erhob, und das zweite, das sich Zeltheim gegenüber aufthürmte, bei Gelegenheit zu umschiffen.

Da die Mündung des Rio von hohen, schwer zugänglichen Felsen umschlossen war, mußte es leicht sein, sich hier, wenigstens gegen Raubthiere, zu vertheidigen. Ungelöst blieb aber die Frage, ob Zermatt und die Seinigen sich jetzt auf der Küste einer Insel oder eines Festlandes befanden, das die Gewässer des Indischen Oceans begrenzten.

Vor dem Schiffbruche war in dieser Beziehung von dem Kapitän des »Landlord« nur folgendes zu erfahren gewesen:

Das Schiff näherte sich bereits Batavia, als es von einem Sturme überfallen wurde. Im Laufe von sechs Tagen war es jedenfalls weit aus seinem Curse verschlagen und nach Südosten zu getrieben worden. Am letzten Tage vorher lautete das Besteck (die Ortsbestimmung) des Kapitäns: 13 Grad 40 Minuten südlicher Breite und 114 Grad 5 Minuten östlicher Länge von Ferro (Canarien). Da der Wind beständig aus Norden geweht hatte, war anzunehmen, daß bezüglich des Längengrades keine bedeutende Aenderung eingetreten sei. Hielt er an dem hundertvierzehnten Längengrade als annähernd richtig fest, so konnte Zermatt [51] bei einer Breitenbestimmung mittelst Sextanten schließen, daß der »Landlord« etwa um sechs Grade (667 Kilometer) nach Süden verschlagen worden sei, und daß die Küste bei Zeltheim zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Parallelkreise liegen werde.

Das Land hier war in runder Zahl also gegen dreihundert Seemeilen westlich von Australien oder Neuholland entfernt. Obwohl sich Zermatt jetzt im Besitze einer Pinasse sah, würde er sich, trotz des Verlangens nach einer Heimkehr ins Vaterland, nie ent schlossen haben, seine Familie auf diesem gebrechlichen Fahrzeuge der Wuth der in den hiesigen Meerestheilen so häufigen Cyklone und Tornados auszusetzen.

Unter den Verhältnissen, in denen die Schiffbrüchigen sich befanden, konnten sie weitere Hilfe nur von der Vorsehung erwarten. Jener Zeit kamen die Segelschiffe, die nach den holländischen Colonien steuerten, wenn sie durch diesen Theil des Indischen Oceans fuhren, stets sehr weit von hier vorüber. Die damals noch so gut wie unbekannte und übrigens auch schwer zugängliche Westküste Australiens hatte für den Handel wie für die Geographie keinerlei Bedeutung.

Zu Anfang begnügte sich die Familie damit, unter dem Zelte in Zeltheim zu wohnen, das am rechten Ufer des Wasserlaufes lag, der infolge eines Angriffes durch Raubthiere nach diesen der Schakalbach genannt wurde. Inmitten der hohen Felsen wurde die von keinem Seewinde gemäßigte Hitze aber nahezu erstickend.

Zermatt beschloß deshalb, sich auf dem nordsüdlich verlaufenden Theile der Küste anzusiedeln, und zwar etwas jenseits der Rettungsbucht, welch bezeichnenden Namen die Bai erhalten hatte.

Bei Gelegenheit eines Ausfluges nach dem Ende eines prächtigen Waldes, nicht fern vom Meere, gelangte Zermatt zu einem ungeheuern Magnolienbaume, der zu der Abart der Bergmagnolien gehörte und dessen niedrigste Aeste sich gegen sechzig Fuß oberhalb des Erdbodens ausbreiteten. Auf mehreren dieser starken Aeste gelang es dann dem Vater und seinen Söhnen, aus verschiedenen, vom Schiffe herrührenden Planken eine Plattform zusammenzuzimmern. Darauf wurde eine Wohnung »in der Luft« erbaut und mit einem festen Dache versehen, die man in mehrere Räume oder Zimmer theilte und ihrer Lage wegen »Falkenhorst« nannte. Bald zeigte sich hier, wie bei gewissen Weiden, die sozusagen nur noch von ihrer Rinde leben, daß diese Magnolie ihr Kernholz zum größten Theile verloren hatte. In dem Hohlraume, worin sich übrigens viele [52] Bienenschwärme angesiedelt hatten, ließ sich bequem eine Wendeltreppe errichten zum Ersatze der Strickleiter, die zuerst den Zutritt nach Falkenhorst vermittelt hatte.

Inzwischen waren mehrfache Auskundschaftungen über eine Strecke von drei Lieues unternommen und bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung ausgedehnt worden, bis zu dem Cap, das diesen Namen davon erhielt, daß Zermatt hier die Hoffnung aufgegeben hatte, noch einzelne Matrosen oder Passagiere vom »Landlord« wiederzufinden.

Am Eingange zur Rettungsbai und Falkenhorst gegenüber lag ein Eiland von einer halben Lieue Umfang, das man Haifischinsel nannte, weil hier am Tage, wo das Tonnenfloß die Hausthiere nach Zeltheim brachte, ein solcher Raubfisch gestrandet war.

Hatte hier ein Hai die Veranlassung gegeben, diese Insel nach ihm zu benennen, so war es einige Tage später ein Walfisch, nach dem ein, nur eine Viertellieue umfassendes Eiland vor der kleinen Flamingobucht, nördlich von Falkenhorst, getauft wurde. Der Verkehr zwischen dieser Wohnung und dem etwa eine Lieue davon entfernten Zeltheim wurde durch die Erbauung der Familienbrücke erleichtert, die man später durch eine über den Schakalbach geschlagene Drehbrücke ersetzte.

Die ersten Wochen hindurch wohnte die Familie unter dem Zelte. Da aber die bessere Jahreszeit noch anhielt, als Falkenhorst schon fertig war, siedelte Zermatt mit den Hausthieren noch dahin über Die riesigen Bodenwurzeln des Magnolienbaumes wurden mit getheerter Leinwand überdeckt und dienten nun als Ställe. Von Raubthieren hatte sich bisher keine Spur gezeigt.

Inzwischen rüstete man sich gegen die Wiederkehr der Wintersaison, die, wenn sie auch keine eigentliche Kälte brachte, doch mit den heftigen Stürmen der Tropenzone drohte, mit Stürmen, die neun bis zehn Wochen hindurch sehr häufig auftraten. In Zeltheim wohnen zu bleiben, nachdem dort alles Frachtgut vom »Landlord« untergebracht wäre, das hieß, die ganze werthvolle Ladung, die aus dem Schiffbruche geborgen worden war, wieder aufs Spiel setzen. Dieses einfache Lager versprach keine hinreichende Sicherheit. Die Regenfälle mußten den Bach stärker füllen, ihn zum reißenden Bergstrome verwandeln, und wenn er dabei aus den Ufern trat, wären alle leichten Anlagen von Zeltheim mit weggerissen worden.

Der ältere Zermatt bemühte sich, mit gutem Grunde, eine sichere Zufluchtsstätte zu finden; da kam ihm der Zufall unter folgenden Umständen zu Hilfe:

[53] Nahe dem rechten Ufer des Schakalbaches, ein wenig hinter Zeltheim, erhob sich eine dicke Felswand, in der sich mit Spitzaxt und Hammer, wenn nöthig durch Sprengung mit Pulver, eine Grotte aushöhlen ließ. Fritz, Ernst und Jack machten sich an die Arbeit; diese schritt aber nur sehr langsam vorwärts, bis eines Morgens die Spitzhaue Jacks plötzlich die Felsenwand durchschlug.

»Ich habe den Berg durchbrochen!« rief der junge Mann.

Und siehe da, in der Steinmasse bestand schon eine geräumige Höhle. Ehe sie jemand betrat, wurden zum Reinigen der Luft brennende, trockene Grasbüschel und nachher noch einige Granaten hineingeworfen. die aus den Vorräthen des Feuerwerkers vom »Landlord« herrührten. Bei loderndem Fackelscheine betraten der Vater, die Mutter und deren Söhne die Höhle und staunten voller Bewunderung über die von der Decke herabhängenden Stalaktiten, über die Krystallisationen aus Steinsalz, womit sie geschmückt war, und über den Teppich aus seinem Sande, der den Boden bedeckte.

Die Grotte wurde sofort als Wohnstätte eingerichtet. Man versah sie mit Fenstern von der früheren Galerie des Schiffes und mit Schloten zum Abzuge des Rauches aus den Oefen. Nach links hin folgten sich dann ein Arbeitszimmer, die Ställe für das größere Vieh und für die Hausthiere, und nach rückwärts lagen mehrere, durch Plankenwände getrennte Schuppen. Nach rechts hin wurden drei Zimmer angelegt, das erste für die Eltern der Familie, das zweite als Eßzimmer und das dritte für die vier Kinder, deren Hängematten an der Decke befestigt waren. Noch einige Wochen, und diese Wohnung ließ gewiß nichts mehr zu wünschen übrig.

Daneben wurden auf den Wiesenflächen und in den Gehölzen an der Westseite des Uferlandes, das sich zwischen Falkenhorst und dem Cap der Getäuschten Hoffnung auf drei Lieues hin ausdehnte, noch weitere Anlagen geschaffen. So legte man z. B. die Meierei von Waldegg in der Nähe eines kleinen Sees an, der der Schwanensee genannt worden war; ferner etwas weiter im Innern die Meierei von Zuckertop, auf einem Hügel, nahe dem Cap, die Villa des Prospect-Hill, und endlich die sogenannte Einsiedelei von Eberfurt bei dem Engpasse der Cluse, der diesen Theil des Gelobten Landes nach Westen zu abschloß.

Das Gelobte Land, so nannte man diese überraschend fruchtbare Gegend, die im Süden und Westen eine vom Schakalbache bis zum Ufer einer anderen Bai, der Nautilusbai, reichende Felsenwand schützte. Nach Osten zu dehnte sich die Küste zwischen Felsenheim und dem Cap der Getäuschten Hoffnung aus.

[54] Im Norden lag das offene Meer. Dieser Landstrich von vier Lieues Länge und drei Lieues Breite genügte allein schon für alle Bedürfnisse der Familie. Hier lagen die Gehege und Weideplätze für die Hausthiere und für die, die man später theils gezähmt, theils nur eingefangen hatte, wie für einen Onagra (wilden Esel), zwei Büffel, einen Strauß, einen Schakal, einen Affen und einen Adler. Hier blühten und wuchsen neben den einheimischen Bäumen die Obstbäume, von denen der »Landlord« allerlei Arten mitgeführt hatte, wie Orangenbäume, Pflaumen-, Aepfel-, Aprikosen-, Maronen-, Kirsch- und Birnbäume, und dazu Weinreben, die unter der heißen Sonne des Landes einen Wein zu liefern versprachen, der den gewöhnlichen Palmenwein der Tropenzone jedenfalls beiweitem übertraf.

Gewiß unterstützte die Natur sehr wesentlich die beklagenswerthen Schiffbrüchigen, immerhin blieb diesen noch genug Arbeit übrig, die ebensoviel Thatkraft wie Intelligenz erforderte. Sie bedingte erst das Gedeihen dieses Landes, das jene zur Erinnerung an ihre Heimat die Neue Schweiz getauft hatten.

Ehe noch das erste Jahr verging, war von dem auf der Klippenbank gescheiterten Schiffe nichts mehr übrig. Eine von Fritz vorbereitete Explosion hatte davon die letzten Trümmer zerstreut, die dann nach und nach am Strande aufgelesen wurden. Natürlich war vorher noch alles, was es an Werthgegenständen enthielt, daraus entfernt worden, die Waaren, die zum Handel mit den Pflanzern von Port-Jackson oder mit den Wilden Oceaniens hätten dienen sollen, ebenso wie das kostbarere Eigenthum der anderen Passagiere, z. B. Uhren, silberne Schnupftabakdosen, Ringe, Halsbänder und an Gold- und Silbermünzen eine recht ansehnliche Summe in Piastern, die freilich in diesem unbekannten, im Indischen Ocean verlorenen Lande zunächst keinen Werth hatten. Weit nützlicher waren dagegen andere, aus dem »Landlord« geborgene Dinge, wie Eisenstangen, Bleibarren, Wagenräder, die zum Ansetzen fertig waren, Wetzsteine, Spitzhauen, Sägen, Hacken, Schaufeln, Pflugschaare, Eisendrahtrollen, Werkbänke, Schraubstöcke, Werkzeuge für Tischler, Schlosser und Schmiede, Handmühlen, Sägemühlenzubehör und dazu allerlei Sämereien von Nutzpflanzen, von Mais, Hafer, Erbsen, Wicken und andern Hülsenfrüchten, die der Neuen Schweiz von großem Nutzen zu sein versprachen.


Darauf wurde eine Wohnung erbaut. (S. 52)

Es sei hier noch nebenbei hervorgehoben, daß die Familie die erste Regenzeit unter recht günstigen Verhältnissen verlebte. In der Hauptsache waren alle beschäftigt, die Grottenwohnung so gut wie möglich herzurichten. [55] Die Mutter der Familie leitete diese Arbeiten, die vom besten Erfolge gekrönt wurden.


Inzwischen waren mehrfache Auskundschaftungen unternommen worden. (S. 53.)

Die vom Schiffe herübergeholten Möbel, Stühle und Bänke, Schränke und Wandgestelle, Sophas, Betten – alles wurde in die verschiedenen Räumlichkeiten der Wohnung vertheilt, und da diese jetzt nicht mehr [56] aus einem Zelte bestand, gab man ihr an Stelle der früheren den Namen Felsenheim.

Mehrere Jahre verstrichen. Kein Fahrzeug war in dieser entlegenen Gegend erschienen, obwohl nichts unterlassen worden war, den Aufenthaltsort der Ueberlebenden [57] vom »Landlord« auch von weither erkennen, wenigstens vermuthen zu lassen. Von einer auf der Haifischinsel errichteten Batterie, die aus zwei kurzen Vierpfündern bestand und von einer Flagge überragt war, gaben Fritz und Jack von Zeit zu Zeit einige Kanonenschüsse ab, freilich ohne je eine Antwort vom offenen Meere her zu erhalten.

Es schien übrigens nicht so, als ob die Neue Schweiz in der Nachbarschaft des von hier aus übersehbaren Landestheils bewohnt wäre. Sie mußte offenbar ziemlich groß sein, denn eines Tages bei einem Ausflug nach Süden und bis zu der Felsenwand, die der Engpaß der Cluse unterbrach, erreichten Zermatt und seine Söhne eine von üppiger Vegetation erfüllte Thalmulde, die sie Grünthal nannten. Oben von der jenseitigen Thalwand aus bot sich ein umfassender Fernblick bis zu dem von einer Bergkette abgeschlossenen Horizonte, eine Entfernung, die gegen zehn Lieues betragen mochte. Ob auf diesem gänzlich unbekannten Gebiete wilde Volksstämme hausten, war eine gewiß ernst zu nehmende Frage. In der Umgebung des Gelobten Landes hatte sich davon allerdings noch keine Andeutung gezeigt. Hier bildeten die einzige Gefahr etwaige Ueberfälle von Raubthieren, die sich außerhalb des eigentlichen Ansiedlungsbezirkes aufhielten, z. B. von Bären, Tigern, Löwen oder Schlangen, unter anderen einer ungeheuern Boa (Riesenschlange), der schon der Esel zum Opfer gefallen war, als sie sich einmal bis in die Nähe von Felsenheim herangeschlichen hatte.

Wir zählen hier die einheimischen Naturerzeugnisse auf, die der ältere Zermatt, dank seinen gründlichen Kenntnissen in der Naturgeschichte, der Botanik und der Geologie, recht vortheilhaft zu verwerthen wußte. Zunächst wäre da ein Baum zu nennen, der einem wilden Feigenbaume ähnelte und aus dessen gefurchter Rinde ein harzartiger Stoff ausschwitzte, der ihm Kautschuk lieferte, das, außer zu mancherlei Gegenständen, vorzüglich zur Anfertigung wasserdichter Stiefel Verwendung fand. Aus gewissen, in Dickichten zusammenstehenden Büschen der »Myrica cerifera« gewann man eine Art Wachs, das sich zu Kerzen eignete. Die Schalen der Cocosnüsse, ohne von deren wohlschmeckendem Inhalt zu reden, verwandelten sich in Becher und Tassen, die jedem Stoße widerstanden. Aus den Schößlingen der Palmen gewann man ein erfrischendes Getränk, den sogenannten Palmenwein, aus Cacaoschoten eine freilich etwas bittere Chocolade, aus dem Mark der Sagopalme, das erst angefeuchtet und dann gedörrt wurde, ein sehr nahrhaftes Mehl, das Betsie häufig bei der Speisebereitung verwendete. Auch an Süßstoffen fehlte es niemals, dank den zahlreichen Bienenvölkern, die Honig[58] in Ueberfluß erzeugten. Flachs erhielt man aus den lanzettförmigen Blättern des Phormium tenax, die zu kardätschen und zu verspinnen allerdings einige Mühe verursachte. Eine Art Gips gewann man durch das Ausglühen und Pulverisiren der Felsabfälle von den Wänden in Felsenheim; selbst Baumwolle, dieses so begehrte Material, fand sich in dichtgefüllten Kapseln des hier wild wachsenden Strauches. Aus dem zarten Mehle von Walkerde, die sich in einer anderen Grotte fand ließ sich eine ganz brauchbare Seife erzeugen. Ferner gab es hier die unter dem Namen Cachiman bekannten, überaus saftigen Zimmetäpfel. Die Rinde der Ravensara lieferte ein Gewürz, worin der Wohlgeruch der Muskate und der Würznägelein sich vereinigte. In einer kleinen Höhle der Nachbarschaft wurde mit Amiantfäden überkreuzter Glimmer entdeckt, der sich recht gut zu Fensterscheiben verarbeiten ließ. Pelzwerk lieferten die zahlreich vorkommenden Moschusratten und Angorakaninchen. Außerdem fand sich Euphorbiumharz für mancherlei medicinischen Gebrauch, Porzellanerde und gab es Honigwein (Meth) als Erquickungsgetränk und sogar eine Art vortrefflicher Confitüren aus Meeralgen, die an der Walfischinsel gewonnen wurden, und die Frau Zermatt ganz ähnlich denen des Caps der Guten Hoffnung zuzubereiten verstand.

Diesen Bodenerzeugnissen sind noch die Hilfsquellen hinzuzurechnen, die die Thierwelt der Neuen Schweiz den muthigen Jägern darbot. Unter den Raubthieren, gegen die sie sich, wenn auch selten, zu vertheidigen hatten, gab es hier Tapire, Löwen, Bären, Schakale, Tiger und Tigerkatzen, Krokodile, Panther, Elephanten und auch große Mengen von Affen, die wegen der Verwüstungen, die sie anrichteten, vor allem abgeschossen werden mußten. Von Vierfüßlern, von denen einzelne gezähmt werden konnten, wären zu nennen: wilde Esel und Büffel, sowie von Vögeln: ein Adler, den sich Fritz zum Jagdgehilfen abrichtete, und ein Strauß, den Jack mit Vorliebe als Reitthier benutzte.

Feder- und Haarwild gab es in den Wäldern von Waldegg und der Einsiedelei Eberfurt in Ueberfluß. Der Schakalbach lieferte vorzügliche Krebse. Zwischen den Uferklippen wimmelte es von Schal- und Krustenthieren, und endlich war auch das Meer noch reich an Heringen, Stören, Lachsen und verschiedenen anderen Fischen.

Die Ausflüge der Ansiedler dehnten sich, trotz ihres langen Aufenthaltes hier, nach der einen Seite doch niemals weiter aus, als von der Nautilusbai bis zur Rettungsbucht, auf der anderen, jenseits des Caps der Getäuschten [59] Hoffnung, wurde die Küste dagegen auf eine Strecke von zehn Lieues genauer besichtigt. Zermatt besaß jetzt ja, außer der Pinasse, eine unter seiner Leitung gebaute Schaluppe. Außerdem wurde auf Verlangen Fritzens eines jener Boote, wie sie die Grönländer benützen, ein sogenannter Kajak, hergestellt, zu dessen Rippen man Knochen eines am Eingange der Flamingobai gestrandeten Walfisches verwendete, während Seehundhäute als Wandbekleidung dienten. Dieses tragbare und infolge seiner Kalfaterung mit Pech und Moos völlig wasserdichte Canot hatte oben nur zwei Oeffnungen für zwei Ruderer, doch konnte die zweite auch hermetisch verschlossen werden, wenn das Fahrzeug nur von einer Person gebraucht werden sollte. Es wurde zuerst auf den Schakalbach gesetzt, der es nach der Rettungsbucht hinaustrug, wobei es sich ganz nach Wunsch bewährte.

Zehn Jahre verliefen so ohne ernstere Unfälle. Der nun fünfundvierzig Jahre alte Zermatt erfreute sich einer unerschütterlichen Gesundheit, einer geistigen und körperlichen Ausdauer, die die Anforderungen einer so außergewöhnlichen Existenz nur noch verstärkt hatten. Betsie, seine muthige Gattin, die energische Mutter von vier Söhnen, trat jetzt in das dreiundvierzigste Jahr ein. Körperlich kräftig und frischen Herzens, hatte weder die Liebe zu ihrem Gatten, noch die zärtliche Zuneigung für ihre Kinder bei der wackeren Frau abgenommen.

Der jetzt fünfundzwanzigjährige Fritz zeigte eine bemerkenswerthe Kraft, Geschmeidigkeit und Geschicklichkeit; er hatte ein hübsches Gesicht, offene Züge, ein sehr scharfes Auge und zeichnete sich durch hohe Charakterfestigkeit aus.

Ernst, der für seine zweiundzwanzig Jahre mehr als gesetzt erschien und mehr nach geistiger als nach körperlicher Ausbildung strebte, unterschied sich hierdurch von Fritz und hatte sich durch fleißige Benützung der aus dem »Landlord« geretteten Büchersammlung recht umfassende Kenntnisse angeeignet.

An Jack erkannte man seine zwanzig Jahre. Er war die Lebhaftigkeit selbst, immer in Bewegung, unternehmungslustig wie Fritz und ein Freund der fröhlichen Jagd wie dieser.

Obgleich der kleine Franz nun schon ein großer Knabe von sechzehn Jahren geworden war, behandelte und liebkoste ihn seine Mutter doch ganz so, als ob er noch ein zehnjähriges Kind wäre.

Das Leben dieser Familie verlief also so glücklich wie möglich, und wiederholt äußerte sich Frau Zermatt darüber gegen ihren Gatten.

»Ach, lieber Mann, sagte sie dann, wäre es nicht ein rechtes Glück, wenn wir mit unseren Kindern immer vereint bleiben könnten, wenn wir, auch hier [60] in unserer Einsamkeit, nicht auch einer nach dem anderen dahingehen und unsere Nachkommen in Trauer um die Verlorenen zurücklassen müßten! O, wie würd' ich den Himmel segnen für das Paradies, das er uns hier geschaffen hat!... Doch, ach!... es wird auch der Tag kommen, wo wir die Augen schließen!«

Das war der größte Kummer, der immer an Betsies Seele nagte. Wiederholt tauschten Zermatt und sie die Sorgen aus, die sie in dieser Hinsicht drückten. Da trat in diesem Jahre ein Ereigniß ein, das ihre gegenwärtige Lage, vielleicht die ganze Zukunft der Ansiedlung, ändern konnte.

Als Zermatt mit Ernst, Jack und Franz am 9. April um sieben Uhr früh aus der Wohnung trat, suchte er vergeblich nach seinem ältesten Sohne, den er draußen mit irgend einer Arbeit beschäftigt glaubte.

Fritz pflegte sich ja häufiger allein zu entfernen, was seine Eltern nicht weiter beunruhigte, obwohl seine Mutter sich immer etwas sorgte, wenn ihr Sohn sich über die Rettungsbucht hinausbegab.

Es unterlag auch jetzt keinem Zweifel, daß der abenteuerlustige junge Mann sich auf dem Meere befand, denn der Kajak fehlte an seinem Anlegeplatze.

Als es schon etwas später am Nachmittage war, begaben sich Zermatt, Ernst und Jack auf der Schaluppe nach der Haifischinsel, um dort die Rückkehr des ältesten Sohnes abzuwarten. Um Betsie nicht in Ungewißheit zu lassen, hatte ihr Gatte versprochen, einen Kanonenschuß abzufeuern, wenn seine Heimkehr sich verzögern sollte.

Das wurde indeß nicht nöthig. Kaum hatte er mit seinen beiden Söhnen den Fuß auf das Eiland gesetzt, als Fritz schon um das Cap der Getäuschten Hoffnung gefahren kam. Sobald sie ihn bemerkten, begaben sich Zermatt, Ernst und Jack in ihr Boot zurück und trafen in der Bucht bei Felsenheim gerade ein, als auch Fritz ans Ufer sprang.

Dieser mußte nun über seine Fahrt, die gegen zwanzig Stunden gedauert hatte, Bericht erstatten. Seit einiger Zeit hatte er sich schon mit dem Gedanken getragen, die westliche Küste einmal näher in Augenschein zu nehmen. An dem betreffenden Morgen hatte er deshalb den Kajak bestiegen und seinen Adler Blitz mitgenommen. Außerdem hatte er sich mit einigem Mundvorrathe versehen und mit einer Axt, einer Harpune, einem Fischhaken, Netzen, einer Flinte nebst einem Paar Pistolen, auch mit einer Jagdtasche und einer Flasche mit Meth ausgerüstet. Der vom Lande her wehende Wind führte ihn bald über das Cap [61] hinaus, und unter Mithilfe der Ebbeströmung war er der Küste gefolgt, die sich weiter draußen wieder mehr nach Südwesten wendete.

Hinter dem Cap und einer Reihe riesiger Felsentrümmer, die hier durch eine mächtige geologische Umwälzung in tollstem Durcheinander verstreut worden sein mochten, dehnte sich wieder eine geräumige Bucht aus, die an der gegenüberliegenden Seite durch ein ganz steil abfallendes Vorgebirge begrenzt war. Diese Bai bildete den Sammelplatz aller Arten von Seevögeln, deren Gekreisch hier die Luft erfüllte. Auf ihrem Strande sonnten sich gewaltige Amphibien, Seewölfe, Robben, Walrosse und andere, während sich auf der Wasserfläche zahllose Völker eleganter Nautilen (sogenannte Perlen- oder Schiffsboote – eine Weichthiergattung) umhertummelten.

Fritz hütete sich weislich, jene furchtbaren Säugethiere aufzuscheuchen, noch mehr aber, ihrem Angriffe in seinem gebrechlichen Fahrzeuge zu begegnen; er ruderte deshalb am Außenrande der Bai immer nach Westen weiter.

Nachdem er eine Landspitze von seltsamer Gestalt umschifft hatte, der er den Namen eines Cap Camus gab, drang Fritz unter ein natürliches Bogengewölbe ein, an dessen Pfeilersüßen das Meer heftig brandete. Hier hielten sich Tausende von Schwalben auf, deren Nester an allen Furchen der Wand und der Deckenwölbung angeheftet oder richtiger angeklebt waren. Fritz löste einige von diesen, recht merkwürdig gebauten Nestern ab und steckte sie in seine Jagdtasche.

»Diese Schwalbennester, damit unterbrach der ältere Zermatt den Bericht seines Sohnes, haben auf den Märkten des Himmlischen Reiches einen hohen Handelswerth.«

Jenseits des Bogengewölbes fand Fritz den Eingang zu einer zweiten Bucht, die zwischen zwei, etwa anderthalb Lieue von einander entfernten Landvorsprüngen lag. Diese waren wieder durch eine Klippenkette sozusagen verbunden und hatten zwischen einander nur eine sehr enge Wasserstraße, die nicht einmal einem Schiffe von drei- bis vierhundert Tonnen die Einfahrt ermöglicht hätte.

Hinter der Bucht lagen bis über Sehweite hinausreichende Savannen (Grasflächen), die von klaren Wasserläufen durchzogen waren, ferner Gehölze, sumpfige Niederungen und überhaupt eine Landschaft von vielfach wechselndem Aussehen. Die Bucht selbst hätte Fischern aus Asien, Amerika und Europa unerschöpfliche Schätze von Perlenmuscheln geboten, und Fritz brachte auch einige Prachtstücke von solchen mit heim.

[62] Nachdem er längs des Innenrandes der Bucht hingefahren und dabei auch an der mit Wasserpflanzen dicht bedeckten Mündung eines Flusses vorübergekommen war, erreichte der Kajak das Vorgebirge gegenüber dem Bogengewölbe.

Noch weiter wollte Fritz seinen Ausflug nicht fortsetzen. Da schon viel Zeit verstrichen war, schlug er wieder einen Curs nach Osten ein, nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung zu, und umschiffte dieses, ehe noch ein Geschütz auf der Haifischinsel abgefeuert worden war.

Das war es, was der abenteuerlustige, junge Mann über seine Fahrt berichtete, die zur Entdeckung der Perlenbucht geführt hatte. Als er sich dann mit seinem Vater allein sah, hatte dieser große Mühe, sein Erstaunen zu verhehlen, als ihm sein Sohn noch folgendes mittheilte:

Unter den zahllosen Vögeln, Meerschwalben, Möven und Fregattvögeln, die das Vorgebirge umschwärmten, zeigten sich auch mehrere Paare von Albatrossen, von denen Fritz einen mit dem Fischhaken erlangen konnte.

Als er den Vogel aber auf seinen Knien hielt, bemerkte der junge Mann ein Stück grobes Segeltuch, das um einen Fuß des Thieres gewickelt war und in englischer Sprache folgende ganz gut leserliche Inschrift trug:

»Wer es auch sein mag, dem Gott diese Botschaft einer Unglücklichen übermitteln wird: durchsucht eine vulcanische Insel, erkennbar an der Flamme, die aus einem ihrer Krater emporsteigt. Rettet eine unglückliche Verlassene von dem Rauchenden Felsen!«

Irgendwo in der Neuen Schweiz lebte oder schmachtete also, vielleicht schon seit mehreren Jahren, eine Unglückliche – Mädchen oder Frau – auf einer Insel und gewiß ohne die Hilfsmittel, die der »Landlord« der schiffbrüchigen Familie geliefert hatte.

»Und was hast Du gethan? fragte der ältere Zermatt.


»Ich habe den Berg durchbrochen!« rief der junge Mann. (S. 54.)

– Das einzige, was zunächst zu thun war, antwortete Fritz. Ich suchte den Albatros, der durch den Schlag mit dem Haken nur betäubt war, wieder zu beleben, und das gelang auch, als ich ihm ein wenig Meth durch den Schnabel eingegossen hatte. Dann schrieb ich mit dem Blute einer Fischotter auf ein Stück von meinem Taschentuche: »Vertraut auf Gott!... Vielleicht ist seine Hilfe nahe!« Hierauf befestigte ich das Leinenstückchen wieder an einem Beine des Albatrosses, in der Ueberzeugung, daß der Vogel ein gezähmter sei, nach dem Rauchenden Felsen zurückkehren und meine Botschaft dahin bringen werde. Sobald ich ihm die Freiheit wiedergegeben hatte, flog der Albatros so [63] schnell davon, daß ich ihn bald aus dem Auge verlor. Ihm zu folgen wäre mir also ganz unmöglich gewesen.«

Der ältere Zermatt fühlte sich tief ergriffen. Was konnte wohl geschehen, um jene Unglückliche zu retten? Wo lag der Rauchende Fels? In der Nachbarschaft [64] der Neuen Schweiz oder Hunderte von Seemeilen davon im Westen? Die Albatrosse sind so kräftige und unermüdliche Vögel, daß sie leicht sehr große Strecken durchfliegen können. Wer konnte nun wissen, ob nicht auch der, um den es sich hier handelte, aus so weiter Ferne hergekommen war, daß die [65] Pinasse dahin gar nicht kommen konnte? Daß Fritz dieses Geheimniß nur seinem Vater anvertraut hatte, wurde von diesem völlig gebilligt, denn Frau Zermatt und seine Brüder würde diese Mittheilung nutzlos aufgeregt haben; warum ihnen also eine gewiß schmerzliche Unruhe bereiten?


Die Thalmulde von Grünthal. (S. 58.)

Uebrigens blieb es ja fraglich, ob die Schiffbrüchige am Rauchenden Felsen überhaupt noch lebte. Die gefundenen Zeilen trugen kein Datum und es konnten vielleicht Jahre verflossen sein, seit sie am Beine des Albatrosses befestigt worden waren.

Das Geheimniß wurde also vorläufig gewahrt; leider schien es aber, als ob gar kein Versuch unternommen werden könnte, die Engländerin aus ihrer trostlosen Einsamkeit zu retten.

Inzwischen hatte der ältere Zermatt beschlossen, die Perlenbucht einmal zu besuchen, um womöglich die Ausdehnung der dortigen Muschelbänke kennen zu lernen.

Betsie erklärte sich, wenn auch ungern, bereit, mit Franz allein in der Wohnstätte Felsenheim zurückzubleiben. Fritz, Ernst und Jack sollten nämlich ihren Vater begleiten.

Am zweitfolgenden Tag, am 11. April, verließ die Schaluppe also den kleinen Landeinschnitt im Schakalbach und dessen Strömung trug sie rasch nach Norden hinaus. Auch mehrere Hausthiere wurden auf die Fahrt mitgenommen, darunter der Affe Knips II., der Schakal Jacks, die Hündin Bill, die für die Anstrengungen einer solchen Kundschaftsfahrt eigentlich zu alt war, und endlich Braun und Falb, die beiden Hunde, die jetzt bei besten Kräften waren.

Fritz fuhr der Schaluppe in seinem Kajak voraus und schlug nach Umschiffung des Caps der Getäuschten Hoffnung die Richtung nach Westen ein, quer durch ein Gewirr von Klippen, worauf sich Walrosse und andere an den Küsten heimische Amphibien in großer Menge tummelten.

Diese Thiere waren es jedoch nicht, die die besondere Aufmerksamkeit des älteren Zermatt erweckten, sondern die unzähligen Nautilen, die Fritz schon einmal gesehen hatte. Gleichwie mit einer Flotille beweglicher Blumen war die ganze Bai von diesen hübschen Cephalopoden bedeckt, deren Flügel sich im Winde blähten.

Nach ungefähr drei Lieues langer Fahrt vom Cap der Getäuschten Hoffnung aus, wies Fritz nach dem am äußersten Ende der Nautilusbucht gelegenen Cap Camus (Stumpfnase) hin, das genau die Form einer solchen [66] Nase zeigte. Anderthalb Lieues weiterhin tauchte das Bogengewölbe auf, jenseits dessen sich die Perlenbucht ausdehnte. Beim Einfahren durch das Thor des Gewölbes sammelten Jack und Ernst eine Anzahl der dort hängenden Salanganennester, ein Unterfangen, dem sich deren Bewohner mit begreiflicher Hitze widersetzten.

Als die Schaluppe durch die enge Wasserstraße zwischen dem Bogengewölbe und den Klippenreihen gekommen war, lag die geräumige Bucht, die einen Umfang von sieben bis acht Lieues haben mochte, in ihrer ganzen Ausdehnung vor ihr frei.

Es war ein wirkliches Vergnügen, die herrliche Wasserfläche zu befahren, aus der drei oder vier bewaldete Holme emporragten und die von grünem Wiesenland, dichten Gehölzen und malerischen Hügeln eingerahmt war. Das westliche Ufer durchbrach ein hübscher Fluß, dessen Bett sich weiterhin unter Bäumen verlor.

Die Schaluppe landete in einem kleinen Landeinschnitte in der Nähe der Perlmuschelbank. Da es bereits Abend wurde, ließ Zermatt gleich ein Lager am Ufer des Flusses aufschlagen. Dann wurde ein Feuer angezündet und in der heißen Asche kochte man einige Eier, die neben dem mitgeführten Pemmican, den Bataten und dem Maiszwieback das Abendbrot lieferten. Aus Vorsicht bestiegen nachher aber alle wieder die Schaluppe und überließen es Braun und Falb, das provisorische Lager gegen die Schakale zu vertheidigen, deren heulendes Bellen von weiter landeinwärts her am Flusse hörbar war.

Drei Tage, vom 12. bis zum 14, verwendete man zum Auffischen von Muscheln, die alle Perlen als kleinere und größere Kugeln in der Perlmuttersubstanz der Schalen eingebettet enthielten. Gegen Abend erlegten Fritz und Jack dann noch Enten und Rebhühner in einem kleinen Gehölze am rechten Ufer des Flusses. Bei dieser Jagd machte sich einige Vorsicht nöthig, denn in dem Gehölze hausten nicht wenige Wildschweine und auch noch gefährlichere Thiere.

Am Abend des 14. erschienen nämlich ein Löwe und eine Löwin, die laut brüllten und die Pranken mit dem mächtigen Schwanze peitschten. Dem männlichen Thiere jagte Fritz eine Kugel wohlgezielt ins Herz und auch die Löwin brach bald darauf von einer solchen getroffen zusammen, zerschmetterte vorher aber noch mit einem Tatzenschlage den Kopf des armen, alten Bill, was dessen Herrn tief bekümmerte.

[67] Außerhalb des Gebietes des sogenannten Gelobten Landes hausten in diesem Theile der Neuen Schweiz also verschiedene Raubthiere. Daß bisher noch keines davon durch den Engpaß der Cluse eingedrungen war, konnte nur als glücklicher Zufall gelten. Zermatt entwarf jetzt aber sofort einen Plan, diesen Engpaß, der, wie wir wissen, die Felswand durchschnitt, möglichst zu versperren.

Inzwischen empfahl er ganz allgemein die größte Vorsicht, vor allem aber Fritz und Jack, die ihr Jagdeifer zuweilen zu unüberlegten Ausflügen verleitete, da eine gefährliche Begegnung mit Raubthieren dabei ja niemals ausgeschlossen war..

Der laufende Tag war im übrigen benützt worden, die am Strande aufgehäuften Muscheln zu entleeren, da die große Menge abgestorbener Mollusken einen recht übeln Geruch zu verbreiten anfing. Am nächsten Tage wollte Zermatt mit seinen Söhnen schon frühzeitig zur Rückkehr aufbrechen, da seine Gattin sich wegen ihres langen Ausbleibens doch wohl beunruhigen mochte. Wiederum fuhr der Kajak der Schaluppe voraus. Am Bogengewölbe angelangt, übergab Fritz seinem Vater aber einen Zettel und wandte sich selbst nach Westen. Zermatt konnte schon im voraus annehmen, daß sein Aeltester im Begriffe war, nach dem Rauchenden Felsen zu suchen.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Rückkehr nach Felsenheim. – Fahrt der »Elisabeth« nach der Perlenbucht. – Eine Rettung. – Ein menschliches Wesen. – Jenny Montrose. – Schiffbruch des »Dorcas«. – Zwei Jahre auf dem Rauchenden Felsen. – Was Fritz berichtete.

Der Leser wird sich leicht die quälende Unruhe vorstellen, die der ältere Zermatt bei dem Gedanken an die Gefahren empfand, denen sein Sohn sich jetzt aussetzte. Da er diesen aber weder davon zurückhalten, noch mit ihm gehen konnte, mußte die Schaluppe nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung zurückkehren.

In Felsenheim eingetroffen, wollte Zermatt weder seinen Kindern, noch seiner Frau, etwas von der Fahrt Fritzens und von der Veranlassung dazu mittheilen.[68] Damit hätte er diese nicht nur unnütz geängstigt, sondern in ihnen jedenfalls auch leere Hoffnungen erweckt. Er sprach also nur von einer genaueren Besichtigung des westlichen Küstenstriches. Als Fritz aber auch nach dreitägiger Abwesenheit noch nicht wieder erschien, beschloß Zermatt, der sich jetzt selbst ängstigte, ihn womöglich aufzusuchen.

Frühmorgens am 20. April lichtete die »Elisabeth« die Anker. Die ganze Familie hatte sich darauf eingeschifft und für die Fahrt reichlich mit allen Bedürfnissen versorgt.

Einen günstigeren Wind, als den eben herrschenden, konnte man sich gar nicht wünschen. Von Südosten wehte eine mäßige Brise, die es ermöglichte, ziemlich dicht am Lande hinzufahren. Am Nachmittage erreichte die Pinasse das Bogengewölbe, das umschifft wurde, und darauf glitt sie in die Perlenbucht hinein.

Zermatt ließ neben der Muschelbank und an der Flußmündung Anker werfen, wo sich noch die Ueberreste des ersten Lagers vorfanden, und alle schickten sich bereits an, ans Land zu gehen. Da rief Ernst erschreckt:

»Ein Wilder!... Ein Wilder!«

In der That bewegte sich ein Canot, augenscheinlich bestrebt, von der Pinasse aus unbemerkt zu bleiben, im Westen der Bucht zwischen den bewaldeten Holmen hin.

Bisher hatte noch nichts darauf hingedeutet, daß die Neue Schweiz bewohnt sein könnte. Aus Vorsorge gegen einen etwaigen Angriff, machte die »Elisabeth« »klar zum Gefecht«. ihre kurzen Kanonen wurden geladen und die Gewehre schußbereit gehalten. Als der vermeintliche Wilde sich aber einmal um mehrere Kabellängen genähert hatte, rief Jack:

»Das ist ja Fritz... unser Fritz!«

Dieser war es in der That. Er saß in seinem Kajak allein. Da er die Pinasse, der er hier zu begegnen ja nicht vermuthen konnte, aus größerer Entfernung nicht gleich erkannte, war er nur vorsichtig weiter gefahren und hatte sich überdies Gesicht und Hände geschwärzt.

Als er dann auf die Pinasse gekommen war und seine Mutter und seine Brüder – nicht ohne auf deren Wangen etwas abzufärben – freudig begrüßt hatte, nahm er seinen Vater etwas zur Seite.

»Es ist mir gelungen! flüsterte er ihm zu.

– Was?... Befindet sich die Engländerin bei dem Rauchenden Felsen?

[69] – Ja, sie ist da... und zwar jetzt auf einer Insel der Perlenbucht, antwortete Fritz. Ich hatte Euch zuerst für Wilde gehalten und wollte mich keiner Gefahr aussetzen...«

Ohne seiner Gattin und seinen Kindern ein Wort zu sagen, steuerte Zermatt die Pinasse jetzt nach der ihm von Fritz bezeichneten Insel im Westen der Bucht. Näher herangekommen, sah man darauf einen Palmenhain, der fast bis ans Ufer reichte, und darin eine Hütte nach Art der Hottentottenwohnungen.

Alle gingen aus Land. Nachdem Fritz hier einen Pistolenschuß in die Luft abgegeben hatte, gewahrten die Ankömmlinge einen jungen Mann, der von einem Baume,. auf dem er sich versteckt gehalten hatte, sehr gewandt herunterkletterte.

Das vorliegende Geheimniß wurde bald enthüllt. Dieses menschliche Wesen – das erste, dem die Schiffbrüchigen vom »Landlord« seit zehn Jahren begegneten – war kein junger Mann, sondern ein junges Mädchen von höchstens zwanzig Jahren, das die Kleidung eines Leichtmatrosen trug. Jenny Montrose war es, die junge Engländerin vom Rauchenden Felsen.

Frau Zermatt, Ernst, Jack und Franz erfuhren nun, unter welchen Umständen Fritz die traurige Lage dieser Unglücklichen auf einer vulcanischen Insel außerhalb der Perlenbucht kennen gelernt, auch daß er mit einigen Zeilen geantwortet hatte, die das junge Mädchen allerdings nicht zu Gesichte bekam, da der Albatros nach dem Rauchenden Felsen nicht zurückgekehrt war.

Wie sollen wir den Empfang schildern, der jetzt Jenny Montrose zu theil wurde, und die Zärtlichkeit, mit der Frau Zermatt sie ans Herz drückte? Jenny sollte ihre Geschichte später erzählen; die der Neuen Schweiz und der Schiffbrüchigen vom »Landlord« war ihr schon durch Fritz bekannt geworden.

Die Pinasse verließ nun mit der ganzen, um die junge Engländerin vermehrten Familie sofort die Perlenbucht. Man sprach dann einmal englisch und einmal deutsch, um sich möglichst zu verständigen. Wie viele Beweise aufrichtiger Zuneigung wurden schon auf dieser Rückfahrt der Geretteten zu theil! Jenny hatte hier ja einen Vater, eine Mutter und mehrere Brüder gefunden. Eine Tochter war es für Zermatt und seine Gattin, eine Schwester für Fritz, Ernst, Jack und Franz, die sie jetzt ihrer geliebten Wohnstätte in Felsenheim zuführten.

[70] Selbstverständlich trug die »Elisabeth« auch die wenigen Geräthe, die sich Jenny selbst angefertigt, und die der Kajak von dem Rauchenden Felsen her mitgebracht hatte. Es war ja zu natürlich, daß die arme Verlassene besonderen Werth auf diese Gegenstände legte, die für sie schmerzliche und doch theuere Andenken bildeten.

Auch von zwei lebenden Wesen, zwei getreuen Begleitern, wollte sich das junge Mädchen auf keinen Fall trennen – von einem zum Fischfange abgerichteten Cormoran und einem gezähmten Schakal, der sich mit dem Jacks gewiß gut vertragen würde.

Von der Abfahrt an wurde die »Elisabeth« durch eine frische Brise begünstigt, die alle ihre Segel zu benützen erlaubte. Die Witterung erschien so beständig, daß der ältere Zermatt dem Verlangen nicht widerstehen konnte, nach Umschiffung des Caps der Getäuschten Hoffnung der Reihe nach bei allen Anlagen und Bauten auf dem Gelobten Lande anzulegen.

Zuerst geschah das bei der Villa des Prospect-Hill, die auf dem von üppigem Grün bedeckten Hügel lag, welcher Aussicht bis nach Falkenhorst hin gewährte. Hier wurde die Nacht zugebracht... es war eine lange Zeit vergangen, seit Jenny sich eines so friedlichen Schlummers wie in dieser Nacht erfreut hatte.

Fritz und Jack waren dann gleich am frühesten Morgen mit dem Kajak abgefahren, um in Felsenheim alles zur Aufnahme der jungen Engländerin vorzubereiten. Nach ihnen stieß auch die Pinasse wieder vom Ufer und legte darauf an der Walfischinsel an, die von vielen Kaninchen bevölkert war. Der ältere Zermatt überwies Jenny die kleine Insel als Eigenthum, ein Geschenk, das mit großem Danke angenommen wurde.

Von hier aus hätten die Insassen der »Elisabeth« ihren Weg vollends zu Lande zurücklegen und dabei die Meierei von Waldegg und die in der Luft, d. h. auf jenem Riesenbaume gelegene Wohnung Falkenhorst besuchen können. Zermatt und seine Gattin wünschten aber, das Vergnügen, die neue Lebensgefährtin dahin zu führen, ihrem Fritz zu überlassen.

Die Pinasse segelte also weiter längs des Ufers bis zum Schakalbache hin. Schon als sie in die Rettungsbai einfuhr, wurde sie durch eine Salve von drei Kanonenschüssen von der Batterie der Haifischinsel begrüßt. Gleichzeitig hißten Fritz und Franz die roth und weiße Flagge zu Ehren des jungen Mädchens.


Der junge Mann bemerkte ein Stück grobes Segeltuch. (S. 63.)

Nachdem diese Salve mit den zwei kleinen Stücken der Pinasse erwidert worden war, stieß Zermatt in demselben Augenblick ans Ufer, wo Fritz und Jack aus dem Kajak stiegen, und nun ging die ganze wiedervereinigte Familie das Land hinauf, um nach Felsenheim zu gelangen.

[71]
Ein Wilder!... Ein Wilder!« (S. 69.)

Jenny war nicht wenig überrascht, als sie den kühlen, mit freundlichem Grün geschmückten Raum betrat und die Einrichtung und Ausstattung der einzelnen Abtheilungen darin betrachtete; noch mehr aber, als sie im Speisezimmer die große Tafel erblickte, die Fritz und sein Bruder zurecht gemacht [72] hatten, das Porzellangeschirr, die Trinkschalen aus Bambusrohr, die Schüsseln aus Cocosnuß, die Tassen aus Straußeneiern und daneben die Bestecke europäischer Herkunft, die einst vom »Landlord« geborgen worden waren.

Die Mahlzeit bestand aus frischen Fischen, einem Geflügelbraten, einem Wasserschweinschinken und aus Früchten verschiedener Art, wozu Meth und Canarienwein als angenehme Getränke aufgetragen waren.

Jenny Montrose bekam bei Tische den Ehrenplatz zwischen Herrn und Frau Zermatt. Und neue Thränen perlten ihr aus den Augen, warme Freudenthränen, [73] als sie ein oben über die Tafel gespanntes und mit Blumen geschmücktes Band gewahrte und darauf die Worte las:

»Ein Lebehoch für Jenny Montrose!... Gesegnet sei ihr Erscheinen in dem Gebiete des schweizerischen Robinson!«

Das junge Mädchen erzählte nun ihre Geschichte.

Jenny war die einzige Tochter des Majors William Montrose, eines Officiers der indischen Armee, und hatte von der frühesten Kindheit an ihren Vater von Garnison zu Garnison begleitet. Ihrer Mutter schon im Alter von sieben Jahren beraubt, war sie unter der Fürsorge ihres Vaters mit dem Ziele erzogen worden, sie für die Kämpfe des Lebens zu befähigen, wenn sie einmal ihre letzte Stütze auf Erden verlieren sollte.

Neben der Unterweisung in allem, was für ein junges Mädchen wissenswerth erschien, wurde sie vorzüglich zu stärkenden Körperübungen angehalten, vor allem zum Reiten und zur Jagd, wofür sie übrigens eine für ihr Geschlecht ungewöhnliche Vorliebe zeigte.

In der Mitte des Jahres 1812 erhielt der inzwischen zum Oberst ernannte Major Montrose den Befehl, nach Europa an Bord eines Kriegsschiffes zurückzukehren, das Veteranen der englisch-indischen Armee wieder in die Heimath befördern sollte.

Zur Führung eines Regiments auf einer Expedition in weiter Ferne berufen, kehrte er von dieser, aller Wahrscheinlichkeit nach, nur zurück, um seinen Abschied zu nehmen. Seine zur Zeit siebzehnjährige Tochter war deshalb genöthigt, in ihr Vaterland zurückzukehren, wo sie bei einer in London wohnenden Tante, einer Schwester des Obersten, Aufenthalt nehmen sollte. Hier hatte sie gedacht, die Rückkehr ihres Vaters abzuwarten, der dann endlich von den Strapazen eines so lange Zeit dem Heeresdienst gewidmeten Lebens ausruhen sollte.

Da Jenny sich nicht wohl an Bord eines zum Truppentransport bestimmten Fahrzeugs einschiffen konnte, vertraute sie ihr Vater, der ihr noch eine Dienerin mitgab, einem seiner Freunde, dem Kapitän Greenfield an, der den »Dorcas« befehligte. Dieses Schiff segelte einige Tage vor dem ab, das den Oberst heimführen sollte.

Seine Fahrt gestaltete sich schon von Anfang an recht schlimm. Kaum über den Golf von Bengalen hinausgekommen, gerieth es in Stürme, die mit ganz ungewöhnlicher Wuth auftraten; ferner wurde es von einer französischen Fregatte [74] verfolgt, und diese zwang den »Dorcas«, im Hafen von Batavia Schutz zu suchen.

Als der Feind diese Meeresgegend verlassen hatte, ging der »Dorcas« wieder unter Segel und schlug den Curs nach dem Cap der Guten Hoffnung ein. Dabei wurde seine Fahrt aber durch rauhes Wetter und grobe See außerordentlich gestört und ungünstige Winde hielten ihn lange Zeit zurück. Schließlich wurde der »Dorcas« sogar durch einen starken Südweststurm gänzlich aus seinem Curs verschlagen. Eine ganze Woche hindurch konnte der Kapitän kein Besteck machen (d. h. bestimmen, an welcher Stelle das Schiff sich befand). Er hätte also nicht anzugeben vermocht, nach welchem Theile des Indischen Oceans sein Schiff getrieben worden war, als es in der Nacht plötzlich gegen eine Klippe stieß.

In geringer Entfernung zeigte sich eine unbekannte Küste und sofort sprang die Mannschaft in die große Schaluppe, um dahin zu gelangen. Jenny Montrose, ihre Dienerin und einige Passagiere nahmen im zweiten Boote Platz. Das Schiff begann schon zu bersten, es galt also, schnell davon fortzukommen.

Eine halbe Stunde später kenterte das zweite Boot unter einer furchtbaren Woge, während das erste in der stark dunstigen Luft verschwunden war.

.Als Jenny, die ohnmächtig geworden war, wieder zum Bewußtsein kam, sah sie sich auf einem Strande, wohin die Wellen sie geworfen hatten, und anscheinend als einzige Ueberlebende aus dem Schiffbruch des »Dorcas«.

Wie viel Zeit seit dem Untergange des Bootes verstrichen war, hätte das junge Mädchen unmöglich sagen können. Es erschien als ein wahres Wunder, daß sie noch Kraft genug fand, sich nach einer naheliegenden Höhle zu schleppen, wo sie einige Eier verzehrte und dann vor Erschöpfung einschlummerte.

Nach langem Schlafe erhob sie sich endlich wieder. Jetzt trocknete sie an der Sonne zuerst die Mannskleidung, die sie im Augenblicke des Schiffsunfalles angelegt hatte, um in ihrer Bewegung weniger behindert zu sein. In einer Tasche hatte sie auch einen Feuerstahl gefunden, der es ihr ermöglichte, dürre Blätter und dergleichen in Brand zu setzen.

Bei einem Gange längs des Inselstrandes konnte Jenny von ihren früheren Reisegefährten niemand entdecken. Nur Schiffstrümmer lagen verstreut umher... einige Holzstücke, die sie zur Unterhaltung ihres Feuers benützte.

Das junge Mädchen erfreute sich trotz ihrer mißlichen Lage einer solchen körperlichen und seelischen Energie – wohl infolge ihrer fast männlichen [75] Erziehung – daß sie auch jetzt keineswegs verzweifelte. Sofort ging sie an die Einrichtung der Höhle. Einige Nägel, die sie aus Trümmern des »Dorcas« löste, bildeten zunächst freilich ihre einzigen Werkzeuge. Mit den Händen sehr geschickt und erfindungsreichen Geistes, gelang es ihr aber doch, damit die allernothwendigsten Gegenstände anzufertigen. So stellte sie sich einen Bogen her und fertigte sich einige Pfeile, um Haar- und Federwild zu erlegen, das auf dieser Küste sehr reichlich vorhanden war, und damit ihre tägliche Nahrung zu sichern. Sie fing sogar einige Thiere, die sich zähmen ließen, und zwar einen Schakal und einen Cormoran, welche sich bald gewöhnten, sie zu begleiten.

Inmitten der kleinen Insel, auf die das Meer die junge Schiffbrüchige geworfen hatte, erhob sich ein vulcanischer Berg. aus dessen Krater Rauch und Flammen emporstiegen. Als Jenny bis nahe an seinen, etwa hundert Toisen über das Meer aufragenden Gipfel hinausgegangen war, hatte sie am Horizonte kein weiteres Land sehen können.

Der ungefähr zwei Lieues im Umfange messende Rauchende Fels zeigte nur an der Ostseite ein enges Thal, durch das sich ein kleiner Bach hinschlängelte. Gegen verheerende Winde geschützte Bäume verschiedener Art verhüllten es mit ihren dichtbelaubten Kronen. Auf einem hierunter befindlichen Mango-(Leuchter-)Baum richtete sich Jenny ein dürftige Wohnung ein, ganz wie es die Zermatt'sche Familie mit ihrer Wohnstätte Falkenhorst gethan hatte.

Die Jagd in der Umgebung des Thales und der Fischfang im Bache und zwischen den Uferfelsen, den sie mittels einfacher, aus Nägeln hergestellter Angelhaken betrieb, ferner eßbare Schotenfrüchte und Beeren, die ihr verschiedene Büsche lieferten, und endlich mehrere in den drei auf den Schiffbruch folgenden Tagen aus Land geworfene Kisten mit Conserven nebst einigen Fäßchen mit Wein gestatteten der jungen Engländerin eine willkommene Abwechslung in ihrer Nahrung, die anfänglich aus Wurzeln und Muschelthieren bestanden hatte.

Wie lange lebte nun Jenny Montrose in dieser Weise auf dem Rauchenden Felsen, bis endlich der Tag ihrer Erlösung kam?

Zuerst hatte sie gar nicht daran gedacht, weder die Tage, noch die Wochen zu zählen. Dadurch aber, daß sie sich an gewisse Vorkomnisse erinnerte und für diese die dazwischen vergangene Zeit berechnete, gelang es ihr, die seit dem Untergange des »Dorcas« verstrichenen Monate annähernd genau zu bestimmen. Ihrer Ansicht nach hatte ihr Aufenthalt hier gegen zweiundeinhalb Jahre gedauert, und damit mochte sie wohl recht haben.

[76] So viele Wochen lang, in der Regenzeit wie in der heißen Jahreszeit, war kein Tag vergangen, ohne daß das junge Mädchen den weiten Horizont überblickt hatte, doch niemals hob sich ein Segel von dem Himmel dahinter ab. Vom höchsten Punkte der Insel aus und bei heiterer Witterung glaubte sie jedoch im Osten Land zu erkennen. Doch wie hätte sie dahingelangen können, und welches Land mochte es wohl sein?

Herrschte hier innerhalb der Tropenzone auch niemals eine strengere Kälte, so hatte Jenny doch in der Regenzeit recht schwer zu leiden. Sie mußte sich dann in der gleich am ersten Tage entdeckten Höhle aufhalten und konnte niemals jagen oder fischen gehen, so daß ihr zuweilen ein empfindlicher Nahrungsmangel drohte. Zum Glück konnte sie mit Eiern, die sich zahlreich zwischen nahen Felsenspalten fanden, mit Muscheln, die sie dicht am Fuße der Höhle einsammelte, und mit mancherlei für diese Zeit aufbewahrten Früchten wenigstens ihr Leben fristen.

Kurz, jedenfalls waren schon mehr als zwei Jahre verstrichen, als ihr – gleich einer Eingebung des Himmels – der Gedanke kam, am Fuße eines Albatros, den sie gefangen hatte, ein Stück Leinen mit der Mittheilung ihrer Existenz auf dem Rauchenden Felsen zu befestigen. Die Lage dieses Felsens auch nur anzudeuten, war sie freilich nicht imstande. Sobald sie den Vogel freigelassen hatte, flog dieser in der Richtung nach Nordosten davon, kehrte wahrscheinlich aber niemals nach dem Rauchenden Felsen zurück.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß er wieder erschien. Die schwache Hoffnung, die das junge Mädchen auf diesen Versuch gesetzt hatte, war allmählich erloschen. Dennoch wollte sie nicht verzweifeln. Wurde die ersehnte Hilfe ihr nicht auf diesem Wege zu theil, so würde sie schon auf einem anderen kommen.

So lautete der eingehende Bericht, den Jenny der Familie Zermatt erstattete. Wiederholt lockte sie dabei den Anderen Thränen aus den Augen, denn es war unmöglich, ihr ohne tiefe Rührung zuzuhören, und immer wieder küßte Betsie die ihr neugeschenkte Tochter, um ihre feuchten Augen zu verbergen.

Nun war noch von Fritz zu hören, wie er den Rauchenden Felsen gefunden hatte.

Wie der Leser schon weiß, war Fritz beim Verlassen der Perlenbucht in seinem Kajak der Schaluppe zuerst vorausgefahren und hatte seinem Vater dann einen Zettel eingehändigt, mit dem er ihm mittheilte, daß er sich zur Aufsuchung [77] der jungen Engländerin aufmachen wolle. Nachdem die beiden Fahrzeuge das Bogengewölbe passirt hatten, folgte er nicht weiter der Küste im Osten, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung ein.

Der Küstenstrich war mit Rissen übersäet und wurde von gewaltigen Felsmassen eingerahmt. Hinter diesen zeigten sich ebenso prächtige Bäume, wie die bei Waldegg oder bei Eberfurt. Zahlreiche Wasserläufe ergossen sich im Grunde kleiner Einbuchtungen. Diese nordwestliche Küste glich im übrigen aber nicht der, die sich zwischen der Rettungs- und der Nautilusbucht hin ausdehnte.

Die am ersten Tage sehr starke Wärme nöthigte Fritz, einmal anzulegen und im Schatten Erquickung zu suchen. Er mußte dabei auch nicht geringe Vorsicht beobachten, denn mehrere Flußpferde, die sich an den Mündungen der Wasserläufe tummelten, hätten seinen Kajak gar zu leicht zerstören können.

Sobald er nahe dem Saume eines dichten Gehölzes ans Land gegangen war, zog er deshalb sein leichtes Boot bis an den Fuß eines Baumes heraus. Dann übermannte ihn aber die Müdigkeit und er fiel in tiefen Schlaf.

Vom nächsten Morgen an wurde die Fahrt wieder bis zur Mittagszeit fortgesetzt. Bei dem Halt, den er dann machte, mußte sich der junge Mann des Angriffes eines Tigers erwehren. Es glückte ihm, das gefährliche Raubthier an der Seite schwer zu verwunden, während sein Adler diesem die Augen auszuhacken suchte. Zwei Pistolenschüsse machten dem Tiger dann vollends den Garaus.

Zum großen Kummer für Fritz sah dieser aber, daß der Adler, dem ein Tatzenschlag den Leib aufgerissen hatte, auch todt war. Er mußte den armen Blitz also im Sande verscharren und bestieg dann wieder sein Boot, ganz untröstlich, einen so treuen Jagdgefährten eingebüßt zu haben.

Am zweiten Tage ruderte Fritz immer längs des Ufers hin, doch verrieth nach der Seeseite zu noch keine Dampfwolke das Vorhandensein des Rauchenden Felsens. Da das Meer auffallend ruhig war, beschloß der junge Mann, sich weiter darauf hinauszuwagen, um zu sehen, ob vielleicht am südwestlichen Horizonte eine Rauch- oder Dampfwolke aufstiege. Er steuerte den Kajak also in dieser Richtung hin. Dessen kleines Segel wurde von günstigem Landwinde geschwellt. Nach zweistündiger Fahrt gedachte er eben umzukehren, als er eine leichte, aufsteigende Wolke zu bemerken glaubte.

Fritz vergaß darauf alles, seine Erschöpfung, die Beängstigung, die sein langes Ausbleiben in Felsenheim hervorrufen mußte, und ebenso die ihm selbst[78] drohende Gefahr, wenn er sich so weit aufs Meer hinaus begab. Mit Hilfe der Pagaien flog der Kajak jetzt über das Wasser hin. Eine Stunde später befand er sich etwa noch sechs Kabellängen von einer Insel entfernt, die ein vulcanilcher Berg überragte, aus dem mit Rauch gemischte Flammen emporzüngelten.

Die Ostküste der Insel erschien ganz dürr und unfruchtbar. Weiterhin sah Fritz aber, daß sie durch die Mündung eines Baches unterbrochen war, der aus einem frischgrünen Thale herabkam.

Da trieb er den Kajak in einen schmalen Landeinschnitt und zog ihn hier auf das Uferland.

In seiner Nähe bemerkte er zur Rechten eine Grotte, an deren Eingange eine menschliche Gestalt in tiefem Schlummer lag.

Ergriffen und doch auch erfreut betrachtete Fritz die arme Verlassene. Es war ein junges Mädchen von siebzehn bis achtzehn Jahren und bekleidet mit grobem Leinenstoff, der offenbar von einem Segel herrührte, doch sauber und für sie recht gut passend bearbeitet erschien. Ihre Züge waren reizend, ihr Gesichtsausdruck unendlich mild. Fritz wagte nicht, sie zu wecken, und doch winkte ihr ja die Erlösung, wenn sie die Augen aufschlug.

Endlich erwachte das junge Mädchen. Beim Anblicke eines Fremden konnte sie einen Aufschrei der Ueberraschung und des Erschreckens nicht unterdrücken.

Fritz beruhigte sie durch eine Handbewegung.

»Fürchten Sie nichts, Miß, redete er sie in englischer Sprache an, ich thue Ihnen nichts zu Leide... ich bin nur gekommen, um Sie zu retten.«


Ergriffen und erfreut betrachtete Fritz die arme Verlassene. (S. 79.)

Und ehe sie noch zu antworten vermochte, erzählte er ihr, wie ihm ein Albatros in die Hände gefallen sei, ein Albatros mit der schriftlichen Mittheilung, daß eine junge Engländerin am Rauchenden Felsen um Rettung flehe. Er sagte ihr auch, daß sich nur wenige Lieues weit im Osten ein Land befinde, wo eine ganze Familie von Schiffbrüchigen lebe.

Das junge Mädchen sank erst in die Knie, um Gott ihren Dank darzubringen, dann reichte sie ihrem Retter die Hände, um auch diesem zu danken. Hierauf erzählte sie mit kurzen Worten ihre Geschichte und lud Fritz ein, in ihre dürftige Unterkunftsstätte mit einzutreten.

Mit dem Vorbehalte, daß dieser Besuch nicht lange dauere, nahm Fritz die Einladung an. Die Zeit drängte und ihn verlangte danach, die junge Engländerin nach Felsenheim zu bringen.

[79] »Morgen, erwiderte sie, morgen fahren wir ab, Herr Fritz! Lassen Sie mich noch einen Abend verbringen auf diesem Rauchenden Felsen, den ich, will's Gott, doch nie mehr wiedersehen werde!

– Also morgen,« antwortete der junge Mann.

Von den Mundvorräthen Jennys und denen, die sich im Kajak befanden bereiteten sie sich ein Abendessen und erzählten dabei einander ihre außergewöhnliche Geschichte. Nach einem stillen Gebete zog sich Jenny zuletzt nach dem Hintergrunde der Grotte zurück, während Fritz sich – gleich einem treuen Wachthunde[80] – an deren Eingange niederlegte. Mit Tagesanbruch wurden dann die wenigen Gegenstände, von denen Jenny sich nicht trennen wollte und auch ihr Schakal und ihr Cormoran, im Kajak untergebracht.


Ernst.

Das junge Mädchen, das jetzt wieder Männerkleidung trug, nahm auf dem hinteren Sitze des leichten Fahrzeuges Platz.

Das Segel wurde gehißt, die Pagaien peitschten das Wasser, und schon eine Stunde darauf verloren sich am Horizonte die letzten Spuren vom Rauchenden Felsen.

[81] Fritz beabsichtigte, den kürzesten Weg nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung einzuhalten; der stark beladene Kajak war aber gegen eine Unterwasserklippe gestoßen und mußte zur Weiterfahrt erst ausgebessert werden. Fritz steuerte deshalb in die Perlenbucht hinein und brachte seine Schutzbefohlene hier auf ein Eiland, von wo aus die Pinasse diese aufgenommen hatte.

Das war es, was Fritz zu berichten wußte.

Inzwischen ging das Leben, zuweilen in Falkenhorst und zuweilen in Felsenheim, in gewohnter Weise weiter, gestaltete sich aber nur noch glücklicher, seit Jenny Montrose in die ehrbare, fleißige Familie mit eingetreten war. Mit der Unterhaltung der Meiereien und der Pflege der Thiere verstrichen die Wochen bei anregender Thätigkeit. Jetzt verband schon eine schöne Obstbaumallee den Schakalbach mit dem »Schlosse« Falkenhorst, und auch in Waldegg, Zuckertop, bei der Einsiedelei Eberfurt und auf dem Prospect-Hill waren mancherlei Verschönerungen geschaffen worden. Welch herrliche Stunden gab es da in diesem, aus Bambus nach dem Vorbilde der Schweizerhäuschen erbauten Landhause! Oben, vom Hügel aus, bot sich auf der einen Seite eine weite Aussicht über einen großen Theil des Gelobten Landes, und auf der anderen eine solche bis zu dem acht bis neun Lieues entfernten Horizonte, wo sich Himmel und Wasser berührten.

Dann trat wieder die Regenzeit ein, in der der Monat Juni ungemein reichliche Niederschläge brachte, die dazu nöthigten, Falkenhorst zu verlassen und nach Felsenheim zurückzukehren. Das waren dann zwei bis drei recht beschwerliche Monate, die das oft lange anhaltende schlechte Wetter noch unangenehmer machten.

Einige Gänge nach den Meiereien, die wegen der Versorgung der Thiere nicht gescheut werden durften, und gelegentlich eine kurze Jagd, auf die Fritz und Jack, doch nur in der nächsten Umgebung von Felsenheim, auszogen, das war alles, was jeden Tag unter freiem Himmel ausgeführt werden konnte.

Trotzdem blieb die kleine Welt hier nicht etwa müßig. Frau Zermatt leitete die häuslichen Arbeiten, und Jenny unterstützte sie dabei mit angelsächsischer Findigkeit, die der schweizerischen Gewohnheitsmäßigkeit oft recht zu gute kam.

Während sich ferner das junge Mädchen von dem älteren Zermatt die deutsche Sprache zu erlernen bemühte, lernte die Familie von ihr die englische Sprache, die Fritz schon nach einigen Wochen recht gut beherrschte. War es [82] denn ein Wunder, daß er von seinen Lectionen so großen Nutzen zog, wo er einen ihm so angenehmen Lehrer hatte?

Niemand klagte also besonders über die langen Tage der Regenzeit. Die Gegenwart Jennys verlieh ja den Abenden einen ganz neuen Reiz, und keiner dachte daran, sich zeitig in sein Zimmer zurückzuziehen. Frau Zermatt und Jenny beschäftigten sich dabei vielfach mit Nadelarbeiten, wenn das junge Mädchen, das eine prächtige Stimme hatte, nicht zum Singen aufgefordert wurde. Sie erlernte verschiedene schweizerische Lieder, deren nie veraltende Melodien an die Klänge aus den Bergen der Heimat erinnerten, und es war ein wirklicher Hochgenuß, sie aus ihrem Munde zu hören. Darauf las Ernst noch Das und Jenes vor, wozu er die besten Bücher aus der Bibliothek benützte, und so schien die Stunde der Ruhe allen stets zu früh zu schlagen.

Zermatt, seine Gattin und seine Kinder fühlten sich bei diesem trauten Beisammensein so glücklich wie möglich, wenn sie natürlich auch ihre Sorge um die Zukunft und die sehr schwache Aussicht, daß ihnen von irgendwoher Hilfe kommen könne, und die entfernte Heimat niemals vergaßen. Auch Jenny fühlte sich bei dem Gedanken an ihren Vater wohl oftmals recht bedrückt.

Von dem Schiffe, das sie heimführen sollte, dem »Dorcas«, hatte man nicht das geringste wieder gehört und mußte wohl annehmen, daß es bei einem Cyclon im Indischen Meere mit Mann und Maus untergegangen sei. Vollkommen kann ja auch nie das Glück Derer sein, die in der Einsamkeit zu leben gezwungen sind, denen jede Verbindung mit ihresgleichen abgeschnitten ist, und das traf doch nach allen Seiten für niemand mehr zu als für die Bewohner der Neuen Schweiz, für die einzigen Ueberlebenden aus dem Schiffbruche des »Landlord«.

Der Leser weiß schon, welch unerwarteter Zwischenfall diese Sachlage so gründlich ändern sollte.

[83]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Nach der Abfahrt. – Was von der Neuen Schweiz bekannt war. – Die Familie Wolston. – Neue Pläne. – Herstellung eines Canals zwischen dem Schakalbache und dem Schwanensee. – Ende des Jahres 1816.

In den ersten Tagen nach der Abfahrt der »Licorne« herrschte tiefe Betrübniß in Felsenheim. Wie hätte es auch anders sein können? Es schien ja, als ob auf diesem von der Vorsehung sonst so begünstigten Fleckchen Erde das Unglück eingezogen wäre. Zermatt und seine Gattin konnten sich nicht darüber trösten, daß sie zwei ihrer Kinder hatten fortgehen lassen, und doch war das nicht zu verhindern gewesen, da die Umstände es verlangten und auch einen Aufschub der schmerzlichen Trennung nicht gestatteten.

Man darf von dem Herzen eines Vaters und einer Mutter aber nicht mehr verlangen, als es ertragen kann. Fritz, der thatenfrohe junge Mann, war nicht mehr da, Fritz, der kraftvolle Arm dieser Familie, die in ihm schon ihr zukünftiges Haupt erblickte, und dazu fehlte auch noch Franz, der der Fährte seines älteren Brudern folgte.

Ernst und Jack waren freilich noch da. Der erste hatte jetzt sein früheres eifriges Studium aufgegeben und sich, dank einem vorzüglichen Unterrichtsmaterial, eine ebenso gründliche, wie praktische Bildung angeeignet. Der zweite theilte mehr die Neigungen des ältesten Bruders Fritz, er liebte die Jagd, den Fischfang, das kühne Reiten und die Schifffahrt und versprach, bei seinem Eifer, die letzten Geheimnisse der Neuen Schweiz zu entschleiern, seinen Bruder in dessen abenteuerlichen Ausflügen zu ersetzen. Endlich war aber auch sie nicht mehr da, die reizende, von allen geliebte Jenny Montrose, deren Abwesenheit Betsie ganz wie die einer ihr theueren Tochter betrauerte. Und die Plätze der drei in den Stuben von Felsenheim leer zu leben, leer am gemeinschaftlichen Tische, leer in dem Raume, wo sich alle jeden Abend zusammenfanden – das drohte ihr das Herz zu brechen. Es schien, als ob alle Freuden des häuslichen Herdes, der infolge der Trennung erkaltet war, erloschen wären gleich einem Feuer, das der Athemzug eines vertrauten Kreises nicht mehr belebte.

Ohne Zweifel kehrten ja alle zurück und dann würde der Kummer über die Abreise, die Trauer über ihre Abwesenheit vergessen sein. Ja, sie kehrten[84] gewiß zurück und mit ihnen neue Freunde: der Oberst Montrose, der sich von seiner Tochter nicht würde trennen wollen, nachdem er dieser ihren Retter als Gatten gegeben hatte; ferner Doll Wolston, ihr Bruder James, dessen Gattin und Kind, die sich mit allen den Ihrigen sicherlich gern in diesem Lande niederließen, und schließlich würden vielleicht gar zahlreiche Auswanderer diese entlegene Colonie Großbritanniens bevölkern.

Ja, höchstens nach einem Jahre würde eines schönen Tages draußen vor dem Cap der Getäuschten Hoffnung ein von Westen kommendes Schiff auftauchen, doch nicht nach Norden oder Osten zu wieder verschwinden, sondern in die Rettungsbucht einlaufen. Wahrscheinlich würde das die »Licorne« sein. Doch wenn es auch ein beliebiges anderes wäre, jedenfalls brachte es dann den Oberst Montrose mit seiner Tochter, brachte es Fritz und Franz, sowie die Kinder des Herrn und der Frau Wolston hierher.

Die Verhältnisse hatten sich jetzt also gänzlich geändert. Die Bewohner der Neuen Schweiz waren nicht mehr jene Schiffbrüchigen vom »Landlord«, die auf einer unbekannten Küste Obdach gefunden hatten und nur vom Zufalle auf eine Hilfe warteten, die gar zu häufig niemals eintrifft. Die Lage dieses Landes war jetzt der geographischen Länge und Breite nach festgestellt. Der Lieutenant Littlestone besaß die bezüglichen genauen Aufnahmen und er übermittelte sie natürlich der Admiralität, die dann die nöthigen Schritte zur Besitzergreifung veranlassen würde.

Als die Corvette von der Neuen Schweiz absegelte, war es, als ob sich von ihr gleichzeitig ein Tausende von Lieues langes Band abzurollen begönne, ein Band, das jene mit der Alten Welt verknüpfte und das nichts mehr zerreißen konnte.

Bisher war von dem Lande freilich nur ein Theil der nördlichen Küste bekannt, höchstens fünfzehn bis sechzehn Lieues des Ufergebietes zwischen der »Licorne«-Bai und der Strecke im Osten vom Rauchenden Felsen. Die drei tiefen Buchten, die Rettungs-, Nautilus- und Perlenbucht, waren mittels der Schaluppe und des Kajaks noch nicht einmal in ihrer ganzen Ausdehnung besucht worden.

Im Laufe dieser elf Jahre hatten Zermatt und seine Söhne überhaupt kaum die Felsenwand jenseits des Passes der Cluse überritten, sie hatten sich vielmehr darauf beschränkt, dem Grunde des Grünthales zu folgen, ohne die Höhen an den Seiten zu erklimmen.

[85] Die Zahl der Bewohner von Felsenheim war mit der Abfahrt der »Licorne« ja nicht eigentlich verkleinert worden, da damals die Familie Wolston zurückblieb.

Der zur Zeit fünfundvierzigjährige Wolston war ein Mann von kräftiger Constitution. Wenn auch geschwächt durch das Fieber, das er sich in Neusüdwales in Australien zugezogen hatte, mußte ihm das heilsame Klima der Neuen Schweiz und die Pflege, die ihm hier zutheil wurde, doch bald die volle Gesundheit wiedergeben. Seine Kenntnisse und seine reichen Erfahrungen auf mechanisch-technischem Gebiete versprachen hier sehr nützlich zu werden, und Zermatt hatte sich auch vorgenommen, sie bei den von ihm geplanten Verbesserungen auszunützen. Vor allem galt es aber, bis zur völligen Wiederherstellung Wolston's zu warten, zu dem sich Ernst durch eine gewisse Uebereinstimmung in Neigungen und Charakter besonders hingezogen fühlte.

Frau Merry Wolston war einige Jahre jünger als Betsie Zermatt. Die beiden Frauen mußten einander gefallen und ihre Freundschaft konnte nur zunehmen, wenn sie sich erst besser kennen gelernt hatten. Beiden war jede Leichtfertigkeit fremd, dagegen hatten sie die gleiche Vorliebe für Thätigkeit und Ordnung, die gleiche Zuneigung für ihre Männer und Kinder. Die Haushaltung in Felsenheim besorgten sie zusammen oder theilten ihre Arbeit beim Besuche der Meiereien von Waldegg und Zuckertop oder der Einsiedelei Eberfurt.

Annah Wolfton war bei ihren siebzehn Jahren kein kleines Mädchen mehr. Ihre Gesundheit hatte wie die ihres Vaters schwer gelitten, und der Aufenthalt im Gelobten Land versprach ihr gewiß wohl zu thun, ihre Constitution zu kräftigen und wieder frischere Farben auf die etwas gebleichten Wangen zu zaubern. Blond, mit hübschen Gesichtszügen, einem Teint, der gewiß bald wieder aufblühte, mit einem herzigen Blick aus den blauen Augen und mit ihrer eleganten Haltung versprach sie entschieden, sich zu einem sehr lieblichen Mädchen zu entwickeln. Sehr groß war aber der Unterschied zwischen ihr und ihrer Schwester, der lustigen, beweglichen Doll mit ihren vierzehn Jahren, deren helltönendes Lachen so häufig die verschiedenen Räume von Felsenheim erfüllte. Die zweite war eine Brünette, die immer sang, immer plauderte und stets eine drollige Antwort zur Hand hatte. Doch, es sollte ja wiederkommen, das entflohene Vöglein, wiederkommen nach einigen, freilich wohl recht träge verfließenden Monaten, und sein Gezwitscher sollte dann die kleine Welt hier aufs neue erfreuen.

[86] Es machte sich jetzt nothwendig. an die Vergrößerung von Felsenheim zu denken, denn nach der Rückkehr der »Licorne« mußte sich diese Wohnstätte als zu beschränkt erweisen. Handelte es sich da auch nur um den Obersten Montrose und Jenny, um Fritz und Franz, sowie um James Wolston, seine Schwester, seine Frau und sein Kind, so konnten diese hier doch nicht alle untergebracht werden, wenn ihnen nicht gewisse Theile der Höhle zur Verfügung gestellt wurden. Kamen aber gar noch neue Ansiedler mit ihnen, so mußten für diese selbstverständlich neue Wohnungen hergerichtet werden.

An Platz dazu fehlte es ja weder am linken Ufer des Schakalbaches, noch am Strande längs des schattigen Weges, der von Felsenheim nach Falkenhorst führte.

Das veranlaßte denn zwischen den Herren Zermatt und Wolston häufig Unterredungen, an denen sich auch Ernst, dessen Vorschläge wohl gehört zu werden verdienten, gerne betheiligte.

Zu dieser Zeit ließ es sich Jack, dem jetzt allein die Verpflichtungen zufielen, denen sich sonst sein älterer Bruder unterzogen hatte, angelegen sein, die Bedürfnisse der Speisekammer zu befriedigen. Mit seinen Hunden Braun und Falb durchstreifte er täglich die Gehölze und das offene Land, wo sich viel Feder- und Haarwild aufzuhalten pflegte; er suchte dabei auch sumpfige Stellen ab, wo er, um Abwechslungen in die täglichen Mahlzeiten zu bringen, Enten und Bekassinen erlegte. Manchmal wurde zu gleichem Zwecke auch dem Hühnerhofe etwas Geflügel entnommen. Caro, der Schakal Jacks, wetteiferte mit den Hunden, deren gewöhnlicher Begleiter er war, bei diesen Jagdausflügen. Der junge Mann ritt dann zuweilen auf seinem Wildesel Leichtfuß, der diesem Namen alle Ehre machte, zuweilen auch auf dem Strauße Brausewind oder auf dem Büffel Sturm, der wie ein Orkan durch den Hochwald fegte. Dem jungen Wagehals war ausdrücklich anempfohlen worden, stets innerhalb der Grenzen des Gelobten Landes zu bleiben und jedenfalls nie über den Paß der Cluse hinauszugehen, wo er der Gefahr des Zusammentreffens mit Raubthieren ausgesetzt war. Auf die Bitte seiner Mutter hatte er sich auch verpflichten müssen, seine Abwesenheit nie bis über den laufenden Tag auszudehnen und stets wenigstens zum Abendessen wieder daheim zu sein.


Zuweilen leistete ihm dabei Annah Wolston Gesellschaft.

Obwohl er das versprochen hatte, verhehlte Betsie ihre Besorgniß doch niemals, wenn sie ihn mit Pfeilgeschwindigkeit hinter den ersten Bäumen bei Felsenheim verschwinden sah.

[87] Was Ernst betraf, so bevorzugte dieser statt der aufregenden Jagd den ruhigeren Fischfang, dem er entweder an den Ufern des Schakalbaches oder am Fuße der Felsen an der Flamingobai oblag. An diesen Stellen wimmelte es geradezu von Krusten- und Weichthieren und Fischen, wie von Seelachsen, Heringen, Makrelen, Hummern, Krebsen, Austern und Miesmuscheln. Zuweilen leistete ihm dabei Annah Wolston Gesellschaft, was er gewiß nicht ungern sah.

Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß sich das junge Mädchen die Pflege des Cormorans und des Schakals vom Rauchenden Felsen gewissenhaft [88] [91]angelegen sein ließ. Ihr hatte Jenny vor der Abreise die Thiere anvertraut, und damit waren sie sicherlich in gute Hände gegeben. Bei ihrer Heimkehr fand Jenny diese beiden treuen Gefährten, die innerhalb der Umfriedigung von Felsenheim ganz frei umherlaufen konnten, jedenfalls in blühendster Gesundheit wieder. Wenn der Cormoran aber sich mit den übrigen Bewohnern des Geflügelhofes recht gut vertrug, befreundete sich der Schakal kaum oder gar nicht mit dem Jacks, soviel sich sein Herr auch darum bemüht hatte. Beide erwiesen sich auf einander höchst eifersüchtig, so daß es zwischen ihnen manchmal zu einem kleinen Scharmützel kam.


Das durch das Wasser angetriebene Rad bewegte sich vorschriftsmäßig. (S. 100.)

»Ich verzichte darauf, sagte deshalb Jack eines Tages zu Annah, diese beiden Burschen an einander zu gewöhnen, und ich überlasse sie lieber Ihnen.

– Rechnen Sie auf mich, Jack, antwortete Annah, vielleicht gelingt es mir mit einiger Geduld doch noch, sie gegenseitig freundlicher zu stimmen.

– Versuchen Sie es nur, liebe Annah; ein Paar Schakals sollten doch gute Kameraden sein!

– Mir scheint auch, Jack, daß der eine Ihrer Affen...

– Ah, Knips II.?... Ja freilich, der weist Jennys Günstling gerne die Zähne!«

Knips II. schien sich thatsächlich gegenüber dem später Gekommenen recht feindselig zu verhalten, und es mochte wohl schwierig sein, die Thiere, obwohl sie beide sonst zahm waren, unter einander verträglicher zu machen.

In dieser Weise gingen die Tage dahin. Betsie und Merry hatten kaum je eine Mußestunde übrig. Während Frau Zermatt die Kleidungsstücke ausbesserte, fertigte die in Näharbeiten sehr geschickte Frau Wolston neue an, und zwar für die Frauen ebenso wie für die Männer. Stoffe dazu waren aus dem gescheiterten »Landlord« in ausreichender Menge vorhanden.

Das Wetter war jetzt sehr schön und die Luftwärme noch recht erträglich. Des Vormittags wehte der Wind vom Lande, des Abends vom Meere her. Die Nächte blieben erquickend und frisch. Diese letzte Woche des Octobers- des Aprils in der nördlichen Breite – sollte nun bald dem November weichen, dem Monate des Wiederauflebens, dem Frühlingsmonat auf der südlichen Halbkugel.

Die beiden Familien vergaßen es nicht, die Meiereien häufig zu besuchen und begaben sich dahin ein mal zu Fuße und ein andermal in dem von einem Büffelgespann gezogenen Wagen. Ernst bestieg dann meist seinen jungen Esel [91] Rasch, und Jack ritt stolz auf dem Strauße. Dem Herrn Wolston bekamen diese Ausflüge ganz vortrefflich. Sein Fieber verrieth sich nur noch in seltenen und leichten Anfällen.

Von Felsenheim nach Falkenhorst führte eine schöne, schon vor zehn Jahren an den Seiten bepflanzte Straße, deren Maronen-, Nuß- und Kirschbäume tiefen Schatten spendeten. Zuweilen verlängerte sich der Aufenthalt in der Lustwohnung über vierundzwanzig Stunden, und alle hatten ihre helle Freude daran, wenn sie, nach Ersteigung der im Stamme hinausführenden Treppe, nach der von dem Laubwerk des prächtigen Mangobaumes überwölbten oberen Plattform hinaustraten. Zwar erschien diese Wohnstätte jetzt etwas beschränkt, nach der Ansicht des Herrn Wolston empfahl es sich aber nicht, sie zu vergrößern.

»Sie haben ganz recht, erwiderte ihm da eines Tages der ältere Zermatt auf eine darauf bezügliche Bemerkung, zwischen den Aesten eines Riesenbaumes zu wohnen, das war gut genug für Robinsons, die in erster Linie eine Zuflucht vor wilden Thieren aufsuchen mußten, was wir ja auch in der allerersten Zeit unseres Aufenthaltes auf der Insel gethan haben. Jetzt sind wir jedoch Ansiedler geworden, richtige Colonisten...

– Und überdies, fiel Wolston ein, müssen wir auch an die Rückkehr unserer Kinder denken, denn es bleibt uns nicht zu viel Zeit übrig, Felsenheim zur Aufnahme ihrer aller einzurichten.

– Jawohl, bemerkte Ernst, eine Vergrößerung kann doch nur in Felsenheim ausgeführt werden. Wo könnten wir auch ein in der Regenzeit besser schützendes Unterkommen finden? Ich stimme Herrn Wolston völlig bei. Falkenhorst ist für uns zu klein geworden, und im Sommer, mein' ich, empfiehlt es sich mehr, Waldegg oder Zuckertop zu bewohnen.

– Ich würde den Prospect-Hill vorziehen, ließ da Frau Zermatt sich vernehmen. Es könnte doch nicht schwer sein, die nöthigen Einrichtungen zu treffen.

– Ein herrlicher Gedanke, Mutter! rief Jack. Der Prospect-Hill bietet eine unvergleichliche Aussicht, die sich über das offene Meer bis zur Rettungsbucht erstreckt. Dieser Hügel ist für ein hübsches Landhaus wie geschaffen...

– Oder für ein Fort, antwortete sein Vater, eine Befestigung, die die Spitze der Insel beherrschen würde.

– Eine Befestigung? wiederholte Jack.

[92] – Gewiß, mein Sohn, bestätigte Zermatt. Wir dürfen doch nicht vergessen, daß die Neue Schweiz in das Eigenthum Englands übergehen wird, und daß die Engländer ein Interesse daran haben werden, sie zu befestigen. Die Batterie der Haifischinsel wäre doch nicht im stande, die zukünftige Stadt zu vertheidigen, die sich voraussichtlich zwischen der Flamingobai und Felsenheim erheben wird. Mir erscheint es darum ganz selbstverständlich, daß der Prospect-Hill schon in kurzer Zeit zur Errichtung eines Forts dienen werde...

– Der Prospect-Hill oder, etwas weiter vor ihm, das Cap der Getäuschten Hoffnung, sagte da Herr Wolston. In diesem Falle könnte die Villa erhalten bleiben...

– Was ich am liebsten sähe, erklärte Jack.

– Und ich auch, setzte Frau Zermatt hinzu. Wir wollen uns doch bemühen, die Erinnerungen an die ersten Tage hier unversehrt zu erhalten, den Prospect-Hill ebenso wie Falkenhorst. Ich würde es schmerzlich beklagen, sie verschwinden zu sehen.«

Der Gedankengang Betsies war ja ein ganz natürlicher, nur hatte sich die Sachlage jetzt geändert. So lange die Neue Schweiz allein den Schiffbrüchigen vom »Landlord« angehörte, konnte die Frage, sie in Vertheidigungszustand zu setzen, gar nicht aufkommen. Wenn sie dagegen England unterthan war, machte es sich, bei ihrer Lage in dem überseeischen Gebiete des Vereinigten Königreiches, nothwendig, hier Küstenbatterien zu errichten.

Hatten nun die ersten Bewohner die Folgen zu bedauern, die sich aus dem Erscheinen der »Licorne« am Gestade der Neuen Schweiz ergaben?

»Nein, nein, schloß der ältere Zermatt, überlassen wir der Zukunft ruhig die Veränderungen, die sich hier allmählich vollziehen werden.«

Uebrigens erschienen andere Arbeiten jetzt dringlicher, als solche Verbesserungen in Falkenhorst und Neuanlagen auf dem Prospect-Hill. Schon näherte sich die Zeit, wo es galt, die Ernten einzuheimsen, ohne von der Verpflegung der Thiere zu reden, die in den Hürden von Waldegg, Zuckertop und Eberfurt untergebracht waren.

Beiläufig sei hier auch erwähnt, daß Zermatt und Wolston bei ihrem ersten Besuche der Walfischinsel über die große Menge der hier hausenden wilden Kaninchen nicht wenig erstaunt gewesen waren, denn hier tummelten sich die fruchtbaren Nager gleich zu Hunderten umher. Zum Glücke erzeugte die Insel genug Gras, krautartige Pflanzen und Wurzeln, so daß die Ernährung der [93] Thiere gesichert war. Jenny Montrose, der Herr Zermatt die Insel zum Geschenke gemacht hatte, fand diese voraussichtlich also bei ihrer Rückkehr in bestem Zustande wieder.

»Und Sie haben gut daran gethan, Ihre Kaninchen hierher auszusetzen, hatte Wolston bemerkt. Diese werden sich noch zu vielen Tausenden vermehren und hätten Ihnen dann sicherlich die Felder des Gelobten Landes verwüstet. In Australien bilden da, woher ich komme, diese Thiere eine schlimmere Landplage, als die Zugheuschrecken in Afrika, und wenn man sich nicht gegen die Verheerungen dieser Brut zu den eingreifendsten Maßregeln entschließt, wird das ganze australische Land schließlich einmal ganz kahl abgenagt sein.« 1

In den letzten Monaten dieses Jahres (1816) machte sich das Fehlen der kräftigen Arme Fritzens und Franzens wiederholt recht bemerkbar, obwohl die Familie Wolston überall thätig mit eingriff. Die Erntezeit brachte ja allemal sehr viel Arbeit. Da mußten die Mais- und die überaus fruchtbaren Maniokfelder besorgt werden, ebenso wie das ausgedehnte Reisfeld jenseits des Sumpfes in der Nähe der Flamingobai, da waren die Bäume mit europäischem und einheimischem Obste abzuleeren, wie die Bananen-, die Guajaven-, die Cacao-, die Zimmtbäume und andere, da mußte der Sago ausgeschält und bearbeitet und außerdem die Ernte an Getreide, an Weizen, Reis, Buchweizen und Roggen eingebracht und das Zuckerrohr geschnitten werden, das auf den Landstücken der Meierei von Zuckertop in großer Menge vorkam. Gewiß ein tüchtiges Stück Arbeit für vier Männer, wenn sich auch drei Frauen daran nach Kräften betheiligten. Und diese Arbeit war nach einigen Monaten schon wieder zu erledigen, da der Erdboden hier eine so reiche Triebkraft hatte, daß er auch durch zwei Ernten im Jahre nicht erschöpft werden konnte.

Andererseits konnten Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah doch auch ihre übrigen Pflichten nicht vernachlässigen, denn sie mußten häufig Kleidungsstücke ausbessern, die Wäsche besorgen und hatten dazu noch die Mahlzeiten herzurichten, kurz, sie mußten sich um alles bekümmern, was zur Führung eines Haushaltes gehört. Während dann Wolston, Zermatt und dessen beide Söhne [94] die Arbeiten im Freien verrichteten, blieben die Frauen deshalb bei ihrer Beschäftigung öfters in Felsenheim zurück.

So fruchtbar der Boden des Gelobten Landes aber auch war, konnte seine Ertragsfähigkeit im Sommer doch durch übermäßige Trockenheit beeinträchtigt werden. Es fehlte hier noch an einem geeigneten Bewässerungssystem für eine Landfläche von mehreren hundert Hektaren.

Andere Wasserläufe gab es hier nicht, als den Schakalbach und eine von Falkenhorst nach Osten abfließende Quelle, ferner im Westen den Ostfluß, dessen Mündung an der äußersten Südspitze der Nautilusbai lag. Dieser Mangel war Herrn Wolston schon mehrfach aufgefallen, und eines Tages, am 9. November, brachte er nach dem Mittagsessen das Gespräch auf diesen Gegenstand.

»Es wäre ja ganz leicht, sagte er, ein Wasserrad herzustellen, das durch den Wasserfall des Schakalbaches, eine halbe Lieue oberhalb Felsenheims, getrieben würde. Unter den Ausrüstungsgegenständen, die Sie, lieber Zermatt, aus dem »Landlord« geborgen haben, befinden sich die beiden Pumpen des Schiffes. Stellen wir ein solches Rad her, so könnte dieses sie mit hinreichender Kraft in Bewegung setzen, das Wasser in einen Sammelbehälter heben und es mittels Röhren bis nach den Feldern von Waldegg und Zuckertop hin vertheilen.

– Wie sollten wir aber, fragte Ernst, die dazu nöthigen Röhren herstellen?

– Nun, wir führten da nur im Großen aus, was Sie im Kleinen bereits gethan haben, um Wasser aus dem Schakalbache nach dem Gemüsegarten von Felsenheim zu leiten, antwortete Wolston. Statt des Bambusrohres benutzten wir dazu Sagobaumstämme, aus denen das Mark entfernt wurde, und eine solche Anlage würde jedenfalls nicht über unsere Kräfte gehen.

– Vortrefflich! rief Jack. Haben wir unsere Felder noch fruchtbarer gemacht, so werden sie auch noch mehr, ja schließlich zu viel Ertrag geben; freilich wissen wir dann mit dem Ueberflusse nichts anzufangen, denn da es in Felsenheim noch keinen Markt- und Handelsverkehr giebt...

– O, der wird sich schon noch entwickeln, Jack, fiel ihm der ältere Zermatt ins Wort. Es wird hier schon eine Stadt entstehen, der später noch andere nachfolgen werden, und zwar nicht allein im Gelobten Lande, sondern im ganzen Gebiete der Neuen Schweiz. Das ist mit Sicherheit vorauszusehen, mein Kind.

– Und wenn es dann erst Städte giebt, fügte Ernst hinzu, so werden diese auch Bewohner haben, für deren Nahrung gesorgt werden muß.

[95] Wir werden dem Boden also so viel wie möglich abzugewinnen suchen müssen...

– Und das werden wir erreichen, versicherte Wolston, erreichen durch die Bewässerungsanlage, zu der ich, wenn Sie ihr zustimmen, einen genauen Plan ausarbeiten werde.«

Jack schwieg zwar, änderte seine Anschauungen aber nicht. Daß die englische Colonie später zahlreiche Ansiedler, jedenfalls von verschiedenster Herkunft, beherbergen sollte, paßte ihm gar nicht, und wer im Herzen der Frau Zermatt hätte lesen können, würde da wohl die gleiche Befürchtung wegen der Zukunft erkannt haben.

Doch wie dem auch sein mochte, der ältere Zermatt, Wolston und Ernst beschäftigten sich in den wenigen Stunden, die ihnen die Feldarbeiten übrig ließen, eifrig mit dem geplanten, für Ernst besonders interessanten Werke, zu dem der Ingenieur die Anregung gegeben hatte. Nach Besichtigung der Strecke und ihrer Oberflächenverhältnisse erkannte man, daß das betreffende Terrain sich zum Baue eines Canales ganz gut eigne.

Eine Viertellieue südlich von Waldegg lag der Schwanensee, der sich in der Regenzeit immer vollständig füllte, in der trockenen Jahreszeit aber bis zu einem unausnützbar niedrigen Wasserstand herabsank. Die an ihm angebrachten Einschnitte hätten ein Abfließen des dann zu seichten Wassers auch nicht ermöglicht. Gelang es dagegen durch Entnahme von Wasser aus dem Schakalbache in dem See einen gleichbleibenden Wasserstand zu erhalten, so mußte es leicht sein, die benachbarten Landstrecken zu bewässern und ihnen durch verständige Vertheilung neue Elemente der Fruchtbarkeit zuzuführen.

Die Entfernung zwischen dem Wasserfalle im Bache und der Südspitze des Sees betrug freilich gut eine Lieue, und eine Rohrleitung von dieser Länge herzustellen, erforderte immerhin eine bedeutende Arbeit, für die man eine kaum abzuschätzende Menge von Sagopalmen fällen mußte.

Eine wiederholte Besichtigung des Terrains durch Wolston und Ernst zeigte glücklicher Weise, daß sich die Rohrleitung recht beträchtlich vermindern ließ.

Eines Abends saßen dann die beiden Familien nach einem unter rüstigem Schaffen im Freien und in der Wohnung verbrachten Tage im gemeinschaftlichen Raume bei einander.

»Höre, Vater, begann da Ernst, Herr Wolston und ich haben uns die Bodenverhältnisse noch einmal genau angesehen.


M. Zermatt.

Danach wird es genügen, das [96] Wasser des Schakalbaches etwa dreißig Fuß hoch zu heben und über eine Strecke von zweihundert Toisen nach einer Stelle hinzuleiten, von der aus das Land nach dem Schwanensee zu abfällt. Ueber diesen Theil hin braucht dann nur ein Graben gezogen zu werden, durch den das Wasser dem See unmittelbar zufließt.

– Schön, erklärte der ältere Zermatt, damit würde la die Arbeit bedeutend vereinfacht...

– Und außerdem, setzte Wolston hinzu, würde der Schwanensee als Sammelbecken dienen und hinreichen, die Felder von Waldegg, von Zuckertop [97] und selbst die von Eberfurt zu überrieseln. Dem See führten wir natürlich nur die gerade nöthige Wassermenge zu, bei etwaiger Ueberfluthung aber könnten wir den Ueberschuß bequem ins Meer abströmen lassen.

– Ich stimme Ihnen zu, Herr Wolston, erklärte Zermatt, und durch die Vollendung dieses Canales hätten wir uns auch ein Anrecht auf die Dankbarkeit der zukünftigen Colonisten erworben.

– Doch nicht auf die der alten, die mit dem zufrieden waren, was ihnen die Natur geboten hatte! bemerkte Jack. Armer Schakalbach, sie werden ihn anspannen, ein Rad zu treiben, werden ihm einen Theil seines Selbst rauben, und alles das nur zum Vortheile von Leuten, die wir noch gar nicht kennen!

– Jack ist für weitere Ansiedelungen offenbar nicht eingenommen, sagte Frau Wolston.

– Was haben wir zwei Familien, die hier seßhaft geworden sind, und deren Lebensbedingungen völlig gesichert erscheinen, denn weiter zu wünschen, Frau Wolston?

– O, fiel Annah ein, Jacks Anschauungen werden sich mit den Verbesserungen, die Sie erstreben, schon noch ändern.

– Glauben Sie das, Fräulein Annah? erwiderte Jack lächelnd.

– Und wann soll die große Arbeit beginnen? fragte Betsie.

– Schon in einigen Tagen, meine Liebe, antwortete ihr Gatte. Wenn unsere erste Ernte eingebracht ist, haben wir bis zur zweiten gut drei Monate Zeit.«

Das wichtige Unternehmen machte nun allen vom 15. November bis zum 20. December, also fünf volle Wochen, tüchtig zu schaffen.

So waren z. B. zahlreiche Fahrten nach dem Prospect-Hill nöthig, um aus diesem benachbarten Wäldern mehrere Hundert Sagopalmen zu fällen. Sie auszuhöhlen bot keine besonderen Schwierigkeiten, wobei das gewonnene Mark in Bambusgefäßen aufgesammelt warde. Die Fortschaffung dieser Stämme oder Schäfte verursachte dagegen immer große Mühe. Diese Aufgabe fiel dem älteren Zermatt und Jack zu. Sie spannten dazu die beiden Büffel, den Onagre und den jungen Esel ein, die einen Blockwagen zogen, einen von der Art, die später auch in Europa vielfach in Gebrauch kamen. Ernst hatte nämlich den Gedanken gehabt, die schweren Frachtstücke an die Achsen des vorher auseinandergenommenen Wagens zu hängen. Die Stämme schleiften dann höchstens mit einem Ende über den Erdboden hin und die Beförderung erfolgte bedeutend leichter als früher.

[98] Immerhin mußten Büffel, Onagre und Esel tüchtig ziehen.

»Es ist sehr bedauerlich, sagte Jack deshalb einmal zu seinem Vater, daß wir nicht ein Paar Elephanten zur Verfügung haben. Wieviel Anstrengung bliebe dann unseren armen Thieren erspart...

– Doch nicht den braven Dickhäutern, die dann »unsere armen Thiere« wären, antwortete Zermatt.

– O nein, die Elephanten haben sehr große Kraft und würden die Palmenschäfte so leicht wie Streichhölzchen dahin ziehen. In der Neuen Schweiz giebt es ja Elephanten, und wenn es uns gelänge...

– Nun, mir wäre nichts daran gelegen, die plumpen Gesellen in unserem Theil des Gelobten Landes einwandern zu sehen, Jack. Da würden unsere Felder bald ein gar trauriges Aussehen bekommen.

– Zugegeben, Vater. Wenn sich aber Gelegenheit böte, einige in den Savannen in der Nähe der Perlenbucht abzufangen oder in den Ausläufern des Grünthales...

– Da würden wir natürlich zugreifen, antwortete Zermatt. Immerhin wollen wir uns diese Gelegenheit lieber nicht wünschen, das ist jedenfalls klüger!«

Während der ältere Zermatt und sein Sohn die vielen Fuhren besorgten, beschäftigten sich Wolston und Ernst mit der Erbauung der Wasserhebeanlage. Bei der Construction des dazu gehörigen Schaufelrades entwickelte der Ingenieur eine erstaunliche Geschicklichkeit. Ernst interessirte sich außerordentlich für diese Arbeit, da ihm eine gewisse Vorliebe für Mechanik angeboren war, und er konnte hier aus der Anleitung und den Lehren des Herrn Wolston großen Nutzen ziehen.

Das Rad wurde am Fuße des Wasserfalles im Schakalbache so angelegt, daß es die Stangen der Pumpen vom »Landlord« in Bewegung setzen mußte. Das bis zur Höhe von dreißig Fuß emporgetriebene Wasser wurde dann in einem zwischen den Felsen des linken Ufers hergestellten Becken gesammelt und an dieses sollten sich endlich die Sagopalmenröhren anschließen, deren erste nun bald an der Böschung hin verlegt werden sollten.

Kurz, diese Arbeit wurde so regelmäßig und planvoll durchgeführt, daß sie mit Einschluß des bis zur Südspitze des Schwanensees reichenden Ablaufgrabens bereits am 20. December beendigt war.

»Werden wir denn die Einweihung auch festlich begehen? fragte Annah Wolston am Abend diesen Tages.

[99] – Das will ich meinen, antwortete Jack; ganz als wenn es sich um die Eröffnung eines Canales in unserer alten Schweiz handelte. Nicht wahr, Mutter?

– Wie Ihr das wollt, liebe Kinder, erwiderte Betsie.

– Also abgemacht, sagte da der ältere Zermatt, und das Fest beginnt morgen mit der Inbetriebsetzung unserer neuen Anlage...

– Und schließt... womit? ließ sich Ernst vernehmen.

– Mit einem vortrefflichen Schmause zu Ehren des Herrn Wolston...

– Und Ihres Sohnes Ernst, fiel der Genannte ein, denn er verdient eine lobende Anerkennung für seinen Eifer und seine Intelligenz.

– Ihre Lobsprüche sind mir sehr schmeichelhaft, Herr Wolston, entgegnete der junge Mann, ich war aber auch in der besten Schule!«

Am folgenden Tage gegen zehn Uhr Morgens erfolgte die Einweihung des Canals in Gegenwart der beiden, neben dem Wasserfalle versammelten Familien. Das. durch den Stoß des Wassers angetriebene Rad bewegte sich vorschriftsmäßig, die Pumpen arbeiteten tadellos und das Wasser floß in das Sammelbecken ab, das sich binnen anderthalb Stunden füllte. Hierauf wurden die Schützen gezogen und das Wasser strömte auf zweihundert Toisen hin durch die neue Rohrleitung.

Alle begaben sich nach deren Endpunkte und klatschten in die Hände, als die ersten Wasserfäden sich in dem frei liegenden Graben hinschlängelten. Nachdem Ernst hier eine kleine Boje hineingeworfen hatte, bestiegen alle den hier bereit gehaltenen Wagen und fuhren nach dem Schwanensee, während Jack ihnen auf dem Rücken seines Straußes sitzend vorauseilte.

Der Wagen rollte so schnell vorwärts, daß er, trotz eines nicht zu vermeidenden Umwegs, das Ende des Grabens noch in dem Augenblicke erreichte' wo die Boje auf den See selbst hinausgetragen wurde.

Laute Hurrahs begrüßten sie... die ganze Anlage bewährte sich bestens. Es bedurfte nun blos noch verschiedener kleiner Einschnitte auf dem abfallenden Lande, durch die, selbst in der trockensten Jahreszeit, den benachbarten Feldern in der heißen Zeit die nöthige Bewässerung vermittelt werden konnte.

An diesem Tage waren gerade drei Monate seit der Abfahrt der »Licorne« verstrichen. Erfuhr das Schiff keine Verspätung, so mußte es nach dreimal so langer Zeit vor der Rettungsbucht wieder in Sicht kommen. Es war bisher kein Tag vergangen, an dem nicht von den Abwesenden gesprochen worden wäre. Alle folgten ihnen im Geiste auf ihrer Reise. An dem und dem Datum mußten sie [100] am Cap der Guten Hoffnung eingetroffen sein, wo James Wolston sein Schwesterchen Doll erwartete; an einem anderen segelte die Corvette auf dem Atlantischen Oceane längs der Küste Afrikas hin; an einem dritten endlich traf sie in Portsmouth ein... Jenny, Fritz und Franz gingen ans Land und begaben sich schleunigst nach London. Hier empfing der Oberst Montrose seine Tochter, die wiederzusehen er kaum noch gehofft hatte, mit offenen Armen, und gleichzeitig mit ihr den, der sie vom Rauchenden Felsen errettet hatte, und zu dessen Verbindung mit jener er freudig seinen Segen gab.

Noch neun Monate, dann mußten alle wieder zurückgekehrt sein. Den beiden Familien würde niemand von ihren Angehörigen fehlen, und nach kurzer Zeit wären sie vielleicht durch noch engere Bande verbunden.

In dieser Weise endete das Jahr 1816, das sich durch Ereignisse ausgezeichnet hatte, deren Folgen die Verhältnisse der Neuen Schweiz jedenfalls gründlich ändern sollten.

Fußnoten

1 Wolston täuschte sich, als er diese Befürchtung aussprach, nicht im mindesten, denn zweiundsechzig Jahre später war die außerordentliche Vermehrung der Kaninchen zu einer solchen Gefahr für Australien geworden, daß man diese nur durch die schärfsten Maßregeln etwas einzuschränken vermochte. Jetzt werden bekanntlich viele Kaninchen in gefrorenem Zustande von da nach Europa ausgeführt.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Der Neujahrstag. – Spaziergang nach Falkenhorst. – Vorschlag zur Erbauung einer Kapelle. – Reisepläne. – Verhandlung. – Die Pinasse segelfertig. – Abfahrt am 15. März.

Am 1. Januar brachten sich die Familien Zermatt und Wolston gegenseitig ihre Glückwünsche dar. Sie überraschten einander mit kleinen Geschenken, die freilich mehr moralischen als reellen Werth hatten – mit verschiedenen Nichtsen, die durch die Zeit zu theueren Andenken werden. Natürlich wurde auch so mancher warme Händedruck gewechselt an diesem überall festlich begangenen Tage, wo das junge Jahr

Die Bühne unbekannter

Zukunft zuerst betreten,

hat ein französischer Dichter in siebensilbigen Versen gesagt. Diesmal unterschied sich der Neujahrstag freilich von seinen zwölf Vorgängern, seit die Schiffbrüchigen vom »Landlord« das Ufer bei Zeltheim betreten hatten. Der ernsten Stimmung mischte sich heute ein gutes Theil aufrichtiger Freude bei, und [101] bald herrschte eine allgemeine Fröhlichkeit, die Jack mit der Lebendigkeit, womit er alle suchen anfaßte, eher noch zu erhöhen wußte.

Der ältere Zermatt und Wolston umarmten sich. Alte Freunde, wie sie es schon längst waren, hatten sie sich bei dem Zusammenleben hier gegenseitig schätzen und achten gelernt. Der erste erwies Annah die ganze Zärtlichkeit eines Vaters, und der zweite behandelte Ernst und Jack wie eigene Söhne. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den beiden Müttern, die allen ihren Kindern mit gleicher Liebe entgegenkamen.

Annah Wolston mußte sich besonders geschmeichelt fühlen über die Art und Weise, wie Ernst sie begräßte. Der junge Mann versuchte sich bekanntlich zuweilen in Gedichten. Schon früher hatte er ja dem braven Esel, nach dem diesem verderblichen Zusammentreffen mit der riesigen Boaschlange, eine Grabschrift in recht hübschen Reimen gewidmet. Jetzt, wo es dem jungen Mädchen galt, erhob sich seine Phantasie natürlich zu höherem Fluge, und über Annahs Wangen ergoß sich eine tiefe Röthe, als der jugendliche Jünger des Apoll sie beglückwünschte, in der herrlichen Luft des Gelobten Landes ihre Gesundheit wiedergefunden zu haben.

»Die Gesundheit... und das reinste Glück!« antwortete sie, Frau Zermatt umarmend.

Der betreffende Tag, übrigens ein Freitag, wurde gleich einem Sonntage durch Abhaltung einer Andacht und mit der Bitte an den Höchsten gefeiert, daß er den Abwesenden seinen Schutz verleihe, während ihm gleichzeitig heißer Dank für alle bisher bewiesene Güte dargebracht wurde.

Bald darauf aber rief Ernst:

»Und unsere Thiere?...

– Wie, unsere Thiere, was ist's damit? fragte der ältere Zermatt.

– Nun ja, Turc, Falb, Braun, unsere Büffel Sturm und Brummer, unser Stier Brüll, unsere Kuh Blaß, unser Onagre Leichtfuß und die jungen Esel Pfeil, Flink und Rasch, unser Schakal Caro, unser Strauß Brausewind, unser Affe Knips II., kurz, alle unsere zwei- und vierfüßigen guten Freunde...

– Ich bitte Dich, Ernst, unterbrach ihn Frau Zermatt, Du beabsichtigst doch nicht etwa gar, auch die Ställe und den Hühnerhof anzudichten?

– Nein, gewiß nicht, Mutter; ich glaube nicht, daß die braven Thiere selbst für die schönsten Reime empfänglich wären; dagegen verdienen sie zur [102] Feier des Neuen Jahres doch wohl eine doppelte Futterration und ein frisches Strohlager.

– Ernst hat recht, sagte Wolston, es ist nicht mehr als billig, daß unsere Thiere...

– Und den Schakal, sowie den Cormoran Jennys nicht zu vergessen! fügte Annah Wolston ein.

– Richtig, mein Kind, stimmte Frau Wolston ihr zu. Die Schützlinge Jennys müssen ebenfalls ihr Theil haben!

– Und da heute der erste Tag des Jahres für die ganze Erde ist, nahm Frau Zermatt das Wort, wollen wir uns auch recht innig derer erinnern, die sicherlich unser gedenken!«

Ein herzlicher Gruß der beiden Familien wurde den geliebten Passagieren der »Licorne« nachgesendet.

Die treuen Thiere wurden nach Verdienst belohnt, wobei man es ihnen weder an Zucker noch an Liebkosungen fehlen ließ.

Darauf sammelte sich die kleine Gesellschaft im »Speisezimmer« von Felsenheim zu einem ausgewählten, reichlichen Frühstück, zu dessen frohem Verlauf ein Paar Gläser des alten, vom Befehlshaber der Corvette geschenkten Weines nicht wenig beitrugen.

Am heutigen Festtage dachte niemand daran, sich den sonst gewohnten Arbeiten zu widmen. Der ältere Zermatt schlug deshalb auch einen Spaziergang nach Falkenhorst vor. Das war ein Weg von kaum einer Lieue und erforderte keine Anstrengung, da er immer im Schatten der schönen, die Sommer- und die Winterwohnung verbindenden Allee hinführte.

Das Wetter war prächtig, wenn auch sehr warm. Die Doppelreihe der Alleebäume ließ aber keinen Sonnenstrahl durch ihr dichtes Laubwerk dringen. Es handelte sich also nur um einen angenehmen Ausflug, bei dem man, längs des Strandes hingehend, zur Rechten das Meer und zur Linken die Felder hatte.

Gegen elf Uhr erfolgte der Aufbruch, der ganze Nachmittag sollte in Falkenhorst verbracht werden, und zum Abendessen gedachte man wieder zurück zu sein. Wenn die beiden Familien sich im vergangenen Jahre niemals weder in Waldegg, noch auf dem Prospect-Hill oder in der Einsiedelei von Eberfurt aufgehalten hatten, lag das nur daran, daß an den Meiereien gewisse Vergrößerungen nöthig geworden waren, die sich erst nach der Rückkehr der »Licorne« ausführen ließen. Nebenbei war ja auch zu vermuthen, daß mit dem Eintreffen neuer [103] Colonisten das jetzige Gebiet des Gelobten Landes manche Veränderung erfahren würde.

Nachdem sie durch die Einfriedigung des Küchengartens gekommen waren und den Schakalbach auf der Familienbrücke überschritten hatten, wendeten sich die Spaziergänger der Allee zu, deren Obstbäume an den Seiten sich schon erstaunlich entwickelt hatten.

Die Spaziergänger beeilten sich nicht. eine Stunde mußte ja hinreichen. nach Falkenhorst zu kommen. Die Hunde Braun und Falb, die ihre Herren begleiten durften, sprangen fröhlich voraus. An jeder Seite prangten die Felder mit Mais, Hirse, Hafer, Weizen, Korn, Maniok und Bataten in üppigem Gedeihen. Die zweite Ernte versprach sehr ergiebig zu werden, ohne von dem zu reden, was die Ländereien weiter im Norden, die durch die Abflüsse aus dem Schwanensee bewässert wurden, noch obendrein liefern mußten.

»Welch glücklicher Gedanke, das Wasser des Schakalbaches auszunützen, das sich vorher ganz zwecklos ins Meer ergoß, welches seiner doch nicht bedurfte!« bemerkte Jack gegen Herrn Wolston.

Nach je zwei- bis dreihundert Schritten blieben die Lustwandler einmal stehen, und in diesen Pausen entwickelte sich sofort eine lebhafte Unterhaltung. Annah vergnügte sich damit, einige der hübschen Blumen zu pflücken, deren Wohlgeruch den ganzen Weg erfüllte. Mehrere hundert Vögel flatterten zwischen den dichtbelaubten und früchteschweren Aesten umher Durch das Gras und Kraut schlüpfte mancherlei Wild, wie Hafen, Kaninchen, Auerhähne, Haselhühner und Schnepfen. Weder Ernst noch Jack hatten ihre Jagdflinten mitnehmen dürfen, und es schien fast, als ob die Vierfüßler und das Geflügel das wüßten. Heute sollte ja auch spazieren gegangen. nicht gejagt werden.

»Ich erwarte bestimmt, hatte der ältere Zermatt, dem Annah Wolston eifrig beistimmte, vor dem Weggange gesagt, daß heute diese harmlosen Geschöpfe unbelästigt bleiben.«

Ernst, dem die Jagdlust nicht so tief im Blute lag, war sofort zu einer Zusage bereit, Jack aber ließ sich erst etwas bitten. Auszugehen ohne Gewehr, das – seinen Worten nach – einen Theil seines Selbst bildete, erschien ihm gerade so, als ob ihm ein Arm oder ein Bein amputirt worden wäre.


In diesen Pausen entwickelte sich sofort eine lebhafte Unterhaltung. (S. 104.)

»Ich kann ja das Gewehr immerhin mitnehmen, ohne davon gleich Gebrauch zu machen, hatte er gesagt. Selbst wenn ein ganzes Volk Rebhühner zwan zig Schritt von mir vorüberzöge, verpflichte ich mich, nicht zu schießen...

[104] – Ein solches Versprechen würden Sie nicht zu halten vermögen, Jack, hatte das junge Mädchen geantwortet. Bei Ernst hätte das wohl keine Gefahr, doch bei Ihnen...

– Wenn uns nun aber ein Raubthier in den Weg käme, ein Panther, Bär, Tiger oder Löwe, die giebt's ja alle auf der Insel...

– Doch nicht im Gelobten Lande, Jack, hatte Frau Zermatt entgegnet. Erhebe nur keinen weiteren Einspruch; Du hast ja für die Jagd noch dreihundertvierundsechzig Tage zur Verfügung.

[105] – Haben wir denn nicht wenigstens ein Schaltjahr?

– Nein, das nicht, erwiderte Ernst.

– Man hat aber auch gar kein Glück!« rief der junge Jäger.

Es war ein Uhr geworden, als die Familien, nachdem sie das Mangobaumgehölz durchschritten hatten, unten vor Falkenhorst anlangten.

Zunächst überzeugte sich der ältere Zermatt, daß die Hürde, die den Geflügelhof umgab, in unversehrtem Zustande war. Weder die Affen noch die Eber hatten sich diesmal der ihnen angeborenen Zerstörungslust hingegeben. Jack hätte freilich auch keine Möglichkeit gehabt, derartige Plünderer zu züchtigen.

Die Spaziergänger ruhten nun ein wenig auf der halbrunden, die Wurzeln des riesigen Mangobaumes überdeckenden Terrasse aus, die aus thonig-fetter Erde hergestellt und mittels einer Mischung von Harz und Theer undurchlässig gemacht worden war. Jeder nahm eine kleine Erfrischung zu sich, die die Methfässer unter der Terrasse lieferten. Dann erstiegen alle die im Innern des Stammes angelegte Wendeltreppe, womit sie die, vierzig Fuß über der Erde gelegene Plattform erreichten.

Wie glücklich fühlte sich die Familie Zermatt hier unter dem breiten Geäste des Baumes! War diese Stelle doch sozusagen ihr erstes Nest gewesen, das bei ihnen so viele Erinnerungen wachrief. Seine beiden, mit Gittergeländer versehenen Balkons, sein doppelter Fußboden, seine mit dicht anschließender Rindenlage abgedeckten Zimmer, hatten das »Nest« zu einer reizenden und kühlen Sommerwohnung gemacht, die jetzt aber nur zu vorübergehendem Aufenthalte diente. Geräumigere Einrichtungen sollten am Prospect-Hill geschaffen werden. Jedenfalls wollte der ältere Zermatt den »Horst des Falken« aber so lange in stand halten, wie der riesige Baum ihm auf seinen Aesten eine genügende Stütze böte und bis er einst »an Jahren reich« vor Alter selbst zusammenbräche.

An diesem Nachmittage trat im Laufe des Gesprächs auf dem Balkon Frau Wolston noch mit einer Anregung hervor, die gewiß Beachtung verdiente. Bei der ungeheuchelten Frömmigkeit und den tiefen religiösen Gefühlen, die ihr eigen waren, konnte niemand über ihre Worte erstaunen.

»Schon oft, liebe Freunde, so sprach sie, habe ich bewundert – und bewundre noch – was Sie alles auf diesem Theil unserer Insel geleistet und geschaffen haben: Felsenheim, Falkenhorst, Prospect-Hill, die Meiereien, Anpflanzungen und Felder; alles zeugt von ebensoviel Intelligenz wie von Arbeitsfreudigkeit.[106] Frau Zermatt hab' ich aber schon wiederholt gefragt, warum Ihnen Eines mangle...

– Eine Kapelle? fiel Betsie sofort ein. Sie haben recht, meine liebe Merry. Wir brauchen wirklich, dem Allmächtigen danken zu können...

– Etwas mehr als eine Kapelle, ließ sich Jack, dem nichts unausführbar erschien, vernehmen, eine wirkliche Kirche, ein Baudenkmal mit schönem Glockenthurme!... Wann beginnen wir damit, Vater?... Baumaterial haben wir ja soviel, daß wir davon noch verkaufen können!... Herr Wolston wird die Pläne entwerfen und wir, wir führen sie aus.

– Ja, erwiderte der ältere Zermatt lächelnd, wenn ich mir auch den fertigen Kirchenbau vorstellen kann, so sehe ich dafür doch keinen Geistlichen keinen Prediger...

– O, als solcher tritt Franz nach seiner Heimkehr ein, meinte Ernst

– Inzwischen machen Sie sich darum keine Sorge, Herr Zermatt, setzte Frau Wolston hinzu. Wir begnügen uns vorläufig schon damit, in unserer Kapelle beten zu können.

– Ihr Vorschlag ist ausgezeichnet, Frau Wolston! Wir dürfen ja niemals vergessen, daß bald neue Colonisten eintreffen könnten. In den Mußestunden der Regenzeit werden wir ihn eingehender erörtern... zunächst z. B. den geeigneten Platz dafür auswählen...

– Mir scheint, lieber Mann, sagte da Frau Zermatt, daß es leicht sein müsse, Falkenhorst, wenn es uns einmal nicht mehr als Wohnung dienen soll, zu einer Kapelle über der Erde umzugestalten.

– Und unsere Gebete wären dann schon auf dem halben Wege zum Himmel, wie unser lieber Franz sagen würde, fügte Jack hinzu.

– Das wäre doch etwas zu weit von Felsenheim, antwortete der ältere Zermatt. Mir erscheint es wünschenswerther, diese Kapelle in der Nachbarschaft unserer Hauptwohnung zu errichten, so daß rings um sie neue Wohnstätten entstehen können. Nun, ich wiederhole es, wir werden die Sache erörtern.«

In den noch übrigen drei oder vier Monaten der schönen Jahreszeit waren freilich alle Hände von dringenden Arbeiten in Anspruch genommen, und vom 15. März bis Ende April gab es überhaupt keinen Rasttag. Herr Wolston schonte sich gewiß nicht, Fritz und Franz konnte er aber doch nicht ersetzen, wo es galt, die Meiereien mit Futtervorräthen zu versorgen, um die Ernährung der Thiere auch im Winter zu sichern. In Waldegg, der Einsiedelei von Eberfurt,[107] sowie beim Prospect-Hill gab es jetzt wenigstens hundert Schafe, Ziegen und Schweine, und die Stallungen bei Felsenheim hätten nicht hingereicht, eine so große Herde aufzunehmen. Mit dem Geflügel lag die Sache leichter, denn das trieb man vor Eintritt der schlechten Jahreszeit in den Hühnerhof zusammen, wo es weder den Hühnern und Trappen, noch den Tauben an täglicher Pflege mangelte. Die Gänse und Enten konnten sich auf einer größeren Lache aus. tummeln, die sich nur zwei Flintenschuß weit von hier befand. Nur die Zugthiere, die Esel und Büffel, sowie die Kühe und deren Kälber blieben in Felsenheim selbst.

Auf diese Weise war – abgesehen von der Jagd und der Fischerei, die auch vom April bis zum September reiche Beute versprachen – die Ernährung aller schon durch die Erzeugnisse des Viehhofes gesichert.

Am 15. März war nun immer noch etwa eine Woche übrig, ehe die Feldarbeiten die Betheiligung aller Insassen Felsenheims erforderten. Diese Frist hätte also ohne Nachtheile mit einem Ausfluge über die Grenzen des Gelobten Landes hinaus ausgefüllt werden können. Darüber entspann sich noch an diesem Abend auch ein Gespräch, woran beide Familien theilnahmen. Anfänglich gingen die Anschauungen etwas auseinander, schließlich herrschte über einen dabei gemachten Vorschlag aber allgemeine Uebereinstimmung.

Herr Wolston kannte bisher kaum etwas anderes, als den Theil des Landes zwischen dem Schakalbache und dem Cap der Getäuschten Hoffnung, auf dem auch die Meiereien von Waldegg, Zuckertop, die Einsiedelei Eberfurt und der Prospect-Hill lagen.

»Es wundert mich, lieber Zermatt, sagte er, daß weder Sie noch Ihre Kinder im Laufe von fast zwölf Jahren es versucht haben, weiter ins Innere der Neuen Schweiz einzudringen.

– Wozu hätte das dienen sollen, lieber Wolston? erwiderte Zermatt. Bedenken Sie nur die Verhältnisse: Als wir nach dem Schiffbruche des »Landlord« hier glücklich das Ufer erreichten, waren meine Söhne noch eigentlich Kinder, die mich bei einer solchen Untersuchung nicht hätten unterstützen können. Auch daran, daß meine Frau mich begleitet hätte, war gar nicht zu denken, und ebenso unklug wäre es gewesen, sie allein zurückzulassen.

– Allein mit Franz, der erst fünf Jahre alt war! setzte Betsie hinzu. Uebrigens klammerten wir uns immer an die Hoffnung, von irgendeinem Schiffe bald wieder aufgenommen zu werden.

[108] – Vor allem, fuhr der ältere Zermatt fort, mußten wir doch für unsere dringendsten Bedürfnisse sorgen und wenigstens so lange in der Nähe des Schiffes bleiben, bis wir daraus geborgen hatten, was uns in Zukunft nützlich werden könnte. An der Mündung des Schakalbaches hatten wir Süßwasser, an dessen linkem Ufer leicht zu bearbeitende Felder und auf dem rechten stand eine reiche Pflanzenwelt. Bald darauf führte uns ein Zufall zur Auffindung der gesunden und geschützten Wohnung von Felsenheim. Sollten wir da die Zeit vergeuden, nur um unsere Neugier zu befriedigen?

– Dazu kommt noch, bemerkte Ernst, daß wir uns mit einer Entfernung, von der Rettungsbucht der Gefahr aussetzten, mit Eingeborenen zusammenzutreffen, vielleicht mit Bewohnern der Andamanen, die gerade im Rufe besonderer Wildheit stehen.

– Endlich brachte jeder Tag, fuhr der ältere Zermatt fort, neue und so dringliche Arbeiten, daß an deren Verschiebung nicht zu denken war. Jedes neue Jahr aber legte uns wiederum viele Arbeiten, wie das vergangene auf Dann fesselte uns die liebe Gewohnheit, und da es uns hier wohlging, wurzelten wir sozusagen an dieser Stelle fest... Darum haben wir sie niemals verlassen. In dieser Weise sind die Jahre verstrichen, und uns erscheint es doch, als wären wir erst seit gestern hier. Nun also, mein lieber Wolston, wir befanden uns auf diesem Stückchen Erde stets recht wohl, und kamen nie auf den Gedanken, daß es weise sein könnte, anderswo nach noch Besserem zu suchen..

– Das ist alles ganz richtig, antwortete Wolston; ich freilich hätte im Laufe der Jahre dem Verlangen, das Land auch weiter nach Süden, Osten und Westen kennen zu lernen, schwerlich widerstehen können.

– Weil Sie englisches Blut in den Adern haben, meinte der ältere Zermatt, und deshalb immer »unterwegs« sein müssen. Wir gehören aber zu den friedlichen und seßhaften Schweizern, die ihre Berge nur mit Bedauern verlassen, zu den Leuten, die gern zu Hause bleiben, und ohne die Verhältnisse, die uns einst nöthigten, Europa zu verlassen...

– Dagegen erheb' ich Einspruch, rief Jack, mindestens soweit es mich betrifft. Wenn auch ein Schweizer mit Leib und Seele, verlangte es mich doch immer, die ganze Erde zu durchstreifen!

– Du wärst auch werth, ein Engländer zu sein, erklärte Ernst, doch darfst Du nicht glauben, daß ich Dir aus diesem Trieb in die Ferne einen [109] Vorwurf machen möchte. Uebrigens meine ich, daß Herr Wolston recht hat; auch ich halte es für geboten, daß wir unsere Neue Schweiz endlich einmal in ihrem ganzen Umfange besichtigen.

– Sie ist ja, wie wir jetzt wissen, nur eine Insel im Indischen Ocean, setzte Wolston hinzu, und ich halte es für angezeigt, ihre Erforschung noch vor der Rückkehr der »Licorne« zu vollenden.

– Sobald der Vater es wünscht! rief Jack, der stets bereit war, auf Entdeckungen auszuziehen.

– Davon werden wir nach der schlechten Jahreszeit wieder sprechen, erklärte der ältere Zermatt. Ich habe gegen einen Zug ins Innere gar nichts einzuwenden. Jedenfalls müssen wir aber anerkennen, vom Schicksal begünstigt worden zu sein, daß es uns nach dieser gesunden und fruchtbaren Küste verschlagen ließ. Sollte es anderswo noch eine geben, die sich mit dieser messen könnte?

– Wieviel wissen wir aber von ihr? antwortete Ernst. Nach Osten zu, wo wir das Ostcap umschifft haben, um nach der »Licorne«-Bai zu gelangen, ist unsere Pinasse nur an einem Uferstriche mit nackten Felsen und zwischen gefährlichen Klippen hingefahren, und selbst am Ankerplatze der Corvette zeigte sich nur ein sandiger Strand. Begeben wir uns dagegen weiter nach Süden hinaus, so ist es doch möglich, daß die Neue Schweiz dort einen weniger trostlosen Anblick bietet.

– Darüber können wir uns, sagte Jack, nur unterrichten, wenn wir einmal eine Rundfahrt mit der Pinasse ausführen.

– Wenn Sie aber, nahm Wolston wieder das Wort, nach Osten zu und nicht über die »Licorne«-Bai hinausgekommen sind, so haben Sie doch wohl den Küstenstrich im Norden weiterhin besucht?

– Ja wohl, etwa fünfzehn Lieues weit, antwortete Ernst, vom Cap der Getäuschten Hoffnung bis zur Perlenbucht.

– Und wir sind nicht einmal wißbegierig genug gewesen, rief Jack, den Rauchenden Felsen aufzusuchen...

– Ein ödes, unfruchtbares Eiland, bemerkte Annah, das Jenny gewiß nie wiederzusehen verlangte.

– Alles in allem, meinte der ältere Zermatt, dürfte es am rathsamsten sein, die bis an die Perlenbucht heranreichenden Landstrecken zu besichtigen, denn von deren Ufer aus erstrecken sich grüne Prairien, größere [110] und kleinere Hügel und dichtbelaubte Wälder offenbar weit ins Innere hinein...

– Wälder, worin man Trüffeln sammeln kann, sagte Ernst.

– Seh' einer das Leckermaul! rief Jack.

– Ja freilich, Trüffeln, bestätigte der ältere Zermatt lachend, doch man trifft dort gewiß auch die, die sie auszuscharren pflegen.

– Ohne die Panther und die Löwen zu vergessen! setzte Betsie hinzu.

– Aus diesem allen, ließ sich Wolston vernehmen, geht hervor, daß wir uns ohne gewisse Vorsichtsmaßregeln weder nach der einen, noch nach der anderen Seite weit hinwegwagen dürfen. Da unsere zukünftige Colonie sich jedenfalls noch bis jenseit des Gelobten Landes ausdehnen wird, halte ich es für richtiger, erst dessen Hinterland kennen zu lernen, als eine Rundfahrt auf dem Wasser zu unternehmen...

– Und zwar vor der Rückkehr der Corvette, fiel Ernst ein. Meiner Ansicht nach wäre es das Beste, durch den Paß der Cluse zu gehen und durch die Niederung des Grünthales zu ziehen, um auf die Berge zu gelangen, die man von den Höhen bei Eberfurt aus sehen kann.

– Sind Ihnen diese nicht als recht fernliegend erschienen? fragte Wolston.

– Ja... etwa fünfzehn Lieues weit, antwortete Ernst, denn man erkannte nur noch ihren bläulichen Kamm am Horizonte.

– Ich bin überzeugt, sagte da Annah Wolston lachend, daß Ernst bereits einen vollständigen Reiseplan entworfen hat.

– Zugestanden, Annah, antwortete der junge Mann; ich möchte gar zu gern eine genaue Karte unserer Neuen Schweiz herstellen.

– Liebe Freunde, begann jetzt der ältere Zermatt, laßt mich einen Vorschlag machen, der Herrn Wolston wenigstens in etwas befriedigen wird...

– Angenommen! Angenommen! rief Jack.

– So höre mich doch erst an, Du leibhaftige Ungeduld! Gegen zwölf Tage haben wir noch übrig, ehe die Arbeiten bei der zweiten Ernte uns in Anspruch nehmen, und wenn es Euch recht ist, widmen wir die Hälfte davon dem Besuche des Theiles der Insel, der ihr östliches Ufer bildet.

– Und inzwischen, bemerkte Frau Wolston wenig zustimmenden Tones, während Herr Zermatt und seine Söhne, sowie auch mein Mann weit draußen umherschweifen, bleiben wir, Frau Zermatt, Annah und ich, wohl hübsch allein hier in Felsenheim zurück?...

[111] – O nein, Frau Wolston, beruhigte sie der ältere Zermatt, die Pinasse soll dann alle aufnehmen.

– Wann geht es fort? rief Jack. Gleich heute...

– Warum nicht lieber von gestern? erwiderte sein Vater lachend.

– Da wir das Innere der Perlenbucht schon von Ansehen kennen, sagte Ernst, dürfte es, meine ich, auch richtiger sein, am östlichen Ufer hinzusegeln. Die Pinasse steuerte dabei geraden Weges nach der »Licorne«-Bai und wendete sich von da aus nach Süden. Vielleicht entdecken wir dabei die Mündung eines Flusses, dessen Laufe wir folgen könnten...

– Das ist ein vortrefflicher Gedanke, bestätigte der ältere Zermatt.

– Wenigstens, bemerkte Wolston dagegen, wenn es nicht wünschenswerther erscheint, die ganze Insel zu umschiffen...

– Eine vollständige Rundfahrt? antwortete Ernst. Das erforderte wohl mehr Zeit, als wir übrig haben, denn bei unserem ersten Ausfluge durch das Grünthal erblickten wir nur den bläulichen Kamm jenes Bergzuges am Horizonte.

– Gerade über diese Bergkette sollten wir uns aber genauer unterrichten, erwiderte ihm Wolston.

– Ja freilich, das hätte schon weit früher geschehen sollen, stimmte Jack ihm zu.

– Gewiß, gewiß! bestätigte der ältere Zermatt; und vielleicht mündet in diesen Ufertheil ein Fluß, den wir, wenn auch nicht mit der Pinasse, doch mit dem Canot hinausfahren könnten.«

Nachdem man sich über diesen Vorschlag geeinigt hatte, wurde die Abfahrt auf den zweitnächsten Tag festgesetzt.

Sechsunddreißig Stunden waren übrigens keine zu lange Frist für die nöthigen Vorbereitungen. Zunächst mußte die »Elisabeth« für die Fahrt segelfertig gemacht und gleichzeitig ausreichendes Futter für die Thiere besorgt werden, um diese in der Zeit der Abwesenheit beider Familien, die unvorhergesehene Umstände vielleicht verlängern könnten, keine Noth leiden zu lassen.

Das gab also für die einen wie für die anderen noch reichliche Arbeit.

Wolston und Jack unterzogen sich einer gründlichen Besichtigung der im Hintergrunde der Bucht liegenden Pinasse. Seit der Fahrt nach der »Licorne«-Bai war sie nicht wieder aufs Wasser hinausgekommen. Jetzt bedurfte sie einiger Ausbesserungen, worauf sich Wolston übrigens sehr gut verstand.


Jetzt bedurfte sie einiger Ausbesserungen. (S. 112.)

Auch an Kenntniß der Schiffahrt fehlte es ihm nicht, doch war in dieser Hinsicht ja auf [112] Jack, den unerschrockenen Nachfolger seines Bruders Fritz, zu rechnen, der die »Elisabeth« gewiß ebenso geschickt führte, wie er den Kajak steuerte.

Bei ihm galt es höchstens einen etwas zügellosen Drang zu beschränken, der ihn vielleicht zu einer Unklugheit verleiten könnte.

Der ältere Zermatt, seine Gattin, Ernst, Frau Wolston und Annah, denen es oblag, die Ställe und den Geflügelhof zu versorgen, entledigten sich dieser Aufgabe mit regem Eifer. Weder den Büffeln noch dem Onagre, weder den Kühen noch den Eseln oder dem Strauße konnte es da an dem nöthigen Pflanzenfutter[113] fehlen; daneben wurden natürlich auch die Hühner, Gänse und Enten, Jennys Cormoran, die beiden Schakale, der Affe und die Hunde nicht vernachlässigt. Nur Braun und Falb sollten mit an Bord genommen werden, da sich im Laufe der Fahrt, wenn die Pinasse da und dort die Küste anlief, wohl Gelegenheit zu jagen bieten könnte.

Selbstverständlich erforderten jene Vorarbeiten auch einen Besuch der Meiereien von Waldegg und Zuckertop, sowie der Einsiedelei von Eberfurt und des Prospect-Hill, wo die verschiedenen Thiere untergebracht waren. Das verursachte immerhin einigen Zeitverlust; mit Hilfe des Wagens gelang es jedoch, die vom älteren Zermatt bestimmte Frist von sechsunddreißig Stunden nicht zu überschreiten.

Man hatte thatsächlich auch keine Zeit mehr zu verlieren. Die schon gelb werdenden Felder standen nahe vor der Reise der Früchte. Das Einernten konnte kaum um mehr als zwölf Tage verzögert werden, doch war die Pinasse bis dahin auch jedenfalls zurückgekehrt.

Kurz, am Abend des 14. März war alles vollendet und eine Kiste mit conservirtem Fleische, ein Sack Maniokmehl, ein Fäßchen Meth, eine kleine Tonne Palmwein vier Gewehre, ebensoviele Pistolen, Pulver, Blei, selbst hinreichende Munition für die zwei Signalkanonen der »Elisabeth«, ferner Decken, Wäsche, Kleidung zum Wechseln, Regenmäntel aus Wachstuch und die nöthigen Küchengeräthe an Bord geschafft.

Damit war alles zur Abfahrt fertig, und es galt nur noch, beim ersten Morgenrothe die dann vom Lande her wehende Brise zu benutzen, um nach dem Cap im Osten hinauszusegeln.

Um fünf Uhr des Morgens und nach einer stillen Nacht schifften sich alle ein, begleitet von den zwei Hunden, die vergnügt hin und her sprangen.

Als die Fahrgäste ihren Platz auf dem Verdecke eingenommen hatten, wurde am Achter noch das Canot emporgezogen. Dann setzte man das Brigg-, das Fock- und ein Klüversegel bei, der ältere Zermatt stand am Steuer, Wolston und Jack an den Schoten, die Pinasse drehte in den Wind und verlor jenseit der Haifischinsel die Höhen von Felsenheim bald aus dem Gesichte.

[114]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Auf der Fahrt. – Die Klippe des »Landlord«. – Die »Licorne«-Bai. – Die »Elisabeth« vor Anker. – Auf der Uferhöhe. – Eine öde Gegend. – Das Land im Süden. – Weitere Pläne.

Sobald sie über die enge Wasserstraße hinausgekommen war, glitt die Pinasse über die weite Meeresfläche zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem Cap im Osten bei schönem Wetter dahin Ueber den mattblauen Himmel zogen leichte Wolken, die die Sonnenwärme milderten.

Der Wind, der um diese Morgenstunde vom Lande her wehte, begünstigte die Fahrt der »Elisabeth«. Erst wenn sie das Cap im Osten hinter sich hatte, konnte sich ihr der Seewind fühlbar machen.

Das leichte Fahrzeug trug jetzt das vollständige Segelwerk einer Brigantine, sogar ein Außenklüversegel und Topsegel an beiden Masten. In dieser Weise glitt es, mit gutem Winde fast von hinten, ein wenig über Steuerbord geneigt dahin. sein Bug durchschnitt das Wasser. das hier ebenso ruhig wie das eines Binnensees war, und es legte gut acht Knoten zurück und zog einen langen Schweif schäumenden Kielwassers hinter sich her.

Auf dem kleinen Verdecke sitzend, drehten sich Frau Zermatt, Frau Wolston und deren Tochter zuweilen um. Ihre Blicke überflogen das wegen der Entfernung sehr niedrig erscheinende Uferland zwischen Falkenhorst und der Landspitze der Getäuschten Hoffnung. Alle freuten sich über das angenehme Auf-und Abwiegen bei der schnellen Fahrt. während ihnen noch ein Lufthauch die Wohlgerüche vom Lande her zutrug.

Welche Gedanken regten sich aber in Betsie. welche Erinnerungen an die verflossenen zwölf Jahre wachten in ihr wieder auf! Sie sah sich noch einmal in jenem, als einziges Rettungsmittel aus leeren Tonnen improvisirten Fahrzeuge, das eine einzige Sturzwelle hätte zum Kentern bringen können, sah sich zusammengekauert in dem gebrechlichen Gefährte, einer unbekannten Küste zutreibend, doch mit allen, die sie liebte, mit ihrem Gatten, ihren vier Söhnen, von denen der jüngste kaum fünf Jahre zählte, und sah im Geiste sich endlich landen, dort an der Mündung des Sckakalbaches, wo auch das erste Zelt errichtet worden war, bevor sie mit den ihrigen nach Falkenhorst und dann nach Felsenheim übersiedelte. [115] Sie erinnerte sich auch ihrer tödtlichen Angst, allemal wenn Zermatt sich mit seinen Söhnen nach dem zertrümmerten Schiffe begab. Und jetzt, auf der wohlausgerüsteten und geschickt geführten, seetüchtigen Pinasse nahm sie ohne jede Furcht an dieser Reise zur Erforschung des Ostens der Insel theil. Welche Veränderungen waren hier obendrein seit etwa fünf Monaten eingetreten, während sich in der nächsten Zukunft noch wichtigere voraussehen ließen.

Der ältere Zermatt bemühte sich, den Wind auszunützen, der mit der zunehmenden Entfernung der »Elisabeth« vom Lande Neigung zum Abflauen zeigte.

Wolston, Ernst und Jack hielten die Schoten in den Händen, um diese nach Bedarf anzuziehen oder schießen zu lassen. Es wäre sehr unangenehm gewesen, vor Erreichung des Caps im Osten, wo dann eine Seebrise wehte, hier von einer Windstille überrascht zu werden.

»Ich fürchte, daß der Wind ganz einschläft, sagte auch Wolston, denn unsere Segel erschlaffen mehr und mehr.

– Ja, das ist zu erwarten, bestätigte der ältere Zermatt. Da er uns aber jetzt noch von rückwärts her trifft, wollen wir das Focksegel mehr nach der einen, das Briggsegel mehr nach der anderen Seite hinausrücken; damit kommen wir doch wohl etwas schneller vorwärts.

– Und das muß uns treffen, wo wir nur noch eine halbe Stunde brauchten, die Landspitze zu umschiffen! bemerkte Ernst.

– Nun, wenn die Brise sich gänzlich legt, sagte Jack, so müssen wir wohl die Riemen einlegen und bis zum Cap hin rudern. Wenn wir zu vieren, Herr Wolston, mein Vater, Ernst und ich, zugreifen, wird die Pinasse, denke ich, auch noch von der Stelle kommen.

– Und wer soll dann das Steuer handhaben, wenn Ihr alle rudert? fragte Frau Zermatt.

– Du, Mutter... oder Frau Wolston... oder auch Annah. Ja, warum nicht Annah? Ich bin überzeugt, daß es sie nicht in Verlegenheit setzen würde, das Ruder wie ein richtiger Seemann von Backbord nach Steuerbord umzulegen.

– Ja, warum denn nicht, antwortete das junge Mädchen lachend, wenigstens, wenn ich nur Jacks Anweisungen nachzukommen habe?

– O, ein Schiff zu führen, erklärte Jack, ist auch nicht schwieriger, als einen Haushalt zu leiten, und die Fähigkeit dazu ist ja allen Frauen angeboren!«

[116] Es wurde indeß nicht nöthig, zu den langen Riemen zu greifen oder sich – was noch einfacher gewesen wäre – von dem Canot schleppen zu lassen. Als die zwei Segel nach beiden Seiten hinaus eingestellt waren, wirkte der diese unmittelbar treffende Wind kräftiger auf die Pinasse, die sich dadurch dem Cap im Osten merkbar näherte. Obendrein deuteten noch einige Anzeichen darauf, daß jenseit des Caps Seewind wehte. Nach dieser Seite zu zeigte das Meer mindestens eine Lieue weiter hinaus einen grünlichen Schimmer. Zuweilen leuchteten kleine, weißräudige Wellen beim Ueberstürzen ihres Kammes heller auf. Die Fahrt ging also in erwünschter Geschwindigkeit weiter, und es war kaum halb neun Uhr, als die »Elisabeth« sich bereits dem Cap gegenüber befand.

Nun wurde die Segelstellung verändert und das kleine Fahrzeug glitt noch schneller, leicht schaukelnd, vorwärts, was übrigens weder dessen männliche, noch dessen weibliche Fahrgäste belästigte.

Da die Brise in gleichmäßiger Stärke anhielt, schlug Zermatt vor, nach Nordosten abzuweichen, um den Klippengürtel zu umschiffen, auf dem der »Landlord« zertrümmert worden war.

»Das ist ja leicht auszuführen, antwortete Wolston, und was mich betrifft, würde ich begierig sein, einmal das Riff zu sehen, wohin der Sturm, soweit außerhalb Ihres Curses zwischen dem Cap der Guten Hoffnung und Batavia, Sie damals verschlagen hatte.

– Ein Schiffbruch, der so zahlreiche Opfer kostete, setzte Frau Zermatt hinzu, während sich ihre Züge bei der Erinnerung an den schrecklichen Unfall verdüsterten. Mein Mann, meine Kinder und ich, wir waren ja die einzigen, die dabei dem Tode entrannen!

– Es hat also, fragte Frau Wolston, nie etwas davon verlautet, daß jemand von der Besatzung aus dem Meere aufgenommen worden wäre oder sich auf die benachbarte Küste gerettet hätte?

– Nach der Aussage des Lieutenants Littlestone, kein einziger, antwortete der ältere Zermatt. Der »Landlord« hat überhaupt lange Zeit als mit Mann und Maus untergegangen gegolten.

– Da war, mischte Ernst sich ein, die Mannschaft des »Dorcas«, auf dem auch Jenny sich befand, doch etwas besser daran, denn von ihr sind wenigstens der Unterbootsmann und zwei Matrosen nach Sydney gebracht worden.

– Ganz recht, bestätigte der ältere Zermatt. Doch vermöchte wohl jemand zu beurtheilen, ob noch andere Ueberlebende vom »Landlord« an einer der [117] Küsten des Indischen Oceans Zuflucht gefunden haben könnten, und ob diese, ebenso wie wir hier in der Neuen Schweiz, nach so langen Jahren noch an derselben Stelle verweilen?

– O, das ist ja nicht unmöglich, rief Ernst, denn unsere Insel liegt kaum dreihundert Lieues von Australien entfernt. Dessen Westküste wird aber von europäischen Schiffen sehr selten angelaufen, und etwaige Schiffbrüchige hätten freilich kaum Aussicht, aus der Gewalt der Eingeborenen zu entkommen.

– Aus allem geht hervor, erklärte Wolston, daß diese Meerestheile sehr gefährlich sind und häufig von Stürmen heimgesucht werden. Binnen weniger Jahre der Verlust des »Landlord«... der des »Dorcas«...

– Gewiß, meinte Ernst; doch vergessen wir dabei nicht, daß die Lage unserer Insel zur Zeit jener Schiffbrüche noch auf keiner Karte angegeben war, und damit erklärt es sich leicht, daß mehrere Fahrzeuge auf den sie umgebenden Klippen zu Grunde gehen konnten. In allernächster Zeit aber wird ihre geographische Lage ebenso genau bestimmt und bekannt sein, wie die aller übrigen Inseln im Indischen Meere.

– Desto schlimmer, rief Jack, ja, desto schlimmer, denn damit wird die Neue Schweiz für alle und jeden zugänglich!«

Die »Elisabeth« segelte jetzt im Westen von der Klippe hin, und da sie sich bisher hatte dicht am Winde halten müssen, um die am weitesten hinausragenden Felsen zu umschiffen, brauchte sie sich jetzt nur in der Richtung des Windes treiben zu lassen.

An der anderen Seite des Riffs wies der ältere Zermatt Herrn Wolston auf den engen Einschnitt hin, in den eine ungeheure Woge einst den »Landlord« geschleudert hatte. Eine Oeffnung, die dicht über der Schwimmlinie des Schiffes erst mittels Axt ausgebrochen und dann durch eine Sprengung erweitert worden war, hatte es ermöglicht, die darin enthaltenen Gegenstände schleunigst zu bergen, bis durch eine spätere Pulverexplosion die völlige Zertrümmerung des Rumpfes herbeigeführt wurde. Vom Schiffe blieb gar nichts auf der Klippe zurück, alles spülte die Fluth nach und nach an die Küste, und zwar ebenso die Theile, die ihrer Natur nach schon von selbst schwammen, wie die anderen, die durch damit verbundene leere Tonnen vor dem Untersinken gesichert worden waren, wie die Kochöfen, die Gegenstände aus Eisen, Blei und Kupfer, und die vierpfündigen Geschütze, von denen jetzt zwei auf der Haifischinsel und zwei in der Nähe von Felsenheim standen.

[118] Längs der Felsen hinsegelnd, bemühten sich die Passagiere, zu erkennen, ob nicht noch andere Trümmer auf dem Grunde des klaren und ruhigen Wassers lägen. Fritz hatte nämlich, als er mit dem Kajak nach der Perlenbucht gekommen war, auf dem Meeresgrunde noch eine Anzahl größerer Kanonenrohre, Kugeln, Lafetten, eine Menge Eisentheile, Bruchstücke eines Schissskiets und eines Spills entdeckt, deren Hebung freilich nur mit Hilfe einer Taucherglocke ausführbar gewesen wäre. Doch selbst im Besitze einer solchen, hätte der ältere Zermatt davon wenig Vortheil gehabt. Augenblicklich war auf dem Meeresboden gar nichts mehr zu sehen; eine Sandlchichi verhüllte, mit langen Algen vermischt, die letzten Trümmer des »Landlord«.

Nach Vollendung der Fahrt um die Klippe steuerte die »Elisabeth« südwärts, um nahe am Cap im Osten vorüberzukommen. Der ältere Zermatt leitete das Fahrzeug mit größter Vorsicht, denn ein Ausläufer des Caps reichte durch den Klippengürtel ziemlich weit ins Meer hinaus.

Dreiviertel Stunden später konnte die Pinasse jenseit dieses Landvorsprunges, der wahrscheinlich den östlichsten Punkt der Neuen Schweiz bildete, der Uferlinie in der Entfernung von einer halben Lieue folgen, wobei sie durch einen Landwind von Nordwesten unterstützt wurde.

Im Laufe dieser Fahrt konnte der ältere Zermatt sich aufs neue überzeugen, welch trostlos öden Anblick die Ostküste der Neuen Schweiz darbot. Kein Baum auf dem steilen Ufer, keine Spur von Pflanzenwuchs an seinem Fuße, kein Bach, der sich über den nackten, verlassenen Strand hinschlängelte... nichts als Gesteinsmassen, die gleichmäßig von der Sonne mürbe gebrannt erschienen. Welch ein Unterschied gegenüber den grünen Ufern der Rettungsbucht und den Landstrecken bis hinaus zum Cap der Getäuschten Hoffnung!

»Wären wir nach dem Scheitern des »Landlord«, äußerte sich darüber der ältere Zermatt, nach dieser Seite der Küste getrieben worden, was wäre dann aus uns geworden und wie hätten wir nur nothdürftig unser Leben sichern sollen?

– Ja, meinte Wolston, da wären Sie eben gezwungen gewesen, weiter ins Innere vorzudringen. Doch auch beim Hinwandern um das Ufer der Rettungsbucht würden Sie ja auf die Stelle gestoßen sein, wo sich anfänglich das Lager von Zeltheim erhob.

– Das ist ja anzunehmen, lieber Wolston, erwiderte der ältere Zermatt, doch um den Preis welcher Anstrengung. und welche Beute der Verzweiflung wären wir in den ersten Tagen gewesen!

[119] – Und wer weiß denn, setzte Ernst hinzu, ob unser aus Tonnen gebildetes Floß nicht an den Felsen hier zerschellt wäre? Wie anders dort an der Mündung des Schakalbaches, wo die Landung leicht und gefahrlos stattfinden konnte.

– Der Himmel hat Sie sichtlich begünstigt, liebe Freunde, sagte Frau Wolston.

– Ja, sichtlich, meine beste Merry, antwortete Frau Zermatt, und ich bringe ihm noch jeden Tag meinen Dank dafür dar!«

Gegen elf Uhr erreichte die »Elisabeth« die »Licorne«-Bai, und eine halbe Stunde später ging sie am Fuße eines Uferfelsens, in der Nähe der Stelle, wo die englische Corvette gelegen hatte. vor Anker.

Der ältere Zermatt wollte, mit Zustimmung der anderen, in diesem Winkel der Bai ans Land gehen, hier den Rest des Tages zubringen und am nächsten Morgen mit Tagesanbruch die Fahrt längs der Küste fortsetzen.

Nachdem der Anker gefaßt hatte, wurde der Hintertheil der Pinasse mit einem Sorrtau näher ans Ufer gezogen, und alle betraten den mit festem, seinem Sande bedeckten Strand.

Rings um die Bai erhob sich ein gegen hundert Fuß hohes, aus Kalkstein bestehendes Steilufer, auf dessen Kamm man nur durch eine enge, in seiner Mitte sich öffnende Schlucht gelangen konnte.

Die beiden Familien gingen zunächst auf dem Strandgebiete umher, wo sich noch immer Spuren des früheren Lagers vorfanden. Da und dort zeigten sich noch Fußstapfen im Sande, wo dieser vom Wasser nicht mehr erreicht wurde, Holzreste von den Reparaturarbeiten an der Corvette, die Löcher der Zeltpfähle, einzelne Kohlenstückchen zwischen den Kieseln und selbst noch Asche von den Feuerstätten.

Diese Wahrnehmungen veranlaßten den älteren Zermatt zu folgender, unter den vorliegenden Umständen gewiß treffenden Bemerkung:

»Angenommen, wir besuchten, sagte er, die Ostküste hier heute zum erstenmale und fänden diese noch frischen Spuren einer unzweifelhaft kurz vorher erfolgten Landung, müßten wir dann nicht tief betrübt darüber sein? An dieser Stelle hätte also ein Schiff geankert, seine Besatzung hätte im Hintergrunde der Bai auf dem Lande gelagert, und wir, wir hätten gar nichts davon bemerkt! Und wenn das Schiff darauf diese öde Küste wieder verlassen hatte, konnte dann jemand die Hoffnung hegen, daß es je hierher zurückkehren werde?


Augenblicklich war auf dem Meeresboden gar nichts mehr zu sehen. (S. 119.)

[120] [123]– Das ist nur zu wahr, meinte Betsie. Doch welchem Umstande verdanken wir es, von der Ankunft der »Licorne« Kunde erhalten zu haben?

– Einem Zufalle, rief Jack, einem reinen Zufalle!

– Nein, mein Sohn, entgegnete der ältere Zermatt, und was auch Ernst darüber gesagt haben mag, wir verdanken das doch unserer Gewohnheit, jedes Jahr zu dieser Zeit die Geschütze auf der Haifischinsel abzufeuern, und auf diese Schüsse hatte die Corvette voriges Jahr mit drei anderen geantwortet.

– Da muß ich mich wohl fügen! gestand Ernst.

– Und welche Unruhe, fuhr sein Vater fort, welche Angst hat uns die darauffolgenden Tage gepeinigt, weil die stürmische Witterung uns verhinderte, nach jener Insel zurückzukehren, um die Signalschüsse zu wiederholen! Welche Furcht hat uns erfüllt, daß das Schiff schon wieder abgesegelt wäre, ehe wir uns mit ihm in Verbindung setzen konnten!

– Jawohl, liebe Freunde, bemerkte Wolston, es wäre für Euch eine bittere Enttäuschung gewesen, überzeugt zu sein, daß ein Schiff in dieser Bai geleg'n hatte, ohne mit ihm in Verkehr getreten zu sein. Meiner Ansicht nach hätten sich dadurch aber Eure Aussichten, von hier wieder weggehen zu können, immerhin wesentlich verbessert.

– Das ist richtig, stimmte ihm Ernst zu, denn unsere Insel war dann nicht mehr unbekannt, da das betreffende Schiff ihre geographische Lage aufgenommen und für deren Eintragung in die Seekarten gesorgt hätte. Später wäre dann doch irgend ein Schiff eingetroffen, um von der Insel Besitz zu nehmen...

– Nun kurz und gut, sagte Jack, die »Licorne« ist hierher gekommen, die »Licorne« ist von uns besucht worden, die »Licorne« ist wieder abgesegelt, die »Licorne« wird auch zurückkehren, und was uns jetzt zu thun obliegt, ist – meine ich...

– Zu frühstücken? fragte Annah Wolston lachend.

– Ganz recht! erwiderte Ernst.

– Nun denn: zu Tische, rief Jack, denn mich hungert dermaßen, daß ich gleich meinen Teller mit verzehren und... jedenfalls auch verdauen könnte!«

Alle waren gern bereit, sich ein Stück weit vom Strande, nahe dem Ufereinschnitte und geschützt vor den Strahlen der Sonne, niederzulassen. Fleischconserven, geräucherter Schinken, kaltes Geflügel, Cassavakuchen und frischgebackenes Brot wurde den Vorräthen der Pinasse entnommen. An Getränk enthielt die [123] Cambüse des Fahrzeuges einige Fäßchen Meth und sogar etliche Flaschen Wein von Falkenhorst, die beim Nachtisch geleert werden sollten.

Nach Herbeischaffung der Nahrungsmittel und des Eßgeschirres richteten Frau Wolston, Frau Zermatt und Annah das Frühstück auf einer feinsandigen, mit ganz trockenem Varec bedeckten Stelle an, und alle aßen sich gehörig satt, um bis zur Hauptmahlzeit am Abend um sechs Uhr bequem aushalten zu können.

Freilich, nur ans Land zu gehen, sich wieder einzuschiffen, einen anderen Punkt der Küste anzulaufen und ihn ebenso wieder zu verlassen, das wäre der Mühen dieser Fahrt nicht werth gewesen. Das Gebiet des Gelobten Landes bildete jedenfalls doch nur den allerkleinsten Theil der Neuen Schweiz.

Nach Beendigung der Mahlzeit begann Wolston denn auch:

»Diesen Nachmittag schlage ich vor, zu einem kleinen Marsche ins Innere zu verwenden.

– Und ohne eine Minute zu verlieren! rief Jack. Wir sollten jetzt eigentlich schon eine gute Lieue von hier weg sein.

– Na, na! Vor dem Frühstücke hätten Sie nicht in dieser Weise gesprochen, spöttelte Annah lächelnd, denn Sie haben doch mindestens für Vier gegessen...

– Ja, ich bin aber auch bereit, viermal so viel Weg als andere zurückzulegen, antwortete Jack, selbst bis ans Ende der Welt, natürlich unserer kleinen Welt, zu gehen.

– Wenn Du uns aber so weit davonläufst, liebes Kind, würden wir Dir unmöglich folgen können. Weder Frau Wolston oder Annah, noch Deine eigene Mutter könnten es wagen, Dich zu begleiten.

– Ja, setzte der ältere Zermatt hinzu, ich weiß kaum noch, was ich anfangen soll, die stürmische Ungeduld unseres Jack zu zügeln. Es giebt nichts, was ihn zurückhalten könnte! Ich glaube sogar, Fritz entwickelte nie so viel...

– Fritz? wiederholte Jack. Muß ich denn nicht danach trachten, ihn nach jeder Richtung hin zu ersetzen? Wenn er zurückkommt, wird er doch nicht mehr derselbe sein, wie vor der Abreise.

– Und warum denn nicht? fragte Annah.

– Weil er dann verheiratet, Familienvater, vielleicht, wenn er lange zögert, Papa oder gar Großpapa ist...

– Wo denken Sie hin, Jack? ließ sich Frau Wolston vernehmen. Fritz und Großvater nach nur einjähriger Abwesenheit!

– Na... Großvater oder nicht... verheiratet ist er dann doch.

[124] – Warum sollte er deshalb aber nicht mehr der alte sein? fragte Annah.

– Lassen Sie Jack nur reden, liebe Annah, antwortete Ernst. Die Reihe, ein vortrefflicher Ehemann zu sein, wird auch an ihn kommen...

– Ebenso wie an Dich, Brüderchen, sagte darauf Jack mit einem Seitenblicke auf Ernst und das junge Mädchen. Was mich betrifft, sollte es mich wundernehmen, denn ich glaube von der Natur eigens zum Onkel geschaffen zu sein... zum besten aller Onkel... zum Onkel der Neuen Schweiz! So viel ich weiß, handelt es sich aber heute nicht darum, in hochzeitlichem Gewande vor dem Felsenheimer Standesbeamten zu paradiren, sondern ein gutes Stück über dieses Steilufer hinauszudringen.

– Ich meine, bemerkte Frau Wolston, Frau Zermatt, Annah und ich, wir thäten am besten, während Eueres vielleicht bis zum Abende andauernden und gewiß ermüdenden Ausfluges ruhig hier zu bleiben. Der Strand ist ja völlig verlassen und wir haben keinen schlimmen Besuch zu befürchten Uebrigens wäre es ja auf jeden Fall leicht, an Bord der Pinasse zu gelangen. Laßt Ihr uns hier an der Lagerstelle zurück, so habt Ihr wenigstens keinen Aufenthalt, keine Verzögerung zu befürchten.

– Ich, meine liebe Merry, sagte der ältere Zermatt, glaube zwar auch, daß Ihr hier in vollkommener Sicherheit wäret, und doch würde es mich beunruhigen, Euch ganz allein zu wissen.

– Nun gut, schlug Ernst vor, ich wünsche nichts mehr, als auch zurückzubleiben, während...

– Aha, schnitt ihm Jack das Wort ab, da guckt unser Gelehrter heraus. Zurückbleiben, um die Nase in ein paar alte Schmöcker stecken zu können! Ich wette, er hat ein oder zwei Bände irgendwo in der Pinasse versteckt. Gut also; er mag hier bleiben, doch unter der Bedingung, daß Annah mit uns geht.

– Und Frau Wolston und Deine Mutter ebenfalls, setzte der ältere Zermatt hinzu. Alles erwogen, ist das besser. Sie mögen, wenn sie müde sind, Halt machen...

– Und dann mag ihnen Ernst Gesellschaft leisten, rief Jack hell auflachend.

– Versäumen wir keine Zeit mehr, mahnte Wolston. Das Schwierigste wird es sein, dieses Steilufer, dessen Höhe ich zu hundert bis hundertfünfzig Fuß veranschlage, zu erklimmen. Glücklicherweise scheinen die Seitenwände des Einschnitts nirgends besonders steil zu sein, so daß man ohne Gefahr nach der[125] Hochfläche gelangen kann. Einmal da oben, werden wir ja sehen, was dann zu thun ist.

– Vorwärts also, vorwärts!« trieb Jack voll Ungeduld.

Vor dem Aufbruche untersuchte der ältere Zermatt noch die Haltetaue der »Elisabeth«. Er überzeugte sich, daß das Fahrzeug auch bei tiefster Ebbe nicht bis zum Grunde sinken und bei der höchsten Fluth nirgends an Felsen stoßen könnte.

Die kleine Gesellschaft wandte sich nun dem schluchtartigen Einschnitte zu. Natürlich führten die Männer jeder ein Gewehr, Kugeln, ein Pulverhorn und auch von Jack angefertigte Kugel- und Schrotpatronen mit sich. Der jagdlustige Jack hoffte stark darauf, einiges Wild zu erlegen oder vielleicht gar ein bekanntes oder unbekanntes Raubthier in diesem Theile der Neuen Schweiz zur Strecke bringen zu können.

Braun und Falk sprangen schweifwedelnd voraus. Die andern folgten ihnen eine schräg verlaufende Art Pfad hinauf, dessen Windungen seine Steilheit milderten. In der Regenzeit mochte der Einschnitt wohl als Abfluß für das von der Höhe herabstürzende Wasser dienen. Jetzt aber, im vollen Sommer, war dieses Wildbett ganz trocken. Da der Weg aber zwischen Felsblöcken hinführte, die durch Störung ihrer Gleichgewichtslage herunterzupoltern drohten, verlangte der Aufstieg doch einige Vorsicht.

Infolge vieler Umwege bedurfte es einer vollen halben Stunde, ehe die Höhe des Steilufers erreicht wurde. Der erste, der oben anlangte, war – das kann ja nicht wundernehmen – der ungeduldige Jack.

Nach Westen hin dehnte sich hier vor ihm eine weite Ebene bis über Sehweite hinaus.

Jack machte erstaunt Halt. Er drehte und wendete sich nach verschiedenen Seiten, bis Wolston zu ihm herangekommen war.

»Das ist ja ein ganzes Land! rief er. Welche Ueberraschung und doch welche Enttäuschung!«

Diese Ansicht theilten alle, als sie nach und nach das Plateau erreicht hatten.

Frau Wolston, Frau Zermatt und Annah hatten sich am Fuße eines Steinblocks niedergesetzt. Nirgends zeigte sich ein Baum, der Schutz vor den sengenden Sonnenstrahlen geboten hätte, nirgends ein Fleckchen Rasen, worauf man sich hätte hinstrecken können. Der steinige, da und dort mit erratischen Blöcken bestreute Erdboden, auf dem jeder Pflanzenwuchs unmöglich war, zeigte [126] sich nur hier und da mit dürftigem Moose bedeckt, das keine Humusschicht zu seinem Gedeihen brauchte. Man hätte, was hier vor Augen lag, wie der ältere Zermatt auch sagte, eine Wüstenei des Steinichten Arabiens an der Grenze des fruchtbaren Gebietes des Gelobten Landes nennen können.

Ja, ein erstaunlicher Unterschied gegenüber der Gegend zwischen dem Schakalbache und dem Cap der Getäuschten Hoffnung, gegenüber dem Landstriche jenseit des Passes der Cluse, dem schönen Grünthale und der nächsten Umgebung der Perlenbucht. Dabei erinnerte man sich unwillkürlich der Worte der Frau Zermatt: was aus der schiffbrüchigen Familie hätte werden sollen, wenn das Tonnenfloß hier an die östliche Küste getrieben worden wäre.

Von dem Steilufer aus bis zu der zwei Lieues im Westen schimmernden Rettungsbucht flog der Blick also über eine völlig wüste Gegend ohne Grün, ohne Bäume, ohne jeden Wasserlauf. Auch kein vierfüßiges Thier war hier zu erspähen, selbst die Seevögel schienen das unwirthliche Gebiet zu meiden.

»Hiermit ist unser Ausflug ja schon zu Ende, erklärte der ältere Zermatt, wenigstens auf diesem Theile unserer Insel.

– Ja freilich, stimmte ihm Wolston bei, und es er scheint mir ganz nutzlos, sich einer brennenden Sonnengluth auszusetzen, nur um ein steinichtes Land zu besichtigen, mit dem doch niemals etwas anzufangen ist.

– Wie launisch und erfindungsreich ist doch die Natur! bemerkte Ernst. Wie liebt sie es, Gegensätze zu erschaffen! Da unten entwickelt sie all ihre productive Kraft... hier tritt uns die entsetzlichste Unfruchtbarkeit entgegen.

– Da ist es wohl das beste, meinte Frau Zermatt, nach dem Strande zurückzukehren und gleich wieder an Bord zu gehen.

– Das ist auch meine Ansicht, schloß Frau Wolston sich ihr an.

– Nun ja, sagte Jack, doch nicht vor einer Ersteigung der höchsten Felsenspitze, die, wie Sie sehen, dort aufragt.«

Er zeigte dabei nach einer Steinmasse hin, die sich links von ihnen gegen sechzig Fuß über den Erdboden erhob. In kaum fünf Minuten hatte er deren Gipfel erreicht. Als er sich dann nach allen Seiten umgewendet hatte, rief er Wolston, seinem Vater und seinem Bruder zu, ihm nachzufolgen. Da er mit der Hand unausgesetzt nach Südosten wies, ließ sich wohl daraus entnehmen, daß er irgend etwas besonderes entdeckt hatte.

Mit einiger Anstrengung waren Wolston und der ältere Zermatt bald zu ihm hinaufgestiegen.

[127] In der erwähnten Richtung zeigte das Gelände neben der Küste allerdings ein völlig anderes Aussehen.

Zwei Lieues von der »Licorne«-Bai endigte das sich plötzlich senkende Steilufer an einer breiten Thalmulde, die höchstwahrscheinlich einer der Hauptflüsse der Insel bewässerte. Auf der Rückseite dieser Bodensenke dehnten sich die grünen Massen dichter Wälder aus. In deren Zwischenräumen und weiter hinaus zeigte das Land eine üppige Vegetation, so weit man es nach Süden und Südosten hin übersehen konnte. Der völlig unfruchtbare Theil schien sich auf ein Gebiet von fünf bis sechs Quadratlieues zwischen dem Cap im Osten und der Rettungbucht zu beschränken. Wenn überhaupt eine Gegend genauerer Besichtigung werth war. so war es ohne Zweifel die, die sich den Blicken der Colonisten jetzt zum erstenmale darbot. Gewiß barg sie manche Ueberraschung, versprach sie mancherlei Vortheile, wenn um ihretwillen auch keiner das Gelobte Land würde vergessen können.

»Brechen wir dahin auf! trieb Jack.

– Ja, vorwärts!« mahnte auch Wolston, schon bereit, in der Richtung nach dem neuen Thale abzugehen.

Zwei tüchtige Lieues aber auf einem mit Geröll bedeckten Boden, wobei der Weg sich überdies vielfach zwischen größern Felsblöcken hinwand, mußten offenbar eine geraume Zeit beanspruchen, von der Strapaze und der auf dieser kahlen Hochfläche nahezu gefährlichen Sonnenhitze gar nicht zu reden.

Der ältere Zermatt hielt es deshalb für seine Pflicht, die Ungeduld Wolston's und Jacks zu zügeln.

»Nicht noch heute, wendete er ein, der Tag ist schon zu weit vorgeschritten. Wir wollen bis morgen warten. Statt diese Gegend zu Fuß zu durchmessen, begeben wir uns dann auf dem Wasserwege dahin. Das Thal, das wir da draußen sehen, läuft jedenfalls an einem Ufereinschnitte aus, an einer Bucht, in die ein Fluß münden dürfte. Findet die Pinasse dort einen guten Ankerplatz, so wollen wir gern ein oder zwei Tage daransetzen, uns das Innere recht gründlich anzusehen.«

Das war ein kluger Vorschlag, dem auch niemand widersprach.

Nach einer kurzen, letzten Umschau stiegen die Herren Zermatt und Wolston mit Jack wieder hinunter und meldeten, was sie beschlossen hatten. Die auf den nächsten Tag verschobene Untersuchung versprach unter Umständen zu verlaufen, die ohne Gefahr und Mühe eine Betheiligung aller gestatten.

[128] Jetzt blieb nur übrig, den Pfad nach dem Passe wieder hinabzugehen, und dann bedurfte es nur weniger Minuten, den Fuß des Steilufers zu erreichen.


»Das ist ja ein ganzes Land!« rief er. (S. 126.)

Mangelte es nun am Strande der »Licorne«-Bai – zum größten Leidwesen Jacks – an jagdbarem Wild, so wimmelte es doch – zur größten Befriedigung Ernsts – von Fischen im Wasser und von Krustenthieren zwischen den Klippen. Mit Hilfe Annahs legte er mehrere Netze aus und machte auch einen reichlichen Fang. Zur Hauptmahlzeit gab es infolge dessen eine tüchtige [129] Schüssel großer Krabben mit wohlschmeckendem Fleische und gebackene Seezunge vorzüglichster Art.

Nach Beendigung des Essens lustwandelte die kleine Gesellschaft noch eine Zeit lang am Strande auf und ab, und gegen neun Uhr waren alle Fahrgäste der »Elisabeth« wieder an Bord zurückgekehrt.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Der Anblick der Küste. – Die Fettgänse. – Ein neuer Wasserlauf. – Unbekannte Gebiete. – Die Bergkette im Süden. – Plan für den nächsten Tag. – Der Montrosefluß.

Am folgenden Tage war es des älteren Zermatt erste Sorge, den Horizont nach Osten hin prüfend zu besichtigen. Hinter einer leichten Dunstwand, die sich voraussichtlich bald auflöste, stieg, vergrößert durch die Strahlenbrechung, der Sonnenball in vollem Glanze herauf und verkündete einen prächtigen Tag. Nichts deutete auf eine Veränderung der Wetterlage, auf irgend welche atmosphärische Störung hin. Seit drei oder vier Tagen behauptete sich schon ein ziemlich gleichbleibender hoher Stand der Barometersäule. Die Luft enthielt keine Feuchtigkeit und war nur durch den darin schwebenden leichten Staub etwas weniger durchsichtig. Die ziemlich frische Brise wehte stetig aus Norden. Das Meer blieb dabei bis auf eine Lieue vom Lande so gut wie ganz ruhig. Die Pinasse konnte ihre Fahrt längs der Küste also in voller Sicherheit fortsetzen.

Um sechs Uhr, wo sich schon alle auf dem Verdeck befanden, wurden die Haltetaue losgeworfen. Unter dem Focksegel, der Brigantine und den Klüversegeln treibend, glitt das kleine Fahrzeug nach Umschiffung der Landspitze ins freie Meer hinaus, wo es noch besser in den Wind kam. Eine halbe Stunde später folgte die »Elisabeth« mit dem Bug nach Süden und von Wolston gesteuert, den Windungen der Küste immer in der Entfernung von etwa zehn Kabellängen, so daß man auch die kleinsten Einzelheiten von den Einschnitten des Strandes bis zum Kamme der felsigen Steilküste genau erkennen konnte.

Einer Schätzung nach, mußte das im Süden gesehene Thal gegen vier bis fünf Lieues von der »Licorne«-Bai entfernt liegen, und zwei bis drei Stunden [130] genügten jedenfalls, diese Strecke zurückzulegen. Die Fluthwelle, die schon kurz vor Sonnenaufgang eingesetzt hatte, verlief in der nämlichen Richtung und hatte wahrstheinlich den höchsten Stand gerade erreicht, wenn die »Elisabeth« an ihrem Ziele eintraf. Dann sollte entschieden werden, was man, entsprechend der Natur der Oertlichkeit und sonstigen Umständen, beginnen wollte.

Zu beiden Seiten der »Elisabeth« tummelten sich spielend flüchtige Schaaren prächtiger Störe, von denen manche sieben bis acht Fuß maßen. Obgleich Jack und Ernst gern einige davon harpunirt hätten, konnte ihr Vater ihnen das doch nicht gestatten, da die Fahrt dadurch unnöthigerweise unterbrochen und verzögert worden wäre. Mit Makrelen und Seedrachen, die im Weiterfahren gefangen werden konnten, lag das anders. Mittels nachgeschleppter Angelschnüren wurden denn auch einige Dutzend dieser vortrefflichen Fische erlangt, die in Salzwasser gekocht beim nächsten Halteplatze aufgetischt werden sollten.

Das Aussehen der Küste änderte sich vorläufig nicht. Diese zeigte eine ununterbrochene Reihe hoher Kalkstein- oder Granitwände, die sich unten im Sande verloren und viele Aushöhlungen aufwiesen, worin das Meer furchtbar dröhnen und rauschen mußte, wenn ein Sturmwind von der Seeseite her die Wellen hineinjagte. Das trostlos öde Ufer machte auf alle einen recht traurigen Eindruck.

Als man jedoch weiter nach Süden kam, wurde es daran schon lebhafter, da hier ganze Völker von Fregattenvögeln, Meerschwalben, Möven und Albatrosse mit betäubendem Geschrei umherschwärmten und sich auch zuweilen bis auf Schußweite näherten.

Da mußte sich Jack freilich straffe Zügel anlegen, seine Jagdlust wäre aber doch vielleicht Siegerin geblieben, wenn ihn Annah nicht um Schonung der unschuldigen Vögel gebeten hätte.

»Und unter diesen Albatrossen, bemerkte sie, befindet sich vielleicht auch der unserer Jenny. Welcher Kummer für sie, Jack, wenn Sie jetzt gerade dieses arme Thier tödteten!

– Annah hat recht, ließ Ernst sich vernehmen.

– Immer recht, erwiderte Jack, und ich verspreche hiermit, niemals auf einen Albatros zu schießen, ehe nicht der Bote vom Rauchenden Felsen wieder aufgefunden worden ist.

– Soll ich Ihnen sagen, fuhr Annah fort, was ich mir denke?

– Ei natürlich, ich bitte darum, sagte Jack.

[131] – Nun, ich denke, daß wir diesen Albatros noch eines Tages wiedersehen dürften...

– Freilich, freilich, weil ich ihn nicht getödtet haben werde!«

Gegen neun Uhr befand sich die Pinasse der Bodensenke, die durch das plötzliche Zurückweichen des Steilufers nach dem Innern zu gebildet wurde, schon fast gegenüber. Der Kamm der Küste begann sich zu erniedrigen. Weniger steile Wände verbanden diese mit dem Sande des äußeren Strandes, dafür lagen im Wasser desto mehr Klippen, die zuweilen bis auf zwei Kabellängen weit hinausreichten. Die »Elisabeth« näherte sich dem Lande mit größter Vorsicht. Ueber den Bug hinausgebeugt, beobachtete Wolston aufmerksam das Wasser jeden verdächtigen Wirbel darin und jede Veränderung seiner Farbe, kurz, alles was die Nähe einer Klippe vermuthen ließ.

»Sapperment, rief da plötzlich Jack, nun soll wenigstens niemand mehr sagen, daß die Küste hier verlassen sei! Da drüben sieht man ja merkwürdige Gestalten in großer Zahl!«

Alle wandten den Blick nach dem Strande und den Felsen dahinter, wo Jacks scharfes Auge lebende Wesen in großer Menge erkannt haben wollte.

»Erkläre Dich doch deutlicher, sagte seine Mutter. Du siehst dort Menschen... vielleicht Wilde...?«

Frau Zermatt verstand darunter Angehörige der grausamen indo-malaiischen Urbevölkerung, die sie mit Recht ernstlich fürchtete.

– Nun, so antworte doch, Jack, drängte sein Vater.

– Beruhigt Euch, beruhigt Euch nur! rief Jack. Von menschlichen Wesen hab' ich ja nicht gesprochen. Wenn die da drüben zwei Beine haben, so haben sie doch auch Federn!

– Also sind es wohl Fettgänse? fragte Ernst.

– Oder Pinguine... wie Du willst.

– Darin kann man sich täuschen, Jack, antwortete Ernst, weil beide Vogelarten in der Ordnung der Schwimmpsötter einander sehr nahe stehen.

– Sagen wir also, um Euch unter einen Hut zu bringen, bemerkte der ältere Zermatt, sie gehören beide zu den Gänsen... ein Name, der sich durch ihre Beschränktheit genügend rechtfertigt.

– Und gerade deshalb hat man sie zuweilen für Menschen angesehen, bemerkte Jack.

– Sie Spottvogel! rief ihm Annah zu.

[132] – O, nur aus größerer Ferne, setzte der ältere Zermatt hinzu. Betrachtet nur ihren von weißen Federn umgebenen Hals. die kurzen Flügel, die wie kleine Arme herabhängen, ihren aufrecht stehenden Kopf, ihre schwarzen Füße und die schnurgeraden Reihen, die sie gewöhnlich bilden. Man glaubt da, eine Truppe in Uniform vor sich zu sehen. Erinnert Ihr Euch, Kinder, wie zahlreich diese Fettgänse früher auf den Felsen an der Mündung des Schakalbaches vorkamen?

– Gewiß, versicherte Ernst; ich seh' es auch noch heute, wie Jack sich mitten unter die Gesellschaft stürzte, wie er bis zum Gürtel im Wasser stand und so tapfer um sich schlug, daß er ein halbes Dutzend Fettgänse mit dem Stocke erlegte.

– Ganz richtig, bestätigte Jack; und da ich jener Zeit erst acht Jahre alt war, habe ich später etwa nicht gehalten...

– Jawohl, Du hast, was Du versprachst, gehalten! bezeugte ihm sein Vater lächelnd. Die Vögel aber, die wir so unfreundlich behandelt hatten, flohen darauf bald die Ufer der Rettungsbucht und haben dann offenbar auf dieser Küstenstrecke Zuflucht gesucht.«

Ob aus diesem oder einem anderen Grunde, thatsächlich hatten die Pinguine oder Fettgänse, gleich in den ersten Monaten nach Einrichtung der Wohnstätte in Felsenheim, die Ufergebiete der Bucht gänzlich verlassen.

Bei der Weiterverfolgung des Ufers kam die »Elisabeth« sehr nahe an ausgedehnten Untiefen vorüber, wo bei Tiefebbe die salzigen Essloreszensen auf dem Grunde trocken liegen mußten. Hier fanden von den späteren Colonisten gewiß Hunderte Beschäftigung als Salzarbeiter, und die ganze Bevölkerung konnte dann das so nothwendige Gewürz aus dieser reichen Quelle beziehen.

Vom Fuße des Steilufers, das mit einem scharfen Winkel endigte, lief noch eine lange, unterseeische Landzunge aus. Die Pinasse mußte sich deshalb auch eine gute halbe Lieue vom Strande entfernt halten. Als sie später wieder nach der Küste zu einbog, steuerte sie geraden Weges auf die Ausbuchtung zu, wo das Thal mündete, das von den Höhen neben der »Licorne«-Bai gestern schon gesehen worden war.

»Ein Fluß!... Da ist ein Fluß!« rief Jack, der nach der Flechting des Fockmastes hinaufgestiegen war.

Als darauf der ältere Zermatt den betreffenden Theil des Uferlandes mittels Fernrohres betrachtete, zeigte sich ihm folgendes:

Rechts stieg hinter einer scharfen Biegung die Böschung des Steilufers nach den Abhängen des Innern hinaus. Links endigte die Küste mit einem ziemlich[133] weit, mindestens drei bis vier Lieues, draußen liegenden Landvorsprünge, das Land selbst aber prangte im Grün von natürlichen Wiesen und von Wäldern, die bis zum äußersten Horizonte wie terrassenartig hinter einander lagen. Zwischen den erwähnten zwei Punkten breitete sich die Bucht aus, ein natürlicher Hafen, der durch felsige Wälle gegen die gefährlichen Ostwinde geschützt war und zu dem die Zufahrtsstraßen leicht passirbar zu sein schienen.

Fast in der Mitte mündete ein von schönen Bäumen beschatteter Fluß mit klarem, ruhigem Wasser. Dieser schien auch schiffbar zu sein, und sein Bett wendete sich, so weit man es von hier aus erkennen konnte, nach Südwesten zu.

Einen schöneren Ankerplatz konnte es für die Pinasse kaum geben. Sie wurde also einer dahin führenden Wasserstraße gerade gegenüber gebracht und ihr Segelwerk auf die Brigantine und ein Klüversegel vermindert; damit glitt sie nun langsamer mit Steuerbordhalsen dicht vor dem Winde hin. Die Fluth war immer noch eine Stunde lang im Steigen und begünstigte ihre Fortbewegung. Das Meer brandete jetzt nirgends; bei Tiefebbe freilich mochte es sich wohl an den dann freiliegenden Klippen heftiger brechen.

Natürlich wurde keine Vorsichtsmaßregel vernachlässigt. Der ältere Zermatt am Steuer, Wolston und Ernst zum Auslugen auf dem Vordertheile und Jack auf einer Stenge reitend, so behielten alle die Fahrstraße im Auge, durch die die »Elisabeth« einsegeln sollte. Frau Zermatt saß nebst Frau Wolston und deren Tochter erwartungsvoll auf dem Verdecke. Niemand sprach ein Wort unter der doppelten Einwirkung der Neugierde und einer unklaren Unruhe bei der Annäherung an dieses noch völlig unbekannte Land, das jetzt ohne Zweifel zum erstenmale von Menschen betreten werden sollte. Die Stille wurde nur durch das Plätschern des Wassers längs der Schiffswände unterbrochen, durch das gelegentliche Killen (d. i. Flattern) der Segel oder einen Zuruf Jacks und durch das Geschrei von Meerschwalben oder Möwen, die erschreckt nach den Uferfelsen der Bucht entflohen.

Es war um elf, als der Anker niedersank, und zwar zur Linken der Mündung, nahe einer Art natürlichen Quais, der eine bequeme Landung gestattete. Ein wenig weiter rückwärts boten große Palmen hinreichenden Schutz gegen die Strahlen der jetzt nahe ihrer Mittagshöhe stehenden Sonne. Nach einem hier verzehrten Frühstücke sollte dann ein Ausflug zur Besichtigung des Innern unternommen werden.

[134] Wir brauchen wohl kaum zu erwähnen, daß die Flußmündung hier sich ebenso verlassen erwies, wie die Mündung des Schakalbaches, als die Schiffbrüchigen das Land daselbst zum erstenmale betraten. Es schien als ob hier noch niemals ein Menschenfuß gewandelt wäre. An Stelle eines schmalen, vielfach gewundenen und unschiffbaren Rio zeigte sich hier aber ein wirklicher Fluß, der wenigstens bis zur Mitte des Inselgebietes hineinreichen mochte.

Jack sprang aus Land, sobald die »Elisabeth« nahe genug herangekommen war, und legte sie längs der Felsen an, indem er das Fahrzeug mittels eines an dessen Hintertheil befestigten Seiles schleppte. Das Canot brauchte man hier also zum Landen nicht zu benutzen, und bald standen alle am Ufer versammelt. Zunächst wurden Mundvorräthe nach der schattigen Stelle unter der Baumgruppe geschafft, denn alle verspürten einen gewaltigen Appetit, der durch die mehrstündige Fahrt in freier Seeluft nur noch verschärft worden war.

Das Essen – und wenn es auch etwas gierig vor sich ging – schloß aber doch den Austausch von Fragen und Antworten nicht aus. Da fielen mancherlei Bemerkungen und darunter folgende, die von Herrn Wolston ausging:

»Ist es nicht zu bedauern, daß wir nicht lieber am rechten Ufer des Flusses gelandet sind? An der Seite hier ist das Land niedrig, während es auf der anderen in dem Seitenwalle des Steilufers wohl hundert Fuß emporragt...

– Und mir würde es ein Leichtes gewesen sein, dessen Kamm zu erklimmen, erklärte Jack. Von dort aus würden wir mindestens eine weite Aussicht über das Land gehabt haben.

– Nun, über den Landeinschnitt hier können wir mit dem Canot ja jede Minute hinwegkommen, antwortete der ältere Zermatt. Ist Ihr Bedauern denn wirklich berechtigt, lieber Wolston? Am jenseitigen Ufer sehe ich weiter nichts als Stein und Sand, an der Grenze des öden Gebietes, das sich vom Cap im Osten bis nach der Bucht hier ausdehnt. Auf unserer Seite dagegen giebt es grünes Laub, Bäume und Schatten und weiter hinaus das Gebiet, das wir von der See aus sehen konnten und dessen Ersorsthung keine Schwierigkeiten bieten kann. Nein, meiner Ansicht nach konnten wir keine bessere Wahl treffen.

– Und wir stimmen dem auch zu, nicht wahr, Herr Wolston? sagte Betsie.

– Ja, ich füge mich, Frau Zermatt, vorzüglich auch, da wir ja nach Belieben auf das rechte Ufer übersetzen können.

– Ich möchte sogar behaupten, erklärte Frau Wolston, daß wir uns hier so wohl fühlen...

[135] – Daß Sie gar nicht wieder von hier fortgehen möchten, fiel Jack ein. Gut also! Abgemacht! Wir geben Felsenheim und Falkenhorst auf. überhaupt das ganze Gelobte Land, und gründen an der Mündung dieses prächtigen Flusses die zukünftige Hauptstadt der Neuen Schweiz!

– Aha, Jack ist schon im Durchgehen! bemerkte Ernst.


Niemand sprach ein Wort... (S. 134.)

Doch abgesehen von seinen Spässen, ist es nicht zu bestreiten, daß die Wichtigkeit dieses Wasserlaufes und die Tiefe der Bucht an seiner Mündung für die Anlage einer Colonie mehr Vortheile bieten, als die Mündung unseres Schakalbaches. Zunächst freilich[136] [139] gilt es, die Gegend hier in hinreichender Ausdehnung zu besichtigen und nachzuweisen, daß sie nicht von mancherlei gefährlichen Raubthieren bevölkert ist...


Es war aber auch ein herrlicher Abend. (S. 144.)

– Das heißt: als Weiser sprechen, sagte Annah Wolston.

– Wie wir das von Ernst gewöhnt sind, ließ sich sein Bruder vernehmen.

– Jedenfalls, setzte der ältere Zermatt hinzu, wird es keinem von uns, so schön und reich das Land hier auch sein mag, einfallen, das Gelobte Land aufzugeben.

– Gewiß nicht, bestätigte Frau Zermatt, ein solcher Verzicht würde mir das Herz brechen.

– Ich verstehe Sie, meine liebe Betsie, sagte darauf Frau Wolston, und was mich betrifft, würde ich mich niemals entschließen können, Sie zu verlassen, um hier zu wohnen.

– Nun, nun, mischte sich Wolston selbst ein, davon ist auch gar nicht die Rede, sondern nur von einem Ausfluge, der nach dem Frühstück unternommen werden soll.«

Da alle mit dieser Erklärung übereinstimmten, schlossen sie sich auch den letzten Vorschlage Wolston's bereitwilligst an. Dessen Gattin, seine Tochter und Frau Zermatt hätten freilich lieber von der Theilnahme an dem voraussichtlich anstrengenden Ausfluge abgesehen.

»Ich möchte Euch, sagte da der ältere Zermatt nach einiger Ueberlegung, doch nicht an dieser Stelle, nicht einmal für wenige Stunden allein wissen, und Du, Betsie, erinnerst Dich gewiß, daß ich mich niemals entschlossen habe, aus Felsenheim wegzugehen, ohne es der Obhut eines unserer Söhne anzuvertrauen. Was sollte in unserer Abwesenheit im Falle einer Gefahr aus Euch werden? Nein. ich könnte keinen Augen blick ruhig sein! Es wird sich ja nach Wunsch einrichten lassen, denn warum sollten wir, da der Fluß schiffbar erscheint, ihn nicht alle zusammen hinauf fahren?

– Mit dem Canot? fragte Ernst.

– Nein, mit der Pinasse, die ich auch nicht ohne Wächter hier zurücklassen möchte.

– Ganz richtig, meinte Betsie, und wir sind dann alle drei bereit, Euch zu begleiten.

– Wird denn die »Elisabeth« gegen die Strömung aufkommen können? fragte noch Frau Wolston.

[139] – Wir könnten uns eine uns günstige Strömung zu nutze machen, erklärte der ältere Zermatt, wenn wir den Wiedereintritt der Fluth abwarten. Die Ebbe muß bald eintreten und nach sechs Stunden hätten wir dann den Vortheil...

– Ja, wäre es dann aber nicht schon zu spät, noch aufzubrechen? warf Frau Wolston ein.

– Freilich, schon etwas sehr spät, gab der ältere Zermatt zu. Es erscheint mir deshalb rathsamer, heute hier zu bleiben, die Nacht an Bord zu verbringen und morgen gleich bei Tagesanbruch mit der neuen Fluth abzufahren.

– Und was beginnen wir bis dahin? fragte der thatenlustige Jack.

– Bis dahin, antwortete sein Vater, hätten wir genügend Zeit, die Bucht und ihre nächste Umgebung zu besichtigen. Da es aber schon recht heiß ist, dürfte es sich empfehlen, daß die Damen unsere Rückkehr hier am Platze abwarten.

– Sehr gern, antwortete Frau Wolston, doch unter der Voraussetzung, daß Sie sich nicht zu weit von hier entfernen.

– O, es handelt sich ja nur um einen Spaziergang am linken Ufer, von dem wir nicht abweichen werden,« versprach der ältere Zermatt, der immer darauf hielt, in der Nachbarschaft des Lagerplatzes zu bleiben.

Infolge dieses Beschlusses gewann man also einen Einblick in das tiefliegende Thal, ehe man in dessen Inneres wirklich eindrang.

Die Herren Zermatt und Wolston setzten demnach mit Jack und Ernst über den Fluß und bestiegen am anderen Ufer die mäßigen Anhöhen, die den Wasserlauf im Westen mit dem übrigen Lande verbanden.

Wie es schon von der See aus erkannt worden war, zeigte das gegenüberliegende Gebiet ein sehr fruchtbares Aussehen: Wälder, deren Laubmassen bis über Sehweite hinausreichten, Ebenen mit üppigem Graswuchs, wo Tausende von Wiederkäuern Nahrung gefunden hätten, ein ganzes Netz von Rios, die dem Flusse zuströmten, und endlich, gleich einer Barrière am südwestlichen Horizonte, die Bergkette, die schon früher gesehen worden war.

»Was jenen Höhenzug betrifft, begann der ältere Zermatt, muß ich zugestehen, daß er weniger entfernt ist, als wir geglaubt haben, als wir ihn zum erstenmale von den Höhen neben dem Grünthale erblickten. Damals ließ ihn wohl nur ein Dunstvorhang so bläulich erscheinen, daß ich seine Entfernung auf fünfzehn bis zwanzig Lieues schätzte. Das war eine optische Täuschung. Ernst wird sie wohl zu erklären wissen.

[140] – Gewiß, Vater; an jenem Tage haben wir die Strecke bis dahin für doppelt so groß gehalten, als sie thatsächlich ist. Wenn wir die Entfernung jener Berge auf sieben bis acht Lieues von Grünthal schätzen, dürfte das der Wahrheit sehr nahe kommen.

– Ich theile diese Ansicht, sagte Wolston, nur bleibt die Frage offen, ob es wirklich dieselbe Bergkette ist.

– Es ist dieselbe, versicherte Ernst; ich glaube auch nicht, daß die Neue Schweiz so groß sein könne, noch eine andere von gleicher Ausdehnung aufzuweisen.

– Warum denn nicht? erwiderte Jack. Warum sollte unsere Insel nicht die Ausdehnung Siciliens, Madagascars, Neuseelands oder gar Neuhollands haben?

– Und warum nicht gar die eines wirklichen Festlandes? rief Wolston lachend.

– Sie scheinen damit sagen zu wollen, entgegnete Jack, daß ich die Neigung hätte, alles zu übertreiben...

– Da versuche nur gar nicht, Dich weiß zu brennen, mein Junge, ermahnte ihn der ältere Zermatt. Alles in allem ist es ja doch nur ein Zeugniß für Deine leicht erregbare Phantasie. Es ist aber zu bedenken, daß unsere Insel, wenn sie die von Dir vorausgesetzte und wohl auch gewünschte Größe hätte, schwerlich bis heute der Aufmerksamkeit der Seefahrer entgangen wäre...

– Der der Alten und der Neuen Welt, setzte Ernst hinzu. Ihre Lage in diesem Theile des Indischen Oceans ist eine gar zu vortheilhafte, und wenn sie vorher entdeckt worden wäre, unterläge es auch keinem Zweifel, daß zum Beispiel England...

– Thun Sie sich keinen Zwang an, lieber Ernst, sagte Wolston launigen Tones. Wir anderen Engländer, wir sind Coloniengründer und haben das angeborene Verlangen, alles zu colonisiren, was sich dazu eignet...

– Kurz, setzte der ältere Zermatt hinzu, von dem Tage der Entdeckung unserer Insel an, wäre diese ohne Zweifel auf den Karten der Admiralität eingetragen worden und man hätte sie jedenfalls Neu-England und nicht die Neue Schweiz genannt..

– Jedenfalls, erklärte Wolston, hat sie durch die Verzögerung nichts verloren, da Sie, der erste Besitznehmer, das Land an Großbritannien überlassen haben...

– Und möchte die »Licorne«, setzte Jack hinzu, uns die Annahme dieses Angebotes bringen!«

[141] Der ältere Zermatt hatte jedenfalls recht, die jener nach Südwesten verlaufenden Bergkette zugeschriebene Entfernung zu berichtigen. Von der Mündung des Flusses aus konnte die Strecke bis dahin, allem Anscheine nach eine gleich große wie vom Grünthal aus, sieben bis acht Lieues kaum überschreiten. Dabei fragte es sich nun blos, ob sie sich in der Mitte der Insel oder neben deren südlichen Küste erhöbe.

War das erst klargestellt, so sah sich Ernst auch in der Lage, eine vollständige Karte der Neuen Schweiz zu entwerfen. Dieser so natürliche Wunsch rechtfertigte gewiß den Vorschlag Wolston's, das Land bis zum Fuße jener Berge zu durchstreifen und selbst die Anhöhen zu ersteigen. Dieser Plan konnte freilich nur nach Wiedereintritt der schönen Jahreszeit ausgeführt werden.

Die bisher besuchten Theile der Insel hatte Ernst natürlich schon möglichst genau gemessen und auf einer Karte eingetragen. Das nördliche Ufer hatte danach zwölf Lieues Länge; im östlichen Theile bildete es eine ziemlich regelmäßige Linie vom Cap im Osten bis zum Eingange zur Rettungsbucht; weiterhin dehnte sich die genannte Bucht in Gestalt eines Schlauches aus, mit dem sie die felsige Küste zwischen dem Strande bei Falkenhorst und dem Cap der Getäuschten Hoffnung berührte; von diesem Punkte und nach Westen hin breitete sich die Nautilusbucht aus, die, mit dem Cap Camus endigend, den Ostfluß aufnahm; darauf folgte endlich, einen weiten Bogen beschreibend, die große Perlenbucht zwischen dem sogenannten Bogengewölbe und dem ihm gegenüber aufragenden Vorgebirge, und von diesem, im Südwesten vier Lieues entfernt, der Rauchende Berg. Ueber das auf der einen Seite vom Meere, auf der anderen von der Nautilusbucht begrenzte Gebiet des Gelobten Landes, das auf der Rückseite von einer langen Umwallung vom engen Eingange der Rettungsbucht bis zur Nautilusbucht umschlossen wurde, konnte man also auf anderem Wege als durch den Paß der Cluse nicht hinausdringen. Dieser gegen vier Quadratlieues messende Landstrich umfaßte den Schakalbach, den Rio von Falkenhorst, den Schwanensee, die Wohnstätten Falkenhorst und Felsenheim, die Meiereien von Waldegg und Zuckertop, sowie die Einsiedelei. Eberfurt.

Die Ausflügler folgten immer nur dem Ufer des Wasserlaufes, von dem sich der ältere Zermatt auf keinen Fall entfernen wollte. Ernst kam das übrigens sehr gelegen.

»Nach unserer Rückkehr, sagte er zu seinem Vater, werde ich den Lauf eines Theiles dieses Flusses und somit auch das von ihm bewässerte Thal [142] aufzeichnen können. Bei der überraschenden Fruchtbarkeit dieses uns neuen Landstriches ist es ganz unzweifelhaft, daß unsere Insel hinreichen würde, mehrere tausend Colonisten zu ernähren.

– Oho, gleich so viele! rief Jack, der seine Unzufriedenheit, daß »sein zweites Vaterland« einmal so stark bevölkert sein könnte, gar nicht zu verhehlen sachte.

– Ich möchte auch voraussagen, fuhr Ernst fort, daß zukünftige Colonisten – da eine Stadt großen Vortheil von der Lage an einer Flußmündung hat – sich jedenfalls werden im Hintergrunde dieser Bucht ansiedeln wollen...

– Was wir ihnen auch nicht verwehren würden, fiel der ältere Zermatt ein, denn niemals würde sich einer von uns entschließen, das Gelobte Land zu verlassen.

– Und besonders auch, weil Frau Zermatt dem nicht zustimmen würde, wie sie ja ausdrücklich erklärt hat, bemerkte dazu Wolston.

– Die Mutter hat recht, rief Jack. Und dann fragt nur noch unsere wackeren behaarten und gefiederten Diener, fragt Sturm, Brummer, Rasch und Blaß, fragt Brüll, Pfeil, Flink und Knipp den Zweiten, sowie Leichtfuß, Brausewind, auch Türk, Braun und Falb, die mit hier sind, ob sie wohl auswandern wollten. Man verleihe ihnen nur Stimmrecht, veranstalte eine Abstimmung über diese Frage, und ich weiß, da sie die Majorität bilden, welche Entscheidung aus der Urne hervorgehen würde!

– Na, beruhige Dich nur, Jack, meinte der ältere Zermatt, wir werden nicht in die Lage kommen, unsere Thiere darum befragen zu müssen...

– Thiere, die aber nicht so dumm sind, wie dieser Name glauben lassen könnte!« erwiderte Jack, der durch seine Worte und Bewegungen die beiden jungen Hunde zum lustigen Umherspringen veranlaßte.

Gegen sechs Uhr waren Zermatt und seine Begleiter wieder am Lagerplatze eingetroffen, nachdem sie noch längs der Küste auf deren Strande mit einem Hintergrunde harziger Bäume hingegangen waren. Die Mahlzeit wurde auf dem Grase eingenommen und die Theilnehmer daran labten sich an gebackenen Gründlingen, die sich im süßen Wasser des Flusses an den Angelschnüren gefangen hatten, welche Ernst für Annah zurecht gemacht hatte. Der Fluß schien sehr fischreich zu sein, und in den vielen Rios, die weiter oben in diesen mündeten, wimmelte es von Krebsen, von denen man sich noch einige Dutzend vor der Abfahrt einzufangen versprach.

[143] Nach dem Essen hatte offenbar niemand Eile, an Bord der Pinasse zurückzukehren, und nur wegen Mangels an einem Zelte mußte man dem Wunsche, gleich auf dem Strande zu schlafen, schließlich doch entsagen. Es war aber auch ein herrlicher Abend. Ein leichte, mit den Wohlgerüchen vom Lande, wie mit den Dämpfen aus einer Räucherpfanne, beladene Brise erfrischte die Atmosphäre. Nach einem unter der Glut der Tropensonne verbrachten Tage war es ein Hochgenuß, diese erquickende, belebende Luft mit vollen Zügen einzuathmen.

Alle Anzeichen versprachen die Fortdauer der schönen Witterung. Draußen am Horizonte lagerte eine leichte Dunstwand. Der in den höheren Luftschichten schwebende atmosphärssche Staub milderte das Leuchten der Sterne. Die kleine Gesellschaft lustwandelte hier- und dorthin und plauderte von den Plänen für den nächsten Tag. Gegen zehn Uhr erst begaben sich alle auf die »Elisabeth« zurück und suchten ihre Lagerstätten auf, letzteres nur Ernst nicht, dem die erste Wache zugefallen war.

Eben als alle unter dem Verdecke verschwinden wollten, machte Frau Zermatt noch eine nicht unbeachtet zu lassende Bemerkung.

»Ihr habt doch etwas vergessen, sagte sie.

– Vergessen, Betsie? fragte ihr Gatte.

– Jawohl, nämlich dem Flusse hier einen Namen zu geben.

– Da hast Du recht, stimmte ihr der ältere Zermatt zu, und dieses Versehen würde unseren Ernst bei Aufstellung seines geographischen Namensverzeichnisses nicht wenig in Verlegenheit setzen.

– Ei nun, schlug Ernst vor, da liegt uns ja ein gewisser Name sehr nahe... Nennen wir also den Fluß nach unserer Annah...

– Recht so, Ernst, rief Jack. Das wird Ihnen Vergnügen machen, Annah, nicht wahr?


Die betreffende Stelle war wunderschön. (S. 150.)

– Ganz sicherlich, antwortete das junge Mädchen. Ich möchte aber lieber einen anderen Namen vorschlagen, der dieser Ehre würdiger wäre.

– Nun also, welchen denn? fragte Frau Zermatt.

– Den der Familie unser lieben Jenny!«

Alle stimmten dem gern zu, und von diesem Tage ab gab es auf der Karte der Neuen Schweiz auch den Montrose-Fluß.

[144]
10. Capitel
Zehntes Capitel.
Bootfahrt auf dem Montrose. – Unfruchtbare Gegend. – Die Kiesel der Schlucht. – Die Barre. – Rückfahrt nach dem Ankerplatze der »Elisabeth«. – Flußabwärts. – Eine Dampfwolke im Südosten. – Heimkehr nach Felsenheim.

Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr ragten bei der Ebbe am Rande der Bucht einige Felsblöcke hervor, die am vorigen Abend nicht sichtbar gewesen waren. Es zeigte sich jedoch, daß die Einfahrtswege selbst bei niedrigstem Wasserstande [145] noch auf vierzig bis fünfzig Toisen Breite eine beträchtliche Tiefe hatten. Nach dem Montrose-Fluß konnte man also bei jedem Stande der Gezeiten einfahren.

Reichte der Wasserlauf dann mit einiger Tiefe nur bis etliche Lieues ins Land hinein, so ließ sich voraussehen, daß seine Mündung jedenfalls für die Anlage einer ersten Niederlassung erwählt wurde, die sich in Zukunft vielleicht zu einer wichtigen Seestadt entwickelte. Die Wassertiefe an der Ankerstelle der »Elisabeth« war selbst dicht an dem felsigen Uferrande noch so bedeutend, daß der Kiel des Fahrzeuges noch immer fünf bis sechs Fuß über dem sandigen Grunde lag.

Gegen sieben Uhr schlugen vereinzelte Wellen, die Vorläufer der Fluth, klatschend an die Steinblöcke in der Bucht, und die »Elisabeth« hätte sich sicherlich vor ihrem Anker gedreht, wenn sie nicht durch das Sorrtau am Ufer festgehalten worden wäre.

Herr Wolston und Ernst, die schon beim Morgengrauen mit dem Canot weggefahren waren, um die Lage- und Bodenverhältnisse der Bucht weiter draußen kennen zu lernen, kehrten eben jetzt zurück. Wohlgemuth auf das Verdeck hinaufspringend, fanden sie Zermatt nebst seiner Gattin und Frau Wolston nebst ihrer Tochter hier schon vor. Es fehlte also nur Jack, der in Begleitung der beiden Hunde jagen gegangen war und dessen Verweilen in der näheren Umgebung und dessen Erfolge als Jäger der Knall mehrerer Schüsse verrieth. Auch dieser stellte sich bald wieder ein und brachte in der Jagdtasche zwei Paar Rebhühner und ein halbes Dutzend Wachteln mit.

»Ich habe weder meine Zeit noch mein Pulver verschwendet, sagte er, als er seine Beute an vielfarbigem Federwild auf das Verdeck warf.

– Unsern Glückwunsch, antwortete sein Vater, doch jetzt wollen wir uns auch die eintretende Fluth nicht entgehen lassen. Wirf das Halteseil los und steige mit ein!«

Nach Ausführung dieses Auftrages sprang Jack mit seinen Hunden auf das Deck. Da der Anker aus dem Grunde schon losgerissen war, brauchte er nur noch nach dem Krahnbalken herausgezogen zu werden. Die Pinasse wurde sofort von der Strömung erfaßt und unter dem Druck einer leichten, von der See her wehenden Brise trieb sie nach der Mündung des Montrose-Flusses. Dann glitt sie, den Wind im Rücken und immer die Mitte der Wasserfläche haltend, langsam stromaufwärts.

[146] Die Entfernung von einem Ufer zum anderen betrug nicht weniger als zweihundertundfünfzig bis dreihundert Fuß, und soweit man das Flußbett übersehen konnte, schien sich diese Breite auch nicht zu vermindern.

Zur Rechten setzte sich die Steiluferwand, doch allmählich niedriger werdend, noch weiter fort, während sich der Erdboden mit kaum bemerkbarer Steigung hob. Zur Linken, und weit über das niedrige Ufer hin, schweifte der Blick über weite, von Gehölz und Buschwerk unterbrochene Ebenen hin. Die Baumgipfel zeigten bereits den der vorgeschrittenen Jahreszeit entsprechenden gelbbraunen Schimmer.

Nach halbstündiger, ziemlich schneller Fahrt erreichte die »Elisabeth« die erste Biegung des Montrose, der von hier aus unter dreißiggrädigem Winkel nach Südwesten verlief.

Jenseit dieser Ecke hatten die Ufer nur noch zehn bis zwölf Fuß Höhe, jedenfalls die der allerstärksten Fluth. Das verrieth sich durch die Linie, bis zu der fortgeschwemmte Pflanzentheile an dem gleich Bajonetten spitzigen Schilfe und Rohr hängen geblieben waren. Heute, am 19. März, erreichte aber die Aequinoctial-Springfluth ihre größte Höhe, und so konnte man aus jenen Pflanzenresten schließen, daß das Flußbett genügen mußte, sie aufzunehmen und daß das benachbarte Land von keiner Ueberfluthung bedroht wurde.

Die Pinasse glitt mit der Geschwindigkeit von drei bis vier Lieues in der Stunde dahin, so daß sie in der noch übrigen Fluthzeit noch sieben bis acht Lieues hätte zurücklegen können.

Ernst, der diese Geschwindigkeit geniessen hatte, knüpfte daran folgende Bemerkung:

»Das wäre ungefähr die Entfernung, in der sich unserer Schätzung nach die Berge im Süden erheben sollen.

– Ganz richtig, stimmte ihm Wolston zu, und wenn der Fluß bis an den Fuß der Bergkette reicht, hätte es ja keine Schwierigkeit, dahin zu gelangen. In diesem Falle brauchten wir unseren geplanten Ausflug nicht um drei bis vier Monate aufzuschieben...

– Er würde aber noch immer mehr Zeit beanspruchen, als wir heute zur Verfügung haben, meinte der ältere Zermatt. Selbst angenommen, daß der Montrose uns bis zum Fuße der Kette führte, hätten wir ja unseren Hauptzweck noch nicht erreicht, denn wir müßten ja noch deren Kamm ersteigen, was jedenfalls längere Anstrengung erfordern dürfte.

[147] – Und außer der Frage, setzte Ernst hinzu, ob der Fluß auch weiterhin die Richtung nach Südwesten beibehält, müßten wir auch noch wissen, ob er nicht irgendwo durch Stromschnellen oder andere unüberwindliche Hindernisse gesperrt ist.

– Das wird sich ja zeigen, antwortete sein Vater. Vorläufig wollen wir fahren, so weit die Fluth uns treibt; nach wenigen Stunden werden wir uns ja über alles weitere schlüssig machen können.«

Jenseit der Biegung ließen die weniger hohen Ufer eine ziemlich große Strecke der vom Montrose durchflossenen Gegend überblicken. Diese erwies sich ebenso verlassen, wie, bis auf die vorhandene Thierwelt, das übrige Land. Auch hier bewegte sich durch das Gras und durch das Schilf am Ufer Wild aller Art, wie Trappen, Auerhähne, Rebhühner und Wachteln, umher. Hätte Jack seine beiden Hunde längs der Ufer und in deren nächsten Umgebung reviren lassen, so würden sie keine hundert Schritte gemacht haben, ohne Kaninchen, Hafen, Wasserschweine und Agutis aufzujagen. In dieser Beziehung wog das Land hier die Umgebung von Falkenhorst und die der Meiereien reichlich auf, selbst das Affenvolk inbegriffen, das von Baum zu Baum hüpfte. In einiger Entfernung kamen auch mehrere Trupps Antilopen von derselben Art vorüber, wie sie schon auf der Haifischinsel eingepfercht waren. Ebenso zeigten sich, etwa eine Lieue weit nach der Bergkette zu, kleinere Herden von Büffeln, und endlich konnte man noch weiter draußen mehrfach Strauße, halb fliegend und halb laufend, vorübereilen sehen. Heute hielten sie Zermatt und seine zwei Söhne aber nicht für Araber, wie die ersten, die ihnen von der Höhe der Einsiedelei Eberfurt aus zu Gesicht gekommen waren.

Wie man es sich leicht denken kann, wurmte es Jack nicht wenig, auf das Deck der »Elisabeth« gebannt zu sein und dem Vorbeiziehen jener Vierfüßler und Vögel zusehen zu müssen, ohne sie mit einem Flintenschuß zu begrüßen. Was hätte jetzt freilich, wo man keines Proviants bedurfte, die Erlegung von Wild nützen können?

»Heute sind wir keine Jäger, hatte sein Vater ihm wiederholt zugerufen, sondern Forschungsreisende, vor allem Geographen und Hydrographen, mit der Aufgabe, diesen Theil der Neuen Schweiz näher kennen zu lernen.«

Der junge Nimrod wollte von dieser Beschränkung aber nichts wissen, sondern nahm sich vor, beim nächsten Halt der Pinasse die Umgebung mit seinen Hunden zu durchstreifen. Er wollte Geographie auf seine Weise treiben, wollte Rebhühner und Hafen aufnehmen, statt die geographische Länge und Breite gewisser Punkte [148] aufzunehmen. Letzteres war die Sache des gelehrten Ernst, den es gewiß danach verlangte, die neuen Gebietstheile im Süden des Gelobten Landes auf seiner Karte einzuzeichnen.

Von eigentlichen Raubthieren, die, wie wir wissen, in den Wäldern und auf den Ebenen am Ende der Perlenbucht und in der Nachbarschaft des Grünthales vorkamen, zeigte sich während der Fahrt an den Ufern des Montrose gar nichts. Von Löwen, Tigern, Panthern und Leoparden war hier keine Rede, dagegen hörte man wiederholt das heisere Bellen von Schakalen, der zwischen Wolf und Fuchs stehenden Abart von den Hunden, die unter der Thierwelt der Insel also wohl die Mehrzahl bildeten.

Vergessen wir hier jedoch nicht, das Vorkommen zahlreicher Wasservögel zu erwähnen, wie das von Pfeilschwänzen, gewöhnlichen Enten, Krickenten und Schnepfen, die von einem Ufer zum andern flatterten oder sich im Schilf am Rande versteckten. Solche Gelegenheiten, seiner Neigung zu fröhnen und seine Geschicklichkeit zu beweisen, konnte Jack um keinen Preis vorübergehen lassen. Er that also auch einige glückliche Schüsse, und keiner machte ihm darüber Vorwürfe, höchstens Annah, die immer um Gnade für die harmlosen Thiere bat.

»Meinetwegen harmlos, doch auch vortrefflich, wenn sie richtig gebraten sind,« gab Jack leichthin zur Antwort.

Thatsächlich konnte man sich nur beglückwünschen, die Speisekarte für das Frühstück oder das Mittagsessen um einige Pfeilschwänze und Wildenten, die Falb aus dem Wasser apportirt hatte, vervollständigt zu sehen.

Etwas nach elf Uhr erreichte die »Elisabeth« eine zweite Biegung des Flusses, der sich wieder, wie Ernst feststellte, mehr nach Westen wendete. Aus seiner Hauptrichtung ließ sich also mit hoher Wahrscheinlichkeit schließen, daß er von der jetzt noch sechs bis sieben Lieues entfernten Bergkette herabströme, von der er offenbar reichlich gespeist wurde.

»Es ist recht schade, klagte Ernst, daß die Fluth nun bald vorüber ist und wir nicht noch weiter vorwärts dringen können.

– Freilich schade, stimmte der ältere Zermatt ein, doch der Wechsel der Gezeiten ist nun einmal da und die Ebbe wird sich bald fühlbar machen. Da wir jetzt bereits den höchsten Wasserstand haben, wird die Fluthwelle auch kaum jemals über diese Biegung des Montrose hinausreichen.

– Das liegt klar auf der Hand, bestätigte Wolston. Wir hätten uns also nur zu entscheiden, ob wir an dieser Stelle liegen bleiben oder die Ebbe benützen [149] wollen, um nach der Bucht zurückzukehren, wo wir dann schon nach zwei Stunden eintreffen könnten.«

Die betreffende Stelle war wunderschön, und wohl jeder wünschte nichts mehr, als den ganzen Tag über hier zu verweilen. Das linke Ufer bildete einen Einschnitt, in den sich ein kleiner, klarer und frischer Nebenfluß ergoß. Darüber neigten sich große Bäume mit laubreichen Kronen, aus denen man das Zwitschern und den Flügelschlag von Vögeln hörte. Es war eine Gruppe mächtiger indischer Feigenbäume, die fast den Magnolien von Falkenhorst glichen. Dicht dahinter erhoben sich stämmige Eichen mit breiten, stark belaubten Aesten, die keinen Sonnenstrahl hindurchließen. Und ganz im Hintergrunde standen Goyaven und Lichterbäume längs des Rios, über den eine frische, die unteren Zweige gleich Fächern bewegende Brise herwehte.

»Wahrhaftig, sagte Frau Zermatt, das ist hier ein herrlicher Platz, wie geschaffen, darauf ein Häuschen zu bauen. Schade darum, daß er so weit von Felsenheim ab liegt!

– Jawohl, allzuweit, meine Liebe, antwortete ihr Gatte; deshalb wird aber dieser Platz, das glaube mir getrost, nicht unbenützt bleiben; man braucht ja doch nicht alles selbst zu machen. Willst Du denn unseren zukünftigen Colonisten gar nichts überlassen?

– Sie können überzeugt sein, Betsie, versicherte Frau Wolston, daß gerade dieser vom Montrose bewässerte Theil der Insel von den neuen Ansiedlern sehr gesucht sein wird.

– Inzwischen, meinte Jack, schlag' ich vor, bis zum Abend oder noch lieber bis morgen früh ruhig hier zu bleiben.

– Darüber muß bald eine Entscheidung getroffen werden, erklärte der ältere Zermatt. Vergessen wir nicht, daß uns die Ebbe binnen zwei Stunden nach der Bucht hinunterführen kann und wir morgen Abend in Felsenheim zurück sein können.

– Was denken Sie darüber, Annah? fragte Ernst.

– Ich füge mich der Entscheidung Ihres Vaters, antwortete das junge Mädchen, doch ich gestehe gern, daß die Stelle hier sehr hübsch ist und wohl für einen Nachmittag zum Verweilen einladet.

– Und außerdem, antwortete Ernst, wäre ich nicht böse, noch einige Aufnahmen machen zu können...

– Wir aber möchten nun etwas Nahrung einnehmen, rief Jack. Kommt, ich bitte Euch alle, kommt, wir wollen endlich frühstücken!«

[150] Unter allgemeiner Zustimmung wurde also beschlossen, den Nachmittag und den Abend an der Biegung des Montrose-Flusses zu bleiben. Mit der nächsten Ebbe, gegen vier Uhr des Morgens – die Nacht wurde gerade durch den Vollmond erhellt – sollte die Pinasse dann ohne jede Gefahr mit der Strömung hinabgleiten, von der Bucht aus aber, je nach dem Zustande des Meeres und der Richtung des Windes, entweder in der »Licorne«-Bai noch einmal vor Anker gehen oder das Cap im Osten umschiffen, um nach Felsenheim zu gelangen.

Die Pinasse, die mit dem Vordertheile am Fuße eines Baumes angeseilt war, drehte sich jetzt mit dem Hintertheile stromabwärts, ein Beweis, daß die Ebbe bereits eingesetzt hatte.

Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah ließen sich leicht bestimmen, nach dem Frühstück an Ort und Stelle zurückzubleiben, während die Männer noch kürzere Ausflüge in die Umgebung unternehmen wollten, da es diesen doch wünschenswerth erschien, die Gegend hier etwas genauer kennen zu lernen. Der ältere Zermatt und Jack sollten dabei, gleichzeitig um zu jagen, einerseits längs des Nebenflusses dahin wandern, doch ohne sich von dessen Mündung zu weit zu entfernen, und anderseits sollten Wolston und Ernst mit dem Canot den Fluß noch, so weit es ausführbar wäre, doch nur so weit hinausfahren, daß sie zur Hauptmahlzeit zurück sein könnten.

Darin, daß Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah allein zurückbleiben sollten, sah man für diese keine Gefahr, auch erhoben die Frauen dagegen keinerlei Widerspruch. Im schlimmsten Falle waren sie ja jeden Augenblick im stande, die beiden Jäger zurückzurufen, indem sie eine der beiden blind geladenen Signalkanonen der Pinasse abfeuerten. Auf Jacks Frage an das junge Mädchen, ob sie sich auch nicht fürchtete, das kleine Stück abzuschießen, versicherte diese, daß' sie vor keinem Kanonendonner erschrecke und Feuer geben werde, sobald Betsie es wünschte.

Uebrigens sollten der ältere Zermatt und sein Sohn gar nicht dazu kommen, sich von der Biegung des Flusses einigermaßen weiter zu entfernen. Unter dem wildreichen Gehölze konnte es ihnen an Gelegenheit, ihr Pulver und Blei zu verwenden, nicht fehlen, und dann mußten die Flintenschüsse an der Lagerstelle noch vernehmbar sein.

Das von Wolston und Ernst geruderte Canot fuhr in der entgegengesetzten Richtung, den Fluß hinauf, ab, während der ältere Zermatt und Jack dem Ufer [151] des vielfach gewundenen, von Norden kommenden Rios folgten. Jenseit der Biegung wendete sich der Montrose nach Südwesten. Das Boot fuhr zwischen den mit buschigem Hochwalde besetzten und fast unzugänglichen Ufern weiter. Wirr verwachsenes Gebüsch und dichtes Schilf bedeckten den aufsteigenden Rand. Es wäre kaum möglich gewesen, daran zu landen, doch das war ja auch nicht nothwendig, handelte es sich ja vor allem nur darum, die allgemeine Richtung des Wasserlaufes dadurch festzustellen, daß man diesen so weit wie möglich hinausfuhr. Bald wurde das Gesichtsfeld übrigens größer. In der Entfernung von einer halben Lieue warfen die in weniger dichtem Gehölze stehenden einzelnen Bäume einen Schatten, der infolge der fast senkrecht einfallenden Sonnenstrahlen nur einen Kreis an ihrem Fuße bildete. Weiterhin folgten einander ausgedehnte, hier und da von felsigen Anhöhen unterbrochene Ebenen, die bis zum Fuße der Bergkette zu reichen schienen.

Die so zu sagen von Licht gesättigte Oberfläche des Montrose-Flusses glänzte gleich einem Spiegel, so daß man das Schutzdach der ihn stromabwärts einfassenden Bäume recht schmerzlich vermißte. Außerdem wurde die Handhabung der Ruder in der fast glühenden Atmosphäre sehr beschwerlich. Zum Glücke war die Kraft der Strömung trotz der eingetretenen Ebbe nicht verstärkt, da die Gezeiten nur bis an die Flußbiegung heraufreichten. So hatte man also nur die gewöhnliche Stromgeschwindigkeit des in dieser Jahreszeit obendrein sehr niedrigen Wassers zu überwinden. Nach einigen Wochen mußte das schon anders ein: dann wälzten sich, nach Eintritt der Regenzeit, die Niederschläge von den Bergen durch ihren natürlichen Ablaufcanal, durch das Bett des Montrose-Flusses hin..

Trotz der Hitze arbeiteten sich Wolston und Ernst aber unverdrossen vorwärts. Zwischen den vielfach gewundenen Ufern fanden sich nahe den Stellen wo das Land etwas weiter vorsprang, sprudelnde Wasserwirbel, die sie bestens ausnützten, um ihre Kräfte zu schonen.

»Es scheint mir nicht unmöglich, sagte Wolston, daß wir den Fuß der Berge, aus denen der Montrose jedenfalls hervorbricht, zu Wasser erreichen könnten.

– Sie sind noch immer dieser Meinung, Herr Wolston? antwortete Ernst die Achseln zuckend.

– Noch immer, lieber Freund, und es ist zu wünschen, daß ich mich darin nicht täusche. Sie kennen Ihre Insel thatsächlich nicht eher, als Sie deren [152] [155]ganze Ausdehnung vom Gipfel jener. offenbar nicht sehr hohen Berge aus noch nicht überschaut haben.

– Nun, deren Höhe schätze ich auf zwölf- bis fünfzehnhundert Fuß, Herr Wolston, und darin stimme ich allerdings mit Ihnen überein, daß man von ihrem Gipfel aus den Gesammtumfang der Neuen Schweiz werde übersehen können, wenigstens wenn diese nicht weit größer ist, als wir es annehmen. Was jenseits jener Bergkette liegen mag? – Ja, das wissen wir nicht, weil wir uns seit vollen zwölf Jahren im Gelobten Lande niemals beengt gefühlt haben.

– Das begreif' ich vollkommen, lieber Ernst, antwortete Wolston; jetzt aber haben wir ein dringliches Interesse daran, uns klar zu werden über die Ausdehnung einer Insel, die doch spätere Ansiedler aufnehmen soll...

– Das wird geschehen, Herr Wolston, sobald die schöne Jahreszeit wieder eintritt, und jedenfalls, verlassen Sie sich darauf, noch vor der Rückkehr der »Licorne«.


Wolston warf den kleinen Anker ans Land. (S. 157.)

Für heute erscheint es mir rathsamer, uns auf diese mehrstündige Fahrt zu beschränken, die uns ja über die Hauptrichtung des Stromlaufes aufgeklärt hat.

– Und doch, Ernst, würde es uns bei noch einiger Ausdauer wohl möglich sein, nicht nur bis zur Bergkette vorzudringen, sondern sie auch noch zu ersteigen...

– Vorausgesetzt, daß sie nicht gar zu steil abfällt...

– O, mit einem Paar tüchtiger Beine...

– Sie hätten entschieden besser gethan, Jack an meiner Stelle mitzunehmen, sagte Ernst lächelnd. Er hätte Ihnen nicht widersprochen, ja Sie vielmehr selbst noch gedrängt, bis nach den Bergen hinauszuziehen, unbekümmert, ob er morgen oder übermorgen von da zurückkehrte, und unbekümmert durch die Unruhe, in die er durch eine solche Verzögerung alle anderen versetzte.

– Nun ja, Sie haben im Grunde recht, liebes Kind, erwiderte Wolston. Unser einmal gegebenes Versprechen müssen wir wohl halten. Nur noch eine Stunde lang weiter, dann mag unser Canot mit der Strömung wieder hinabgleiten. Immerhin werd' ich mich nicht eher beruhigen, als bis wir die Flagge Alt-Englands auf der höchsten Spitze der Neuen Schweiz aufgepflanzt haben!«

Der mit diesen Worten ausgedrückte Wunsch des Herrn Wolston kann wohl niemand überraschen. Er sprach als guter Engländer, und das gerade zu einer Zeit, wo Großbritannien seine Flotten nach allen Meeren hinaussendete, [155] um den Colonialbesitz des Reiches zu vergrößern. Er begriff aber auch, daß es empfehlenswerther sei, die eigentliche Besitzergreifung der Insel noch zu verschieben, und so bestand er nicht länger auf dem geäußerten Wunsche.

Die Fahrt ging also weiter. Immer das weitoffene, baumlose Land, das auch minder fruchtbar wurde, je weiter es sich nach Südwesten zu ausdehnte. Auf Wiesengründe folgten allmählich öde und dürre, mit Gestein übersäte Flächen. Nur vereinzelt schwebten Vögel über dem nackten Erdboden. Von den am Vormittage bemerkten Thieren, von Büffeln, Antilopen und Straußen, war nichts mehr zu entdecken. Hier gab es nur noch Rudel von Schakalen, die man zwar auch nicht sah, deren Geheul aber die Luft erfüllte, ohne ein Echo zu wecken.

»Jack ist gut berathen gewesen, uns nach dieser Seite nicht zu begleiten, bemerkte Ernst.

– Ja freilich, stimmte Wolston ein, mindestens hätte er keine Gelegenheit gehabt, einen Schuß abzugeben. Da wird er im Hochwalde, den jener Nebenfluß des Montrose durchzieht, jedenfalls besser daran gewesen sein.

– Und wir, Herr Wolston, sagte Ernst, bringen als Ergebniß unseres Ausfluges die Erkenntniß mit, daß dieser Theil der Insel dem ähnelt, der sich landeinwärts von der »Licorne«-Bai findet. Nun kann zwar niemand wissen, wie es jenseit der Bergkette aussieht, es läßt sich allem Anscheine nach aber annehmen, daß unsere Insel nur im Norden und in der Mitte, von der Perlenbucht bis zum Grünthale, wirklich fruchtbar ist.

– Jawohl; und wenn wir seiner Zeit unseren großen Ausflug unternehmen, antwortete Wolston, wird es, meine ich, das beste sein, unmittelbar nach dem Süden zu marschiren, und nicht erst den Umrissen der westlichen oder östlichen Küste nachzugehen.

– Das denk' ich auch, Herr Wolston; am meisten empfiehlt es sich offenbar, durch die Schlucht der Cluse ins Innere vorzudringen.«

Es war jetzt gegen vier Uhr. Das Canot befand sich gut zweieinhalb Lieues vom Lagerplatze entfernt, als sich stromaufwärts ein starkes Rauschen des Wassers bemerkbar machte. Rührte das von einem Bergbache her, der sich in das Bett des Montrose stürzte? War es die Folge einer Stromschnelle im Flusse selbst? Machte diesen etwa eine Felsenbarre in seinem Oberlaufe unschiffbar?...

Wolston und Ernst, die sich gerade in einem Wirbel hinter einer Landspitze befanden, waren eben im Begriff gewesen, umzukehren. Das etwas ansteigende Ufer verhinderte einen weiteren Ausblick.

[156] »Noch ein paar Ruderschläge, sagte deshalb Wolston, wir wollen nur über diese Spitze hinausfahren.

– Gewiß, stimmte Ernst ein; es ist wohl zu befürchten, daß auf dem Montrose kein Boot bis zum Fuße der Berge gelangen könne.«

Beide griffen also wieder nach den Rudern und setzten die letzten Kräfte ein, die ihnen nach vierstündiger Fahrt unter einem glühenden Himmel noch zu Gebote standen.

Der Fluß wendete sich weiter nach Südwesten und das mußte wohl seine Hauptrichtung sein. Nur wenige hundert Fuß weiter oben ließ sich sein Verlauf auf eine längere Strecke hin überblicken. Gesperrt durch eine Anhäufung von Felsblöcken, die von einem Ufer zum anderen reichte und nur schmale Spalten aufwies, stürzte das Wasser des Flusses hier in geräuschvollem, bis zwanzig Toisen stromabwärts hörbarem Falle herab.

»Da wären wir also doch aufgehalten worden, sagte Ernst, wenn wir die Absicht gehabt hätten, noch weiter zu fahren.

– Vielleicht, antwortete Wolston, wäre es aber möglich gewesen, unser Canot über diese Barre hinauf zu schaffen...

– Wenn es nichts weiter als eine Barre ist, Herr Wolston.

– Das wird sich ja zeigen, lieber Ernst, denn wir müssen darüber klar zu werden suchen. Wir wollen hier aussteigen.«

Zur Linken öffnete sich eine enge Schlucht, die, zur Zeit völlig trocken liegend, in Windungen nach dem Plateau hinaufführte. Nach einigen Wochen, wenn die Regenzeit eingesetzt hatte, diente sie gewiß als Bett einem Bergstrome, der seine schäumenden Fluthen mit denen des Montrose mischte.

Wolston warf den kleinen Anker ans Land. Dann betraten Ernst und er das Uferland, das sie in schräger Richtung nach der Barre zu hinaufstiegen.

Dieser Weg, der eine Viertelstunde erforderte, führte über Steingeröll, das durch Büschel groben Grases kaum im Sande festgehalten wurde.

Zerstreut lagen auch bräunlich gefärbte Kiesel mit stark abgerundeten Ecken umher, die etwa nußgroßen Rollsteinen des Meeresstrandes ähnelten.

Als Wolston und Ernst auf die Höhe der Barre gekommen waren, überzeugten sie sich, daß der Montrose auf eine gute halbe Liene hin nicht schiffbar war. Ueberall starrten Felsstücke aus seinem Bette empor und dazwischen brodelte das Wasser hindurch. Die Beförderung eines Bootes über Land bis ans Ende dieser Stromsperre mußte jedenfalls viele Mühe machen.

[157] Das Land erschien bis zum Fuße des Bergrückens hin völlig unfruchtbar. Um ein wenig Grün zu sehen, mußte man den Blick mehr von Nordwesten nach Norden, genau dahin, wo Grünthal lag, richten, dessen ferne Höhen auch an der Grenze des Gelobten Landes gerade noch sichtbar waren.

Voll Bedauerns, daß der Montrose in diesem Theile seines Laufes gesperrt war, blieb Wolston und Ernst nun nichts anderes übrig, als den Rückweg einzuschlagen.

Längs der Windungen der Schlucht hingehend, hob Ernst zwei oder drei jener bräunlichen Kiesel auf, die schwerer waren, als man ihrer Größe nach erwartet hätte. Zwei von den kleinen Steinen steckte er auch ein, um sie nach der Heimkehr nach Felsenheim genauer zu untersuchen.

Wolston selbst wandte dem Horizonte im Südwesten noch nicht gern den Rücken zu. Da die Sonne aber bereits herabsank, empfahl es sich, bei der ziemlich großen Entfernung vom Lagerplatze nicht länger zu zögern. Das Canot wurde also wieder bestiegen und glitt bald, von der Strömung und den Rudern getrieben, zwischen den beiden Ufern schnell hinunter.

Um sechs Uhr war die ganze Gesellschaft unter dem Schatten der grünen Eichengruppe wieder beisammen. Die von ihrem Zuge sehr befriedigten Jäger, der ältere Zermatt und Jack, hatten eine Antilope, mehrere Kaninchen, ein Aguti und verschiedene Wasservögel mitgebracht.

Der kleine Nebenfluß des Montrose bewässerte übrigens ein recht fruchtbares Stück Land, wo er zum Theile durch anbaufähige Ebenen verlief und zum Theile dichte Waldungen mit sehr verschiedenen Baumarten durchströmte. Hier war auch eine sehr wildreiche Gegend, in der heute wohl zum erstenmale der Knall eines Gewehres verhallt war.

Nach dem Berichte Zermatt's kam der Wolston's an die Reihe. Der letztere erzählte bis zur Zeit des Essens von der über zwei Lieues stromaufwärts fortgesetzten Bootsfahrt und schilderte dabei die Unfruchtbarkeit des nach Süden gelegenen Inseltheiles. Er gab ferner der Enttäuschung Ausdruck, die die unübersteigliche Sperre des Flußlaufes Ernst und ihm bereitet habe, und setzte auch hinzu, daß man, um zu der Bergkette im Südwesten zu gelangen, unbedingt einen anderen Weg als den auf dem Montrose wählen müsse.

Eine vortreffliche, von Betsie, Merry und Annah bereitete Mahlzeit wartete dann der Ausflügler. Sie wurde unter dem Schatten der Bäume am Fuße des Rio aufgetragen, dessen klares Wasser murmelnd über einem feinsandigen, [158] mit Pflanzenwuchs überstreuten Grunde dahinfloß. Der Mahlzeit wurde alle Ehre angethan, und sie dehnte sich bei anregender Unterhaltung bis gegen neun Uhr des Abends aus.

Hierauf sachte jeder seine Lagerstätte an Bord der »Elisabeth« auf, und von hier aus erschallte bald ein Concert lauten Schnarchens, das fast hätte mit dem Heulen der Schakale wetteifern können.

Schon vorher war bestimmt worden, daß die Pinasse sofort mit dem Eintritte der nächsten Ebbe, d. h. um ein Uhr nach Mitternacht, abfahren sollte, um die ganze Dauer des sinkenden Wassers ausnützen zu können. Zum Schlafen blieb also nur wenig Zeit übrig; die Passagiere sollten das aber in der folgenden Nacht nachholen, und zwar entweder bei einer Rast in der »Licorne«-Bai, oder gar schon in Felsenheim, wenn die »Elisabeth« binnen vierundzwanzig Stunden da eintraf.

Trotz der Bitten Wolston's und seiner Söhne beharrte der ältere Zermatt dabei, auf dem Verdeck zu bleiben und bis zur genannten Stunde zu wachen. Eine gewisse Vorsicht durfte ja niemals außer acht gelassen werden. Während der Nacht verlassen die Raubthiere, die sich tagsüber nicht gezeigt haben, gern ihre Schlupfwinkel, da sie der Durst nach den Wasserläufen hintreibt.

Um ein Uhr weckte der ältere Zermatt Herrn Wolston, Jack und Ernst. Eben begann das erste Plätschern der eintretenden Ebbe. Vom Lande her wehte ein leichter Wind. Die Segel wurden gehißt, in den Wind gerichtet und fest. gebunden, und von diesen und der Strömung getrieben, stieß die Pinasse vom Ufer-

Die sehr klare Nacht glänzte von dem Heere flimmernder Sterne, die wie ein Flockenhausen am Himmel zu schweben schienen. Nach Norden zu sank der noch ziemlich volle Mond langsam nach dem Horizonte hinunter.

Da der Lauf des Montrose keinerlei Hinderniß bot, brauchte man sich nur in seiner Mitte zu halten, um auf die Bucht selbst hinaus zu kommen. Nach der Einholung der Haltetaue und der richtigen Einstellung der Segel mußten schon zwei Mann zur Führung des Fahrzeuges genügen. Wolston übernahm jetzt das Steuer und Jack stellte sich am Vordertheile auf. Der ältere Zermatt und Ernst konnten also hinunter gehen, der erste, um der Ruhe zu pflegen, der zweite, um das noch einmal zu thun.

Auch das sollte indeß nicht lange dauern. Schon um vier Uhr des Morgens, als das erste Roth im Osten aufflammte, hatte die »Elisabeth« die Mündung des Montrose-Flusses und damit wieder ihren ersten Ankerplatz erreicht.

[159] Nichts hatte die nächtliche Fahrt gestört, obwohl unterwegs das Grunzen von Flußpferden vernehmbar gewesen war. Wir wissen schon aus dem Berichte Fritzens über seine Fahrt auf dem Ostflusse, daß darin das Vorkommen dieser riesigen, halb amphibischen Dickhäuter in den Wasserläufen der Insel erwähnt worden war.

Da das Wetter prächtig und die See ruhig war, beschloß man, den jetzt weiter draußen aufgesprungenen Wind sich bestens zu nutze zu machen. Der ältere Zermatt erkannte zu seiner großen Befriedigung, daß es möglich sein werde, binnen fünfzehn Stunden, also noch vor Anbruch der Nacht, in Felsenheim zu sein.

Um den kürzesten Weg einzuschlagen und unmittelbar auf das Cap im Osten zuzusteuern, entfernte sich die »Elisabeth« eine gute halbe Lieue vom Lande. Die Passagiere genossen dann einen weiteren Ueberblick über die sich nach Süden hin drei bis vier Lieues ausdehnende Küste.

Der ältere Zermatt hatte die Schoten etwas anziehen lassen, um dichter am Winde zu segeln, und die Pinasse trieb nun, mit Steuerbordhalsen, dem Cap im Osten zu.

Gleichzeitig brachte Wolston, der auf dem Vordertheile stand, sein Fernrohr vor die Augen. Erst wischte er noch einmal das Objectivglas ab und schien dann sehr aufmerksam einen bestimmten Punkt des Uferlandes zu betrachten.

Wiederholt senkte er das Fernglas und erhob es immer wieder. Alle waren verwundert über die Spannung, mit der er den Horizont im Südosten überblickte.,

Zermatt übergab das Steuer an Jack und ging selbst nach dem Vordertheile der Pinasse, um Wolston nach der Ursache dieses etwas auffälligen Verhaltens zu fragen.

»Nein, sagte da von Wolston, ich habe mich doch getäuscht...

– Getäuscht? Worin denn, lieber Wolston, erkundigte sich Zermatt, und was haben Sie denn in jener Richtung zu sehen geglaubt?

– Einen Rauch...

– Einen Rauch?« wiederholte Ernst, durch diese Antwort betroffen.

Ein solcher Rauch hätte natürlich nur von einem am Ufer aufgeschlagenen Lager herrühren können. Das ergab dann aber die beunruhigende Schlußfolgerung, daß die Insel von Eingeborenen bewohnt war, oder daß Wilde auf ihren Piroguen von der australischen Küste herübergekommen und ans Land gegangen waren, um vielleicht ins Innere der Insel vorzudringen. Welchen Gefahren waren [160] aber die Insassen von Felsenheim ausgesetzt, wenn solche Urbewohner je den Fuß auf das Gebiet des Gelobten Landes setzten!

»Wo meinten Sie den verdächtigen Rauch bemerkt zu haben? fragte der ältere Zermatt lebhaft.

– Dort, bei der letzten Spitze, die vom Ufer auf dieser Seite hinausragt.«

Wolston wies dabei nach dem äußersten, gegen drei Lieues entfernten Punkt des Landes hin, das von der bezeichneten Spitze ab nach Südwesten umbog.

[161] Der ältere Zermatt und Ernst nahmen einer nach dem anderen das Fernrohr und blickten aufmerksam nach der angegebenen Stelle hinaus.


Die Zubereitung der Speisen und das Einmachen von Conserven. (S. 168.)

»Ich sehe nichts, erklärte der ältere Zermatt.

– Ich auch nicht,« setzte Ernst hinzu.

Wolston beobachtete selbst noch einige Augenblicke mit gespanntester Aufmerksamkeit.

»Nein, ich kann von einem Rauche nichts erkennen, sagte er. Es wird nur ein leichter grauer Dunst gewesen sein, eine kleine, in Auflösung begriffene Wolke.«

Diese Antwort lautete ja recht günstig. Immerhin behielt der ältere Zermatt den betreffenden Punkt, so lange er überhaupt sichtbar blieb, im Auge, sah aber nichts, was ihn hätte beunruhigen können.

Unter vollen Segeln glitt die »Elisabeth« schnell über das Meer, dessen leichter Wellengang sie nicht zu behindern vermochte. Schon um ein Uhr zu Mittag schwankte sie vor der »Licorne«-Bai, die eine Lieue von Backbord liegen blieb; dann folgte sie der Küstenlinie und steuerte geraden Weges auf das Cap im Osten zu.

Dieses Cap wurde gegen vier Uhr umschifft, und da die wieder steigende Fluth nach dem Westen der Rettungsbucht lief, genügte eine Stunde, die Strecke bis zu dieser zurückzulegen. Nachdem sie an der Haifischinsel vorübergekommen war, steuerte die »Elisabeth« auf den Schakalbach zu, und fünfunddreißig Minuten später landeten ihre Passagiere am Ufer in der Nähe von Felsenheim.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Vor der Regenzeit. – Besuch der Meiereien und der Eilande. – Die ersten Stürme. – Die Abende in Felsenheim. – Die Kapelle. – Ernsts Entdeckung und wie diese aufgenommen wird. – Fortdauer des schlechten Wetters. – Zwei Kanonenschüsse. – Auf der Haifischinsel.

Vierundeinenhalben Tag oder hundertacht Stunden hatte die Abwesenheit der Bewohner von Felsenheim gedauert. Sie hätte sich noch weit länger ausdehnen dürfen, ohne daß die Hausthiere deshalb zu leiden gehabt hätten, denn [162] ihre Ställe waren mit Futtervorräthen für einen langen Zeitraum versorgt worden. Gelegentlich dieses Ausfluges hätte Wolston Zeit genug gehabt. seine Besichtigung der Insel bis zum Fuße der Bergkette fortzusetzen. von der er bei der Barre. im Flusse ja nicht mehr weit entfernt gewesen war. Höchstwahrscheinlich hätte er dem älteren Zermatt auch vorgeschlagen, noch drei bis vier Tage am Ankerplatze im Montrose-Flusse zu verweilen, wenn das Canot nicht auf das Hinderniß gestoßen wäre. das jede weitere Fahrt stromaufwärts unmöglich machte.

Der Ausflug war immerhin nicht ergebnißlos gewesen. Man hatte dabei die östliche Küste vom Cap im Osten an gegen zehn Lieues weit kennen gelernt. Nimmt man hierzu die gleichlange Strecke im Norden bis zur Perlenbucht hin, so war das alles, was man von dem Küstengebiete der Insel kannte. Was ihren Umfang im Westen und im Süden anging, welches Aussehen sie ebenda hatte, ob sie weitere öde oder fruchtbare Gegenden enthielt, darüber konnten die beiden Familien erst Aufklärung erhalten, wenn sie die ganze Insel umschiffen, wenigstens wenn nicht eine Besteigung der Berge einen Ueberblick über die gesammte Neue Schweiz vermittelte.

Freilich lag die Wahrscheinlichkeit vor, daß die »Licorne«, als sie wieder in See stach, schon deren Größenverhältnisse und deren Gestalt aufgenommen hätte. Führte der von Wolston vorgeschlagene Zug also zu keinem vollständigen Erfolge, so blieb nichts übrig, als die Rückkehr der Corvette abzuwarten, um von ihr in dieser Hinsicht Aufklärung zu erhalten.

Vorläufig sollten, sechs bis sieben Wochen lang, die Heu- und Kornernte, die Weinlese und die Einbringung der Feldfrüchte jede Stunde in Anspruch nehmen. Zermatt und seine Gefährten durften keinen Tag feiern, wenn sie die Meiereien in gutem Zustande vor der Jahreszeit haben wollten, die, den Winter bildend, unter dieser Breite der südlichen Erdhälfte so vielfach durch schlechte Witterung gestört wird.

Jedermann ging also ans Werk, und in erster Linie begaben sich die beiden Familien von Felsenheim nach Falkenhorst, wo sie sich mehr in der Nähe von Waldegg, von Zuckertop und vom Prospect-Hill befanden. In der Sommerwohnung fehlte es weder an Raum noch an Bequemlichkeit, da hier zwischen den mächtigen Wurzeln des Mangobaumes weitere Stuben eingerichtet waren, ohne von der Wohnung in der Luft zu reden, die eine so angenehme Lage inmitten des dichten Laubwerkes hatte. Am Fuße des Baumes lag ferner ein [163] geräumiger Hof für die Thiere, der mit Ställen und Schuppen ausgestattet und von einer undurchdringlichen Pfahlwand aus Bambus und stacheligem Gesträuch eingeschlossen war.

Es bedarf wohl kaum der Aufzählung der einzelnen Arbeiten, die in den nächsten zwei Monaten vorgenommen und gut ausgeführt wurden. Die Ansiedler mußten dabei von einer Meierei zur anderen gehen, die Körner- und Futterernte geschützt unterbringen, das vollreife Obst einsammeln und alles in stand setzen, um das Federvieh nicht von der Unbill der schlechten Jahreszeit leiden zu lassen.

Hervorzuheben ist jedoch, daß der Ertrag von den Feldern, dank der Bewässerung aus dem, durch den Canal reichlich gespeisten Schwanensee, ein merklich größerer geworden war. Das Gebiet des Gelobten Landes hätte jetzt wohl schon hundert Colonisten ernähren können, und es liegt auf der Hand, daß seine Bewohner Arbeit übergenug hatten, wenn sie nichts von dessen Ertrage einbüßen wollten.

Im Hinblick auf die gewöhnlich acht bis neun Wochen anhaltenden atmosphärischen Störungen war es erforderlich, bei den Meiereien alle durch Regen und Wind verursachten Beschädigungen sorgsam auszubessern. Die Stangen der Einfriedigungen waren theilweise neu zu befestigen, Fenster und Thüren wurden gut geschlossen, gedichtet und mit Gegenstützen versehen und die Dächer belastete man mit schweren Steinen, um sie gegen Sturmwinde widerstandsfähiger zu machen. Dieselben Vorsichtsmaßregeln wurden bezüglich der offenen und geschlossenen Schuppen und der Hühner- und Viehställe getroffen, deren zwei-und vierfüßige Bewohner zu zahlreich waren, als daß sie in den Wirthschaftsgebäuden bei Felsenheim hätten untergebracht werden können.

Selbstverständlich wurden auch die Bauanlagen auf der Walfisch- und der Haifischinsel so in stand gesetzt, daß sie den Windstößen, die sie bei ihrer freien Lage desto heftiger trafen, sicher widerstehen konnten.

Auf der Walfischinsel bildeten die harzreichen Bäume, die immergrünen Strandkiefern, jetzt schon dichte Gehölze. Die Anpflanzungen von Cocospalmen und anderen Nutzbäumen waren, seit dornige Hecken sie gegen alle Thiere beschützten, vortrefflich gediehen. In Zukunft war auch nichts mehr von den Hunderten von Kaninchen zu fürchten, die in der ersten Zeit alle jungen Triebe beschädigten. Verschiedene Seepflanzen boten den gefräßigen Nagern genügende Nahrung, unter anderen der Fucus saccharinus, nach dem sie vor allem lüstern schienen. Jenny traf bei ihrer Rückkehr jedenfalls das Eiland, das ihr der ältere [164] Zermatt als persönliches Eigenthum überwiesen hatte, in vortrefflichstem Zustande an.

Auf der Haifischinsel ließen die Anpflanzungen von Mango- und Cocosbäumen und Kiefern nichts zu wünschen übrig. Hier mußten nur die Einfriedigungen verstärkt werden, in denen sich die schon fast zahm gewordenen Antilopen befanden. Gras und Blätter, die Hauptnahrung dieser Wiederkäuer, konnten ihnen für die Zeit des Winters nicht fehlen, ebensowenig das nöthige Wasser, das die am Ende der Insel entdeckte, niemals versiegende Quelle lieferte. Der ältere Zermatt hatte in der Mitte des Platzes einen Schuppen aus starken Planken errichtet, worin aller Art Vorräthe aufgespeichert lagen. Die auf der Oberfläche des Hügels aufgestellte Batterie endlich hatte ein festes, von überhängenden Bäumen beschütztes Dach, das von der Flaggenstange überragt wurde.

Am Tage dieses Besuches lösten Ernst und Jack, wie alljährlich beim Anfang und beim Ende der Regenzeit, die zwei regelmäßigen Kanonenschüsse. Diesmal freilich wurde keine Antwort von der Seeseite her vernommen, wie vor sechs Monaten bei der Ankunft der englischen Corvette. Als dann die beiden Geschütze wieder mit neuen Kartuschen und Schlagröhren versehen waren, rief Jack:

»Nach Verlauf von drei Monaten werden wir an der Reihe sein, der »Licorne« zu antworten, wenn sie die Neue Schweiz salutirt, und mit welcher Freude werden wir ihr unsere Antwort senden!«

Die letzte Ernte an Weizen, Gerste, Roggen, Mais, Hafer, Hirse, Maniok, Sago und Bataten wurde bald in den Schuppen und Scheuern von Felsenheim untergebracht. Dank einer verständigen Wechselwirthschaft hatten die Gemüsefelder Erbsen, Schwert- und Buschbohnen, Möhren, Steckrüben, Lauch, Lattich und Kopfsalat in überreichlicher Menge geliefert. Die Felder und Anpflanzungen mit Zuckerrohr und Obstbäumen lagen noch in der Nähe der Wohnstätte an beiden Ufern des Wasserlaufes. Die Einbringung der Weinernte von Falkenhorst vollzog sich noch in der dafür bestimmten Zeit, und was den Meth anging, fehlte es für diesen weder an Gewürz noch an Roggenmehlteig, seine Gährung zu unterstützen. Palmenwein besaß man ebenfalls in Ueberfluß, von dem noch vorhandenen Canarienwein ganz zu schweigen. Mehrere Tönnchen mit Branntwein, die vom Lieutenant Littlestone herrührten, lagerten in dem kühlen Untergrunde der Felsenhöhle. Als Brennmaterial für die Küche gab es in großen Haufen aufgestapeltes trockenes Holz und überdies bestreuten die zu erwartenden Stürme das Uferland bei Felsenheim jedenfalls mit einer Menge abgebrochener Aeste [165] und Zweige, abgesehen von denen, die durch die Fluth aus der Rettungsbucht ans Land gespült wurden. Von einer Heizung der Wohn- und Schlafräume konnte man von vornherein absehen. Zwischen den Wendekreisen hier unter dem neunzehnten Breitengrade giebt es keine bemerkbare Kälte. Feuer bedurfte man nur für die Küche, sowie für die Wäsche und ähnliche häusliche Arbeiten.

Allmählich kam die zweite Hälfte des Mai heran und nun mußten alle Vorbereitungen bald beendigt sein. Unmöglich konnte man sich noch länger täuschen über die Vorzeichen des herannahenden schlechten Wetters. Mit Sonnenuntergang bezog sich der Himmel bereits mit Dunstmassen, die von Tag zu Tag dichter wurden. Der Wind schlug mehr und mehr nach Osten um, und bei dieser Richtung war die Insel allen Stürmen vom offenen Meere her preisgegeben.

Vor der vollständigen Einschließung in Felsenheim wollte der ältere Zermatt den 24. Mai noch zu einem Ausfluge nach der Einsiedelei von Eberfurt benützen, woran nur Wolston und Jack theilnehmen sollten. Es erschien rathsam, sich zu überzeugen, ob der Paß der Cluse hinreichend verschlossen sei, daß Raubthiere nicht dadurch eindringen konnten. Ein Ueberfall von solchen mußte auf jeden Fall verhütet werden, da die Folge davon eine gänzliche Verwüstung der Anpflanzungen gewesen wäre.

Diese Meierei, die entfernteste an der Grenze des Gebietes, lag gegen drei Lieues weit von Felsenheim.

Auf dem Büffel, dem Onagre (wilden Esel) und dem Strauße reitend, kamen die drei Besucher in weniger als zwei Stunden nach der Einsiedelei von Eberfurt. Die Verschläge wurden zwar noch in gutem Zustande gefunden, nur schien es angezeigt, den Verschluß zum Eingange der Cluse noch mit einigen Querbalken zu verstärken. Wenn Raubthiere oder Dickhäuter den Weg durch den Engpaß versperrt fanden, war kaum zu befürchten, daß sie auf anderem Wege weiter vordringen könnten.

Uebrigens zeigte sich auch, sehr zum Leidwesen Jacks, nirgends eine verdächtige Fährte. Der eifrige Jäger hoffte immer, mindestens einen jungen Elephanten zu erbeuten. Nachdem er einen solchen gezähmt, ans Haus und anfänglich an schweren Zug gewöhnt hätte, glaubte er mit Sicherheit, ihn auch zur Beförderung seiner eigenen Person abrichten zu können.

Am 25., als die ersten Regengüsse auf die Insel niederströmten, hatten sich die beiden Familien nach dem endgiltigen Auszug aus Falkenhorst in Felsenheim wieder eingerichtet.

[166] Nirgendswo anders hätte man eine geeignetere Wohnstätte finden können die sichereren Schutz gegen jede Witterungsunbill geboten und eine so behagliche Raumeintheilung ermöglicht hätte. Seit jenem Tage, wo Jacks Hammer »den Berg angeschlagen« hatte, war sie gar vielfach verbessert und verschönert worden. Die Steinsalzhöhle bildete jetzt eine höchst bequeme Wohnung. Die Zimmerflucht an der Vorderwand des Felsens hatte jetzt zahlreiche Fenster und Thüren Die Bibliothek, Ernsts Lieblingsaufenthalt, mit ihren zwei, nach Morgen. also nach dem Schakalbache zu gelegenen Fensterausschnitten, wurde von einem hübschen Taubenschlage überragt. Der geräumige »Salon« mit seinen grünen, leicht mit Kautschuk überzogenen Vorhängen an den Fenstern und mit allem Nöthigen – mit Tischen, Stühlen, Polsterstühlen und Sophas – aus der Cajüte des »Landlord« ausgestattet, diente noch weiter als Betsaal, und jedenfalls so lange, bis Wolston seine Kapelle erbaut hatte.

Ueber der Zimmerreihe zog sich eine Terrasse hin, nach der zwei schmale Pfade hinaufführten, und vor dieser lag noch eine Galerie mit einem von vierzehn Bambusstämmen getragenen Schutzdache. An diesen Pfeilern schlängelten sich Pfefferstauden und Zweige von anderen Büschen hinauf, die einen schwachen Vanilleduft ausströmten und mit Lianen und anderen Kletterpflanzen – alles jetzt im sattesten Grün – vermengt waren

An der anderen Seite der Grotte und längs des Baches hinauf lagen die eigentlichen Gärten von Felsenheim. Mit dornigen Hecken umgeben, enthielten sie verschiedene Abtheilungen, hier mit Gemüsen, dort mit Blumen, und dazwischen mit Anpflanzungen von Fruchtbäumen, wie von Pistazien, Mandel- und Nußbäumen, mit Orangen-, Citronen- oder Bananenbäumen und Goyaven, kurz, mit allen Arten, die gewöhnlich in sehr warmen Ländern vorkommen. Baumarten aus dem gemäßigten Klima Europas, wie Kirsch-, Birn-, Vogelkirsch- und Feigenbäume, bildeten wiederum die Einfassung des langen Weges nach Falkenhorst.

Seit dreizehn Jahren war schon so manche Regenzeit im Schutze dieser Wohnung verlebt worden, ohne daß man darin je von Wasser oder Wind zu leiden gehabt hätte. Jetzt sollten wieder einige Wochen unter gleichen Verhältnissen, doch in Gemeinschaft mit einzelnen neuen Insassen, verstreichen. Leider fehlten nur Fritz, Franz und die liebenswürdige Jenny, die Freude und der geistige Lebensquell dieser kleinen Welt.

Vom 25. ab ließ der Regen so gut wie gar nicht mehr nach. Gleichzeitig entfesselten sich die pfeifenden und heulenden Stürme, die vom hohen Meere [167] her über die Plateaus hinter dem Cap im Osten hinwegrasten. Jeder Ausflug verbot sich jetzt von selbst, dagegen ließen die Arbeiten im »Hause« niemand zum Feiern kommen. Eine wichtige Aufgabe bildete schon die Verpflegung der Thiere, der Büffel, des Onagres, der Kühe, Kälber und jungen Esel, sowie der, die fast mit im Hause lebten, wie der Affe Knips II., der Schakal Jager und der Schakal nebst dem Cormoran Jennys, die um derenwillen, man möchte sagen, verhätschelt wurden. Dazu kam die Zubereitung der Speisen und das Einmachen von Conserven und, wenn es einmal eine seltene und kurze Aufklärung des Himmels zuließ, der Fischfang an der Mündung des Schakalbaches und vor den Uferblöcken bei Felsenheim.

In der ersten Juniwoche verdoppelten sich die stürmischen Böen, theils floß der Regen wie aus engmaschigem Netze hernieder, theils schlug er als Platzregen klatschend auf die Erde auf. Ohne völlig wasserdichte Bedeckung konnte man sich keinen Schritt ins Freie wagen.

In der Umgebung wurden der Gemüsegarten, die Anpflanzungen und die Felder von diesen unaufhörlichen Niederschlägen überschwemmt, und von den Gesteinswänden bei Felsenheim gurgelten tausend Wasserfäden mit dem Geräusche von Stromschnellen herab.

Obwohl jetzt niemand hinausging, wenn es nicht die dringendste Nothwendigkeit erforderte, vergingen die Stunden doch ohne die geringste Langeweile. Zwischen den beiden Familien herrschte die vollständigste Einmüthigkeit, eine Uebereinstimmung der Anschauungen, die niemals Auseinandersetzungen aufkommen ließ. Natürlich brauchen wir kaum die Freundschaft zwischen dem älteren Zermatt und Wolston besonders hervorzuheben, ein Verhältniß, das in den sechs Monaten des gemeinschaftlichen Lebens nur immer tiefer Wurzel geschlagen hatte. Nicht anders stand es mit beiden Frauen, deren Eigenschaften und Anlagen sich recht glücklich ergänzten. Der immer heitere Spaßvogel Jack endlich, der stets wie auf dem Ansprung und begierig nach Abenteuern war, murrte höchstens zuweilen darüber, daß er seiner Jagdlust nicht fröhnen konnte.

Was Ernst und Annah anging, konnte es deren Eltern nicht entgehen, daß diese ein wärmeres Gefühl als das der Freundschaft zu einander hinzog. Das jetzt siebzehnjährige, aber etwas ernste und überlegte junge Mädchen mußte dem ebenfalls ernsten und überlegten jungen Manne ja nothwendigerweise gefallen, und dieser konnte, bei seinem einnehmenden Wesen, jener unmöglich mißfallen.

[168] Die Zermatts und die Wolstons faßten mit Vergnügen die Aussicht auf eine zukünftige Verbindung ins Auge, die die Bande zwischen den beiden Familien nur noch enger knüpfen würde.


»Weil dieser Kiesel eine Pepite ist...« (S. 175.)

Uebrigens ließ man den Dingen ungehindert ihren Lauf, in der Erwartung, daß sich, wenn Fritz und Jenny mit der »Licorne« als Mann und Frau zurückkehrten, alles schon allein ordnen werde.

Kam es doch einmal zu einer harmlosen Neckerei, so ging diese gewiß von dem schalkhaften Jack aus, der übrigens bei seinem festen Vorsatze, Hagestolz zu bleiben, auf Ernst keineswegs eifersüchtig war.

[169] Während der Mahlzeiten und in den Abendstunden bildeten ausnahmslos die Abwesenden den Gegenstand der Unterhaltung. Man vergaß dabei weder den Oberst Montrose oder James und Suzan Wolston, noch Doll und Franz oder sonst einen von denen, die in der Neuen Schweiz ihr zweites Vaterland finden sollten.

Eines Abends stellte da der ältere Zermatt folgende Berechnung auf:

»Wir haben heute den fünfzehnten Juni, liebe Freunde. Da die »Licorne« am zwanzigsten October des vergangenen Jahres abgesegelt ist, ergiebt das bis jetzt reichlich acht Monate. Sie muß also nun auf dem Punkte sein, die europäischen Meere wieder zu verlassen und in den Indischen Ocean einzusegeln.

– Was meinst Du darüber, Ernst? fragte Frau Zermatt.

– Ich denke, erklärte dieser, daß die Corvette, unter Berücksichtigung ihres Aufenthaltes am Cap, nach drei Monaten hat in einem Hafen Englands eintreffen können. Dieselbe Zeit würde sie zur Rückreise brauchen, und da ausgemacht war, daß sie nach einem Jahre wieder hier sein sollte, wird sie jedenfalls auch ein halbes Jahr in Europa geblieben sein. Ich schließe also daraus, daß sie sich zur Zeit noch dort befindet.

– Doch ohne Zweifel fertig, in See zu gehen, bemerkte Annah.

– Das ist wohl anzunehmen, liebe Annah, antwortete Ernst.

– Uebrigens wäre es auch möglich, daß sie ihren Aufenthalt in England abgekürzt hätte, ließ sich Frau Wolston vernehmen.

– Möglich wohl, erwiderte ihr Gatte, obgleich sechs Monate für das, was sie zu erledigen hatte, keine zu lange Zeit sind. Unsere Lords der Admiralität übereilen sich nicht...

– Nun, warf der ältere Zermatt ein, wenn sich's aber um eine neue Erwerbung handelt...

– Da geht es wohl schneller, rief Jack. Wissen Sie übrigens, daß es ein recht schönes Geschenk ist, das wir Ihrem Vaterlande da machen, Herr Wolston?

– Das erkenne ich gern an, lieber Jack.

– Und doch. fuhr der junge Mann fort, welch schöne Gelegenheit wär' es für unsere alte Helvetia gewesen, hier den ersten Schritt zu einer colonialen Erweiterung zu thun! Eine Insel, reich an allen Thieren und Pflanzen der Tropenzone... eine Insel, die so vortheilhaft weit draußen im Indischen Meere liegt, so bequem zur Vermittlung des Handelsverkehres zwischen dem äußersten Asien und dem Großen Ocean...

[170] – Aha, unser Jack geht schon wieder durch. als ob er auf Brummer oder Leichtfuß ritte! spöttelte Herr Wolston.

– Nun, Ernst, fragte Annah, was ergiebt sich denn Ihrer Berechnung nach bezüglich der »Licorne«?

– Die Corvette wird spätestens in den ersten Tagen des Juli absegeln, um unsere Lieben und die Colonisten, die sich diesen zu folgen entschlossen haben mögen, hierher zurückzuführen. Da sie dann am Cap einmal Halt macht, meine liebe Annah, wird sie daselbst wahrscheinlich bis Mitte August vor Anker liegen, und ich erwarte kaum, sie vor Mitte October auf der Höhe des Caps der Getäuschten Hoffnung erscheinen zu sehen.

– Noch vier endlose Monate! murmelte Frau Zermatt. Welche Geduldsprobe, wenn man daran denkt, daß die, die unserem Herzen so theuer sind, auf dem Meere schwimmen!... Gott halte seine schützende Hand über sie!«

Wenn die mit den häuslichen Arbeiten überhäuften Frauen jetzt keine Stunde verloren, darf man nicht etwa glauben, daß die Männer müßig gegangen wären. Sehr häufig dröhnten die Hammerschläge aus der Schmiede oder hörte man das Schnurren der Drehbank. Wolston, als geschickter Mechaniker, verfertigte unter Mithilfe des älteren Zermatt, zuweilen der Ernsts, nur selten aber der Jacks – der, sobald sich der Himmel nur im mindesten klärte, sofort ins Freie eilte – allerlei nützliche Gegenstände zur Vervollständigung der Versorgung Felsenheims mit allem, was je nothwendig werden oder erwünscht sein konnte.

Sehr eingehend besprochen und zuletzt beschlossen wurde auch die Errichtung der geplanten Kapelle. Die Frage wegen des Platzes für diese gab zu einigen Verhandlungen Anlaß. Die einen wollten sie mit der Vorderseite nach dem Meere gerichtet und auf dem Felsenboden am Ufer, auf halbem Wege zwischen Felsenheim und Falkenhorst erbaut wissen, um dahin von beiden Wohnstätten aus keinen zu weiten Weg zu haben. Die anderen meinten, sie läge da den Stürmen von der Seeseite her zu sehr ausgesetzt und es wäre rathsamer, sie am Schakalbache, unterhalb des Wasserfalles, zu errichten. Frau Zermatt und Frau Wolston behaupteten aber mit Recht, daß diese Stelle zu weit abgelegen sei. So entschied man sich schließlich dahin, sie jenseit des Gemüsegartens und an einem Platze zu erbauen, wo sie durch die felsigen Höhen der Umgebung recht gut geschützt sein mußte.

Wolston bestand übrigens darauf, zu dem Bauwerke festeres und dauerhafteres Material als Holz und Baumstämme zu verwenden. Gestein gab es [171] hier ja mehr als genug; man konnte auch kleinere Felsblöcke vom Ufer benützen, wie man das an den Bauten in Stranddörfern so häufig findet. Den nöthigen Kalk würden Muschelschalen oder die massenhaft vorkommenden Baumkorallen liefern, die sich durch Ausglühen, zur Abscheidung der Kohlensäure, in Kalk verwandeln ließen.

Sobald die Witterung es gestattete, sollte diese Arbeit begonnen werden, und binnen zwei bis drei Monaten konnte sie jedenfalls zur allgemeinen Befriedigung beendigt sein.

In der Mitte des Juli, auf der Höhe der Regenzeit dieser Breite, erreichten die atmosphärischen Störungen eine verdoppelte Heftigkeit Meist war es ganz unmöglich, sich ins Freie zu wagen. Schwere Regenstürme peitschten das Ufer mit einer Gewalt, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Noch schlimmer, wenn kartätschengleich noch ein Hagelsturz dazu kam. Ueber das Meer wälzten sich riesige, überbrechende Wogen, deren Donner von den Aushöhlungen an der Küste widerhallte. Häufig flatterten feuchte Nebelfetzen über das Steilufer hinweg und fielen dann in dichten Tropfen am Fuße der Bäume nieder. Zuweilen kam es auch vor, daß sich unter der Zusammenwirkung des Sturmes und der Fluth eine Art Mascaret (d. i. eine mächtige, manche Flüsse hinauslaufende Woge) bildete, die sich schäumend im Schakalbache bis zum Wasserfalle hinwälzte. Der ältere Zermatt beunruhigte sich nicht wenig wegen der an den Bach grenzenden Felder. Man mußte sogar die Rohrleitung abschließen, die den Bach mit dem Schwanensee verband, da sonst die Umgebung von Waldegg von einer verderblichen Ueberschwemmung bedroht gewesen wäre. Auch die Lage der Pinasse und der Schaluppe im Hintergrunde der Bucht erweckte manche Befürchtung. Sehr häufig mußte man hier nachsehen, ob die Anker noch fest im Grunde saßen, und mußte die Haltetaue verdoppeln, um jedes Anstoßen gegen die Felsen zu verhindern. Hier hatte man übrigens keine Beschädigungen zu beklagen. Bedrohter waren dagegen vorzüglich die Meiereien von Waldegg und des Prospect-Hill wegen ihrer Lage in der Nähe des Ufers, wo sie vom ärgsten Wüthen des Sturmes getroffen wurden.

Als in der Natur einmal etwas mehr Ruhe eingetreten war, machten sich der ältere Zermatt, Jack, Ernst und Wolston sofort auf, einmal bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung vorzudringen.

Ihre Befürchtungen erwiesen sich leider begründet. Die beiden Meiereien hatten schon arg gelitten und machten Ausbesserungen und Verstärkungsarbeiten[172] nöthig, die sofort gar nicht auszuführen waren und deshalb bis zum Ende der schlechten Jahreszeit verschoben wurden.

Die Abende verbrachten die beiden Familien gewöhnlich im Bibliotheksraume. Hier fehlte es bekanntlich nicht an Büchern, die zum Theile noch vom »Landlord« geborgen waren, zum Theile, vorzüglich die neueren Werke, wie Reisebeschreibungen, naturgeschichtliche, zoologische und botanische Bücher, vom Lieutenant Littlestone herrührten und von Ernst schon mehrfach durchstudirt waren. Außerdem gab es noch andere. die Herrn Wolston gehörten, wie Lehrbücher für Mechanik, Meteorologie, Physik und Chemie. Ja es fanden sich sogar Jagderzählungen aus Indien und Afrika, die in Jack ein kaum zu überwindendes Verlangen nach diesen Ländern erweckten.

Während dann draußen der Sturm wüthete, wurde hier laut vorgelesen oder man plauderte einmal englisch und einmal deutsch – zwei Sprachen, die jetzt allen recht geläufig geworden waren, wenn auch zuweilen noch ein Wörterbuch aufgeschlagen werden mußte. Dabei gab es Abende, wo man sich ausschließlich der Sprache Großbritanniens, und andere, wo man sich nur der der deutschen Schweiz, und endlich, wenn auch seltener und mit größerer Schwierigkeit, auch solche, wo man sich der Sprache der französischen Schweiz bediente. Ernst und Annah hatten schon die größten Fortschritte in dieser schönen Sprache gemacht, die sich durch ihre Klarheit, Bestimmtheit und Geschmeidigkeit so vortheilhaft auszeichnet die dem Gedankenfluge des Dichters so willig folgt und sich auch für alle Darstellungen aus dem Gebiete der Wissenschaft und der Künste so vorzüglich eignet. Es war wirklich ein Vergnügen, den jungen Mann und das junge Mädchen französisch sprechen zu hören, wenn man sie auch nicht immer verstand.

Wir erwähnten bereits, daß der Monat Juli in diesem Theile des Indischen Oceans der unangenehmste ist. Ließen die Stürme einmal nach, so traten dafür dichte Nebel ein, die die ganze Insel umhüllten. Ein Schiff, das nur in der Entfernung von wenigen Kabellängen vorübergesegelt wäre, hätte weder von den Höhen im Innern, noch von den Vorbergen am Ufer aus bemerkt werden können.

Die Dunstmassen mußten jedenfalls weit nach Osten hinausreichen, so daß die Befürchtung nahe lag, es könnte sich irgend ein Schiff, wie früher der »Landlord« und der »Dorcas«, auf dem Wasser an der Insel verirren. In Zukunft erwuchs den Colonisten sicherlich die Verpflichtung, die Küsten der Neuen[173] Schweiz durch Leuchtfeuer zu bezeichnen, womit dann eine Landung, wenigstens im Norden, wesentlich erleichtert wurde.

»Warum sollten wir denn keinen Leuchtthurm erbauen? sagte Jack. Mit einem solchen auf dem Cap der Getäuschten Hoffnung und einem zweiten auf dem Cap im Osten würden doch Schiffe bequem in die Rettungsbucht einfahren können.

– Dazu wird auch noch Rath werden, antwortete sein Vater, alles zu seiner Zeit! Zum Glück bedarf der Lieutenant Littlestone keiner Leuchtthürme, unsere Insel wieder zu erkennen, noch sonstiger Feuer, um vor Felsenheim vor Anker zu gehen.

– Wir wären aber, fuhr Jack fort, doch wohl bequem im stande, das Ufer zu beleuchten...

– Er zweifelt entschieden an gar nichts mehr, unser Freund Jack! bemerkte Wolston ironisch.

– Warum sollte ich denn zweifeln, Herr Wolston, zweifeln nach allem, was wir unter Ihrer Anleitung bisher schon ausgeführt haben und noch ausführen können?...

– Da... hören Sie, wie er Ihr Lob singt, lieber Freund? sagte der ältere Zermatt.

– Und ich, nahm Jack wieder das Wort, gedenke dabei auch der Frau Wolston und Annahs.

– Jedenfalls werd' ich, antwortete das junge Mädchen, wo es mir an Kenntnissen fehlt, keinen Fehler aus Mangel an guten Willen begehen...

– Und mit gutem Willen... setzte Ernst ihre Worte fort.

– Erbaut man auch Leuchtthürme von zweihundert Fuß Höhe über dem Meere, fiel Jack ein. Ich rechne auch nicht wenig auf Annah, wenn es einmal zu einer Grundsteinlegung kommt.

– Ich stehe Ihnen jeden Tag zu Diensten, lieber Jack!« versicherte das junge Mädchen lächelnd.

Es scheint hier angezeigt, noch eines Gespräches zu erwähnen, das am Morgen des 25. Juli stattfand.

Das Zermatt'sche Ehepaar befand sich eben in sei nem Zimmer, als Ernst, aber noch »ernster« als sonst und strahlenden Blickes eintrat.

Er wünschte seinem Vater eine Entdeckung mitzutheilen, deren Ausbeutung. seiner Ansicht nach, von größter Wichtigkeit für die Zukunft werden könnte.

[174] Ernst hatte einen unscheinbaren Gegenstand in der Hand, den er, nachdem er ihn nochmals besichtigt hatte, dem älteren Zermatt übergab.

Es war einer der Kiesel, die er in dem Wildbett aufgelesen hatte, als er mit Wolston im Canot den oberen Lauf des Montrose besuchte.

Der ältere Zermatt nahm den Stein, dessen großes Gewicht ihm auffiel. Dann fragte er seinen Sohn, warum er ihm diesen anscheinend so geheimnißvoll gebracht habe.

»Weil es der Mühe lohnt, ihn etwas mehr zu beachten, erklärte Ernst.

– Warum denn?

– Weil dieser Kiesel eine Pepite (d. i. eine Edelmetall enthaltende Quarzart) ist...

– Eine Pepite?« wiederholte der ältere Zermatt erstaunt.

Er trat damit aus Fenster, um den Stein bei besserem Lichte zu betrachten.

»Ich bin meiner Sache gewiß, versicherte Ernst. Ich habe diesen Kiesel untersucht und Theilstücke davon analysirt, und deshalb kann ich behaupten, daß er eine reichliche Menge Gold in rohem Zustande enthält.

– Kannst Du Dich darin nicht täuschen, mein Sohn? fragte der ältere Zermatt.

– Nein, Vater, sicherlich nicht!«

Frau Zermatt hatte dem Zwiegespräch gelauscht, ohne ein Wort dazu zu äußern, ja ohne auch nur die Hand nach der kostbaren Gesteinsprobe auszustrecken, deren Auffindung sie völlig gleichgiltig zu lassen schien.

»Uebrigens hab' ich, fuhr Ernst fort, bei dem Hin-und dem Rückwege am Bette des Montrose sehr viele Steine dieser Art liegen sehen. Es unterliegt also keinem Zweifel, daß goldhaltiges Gestein in jener Gegend der Insel in Menge vorhanden ist.

– Nun, was geht das uns an?« sagte Frau Zermatt.

Der ältere Zermatt empfand recht wohl die Achtlosigkeit, die in der Frage seiner Gattin lag.

»Du hast doch, lieber Ernst, wandte er sich an diesen, noch gegen niemand von Deiner Entdeckung gesprochen?

– Gegen keinen Menschen.

– Das ist mir lieb zu hören! Nicht, daß ich kein Vertrauen zu Deinem Bruder und zu Herrn Wolston hätte... mir scheint aber, man habe es sich wohl zu überlegen, ehe man dieses Geheimniß bekannt werden läßt.

[175] – Was wäre dabei denn zu fürchten, Vater? fragte Ernst.

– Für den Augenblick gar nichts, destomehr aber für die Zukunft der einstigen Colonie! Das Vorkommen goldführenden Landes hier braucht nur bekannt zu werden, die Leute brauchen nur zu erfahren, daß die Neue Schweiz reich an solchen Pepiten ist, und sofort werden Goldsucher massenhaft hierher strömen, in ihrem Gefolge aber auch alle die Uebel, die Zügellosigkeit und die Verbrechen, die die Sucht nach jenem Metalle gebiert. Zwar ist ja anzunehmen, daß das, was Dir, Ernst, nicht entgangen ist, auch anderen nicht entgehen werde, und daß die Fundstätten am Montrose doch einmal entdeckt werden... nun, so möge das nur so spät wie möglich geschehen!... Du hast gut daran gethan, Dein Geheimniß zu bewahren, mein Sohn, und wir werden es ebenso in unserer Brust verschließen...

– Das ist klug und weise gesprochen, mein Lieber, ließ Frau Zermatt sich jetzt vernehmen, und ich kann Deine Worte nur vollständig bekräftigen. Nein, laßt uns nicht davon sprechen, auch wollen wir lieber gar nicht nach der Schlucht des Montrose gehen. Ueberlassen wir alles dem Zufall oder vielmehr Gott, der über die Schätze dieser Welt gebietet und sie austheilt, wie es ihm gefällt!«

Vater, Mutter und Sohn blieben noch kurze Zeit nachdenklich beisammen, waren aber fest entschlossen, jener Entdeckung keine weitere Folge zu geben und die Goldkiesel liegen zu lassen, wo sie einmal lagen. Die unfruchtbare Gegend am Oberlauf des Flusses und bis zum Fuße der Bergkette würde spätere Ansiedler der Insel gewiß nicht gleich anlocken, und damit wurden ohne Zweifel so manche üble Folgen verhindert.

Die schlechte Jahreszeit hielt noch unverändert und wahrscheinlich noch drei volle Wochen an. Der Wiedereintritt schöner Tage schien sich dieses Jahr zu verzögern. Nach vierundzwanzigstündiger Unterbrechung brach der Sturm wieder mit neuer Gewalt los, eine Folge der atmosphärischen Störungen, die offenbar den ganzen Indischen Ocean aufwühlten. So war die Mitte des August herangekommen. Entspricht dieser Monat auch nur dem Februar der nördlichen Erdhälfte, so lassen in ihm doch, zwischen den Wendekreisen und dem Aequator. die Regenfälle und die starken Winde merklich nach und der Himmel reinigt sich von den schweren Dunstmassen.

»Seit zwölf Jahren, bemerkte eines Tages der ältere Zermatt, haben wir ein so langes Anhalten stürmischer Witterung noch nicht erlebt. Ja, auch in der [176] Zeit vom Mai bis zum Juli gab es häufiger Perioden der Ruhe, und vom Anfang des August an sprangen die Westwinde wieder auf...

– Meine liebe Merry, sagte dazu Frau Zermatt, Sie werden von unserer Insel eine recht üble Vorstellung gewinnen.


Jack erlegte einige Dutzend Enten. (S. 186.)

– Darüber seien Sie ruhig, Betsie, antwortete Frau Wolston. Sind wir nicht in unserer englischen Heimat an ein volles Halbjahr abscheulicher Witterung gewöhnt?

– Gleichviel, meinte Jack, es ist aber doch bald zum verzweifeln! Einen solchen August in der Neuen Schweiz durchzumachen! Drei Wochen schon sollte[177] ich ja eigentlich zur Jagd ausgezogen sein, und alle Morgen fragen mich meine Hunde, was das bedeuten solle.

– O, wir nähern uns ja dem Ende, tröstete ihn Ernst. Nach den Anzeichen des Thermometers und des Barometers müssen wir sehr bald in die Periode der Gewitter eintreten, mit der ja gewöhnlich die Regenzeit abschließt.

– Sei dem wie ihm wolle, stieß Jack ärgerlich hervor, dieses abscheuliche Wetter hält gar zu lange an. Solche Witterung haben wir Herrn und Frau Wolston nicht versprochen, und ich bin überzeugt, daß auch Annah uns vorwirft, sie getäuscht zu haben...

– O nein, Jack, nein...

– Und daß sie am liebsten von hier wegginge!«

Die Augen des jungen Mädchens gaben darauf die Antwort. Sie verriethen, wie glücklich sie sich bei der herzlichen Gastfreundschaft der Familie Zermatt fühlte. Ihre Hoffnung ging dahin, daß sie, ihre Eltern und sie selbst, sich von dieser niemals trennten.

Wie Ernst vorausgesagt hatte, schloß auch jetzt die Regenzeit mit heftigen Gewittern, die fünf bis sechs Tage anhielten. Der Himmel stand dabei in Flammen und der vom Echo an der Küste verdoppelte Donner krachte, daß man glauben konnte, das Himmelsgewölbe müsse davon bersten.

Am 17. August kündigten sich diese Unwetter durch eine Erhöhung der Luftwärme an; dazu wurde es drückend schwül und im Nordosten ballten sich große bleigraue Wolken zusammen, die eine starke elektrische Spannung in der Atmosphäre verriethen.

Das von seiner Gesteinshülle beschützte Felsenheim spottete des Windes und des Regens. Ebenso waren hier keine Blitzschläge zu fürchten, die im offenen Lande und in Wäldern wegen der das elektrische Fluidum gut leitenden Bäume oft so gefährlich werden. Immerhin unterlagen Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah dem psychischen Eindruck. den solche Gewitter auch dann hervorbringen, wenn man ihnen ungefährdet gegenübersteht; sie ließen sich davon aber wenigstens nicht übermäßig in Angst jagen.

Am Abend des zweitfolgenden Tages tobte ein Unwetter, das seinesgleichen vorher noch nicht gehabt hatte. Alle waren im Bibliotheksraume versammelt und schreckten jetzt plötzlich bei einem trockenen, knatternden Donnerschlage empor, der mit einem langen Rollen in der Luft endigte.

Erst nach einer Minute wurde es draußen wieder stiller.

[178] Da hörte man unerwarteterweise ein anderes Gekrach.

»Was war das? rief Jack.

– Das war offenbar kein Donner, erklärte der ältere Zermatt.

– Nein, sicherlich nicht, bestätigte Wolston, ans Fenster tretend.

– Sollte das ein auf dem Meere abgefeuerter Kanonenschuß gewesen sein?« fragte Ernst.

Alle lauschten klopfenden Herzens. Vielleicht war es doch ein Irrthum... eine akustische Täuschung... der letzte, aus größerer Ferne kommende Widerhall von einem Donnerschlage. Rührte der Schall aber von der Lösung eines Geschützes her, so mußte sich in der Nähe der Insel ein Schiff befinden, das vielleicht vom Sturme verschlagen, vielleicht seinem Untergange nahe war...

Da wiederholte sich der kurze, scharfe Knall. Es war dasselbe Krachen, schien auch aus der gleichen Entfernung zu kommen und diesmal war ihm kein Blitz vorhergegangen.

»Noch einer, sagte Jack, und von diesem bin ich fest überzeugt...

– Ja ja, fiel Wolston ein, daß es ein Kanonenschuß war, was wir gehört haben.«

Sofort eilte Annah der Thüre zu.

»Die »Licorne«! rief sie ganz unwillkürlich; das kann nur die »Licorne« sein.«

Völlig verblüfft, schwiegen alle einige Secunden lang. Die »Licorne« wäre in Sicht der Insel und verlangte Hilfe? Nein... nein! Eher war anzunehmen, daß irgend ein Schiff, vom wüthenden Nordost gepackt, sich verirrt hätte zwischen den Klippen am Cap der Getäuschten Hoffnung, oder am Cap im Osten eingekeilt wäre; daß es aber die Corvette sein könnte, war kaum zu glauben. Diese müßte dann schon vor drei Monaten von Europa abgesegelt sein und ihren Aufenthalt in England bedeutend abgekürzt haben. Nein, nein! Der ältere Zermatt versicherte das mit solcher Bestimmtheit, daß sich alle seiner Anschauung anschlossen: die »Licorne« konnte das unmöglich sein.

Immerhin blieb es recht peinlich, zu denken, daß ein Schiff, nicht weit von der Insel, in Seenoth sei, daß der Sturm es auf die Klippen treibe, wo einst der »Landlord« zertrümmert worden war... daß es vergeblich Hilfe verlange...

Trotz des strömenden Regens begaben sich der ältere Zermatt, Wolston, Jack und Ernst hinaus und bestiegen die kleine Anhöhe hinter Felsenheim.

[179] Die Luft ringsum war aber so getrübt, daß sie auch von dort nach der Seite des Meeres zu nur wenige Toisen weit sehen konnten. Alle vier mußten denn auch schleunigst zurückkehren, ohne auf der Rettungsbucht irgend etwas bemerkt zu haben.

»Was hätten wir übrigens für jenes Schiff thun können? fragte Jack. – Leider gar nichts, antwortete sein Vater.

– Beten wir wenigstens für die Unglücklichen, die in schwerer Gefahr sind, sagte Frau Wolston, beten wir, daß der Allmächtige sie beschützen und retten möge!«

Die drei Frauen knieten am Fenster nieder und die Männer blieben andächtig gebeugt hinter ihnen stehen.

Da sich kein weiterer Geschützdonner vernehmen ließ, mußte man schließen, daß das Schiff entweder mit Mann und Maus untergegangen oder jetzt schon glücklich an der Insel vorübergesegelt sei.

Niemand verließ in dieser Nacht das große, gemeinschaftliche Zimmer, und als es wieder heller wurde und das Unwetter ausgetobt hatte, eilten alle über die Umfriedigung von Felsenheim hinaus.

Da war aber kein Schiff zu sehen, weder auf der Rettungsbucht, noch auf dem Meeresarme zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem im Osten.

Man bemerkte aber auch nichts von einem Fahrzeuge, das auf die »Landlord«-Klippe, drei Lieues von hier, aufgefahren wäre.

»Wir wollen einmal nach der Haifischinsel fahren, schlug Jack vor.

– Ja, Du hast recht, stimmte der ältere Zermatt zu. Von der Höhe der Batterie aus bietet sich eine weitere Aussicht.

– Und nebenbei, fuhr Jack fort, haben wir jetzt oder nie Veranlassung, einige Kanonenschüsse abzugeben. Wer weiß, ob sie nicht gehört und vom offenen Meere her beantwortet werden.«

Eine Schwierigkeit lag freilich darin, nach der Haifischinsel zu gelangen, denn die Bucht mußte noch stark aufgeregt sein. Die Entfernung bis dahin betrug ja aber nur eine Lieue, und mit der Schaluppe konnte man diese Fahrt wohl wagen.

Von schrecklicher Unruhe verzehrt, widersprachen auch Frau Zermatt und Frau Wolston diesem Plane nicht, handelte es sich doch vielleicht um die Rettung eines Schiffes!

Gegen sieben Uhr verließ die Schaluppe den kleinen Landeinschnitt. Der ältere Zermatt, Wolston, Jack und Ernst ruderten aus Leibeskräften, wobei sie [180] die Ebbeströmung noch unterstützte. Ein paar Sturzseen, die sie über das Vordertheil hinwegbekamen, konnten sie nicht zur Umkehr veranlassen.

Glücklich erreichten sie die kleine Insel und sprangen nun sofort aus Land.

Welche Verwüstung bot sich hier aber ihren Blicken! Da und dort lagen vom Sturme entwurzelte Bäume, die Einfriedigung für die Antilopen war umgestürzt, und erschrocken liefen die Thiere überall umher.

Zermatt und seine Begleiter kamen bald nach dem Batteriehügel, und natürlich war es Jack, der als erster auf dem Gipfel erschien.

»Hierher! Kommt herauf!« rief er voller Ungeduld.

Zerniatt, Wolston und Ernst beeilten sich, dem Rufe zu folgen.

Das Schutzdach, worunter die beiden Kanonen standen, war in der Nacht angezündet worden und zeigte nur noch einzelne rauchende Ueberreste. Die ihrer vollen Länge nach gespaltene Flaggenstange lag inmitten eines halb verkohlten Haufens von Gras und Laub. Die Bäume, deren Zweige sich sonst noch über der Batterie kreuzten, waren bis zu den Wurzeln zersplittert und man sah noch die Spuren der Flammen, die ihre oberen Zweige verzehrt hatten.

Die beiden Geschützrohre lagen auf ihren Lafetten. Sie waren zu schwer, als daß sie ein noch so heftiger Windstoß hätte umwerfen können.

Ernst und Jack hatten Schlagröhren mitgebracht zum Ersatze der alten, die jedenfalls unbrauchbar geworden waren, und sie hatten sich auch mit mehreren Kartuschen versehen, um Anwortschüsse geben zu können, wenn von der See her Kanonenschüsse zu hören wären.

Jack stand am ersten Geschütz und entzündete dessen neue Schlagröhre.

Diese brannte bis hinunter ab, ein Schuß ging aber nicht los.

»Die Ladung ist offenbar verdorben, meinte Wolston, und hat nicht mehr explodiren können.

– So wollen wir sie wechseln, sagte der ältere Zermatt. Nimm den Wischer, Jack, und ziehe auch die Kartusche vorsichtig heraus; dann setzen wir eine andere ein.«

Als der Wischer aber in das Rohr eingeführt wurde, gelangte dieser, zur großen Verwunderung Jacks, bis zum Grunde der Seele hinunter. Die am Ausgange der schönen Jahreszeit eingesetzte Kartusche befand sich nicht mehr darin, und bei dem zweiten Geschütze war dasselbe der Fall.

»Die Kanonen sind also abgefeuert worden? rief Wolston erstaunt.

– Abgefeuert? wiederholte der ältere Zermatt.

[181] – Ja... beide, erklärte Jack.

– Doch von wem?

– Von wem? antwortete Ernst nach kurzer Ueberlegung, ei nun, vom Blitz in eigener Person.

– Vom Blitz? fragte der ältere Zermatt.

– Ohne Zweifel, Vater. Bei dem letzten schweren Donner, den wir gestern hörten, hat der Blitz auf den Hügel hier eingeschlagen. Das Schutzdach ist infolge dessen abgebrannt, und nachdem das Feuer die beiden Geschütze erreicht hatte, sind die Schüsse einer nach dem anderen losgegangen.«

Diese Erklärung drängte sich angesichts der verkohlten Trümmer, die auf der Erde umherlagen, ganz von allein auf. Welche Angst und Unruhe hatten aber die Insassen von Felsenheim in der scheinbar endlosen Gewitternacht ausgestanden!

»Da seh' mir einer den Blitz, der zum Artilleristen wird, rief Jack, diesen Jupiter tonans, der sich in suchen mengt, die ihn gar nichts angehen!«

Die Geschütze wurden wieder geladen und die Schaluppe verließ die Haifischinsel, wo der ältere Zermatt sich vornahm, sobald die Witterung es erlaubte, ein neues Schutzdach herzustellen.

In der vergangenen Nacht war also kein Schiff im Gewässer der Insel gewesen, war kein Fahrzeug an den Klippen der Neuen Schweiz gescheitert.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
In Falkenhorst. – In Waldegg. – In Zuckertop. – Auf dem Prospect-Hill. – Das verlassene Meer. – Vorbereitungen zum Zuge nach dem Innern. – Wer abreist und wer daheim bleibt. – Begleitung bis zum Engpaß der Cluse. – Abschied.

Die Regenzeit, die dieses Jahr länger als gewöhnlich angehalten hatte, ging mit der letzten Augustwoche zu Ende. Mit Rücksicht auf den geplanten Ausflug nach dem Innern der Insel, wurde die Bearbeitung der Felder und die Aussaat sofort in Angriff genommen. Der ältere Zermatt gedachte jene Fahrt nicht [182] vor der zweiten Hälfte des September anzutreten, und die Zeit bis dahin mußte für die zuerst nothwendigen Arbeiten bequem ausreichen.

Diesmal entschieden sich die beiden Familien nicht für ein Verweilen in Falkenhorst. Das dortige »Luftschloß« hatte durch die letzten Stürme doch manchen Schaden erlitten, der eine gründlichere Ausbesserung verlangte Deshalb sollte jetzt der Aufenthalt daselbst nur wenige Tage dauern, bis die Aussaat, das Beschneiden der Reben vollendet und für die hier untergebrachten Thiere gesorgt war. Ebenso wollte man den Aufenthalt in Waldegg, in Zuckertop und auf dem Prospect-Hill nach Möglichkeit abkürzen.

»Wir dürfen nicht vergessen, bemerkte der ältere Zermatt, daß nach der Heimkehr unserer Abwesenden, nach dem Eintreffen der neuen Freunde, des Obersten Montrose, Ihres Sohnes James und dessen Gattin, lieber Wolston, und vielleicht einer gewissen Anzahl von Colonisten, in Falkenhorst, wie in den übrigen Meiereien, mancherlei Vergrößerungen nothwendig werden dürften. Hilfskräfte für diese wahrscheinlich recht umfänglichen Arbeiten werden uns dann sicherlich willkommen sein. Für jetzt wollen wir uns deshalb nur mit unseren Feldern, Ställen und Geflügelhöfen beschäftigen. In den zwei Monaten bis zur voraussichtlichen Ankunft der »Licorne« wird das gerade genug Arbeit geben.«

Da das Verbleiben der Frau Zermatt und Frau Wolston in Felsenheim unerläßlich war, versprachen diese beiden auch, daß sie alles in der Wohnung und draußen, die Hausthiere, das Geflügel auf dem Gänseteiche und die Gemüseanpflanzung im Garten besorgen würden. Sie gestatteten sogar Annah, ihren Vater beim Besuche der Meiereien zu begleiten, und wenn das junge Mädchen darüber erfreut war, so war es Ernst nicht minder. Der Ausflug war auch mit keinerlei Anstrengung verknüpft, da der mit zwei Büffeln bespannte Wagen und die drei jungen Esel zur Beförderung durch das Gebiet des Gelobten Landes dienen sollten. Im Wagen sollten der ältere Zermatt, Ernst, Wolston und Annah Platz nehmen, während Jack, der ja immer gern die Rolle eines Kundschafters spielte, auf dem Onagre Leichtfuß, seinem Lieblingsreitthiere, voraustraben wollte. Schwankte er auch anfänglich zwischen dem Stier Brummer und dem Strauße Brausewind, so entschied er sich schließlich doch für den Onagre (Wildesel), und Brummer und Brausewind mußten sich schon dareinfinden, in Felsenheim zurückzubleiben.

Am 25. August wurde in Falkenhorst zum erstenmale Halt gemacht, da sich hier eine Anzahl Hausthiere in einer Umfriedigung befanden. Es war schönes [183] Wetter und von der Rettungsbucht her wehte ein leichter Wind bei einer noch recht mäßigen Luftwärme. Die Fahrt durch die schattige, längs des Ufers verlaufende Allee glich mehr einer angenehmen Spazierfahrt.

Zu dieser Zeit des Jahres verspürten wieder Zermatt und seine Söhne den tiefen, wohlthuenden Eindruck, den die Rückkehr des Frühlings immer auf sie gemacht hatte, jene heilsame Einwirkung der Natur in den ersten herrlichen Tagen, die, wie das Haupt der Familie sich in einem Berichte über seine Erlebnisse ausdrückte: »wiederkehrte, wie ein seit Monaten abwesender Freund, der ihnen Vergnügen und Segen brachte«.

Feldarbeiten blieben während des Aufenthaltes in Falkenhorst ausgeschlossen, da die zu besäenden Ackerstücke bei den entfernteren Meiereien lagen. Hier handelte es sich nur um die Besorgung und Verpflegung der Thiere, um die Herbeischaffung weiterer Futtervorräthe, sowie um einige unaufschiebliche Ausbesserungen an den Stallungen und um das Säubern und Ausschlämmen des kleinen Baches, der die hiesige Anlage mit Wasser versorgte.

Die prächtigen Bäume des benachbarten Waldes hatten dem tollen Ansturme des Windes gut widerstanden und nur einzelne schwächere Aeste verloren. Dieses abgestorbene Holz wurde natürlich gesammelt und in den Holzställen der Einfriedigung untergebracht.

Es zeigte sich auch, daß einer der riesigen Mangobäume vom Blitze getroffen worden war. Obwohl das dem, der die hohe Wohnung trug, nicht widerfahren war, kam Ernst doch der Gedanke, daß es rathsam sei, diesen durch einen Blitzableiter zu schützen, dessen Fangstange ein gutes Stück über den Wipfel hinausreichte und mittels eines Drahtes mit dem Erdboden verbunden wäre. Er nahm sich deshalb vor, über eine solche Anlage reiflich nachzudenken, denn im Sommer traten sehr häufig Gewitter auf, und das elektrische Fluidum hätte Falkenhorst doch ernstlich beschädigen können.

Die Arbeiten hier nahmen drei volle Tage in Anspruch, so daß der ältere Zermatt erst am vierten nach Felsenheim zurückkehrte. Seine Gefährten und er brachen schon nach vierundzwanzig Stunden wieder von hier auf, und Wagen und Reitthiere schlugen nun die Richtung nach Waldegg ein.

Die Strecke zwischen Felsenheim und dieser Meierei wurde im Laufe des Vormittags zurückgelegt. Gleich nach der Ankunft ging jedermann an die Arbeit. Hier befand sich die Schäferei mit Schafen und Ziegen, deren Zahl von Jahr zu Jahr zunahm, und daneben ein Hühnerhof mit Hunderten von Bewohnern.

[184] Der Futterboden, der die Vorräthe von der letzten Ernte her enthielt, erforderte einige Reparaturen. An der Wohnung zeigte sich nichts davon, daß sie unter dem schlechten Wetter gelitten hätte. Freilich war diese auch nicht mehr die Hütte aus biegsamem Rohr und dünnen geschmeidigen Ruthen, wie in der allerersten Zeit. Das jetzige Häuschen bestand aus Mauerwerk, außen mit einem Bewurf aus Sand und fettem Thon und im Innern mit einem Fußboden aus Gips, der jedes Eindringen von Feuchtigkeit verhinderte. Zermatt überzeugte sich anderseits zu seiner großen Befriedigung, daß die Baumwollanpflanzungen in der [185] Nachbarschaft von Waldegg ein vortreffliches Aussehen zeigten. Dasselbe war der Fall mit dem zu einem richtigen Maisfelde verwandelten Moore, dessen Boden die Regenfälle nicht hatten fortwaschen können.


An diesem Abende konnten die Gäste einen prächtigen Sonnenuntergang bewundern. (S. 192.)

Auf der anderen Seite bedrohte, obwohl der Schwanensee einen hohen Wasserstand aufwies, der fast dem der Flüsse gleichkam, doch keine Ueberschwemmung die Felder in der Umgebung. Zahllose Wasservögel belebten den kleinen See, z. B. Reiher, Pelikane, Sumpfschnepfen, Spießenten, Wasserhühner und, die anmuthigsten von allen, Schwäne mit völlig schwarzem Gefieder, die paarweise dahinschwammen.

Jack konnte hier nach Belieben einige von den Vögeln abschießen, die gewöhnlich auf der Mittagstafel der Farm von Waldegg erschienen. Er erlegte also einige Dutzend Enten und daneben, unter den Uferbäumen, noch ein tüchtiges Wasserschwein, das der Wagen mit nach Felsenheim befördern sollte.

Was die Affenvölker betraf, konnte man um derenwillen beruhigt sein. Jetzt war keiner mehr zu sehen von den schadenbringenden Vierhändern, die so gewandt sind, Tannenzapfen als Wurfgeschosse zu benützen und die früher in den Wäldern der Nachbarschaft hausten, wo sie damals recht empfindlichen Schaden anrichteten. Seitdem man ihnen aber eins ordentlich aufs Fell gebrannt hatte, waren sie klug genug gewesen, Fersengeld zu geben.

Nach Beendigung der ersten Arbeiten begann man auf den Feldern von Waldegg mit der Aussaat. Der höchst fruchtbare Boden brauchte weder gepflügt, noch mit dem Abraum, den die Meierei mehr als genug hätte liefern können, gedüngt zu werden; die von den jungen Eseln darüber hingezogene Egge reichte zu seiner Aufbereitung schon vollständig aus. Diese Saatarbeit beanspruchte jedoch die Betheiligung aller, selbst Annahs, und die Rückkehr nach der Wohnung in Felsenheim konnte erst am 6. September erfolgen.

Zermatt und seine Gefährten hatten alle Ursache, Frau Wolston und Betsie wegen der Thätigkeit zu loben, die diese während ihrer Abwesenheit entwickelt hatten. Viehhof und Ställe befanden sich im besten Zustande; der Küchengarten war in Ordnung gebracht, gejätet und die Gemüse standen in schönster Linie eingepflanzt. Die beiden Hausfrauen hatten auch alle Wohnräume ausgewaschen, das Bettzeug gesömmert und ausgeklopft, kurz, alles gethan, was zu einer ordentlichen Wirthschaftsführung gehört.

Langeweile hatten sie wahrlich nicht empfunden, doch verhehlten sie auch nicht den Wunsch, diese Besuche der Meiereien, woran sie nicht theilnehmen konnten, bald beendigt zu sehen.

[186] Daraufhin wurde beschlossen, daß in den nächsten Tagen nur noch ein einziger Ausflug nach den übrigen Anlagen unternommen werden sollte. Dieser sollte gemeinsam den Meiereien von Zuckertop und am Prospect-Hill gelten. Ihn bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung auszudehnen, hätte gewiß acht Tage in Anspruch genommen und die Rückkehr bis Mitte September verzögert.

»Die Einsiedelei Eberfurt, bemerkte dazu der ältere Zermatt, können wir bei unserem Zuge nach dem Innern der Insel mit aufsuchen. denn das Gelobte Land bietet ja keinen anderen Ausgang als durch den Engpaß der Cluse, der ohnehin in der Nähe jener Meierei liegt.

– Ganz richtig. bestätigte Wolston. Sind dort aber nicht noch Culturarbeiten auszuführen, die unter einer Verzögerung leiden könnten?

– Wir haben, lieber Wolston, antwortete der ältere Zermatt, mit solchen Zeit, bis die Heu- und die Getreideernte uns wieder dorthin ruft, und das wird unter mehreren Wochen nicht der Fall sein. Wir wollen also mit Zuckertop und dem Prospect-Hill die kleineren Ausflüge beschließen.«

Dieser Vorschlag fand Zustimmung und gleichzeitig wurde ausgemacht, daß Annah ihren Vater nicht begleiten solle, da die Fahrt sich wohl über eine Woche ausdehnen könnte. Frau Wolston wäre diese Abwesenheit zu lang erschienen Ihre Tochter würde ihr auch in Felsenheim für verschiedene häusliche Arbeiten sehr nützlich sein können, wie bei der großen Wäsche und bei der Ausbesserung von Kleidungsstücken und Bettzeug. Harke und Jäthacke traten jetzt gegen Bügeleisen und Nähnadel zurück. Ohne von ihrer Besorgniß als Mutter zu reden, machte Frau Wolston diese Gründe so überzeugend geltend, daß Annah sich ihnen. wenn auch mit Bedauern, fügen mußte.

Ernst fand diese Gründe begreiflicherweise nicht recht nach seinem Geschmacke und er legte sich deshalb auch die Frage vor, ob nicht auch sein Verbleiben in Felsenheim geboten erscheine.

Da war es nun der wackere Jack, der ihm mit gewohnter Kameradschaftlichkeit helfend unter die Arme griff. Am Abend vor der Abfahrt brachte er deshalb, als alle im gemeinschaftlichen Zimmer versammelt waren, diese Frage mm Gespräch.

»Ich weiß recht gut, Vater, begann er, daß Frau Wolston, ihre Tochter und meine Mutter keinerlei Gefahr laufen, wenn sie in Felsenheim allein zurückbleiben. Soll das aber eine ganze Woche dauern... ja, wer weiß... ob es da nicht besser wäre...

[187] – Ganz gewiß, Jack, stimmte der ältere Zermatt ein, ich würde in unserer Abwesenheit keine ruhige Stunde haben... wenn auch keine Gefahr zu befürchten sein mag. Bisher sind wir immer nur höchstens zwei bis drei Tage weggewesen; diesmal würde es eine ganze Woche werden!... Das ist zu lange. Und doch wäre es zu beschwerlich, wenn wir alle zusammen fortgehen wollten...

– Wenn Sie es wünschen, fiel Wolston ein, erbiete ich mich, in Felsenheim zu bleiben.

– O nein, mein lieber Wolston, erwiderte Zermatt, Sie gerade weniger als jeder andere. Schon wegen der zukünftigen Arbeiten ist es nothwendig, daß Sie uns nach Zuckertop und dem Prospect-Hill begleiten. Wenn einer meiner Söhne zustimmte, bei seiner Mutter zu bleiben, würde ich beruhigt sein. Das ist schon wiederholt vorgekommen. Jack zum Beispiel...«

Jack konnte sich des Lächelns kaum enthalten und warf Ernst einen Seitenblick zu.

»Wie, rief er, mich... mich wollt Ihr bestimmen, das Haus zu behüten? Einem Jäger wollt Ihr die Gelegenheit rauben, Groß- und Kleinwild zu pürschen? Wenn denn einer in Felsenheim bleiben muß, warum denn nicht Ernst?...

– Ernst oder Jack, das ist ja gleich, nicht wahr, Frau Wolston? fragte Zermatt.

– Gewiß, Herr Zermatt!

– Und wenn Ernst hier ist, wird sich niemand fürchten, auch Sie nicht, Annah, oder Du, liebe Betsie?

– Nicht im geringsten, antwortete das junge Mädchen leicht erröthend.

– So sprich doch, Ernst, ermahnte diesen sein Bruder; Du sagst ja kein Wort dazu, ob Dir diese Verabredung paßt!«

Natürlich paßte sie Ernst, und der ältere Zermatt konnte zu dem verständigen und muthigen jungen Manne auch das beste Vertrauen haben.

Die Abfahrt wurde auf den nächsten Tag festgesetzt. Schon mit Anbruch des Tages verabschiedeten sich der ältere Zermatt, Wolston und Jack mit der Zusicherung, ihre Abwesenheit so viel wie möglich zu verkürzen.

Der nächste Weg von Felsenheim nach Zuckertop verlief in schräger Richtung zu dem nach Waldegg, der längs der Küste hinführte.

Der Wagen, worauf die Herren Zermatt und Wolston Platz nahmen, war noch mit Säcken mit Saatgetreide, einer Anzahl Werkzeuge und Geräthe, mit Lebensmitteln und einem reichlichen Vorrath an Schießbedarf beladen.

[188] Jack, der sich von Leichtfuß nicht hatte trennen wollen, trottete nebst seinen Hunden Braun und Falb daneben her.

Anfänglich schlug man die Richtung nach Südwesten ein, um den Schwanensee zur Rechten zu lassen. Große Wiesenflächen, natürliche Weiden, erstreckten sich von hier bis zum Ableitungscanale des Schakalbaches hin, und dieser selbst wurde, etwa eine Lieue von Falkenhorst, auf der kleinen, alten Brücke überschritten.

In dieser Richtung gab es zwar keine eigentlich fahrbare Straße, gleich der nach der Meierei Waldegg, die vielen Fahrten mit schweren Karren und Wagen hatten den Boden aber doch etwas eingeebnet und den Pflanzenwuchs darauf vernichtet. Von den beiden kräftigen Büffeln gezogen, kam denn der Wagen auch ohne zu große Anstrengung ziemlich schnell vorwärts

Die gegen drei Lieues lange Strecke bis Zuckertop wurde in vier Stunden zurückgelegt.

Zermatt, Wolston und Jack kamen in der dortigen Wohnung also zur Frühstückszeit an. Nachdem sie mit gutem Appetit gegessen hatten, ging es sofort an die Arbeit.

Zunächst mußten mehrere Planken der Einfriedigung, worin die Schweine die Regenzeit verbracht hatten, aufgerichtet werden. In diese Einfriedigung waren auch andere Vertreter der Schweinerasse, nämlich Tajams oder Moschusschweine, die schon früher bei Zuckertop bemerkt worden waren, eingedrungen und lebten hier mit den anderen in bester Freundschaft. Natürlich hütete man sich, sie etwa wieder zu verjagen. Der ältere Zermatt wußte recht gut, daß das Fleisch dieser Thiere genießbar war, wenn man nur den stark aromatischen Moschusbeutel, der bei ihnen am Rücken sitzt, sorgsam entfernte.

Die Anpflanzungen dieser Anlage erwiesen sich, dank ihrer größeren Entfernung vom Meere, völlig unverletzt. Es war eine wahre Freude, den guten Zustand der Goyaven, Bananen, des Palmkohles und vorzüglich der »Ravendsaras« mit dickem Stamme und pyramidenförmigem Kopfe zu sehen, deren Rinde den Geschmack des Zimmets und der Gewürznelken vereinigt.

Als der ältere Zermatt mit seinen Söhnen zum erstenmale hierhergekommen war, bildete die Oertlichkeit nur einen Sumpf, der nachher der Zuckerrohrsumpf genannt worden war. Sie hatten diese Stelle schon in den ersten Tagen besucht, nachdem sie an der Insel gestrandet waren. Jetzt umrahmten weite angebaute Felder die Farm von Zuckertop, und daneben Grasflächen, worauf einige Kühe [189] weideten. An Stelle der früheren einfachen Hütte aus Zweigen erhob sich ein Häuschen, das gut geschützt unter Bäumen lag. Nicht weit davon stand ein ausschließlich aus Bambus bestehendes Dickicht, einer Bambusart mit spitzigen Dornen, die als Nägel dienen konnten, und wer durch das Dickicht hätte dringen wollen, wäre nur mit völlig zerrissener Kleidung wieder herausgekommen.

Der Aufenthalt in Zuckertop dauerte acht Tage, die mit der Aussaat von Hirse, Weizen, Hafer und Mais ausgefüllt wurden. Alle Getreidearten wuchsen in dem, von einer Ableitung aus dem Schwanensee bewässerten Boden rasch und kräftig empor. An dieser Seite hatte Wolston nämlich einen seichten Einschnitt am Westrande des Sees gemacht, und das von allein überfließende Wasser vertheilte sich von da aus auf dem ganzen Gebiete. Infolge dieser Einrichtung konnte Zuckertop auch als die reichste der drei Meiereien gelten, die im Bezirke des Gelobten Landes angelegt worden waren.

Selbstverständlich hatte Jack im Laufe dieser Woche seiner leidenschaftlichen Jagdlust ausgiebig gehuldigt. Sobald eine Unterbrechung der Arbeit es ihm gestattete, zog er mit seinen Hunden aus, und die Speisekammer füllte sich dabei reichlich mit Wachteln, Waldhühnern. Rebhühnern und Trappen an Federwild, und mit Wasserschweinen und Agutis an Haarwild.

Von Hyänen, die sich in der Umgebung früher gezeigt hatten, traf Jack ebensowenig eine, wie irgend ein anderes Raubthier an. Offenbar flohen diese Bestien vor dem Menschen.

Als er einmal seitwärts vom See hinausdrang, fand Jack, der vom Glücke mehr als vor einigen Jahren sein Bruder Ernst begünstigt wurde, Gelegenheit, ein Thier von der Größe eines tüchtigen Esels mit dunkelbraunem Felle zu schießen, eine Art Rhinoceros ohne Horn von der Familie der Tapire. Es war ein Anta, der auf die erste Kugel des jungen Jägers, die dieser aus zwanzig Schritt Entfernung abgeschossen hatte, zwar nicht schon fiel, als er sich aber auf diesen stürzen wollte, durch eine zweite Kugel ins Herz getroffen zusammenbrach.

Die gesammte Arbeit bei Zuckertop war am Abend des 15. September beendigt. Am nächsten Tage, und nachdem das Haus gut verschlossen und der Eingang zur Einfriedigung hinter den Planken noch durch einen festen Balken gesperrt worden war, rollte der Wagen nach Norden davon, um zum Prospect-Hill in der Nähe des Caps der Getäuschten Hoffnung zu gelangen.

Zwei Lieues trennten die Meierei von dieser Landspitze, die wie ein Geierschnabel zwischen der Nautilusbucht und dem offenen Meere hinausragte. Der[190] großte Theil der Fahrt verlief auf ebenem Boden, der das Fortkommen erleichterte Nur in der Nähe des Steilufers neigte sich das Land merklicher abwärts

Zwei Stunden nach dem Aufbruche und jenseit einer grünen, fetten Landschaft, die durch die Regenzeit wie verjüngt erschien, erreichten der ältere Zermatt, Wolston und Jack das Affenholz, das seit dem Verschwinden seiner schlimmen Bewohner diesen Namen eigentlich nicht mehr verdiente. Am Fuße des Hügels angelangt, machten sie Halt.

Der Abfall des Prospect-Hill war nicht so steil, daß die Büffel und das Onagre diesen auf einem sich aufwärts windenden Wege nicht hätten überwinden können. Sie mußten sich zwar, mehrfach angefeuert, tüchtig anstrengen, der Wagen gelangte aber bis zum Gipfel.

Das den Ost- und Nordwinden, die das Cap ungebrochen trafen, stark ausgesetzte Haus da oben hatte unter den letzten Stürmen mehrfach gelitten. Es erforderte verschiedene schleunige Reparaturen, denn sein Dach war an mehreren Stellen abgerissen worden. Trotzdem war es zur Sommerzeit noch immer bewohnbar und die Ankömmlinge konnten sich darin für einige Tage recht gut einquartieren.

Was den Viehhof betraf, den das Höhnervolk mit seinem Glucksen und munteren Treiben belebte, mußten versauedene, in der schlechten Jahreszeit entstandene Beschädigungen ausgebessert werden Daneben galt es noch, die Mündung der kleinen frischen Quelle zu reinigen, die nahe dem Gipfel des Hügels entsprang.

Bei den Anpflanzungen, vorzüglich denen der Kapern- und der Theesträuche, beschränkte sich die Arbeit auf die Wiederaufrichtung derer, die durch die Gewalt des Windes niedergebogen worden waren, während ihre Wurzeln noch im Boden hafteten.

Bei dem Aufenthalte hier lustwandelten die Besucher mehrmals nach dem Ende des Caps der Getäuschten Hoffnung hinaus. Von diesem Punkte aus umfaßte der Blick eine weite Strecke des Meeres im Osten und einen Theil der Nautilusbucht im Westen. O, wie oft hatten die Schiffbrüchigen seit so vielen Jahren von hier aus vergeblich hinausgelugt, ob ein Schiff draußen auf dem Meere erschiene!

Als sich Zermatt nebst seinen zwei Begleitern nun heute eben dahin begab, veranlaßte das Jack zu folgender Bemerkung:

»Vor zwölf Jahren, als wir uns voll Schmerz überzeugt hatten, keinen unserer Gefährten vom »Landlord« wiederfinden zu können, verdiente das Cap[191] zwar den Namen der Getäuschten Hoffnung; sollten wir es aber heute, wenn etwa die »Licorne« von der hohen See her auftauchte, nicht lieber das »Cap Willkommen« nennen?

– Gewiß, lieber Jack, antwortete Wolston, dieser Fall ist nur leider sehr unwahrscheinlich. Die »Licorne« schwimmt noch mitten im Atlantischen Oceane, und es müssen fast noch zwei Monate vergehen, ehe sie die Gewässer der Neuen Schweiz erreichen kann.

– Ja, wer weiß... wer weiß, Herr Wolston, wiederholte Jack. Und wenn nicht die »Licorne«, warum könnte nicht ein anderes Schiff die Insel finden und von ihr Besitz nehmen wollen? Dessen Kapitän hätte freilich Anlaß, sie die Insel der Geläuschten Hoffnung zu nennen, da sie bereits in Besitz genommen ist.«

Uebrigens wurde auch heute kein Schiff auf dem hohen Meere gesehen, es lag also kein Grund vor, den ihm früher gegebenen Namen des Caps zu ändern.

Am 21. September waren alle Arbeiten am und beim Landhause des Prospect-Hill beendigt und der ältere Zermatt setzte die Abfahrt auf die ersten Stunden des folgenden Tages an.

An diesem Abende konnten die Gäste des Prospect- Hill, die auf der kleinen Terrasse vor dem Hause beisammensaßen, einen prächtigen Sonnenuntergang bewundern, dessen Reinheit durch keine Dunstschicht am Horizonte beeinträchtigt wurde. Dabei lag, gegen vier Lieues von hier, das Cap im Osten in tiefem Schatten, der nur durch die im Widerscheine funkelnde Brandung an dessen Felsengrunde unterbrochen wurde. Vollkommen ruhig zeigte sich das Meer bis hinauf zur Rettungsbucht. Unterhalb des Hügels verschmolz der grüne Teppich der von einzelnen Bäumen beschatteten Wiesen mit dem gelblichem Farbentone des Strandes. Rückwärts, nach Süden zu und gegen acht Lieues entfernt, zeigten sich die Umrisse der die Insel durchschneidenden Bergkette, an der Wolston's Blicke unverwandt hingen, und deren Kamm die letzten Sonnenstrahlen mit goldigem Scheine schmückten.

Am folgenden Morgen rollte der Wagen erst den abschüssigen Weg vom Prospect-Hill hinab und dann so rasch weiter, daß er gegen zwei Uhr vor der Einfriedigung von Felsenheim ankam. Hier empfing man dessen Insassen, die nicht weniger als zwei volle Wochen abwesend gewesen waren, mit herzlichster Freude. Zwei Wochen sind ja keine allzulange Zeit, der Schmerz einer Trennung ist aber nicht immer nur nach deren Dauer zu bemessen.


[192]
Während dann ein Antilopenviertel, von Jack sorgsam überwacht, röstete... (S. 208.)

[193] [195]Selbstverständlich hatten auch Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah in diesen vierzehn Tagen ihre Zeit nicht vergeudet. Die große Wäsche war bereits ziemlich beendet, und es war wirklich eine Freude, das Bettzeug, die Tischtücher und die Servietten, alle sorgsam ausgebessert und in ihrer Weiße sich leuchtend von dem Grün des Küchengartens abhebend, auf den von Baum zu Baum ausgespannten Leinen hin und her wedeln zu sehen.

Auch Ernst hatte inzwischen nicht gefeiert. Wenn die Frauen seiner Hilfe nicht bedurften, hatte er sich in die Bibliothek zurückgezogen, ohne zu sagen, womit er sich da beschäftige. Vielleicht mochte er aber wenigstens Annah in sein Geheimniß eingeweiht haben.

Kurz, als die beiden Familien am Abend zum erstenmale wieder im gemeinschaftlichen Zimmer beisammen waren, berichtete der ältere Zermatt erst über die Fahrt nach den Meiereien, und dann legte Ernst ein Blatt Papier auf den Tisch, das eine Zeichnung in farbigen Linien aufwies.

»He, was ist denn das? rief Jack. Etwa der Plan für die zukünftige Hauptstadt der Neuen Schweiz?

– Nein, das noch nicht, erklärte Ernst.

– Nun, dann errathe ich nicht...

– O, das ist eine Vorlage zur inneren Ausschmückung unserer Kapelle, sagte Annah.

– So ist es, Jack, bestätigte Ernst; und es war wohl an der Zeit, daran zu denken, da die Mauern schon bis zu ihrer halben Höhe aufgestiegen sind.«

Diese Erklärung machte allen eine große Freude, und Ernst wurde wegen seiner Arbeit aufrichtig gelobt.

Man fand sie ebenso vollkommen bezüglich der Eleganz wie der gesammten Anordnung.

»Bekommt sie denn auch einen Thurm? erkundigte sich Jack.

– Natürlich, versicherte Annah.

– Mit einer Glocke darin?

– Ei freilich, mit der Glocke vom »Landlord«.

– Und unserer Annah, sagte Ernst, wird die Ehre zufallen, sie zum erstenmale zu läuten!«

Bald war der 24. September und damit der Zeitpunkt herangekommen, wo der schon lange bestehende Plan Wolston's zur Ausführung kommen sollte. Freilich wußte ja niemand, welches Ergebniß diese nähere Besichtigung des Innern der [195] Neuen Schweiz haben werde. Seit einem Dutzend von Jahren hatten sich die Schiffbrüchigen kaum über die Grenzen des Gelobten Landes hinaus begeben, und wir wissen ja, daß dieser Landstrich für ihre Ernährung und alle sonstigen Bedürfnisse alles in reichlicher Menge lieferte. Abgesehen von der Unruhe, die ihr die Abwesenheit einiger der Ihrigen allemal verursachte, trug sich Frau Zermatt, wenn sie es auch nicht aussprach, doch mit dem Glauben, daß dieser Ausflug eher beklagenswerthe Folgen haben werde.

Als sie noch an diesem Abende dann mit ihrem Gatten im Schlafzimmer allein war, gestand Frau Zermatt diesem ihre Besorgniß unumwunden ein.

»Liebe Betsie, hielt Zermatt für rathsam, ihr zu antworten, wären wir noch in denselben Verhältnissen wie in der ersten Zeit nach unserer Hierherkunft, so würde ich Dir zustimmen, daß dieser Ausflug nicht angezeigt sei. Selbst wenn Wolston und seine Familie durch einen Schiffbruch auf unsere Insel verschlagen worden wären, würde ich zu ihnen gesagt haben: Was uns bisher genügt hat, wird auch Ihnen genügen, und es ist nicht nöthig, sich in Abenteuer zu stürzen, wenn diese keinen sicheren Nutzen versprechen und vielleicht gar mit Gefahren verknüpft sind. Die Neue Schweiz hat aber jetzt eine festgestellte geographische Lage, und im Interesse ihrer zukünftigen Colonisten erscheint es wichtig, ihre Ausdehnung, den Verlauf und die Natur ihrer Küsten kennen zu lernen und sich zu überzeugen, was sie an Hilfsquellen bietet.

– Schön, mein Lieber, recht schön, erwiderte Frau Zermatt, könnte die Lösung dieser Aufgabe aber nicht den etwaigen neuen Ankömmlingen überlassen bleiben?

– Ja freilich, mit dem Zuwarten würde nichts versäumt werden, und das Unternehmen könnte wohl unter noch besseren Verhältnissen ausgeführt werden. Du weißt aber, Betsie, daß die Sache unserem Wolston sehr am Herzen liegt, und daß auch Ernst seine Karte der Neuen Schweiz zu vervollständigen wünscht. Ich meine also, wir müssen beider Wünschen schon Rechnung tragen.

– Ich würde nichts dagegen haben, mein Lieber, antwortete Frau Zermatt, wenn das nicht wieder mit einer Trennung verknüpft wäre...

– O, es handelt sich nur um eine Abwesenheit von höchstens vierzehn Tagen.

– Ja, wenn Frau Wolston, Annah und ich noch die Fahrt mitmachen könnten...

– Das wäre unklug, liebe Frau, entgegnete Zermatt. Dieser Ausflug kann, wenn auch keine Gefahren, doch große Schwierigkeiten und Anstrengungen mit[196] sich bringen. Es wird sich darum handeln, unter brennender Sonne über ein unfruchtbares, ödes Stück Land hinzuziehen; die Ersteigung der Bergkette dürfte auch recht beschwerlich werden.

– Also Frau Wolston, Annah und ich, wir sollen bestimmt in Felsenheim zurückbleiben?

– Jawohl, Betsie, doch ich denke Euch nicht allein zu lassen. Nach reiflicher Ueberlegung bin ich zu folgendem Entschlusse gekommen, der hoffentlich allgemeine Billigung finden wird. Wolston mag den Ausflug mit unseren zwei Söhnen unternehmen, mit Ernst, der dabei seine Aufnahmen machen wird, und mit Jack, der sich eine solche Gelegenheit, auf Entdeckungen auszuziehen, doch niemals entgehen lassen würde. Ich selbst aber gedenke in Felsenheim zu bleiben. Nun, ist Dir das recht, Betsie?

– Brauchst Du das erst zu fragen, mein Bester? rief Frau Zermatt. Auf Herrn Wolston können wir uns ja getrost verlassen. Er ist ein verständiger Mann und wird sich zu keiner Unbedachtsamkeit verleiten lassen; mit ihm als Führer laufen unsere Söhne gewiß keine Gefahr.

– Ich hoffe, fuhr der ältere Zermatt fort, diese Ordnung der Angelegenheit wird auch Frau Wolston's und Annahs Beifall finden.

– Bis auf das eine, daß die letztere das Fernsein unseres Ernst bedauern dürfte, meinte Frau Zermatt.

– So gut wie es Ernst bedauern wird, ohne sie fortzugehen, setzte ihr Gatte hinzu. Ja, die beiden guten Wesen fühlen sich zu einander hingezogen, und in der Kapelle, wozu er den Plan entworfen hat, wird ja Ernst eines Tages mit der, die er liebt, vereinigt werden.

– Davon sprechen wir zu gelegener Zeit wieder, sagte Frau Zermatt, von diesem Ehebündnisse, das Herrn und Frau Wolston ebenso beglücken dürfte, wie uns.«

Als der ältere Zermatt mit seinem Vorschlage hervortrat, fand er allseitige Zustimmung. Ernst und Annah mußten sich wohl oder übel den dafür sprechenden Gründen fügen. Der eine gab auch zu, daß sich Frauen nicht an einem Ausfluge dieser Art betheiligen dürften, da sie ihn verzögern oder gar seinen Erfolg in Frage stellen könnten, und die andere sah wohl ein, daß Ernst unbedingt daran theilnehmen müsse, um jenen in erwünschter Weise durchzuführen.

Da die Vorfragen hiermit erledigt waren, wurde schon der 25. September als Tag der Abreise festgesetzt.

[197] Von diesem Tage an beschäftigten sich alle mit den nöthigen Vorbereitungen, die ja schnell erledigt werden mußten. Wolston und die beiden jungen Männer hatten sich verabredet, die Reise zu Fuß auszuführen. Das Land, das an den Fuß der Berge grenzte, konnte ja ebenso schwer zugänglich sein, wie das, das den schon bekannten Oberlauf des Montrose-Flusses durchschnitt.

Es sollte also gewandert werden, gewandert mit dem Stock in der Hand und der Flinte auf dem Rücken und begleitet von den beiden Hunden. Daß Jack ein vorzüglicher Schütze war, unterlag keinem Zweifel, doch leisteten Wolston und Ernst in dieser Hinsicht auch nicht zu wenig, und die drei Jäger waren im voraus überzeugt, daß sie ihren Nahrungsbedarf unterwegs reichlich decken würden.

Wegen der bevorstehenden Ueberführung der beiden Familien nach der Einsiedelei Eberfurt mußten aber auch der Wagen und das Büffelgespann zurecht gemacht werden. Wie erinnerlich, wollte der ältere Zermatt diese Gelegenheit gleichzeitig zu einem Besuche dieser an der Grenze des Gelobten Landes gelegenen Farm benutzen. Mit Befriedigung wurde auch der Gedanke aufgenommen, dabei Herrn Wolston, Jack und Ernst bis jenseit des Engpasses der Cluse zu begleiten. Vielleicht machte es sich nöthig. den Aufenthalt in Eberfurt auf vierundzwanzig oder gar achtundvierzig Stunden auszudehnen, wenn das Wohnhaus dort Ausbesserungen erforderte, bei denen alle Hände helfen mußten.

Am frühen Morgen des 25. verließ der Wagen Felsenheim; Braun und Falb sprangen lustig daneben her. Alle Personen hatten auf jenem Platz gefunden. Das Ziel der Fahrt lag gute drei Lieues entfernt, die Büffel mußten es aber ohne Ueberanstrengung noch vor der Mittagsstunde erreichen können.

Das Wetter war schön; Schäfchenwolken bedeckten den Himmel und milderten die heißen Sonnenstrahlen.

Gegen elf Uhr und nach einer Fahrt schräg durch eine grüne und fruchtbare Landschaft, erreichte der Wagen die Einsiedelei Eberfurt.

In dem kleinen, davor liegenden Gehölz bemerkte man etwa noch ein Dutzend Affen. Diesen mußte das Umhertreiben hier verleidet werden und sie flüchteten denn auch bei den ersten Gewehrschüssen.

Als der Wagen Halt gemacht hatte, begaben sich alle sogleich in das Wohnhaus. Von den Bäumen ringsum gut geschützt, hatte dieses durch das frühere schlimme Wetter nur wenig gelitten. Während dann Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah das Frühstück zurechtmachten, entfernten sich die [198] Männer etwa auf Büchsenschußweite, um den Engpaß der Cluse, das Ausgangsthor nach dem Inselinnern, zu besichtigen.

Hier bot sich ihnen freilich eine wichtige und schwere Arbeit, denn kräftige wilde Thiere hatten offenbar versucht, die Sperrung des Weges zu sprengen, und es erwies sich als nothwendig, diese noch weiter zu verstärken. Es sah fast so aus, als hätte sich ein Trupp Elephanten den Weg durch die Schlucht zu erzwingen gesucht, und im Fall, daß ihnen dies gelang, wären schwere Verwüstungen nicht allein der Einsiedelei Eberfurt, sondern auch den Meiereien Waldegg und Zuckertop gewiß nicht ausgeblieben. Ja, es konnte dabei vielleicht so weit kommen, daß man sich sogar in Felsenheim eines Ueberfalles der riesigen Dickhäuter hätte erwehren müssen.

Die Aufstellung neuer Pfähle und Planken nahm den heutigen Nachmittag und noch den folgenden Tag in Anspruch. Alle Arme waren nicht zu viel, die schweren Holzmassen an Ort und Stelle zu schaffen und sie ordentlich zu befestigen, danach aber hatte der ältere Zermatt auch die Ueberzeugung, daß kein Thier mehr durch den Engpaß eindringen könne.

Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß die Einsiedelei Eberfurt jetzt nicht mehr die dürftige Kamtschadalenhütte war, die, zwischen vier Baumstämmen eingeklemmt, zwanzig Fuß hoch über dem Erdboden schwebte. Nein, jetzt erhob sich hier eine geschlossene und mit Palissaden umgebene Wohnstätte mit mehreren Einzelräumen, die beide Familien bequem aufnehmen konnten. Auf beiden Seiten davon lagen große Ställe unter den unteren Aesten von Magnolien und immergrünen Eichen. Hier wurden die Büffel eingestellt und reichlich mit Futter versorgt. Die gut abgerichteten, kräftigen Thiere konnten darin in Ruhe wiederkäuen.

Erwähnung verdient auch, daß es in der Umgebung von Wild aller Art, von Hafen, Kaninchen, Rebhühnern, Wasserschweinen, Agutis, Trappen, Auerhühnern und Antilopen, geradezu wimmelte, so daß es Jack leicht gemacht war, seiner Jagdlust zum Besten des gemeinsamen Tisches zu fröhnen. Ein Theil des Wildes, der über der flackernden Flamme des Herdes geröstet worden war, wurde übrigens für die drei Ausflügler zurückgestellt. Mit der Jagdtasche an der Seite, den Rucksack auf dem Rücken, versorgt mit Zündschwamm, um sich Feuer machen zu können, konnten sie, wenn ihnen geröstetes Fleisch genügte, bei dem vorhandenen Ueberfluß an Pulver und Blei und einem reichlichen Branntweinvorrath in ihren Kürbisflaschen über die Frage ihrer Ernährung völlig beruhigt sein. Außerdem boten ihnen die schon bekannten fruchtbaren Ebenen sowohl [199] jenseit des Grünthales als auch im Süden der Perlenbucht genug eßbare Wurzeln und Früchte, die sie nur auszuziehen oder zu pflücken brauchten.

In den ersten Morgenstunden des 27. September begaben sich noch einmal alle nach dem Engpaß der Cluse, wo endlich gegenseitig Abschied genommen wurde. Vierzehn Tage lang sollte man ja ohne Nachrichten von den Abwesenden bleiben! Wie lange würde das allen erscheinen!

»Ohne Nachrichten? sagte da Ernst, nein, Mutterherz, nein, liebe Annah, Ihr werdet schon solche erhalten...

– Durch Eilboten?... fragte Jack lächelnd.

– Jawohl, doch durch einen fliegenden Eilboten. Seht Ihr denn gar nicht die zwei Tauben, die ich in diesem kleinen Käfig mitgenommen habe? Meint Ihr vielleicht, ich hätte sie in Eberfurt zurücklassen wollen? Nein, die lassen wir vom Rücken der Bergkette aus fliegen und sie werden Euch Nachricht von der kleinen Karawane bringen.«

Jedermann freute sich über diesen glücklichen Einfall, und Annah nahm sich vor, tagtäglich nach dem Eintreffen der Ernst'schen Sendboten auszulugen.

Wolston und die beiden Brüder gingen nun durch eine schmale Oeffnung in der Plankenwand, die hinter ihnen wieder sorgsam geschlossen wurde, und bald verschwanden sie hinter einer Biegung des felsigen Engpasses.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Ueber das Grünthal hinaus. – Das Gebiet der Ebenen. – Die Waldgegend. – Noch einmal die Affen. – Am Fuße der Bergkette. – Die Nacht in einer Grotte. – Die erste und die zweite Zone der Bergmasse. – Am Fuße des Gipfels.

Das Wandern ist so recht eigentlich die Reiseart des Touristen. Es gestattet, alles zu sehen und dazu Umwege zu machen, es giebt Gelegenheit, beliebig Halt zu machen, und erlaubt jede gewünschte Verzögerung. Der Fußgänger begnügt sich mit dem schmalsten Pfade, wenn es ihm an einer Straße fehlt. Er kann seinen Weg nach Lust und Laune wählen, er schreitet wohlgemuth dahin, wo auch das leichteste Gefährt und das geübteste Reitthier nicht [200] mehr fortkommen könnten, und er klimmt den steilsten Abhang hinan und ersteigt die höchsten Gipfel der Berge.

Auch Wolston und die beiden jungen Leute hatten, selbst auf die Gefahr hin, sich den größten Mühseligkeiten auszusetzen, gar nicht gezaudert, die noch unbekannten Gebiete des Innern, vorzüglich auch, weil sie eine Ersteigung des höchsten Punktes der Bergkette geplant hatten, zu Fuße zu durchmessen.

Die Wanderfahrt sollte, wie der Leser weiß, nur sieben bis acht Lieues lang sein, wenn es möglich war, in gerader Richtung nach dem Fuße der Berge[201] vorzudringen.


Die Steilheit der Abhänge war aber schon so groß... (S. 213.)

Es handelte sich hier also um keine weite Reise, diese sollte aber durch ganz neue Landstrecken führen, und die drei Bergsteiger hofften dabei, manche wichtige und nützliche Entdeckung zu machen.

Der ungeduldigste und eifrigste der Drei war natürlich Jack. Hatte er sich trotz seiner abenteuerlichen Neigungen auch auf der »Licorne« nicht mit eingeschifft, um in Europa die Länder wiederzusehen, die er in früher Kindheit verlassen hatte, so rechnete er doch darauf, sich einst dafür noch schadlos zu halten, wenn die Lage seiner Angehörigen erst nach allen Seiten hin gesichert wäre. Inzwischen gewährte es ihm eine große Befriedigung, die Grenzen des Gelobten Landes zu überschreiten und die ausgedehnten Ebenen zu durchwandern, die ihm jenseit des Grünthales und des Engpasses der Cluse noch ganz unbekannt waren. Zum Glücke hatte er weder seinen wilden Esel Leichtfuß, noch den Büffel Brummer oder den Strauß Brausewind hier, um darauf zu reiten, sondern er hatte nur den Hund Falb mitgenommen. Unter diesen Verhältnissen war es auch dem Herrn Wolston ermöglicht, das gewohnte Ungestüm des jungen Mannes etwas zu zügeln.

Zunächst und nach dem Austritte aus der Thalmulde wandten sich alle Drei der kleinen Anhöhe zu, die man als Araberthurm zu bezeichnen pflegte, und zwar in Erinnerung an jene Herde von Straußen, die der ältere Zermatt und seine Kinder bei ihrem ersten Besuche des Grünthales für eine Rotte berittener Beduinen gehalten hatten.

Von diesem »Thurme« aus bogen sie nach der Bärengrotte ab, wo Ernst einst nahe daran gewesen war, von der gar zu handfesten Umarmung eines braunen Plattsüßlers erstickt zu werden.

Uebrigens konnte nicht davon die Rede sein, dem Laufe des Ostflusses zu folgen, der vom Süden des Landes her und dann nach Westen hin strömte. Mit der Verfolgung dieser Richtung wäre eine beträchtliche Verlängerung der Wegstrecke verknüpft gewesen, da sich die Abhänge der Bergkette, von hier aus gesehen, im Süden erhoben.

Hierauf Bezug nehmend, bemerkte Ernst:

»Was wir bei dem Ostflusse zu unterlassen haben, hätten wir beim Montrose-Flusse thun müssen. Sicherlich wäre es der kürzeste Weg gewesen, dem einen oder anderen seiner Ufer zu folgen.

– Ja, und ich frage mich, setzte Jack hinzu, warum die Pinasse uns nicht ganz einfach bis zu seiner Mündung gebracht hat. Von da aus konnten wir [202] mit dem Boote bis zur Barre, also fünf bis sechs Lieues näher an die Bergkette heran gelangen.

– Das hätte freilich keinerlei Schwierigkeiten gehabt, lieber Jack, antwortete Wolston, die unfruchtbare, vom Montrose durchflossene Gegend bietet nur nicht das geringste Interesse. Es empfahl sich also von vornherein mehr, die Gebiete zwischen der Rettungsbucht und den Bergen zu durchstreifen.«

Die Wanderung ging weiter in der Landsenke des Grünthales, das eine Länge von etwa zwei Lieues hatte und parallel mit den Grenzhöhen des Gelobten Landes verlief. Reichlich tausend Toisen breit, enthielt es dichtere Waldmassen, mehr vereinzelte Baumgruppen und große, an den Abhängen übereinander liegende Wiesenflächen. Auch ein Wasserlauf schlängelte sich durch das Thal unter dichtem Schilfe murmelnd dahin, ein Bach, der entweder in den Ostfluß oder in die Nautilusbucht ausmünden mochte.

Herrn Wolston und die beiden Brüder drängte es, das Ende des Grünthales zu erreichen und einen ersten Ueberblick über die sich nach Süden hin ausdehnende Gegend zu gewinnen. Soweit es möglich war. bestimmte Ernst mittels seines Taschencompasses wiederholt die Himmelsgegenden und schrieb sich das ebenso wie die zurückgelegten Wegstrecken auf.

Gegen Mittag wurde im Schatten einer mächtigen Goyave und in ziemlicher Nähe einer Stelle, wo viele Euphorbien (Wolfsmilcharten) wucherten, einmal Halt gemacht. Mehrere Rebhühner, die Jack unterwegs erlegt hatte, wurden gerupft, ausgenommen, über hellem Feuer gebraten und bildeten nebst einigen Cassavekuchen das erste Frühstück. Der Rio lieferte dazu klares Wasser, dem man ein wenig Branntwein aus den Kürbisflaschen zusetzte, und die jetzt schön reisen Goyaven bildeten eine schmackhafte Nachspeise.

Gesättigt und frisch gekräftigt, brachen die drei Ausflügler bald nach der Mahlzeit wieder auf.

Das Ende des Thales lag zwischen zwei steilen und hohen Felswänden. An dieser ziemlich engen, schluchtartigen Stelle bildete der Rio eine kurze Stromschnelle, und gleich dahinter öffnete sich der Ausgang.

Ein fast ganz ebenes Land mit der üppigen Fruchtbarkeit der Tropenzonen dehnte sich hier bis zu den ersten Ausläufern der Bergkette aus. Welcher Unterschied gegenüber dem vom Oberlauf des Montrose bewässerten Gebiete! Ungefähr eine Lieue weit im Süden schlängelte sich ein in den Sonnenstrahlen glitzernder Wasserlauf hin, der wahrscheinlich dem Bette des Montrose zuströmte.

[203] Im übrigen wechselten nach Süden zu und auf eine Strecke von sechs bis sieben Lieues hin freie Ebenen und Hochwald mit einander ab. Den Erdboden bedeckten Grasarten von fünf bis sechs Fuß Höhe, da und dort stacheliges, hochaufgeschossenes Schilf und breite Flächen von Zuckerrohr, das bis über Sehweite hinaus im Winde schwankte. Ohne Zweifel hätten diese Naturerzeugnisse, jener Zeit die werthvollsten Schätze der überseeischen Colonien, auch hier mit gutem Erfolge ausgebeutet werden können.

Vier volle Stunden marschirten Wolston und die beiden jungen Leute unverdrossen dahin.

»Ich dächte, wir könnten nun Halt machen, sagte dann Ernst.

– Schon wieder? rief Jack, der, so wenig wie sein Hund Falb, etwas von Müdigkeit in den Beinen spürte.

– Ich stimme Ernst bei, erklärte Wolston. Diese Stelle scheint mir dazu vorzüglich geeignet; wir könnten wohl auch die Nacht hier am Saume des kleinen Zirbelkiefergehölzes zubringen.

– Nun, meinetwegen, so lagern wir uns hier, lenkte Jack nun ein. Wir wollen auch schleunigst etwas essen, denn ich habe einen recht hohlen Magen!

– Sollten wir vielleicht ein Feuer anzünden und es bis zum Anbruche des Tages unterhalten? fragte Ernst.

– Ja, das wäre klug und weise, meinte Jack, denn es ist und bleibt doch das beste Mittel, gefährliche Thiere fernzuhalten.

– Ganz gewiß, bestätigte Wolston; dann müßten wir aber abwechselnd wach bleiben, und ich halte es doch für besser, tüchtig auszuschlafen, denn ich glaube kaum, daß wir hier etwas zu fürchten haben.

– Nein, erklärte Ernst, nirgends hat sich eine verdächtige Spur gezeigt, so wenig wie irgend ein Heulen oder Brüllen zu hören war, seitdem wir das Grünthal verlassen haben. Da ist es wohl richtiger, wir ersparen uns die Anstrengung, einer nach dem anderen zu wachen.«

Jack widersprach nicht weiter, und alle Drei machten es sich bequem, um ihren Hunger zu stillen.

Die Nacht versprach, herrlich zu werden, eine jener Nächte, wo die Natur friedlich einschlummert und deren Ruhe kein Windhauch stört. Kein Blatt rührte sich an den Bäumen, kein Geräusch unterbrach die Stille der weiten Ebene. Auch der Hund verrieth kein Zeichen von Beunruhigung. Selbst aus der Ferne ertönte kein heiseres Gebell von Schakalen, obwohl diese Raubthiere auf der Insel [204] so zahlreich hausten. Kurz, es konnte als keine Unklugheit angesehen werden, sich hier dem Schlafe unter freiem Himmel zu überlassen. Wolston und die beiden Brüder verzehrten also, was vom Frühstück noch vorhanden war, und einige Eier von kleinen Schildkröten, die Ernst gefunden und in der heißen Asche gekocht hatte, nebst frischen Früchten von Pinien, die es in der Nähe im Ueberfluß gab und deren Kern einen würzigen Nußgeschmack hat.

Der erste, der die Augen schloß, war Jack, er war ja auch der müdeste von allen. Unausgesetzt hatte er die Dickichte und Gebüsche durchstreift und sich zuweilen so weit entfernt, daß sich Wolston gezwungen sah, ihn zurückzurufen. Wie er aber als der erste einschlief, war er auch der erste, der beim Tagesgrauen wieder erwachte.

Sofort brachen die Ausflügler wieder auf. Nach einer Stunde mußten sie durch einen kleinen Wasserlauf waten, der sich jedenfalls zwei bis drei Lieues weiterhin in den Montrose-Fluß ergoß, wenigstens glaubte Ernst das wegen seines Verlaufes nach Südosten zu annehmen zu dürfen.

Ueberall dehnten sich weite Grasflächen aus oder waren große Strecken mit Zuckerrohr bedeckt. Auf feuchteren Bodenniederungen erhoben sich da und dort Gruppen jener Leuchterbäume, die an dem einen Zweige Blüthen, an dem anderen Früchte tragen. Endlich zeigte sich dichter Hochwald an Stelle mancher, an den Abhängen des Grünthales nur vereinzelt vorkommender Bäume, wie von Zimmtbäumen, Palmen verschiedener Art, von Feigen- und Mangobäumen und auch eine Menge solcher, die keine eßbaren Früchte liefern, wie Weiden, immergrüne und Seeeichen – doch alle von prächtigem Wuchse. Außer den Stellen, wo Leuchterbäume standen, zeigte die Gegend hier nirgends sumpfigen Boden. Dieser stieg vielmehr nach und nach an, was Jack aller Hoffnung beraubte, gelegentlich auf ein Volk von Wasservögeln zu stoßen. Er mußte sich also mit dem übrigens sehr zahlreichen Wild der Ebene und des Waldes begnügen.

Wolston glaubte seinem jungen Begleiter in dieser Beziehung sogar noch folgendes ans Herz legen zu müssen:

»Offenbar, mein lieber Jack, sagte er, brauchen wir uns doch nicht zu beklagen, nur auf Sultanhühner, Rebhühner, Wachteln, Trappen und Auerhähne verwiesen zu sein, von den Antilopen, Wasserschweinen und Agutis gar nicht zu reden; es erscheint mir aber richtiger, unseren Bedarf immer erst zu decken, wenn wir Halt machen, um unsere Jagdtasche nicht unnöthig zu belasten.

[205] – Ja, da haben Sie wohl recht, Herr Wolston, antwortete der eifrige Jäger. Leider ist es gar so schwierig, sich immer zu zügeln, und wenn gerade ein Stück Wild in bequemer Schußweite vorüberstreicht...«

Jack befolgte übrigens die Empfehlung des Herrn Wolston. Es dauerte bis elf Uhr, ehe zwei Flintenschüsse anzeigten, daß der Bedarf für das erste Frühstück gedeckt worden sei. Wer am Fleische freilich einen etwas hervortretenden Wildgeschmack liebt, der wäre von den zwei Hähnen und den drei Waldschnepfen die Falb aus dem Unterholz apportirte, gerade nicht entzückt gewesen. Die Bewohner der Neuen Schweiz hatten es zu einer solchen Geschmacksverirrung aber noch nicht gebracht, und die drei Genossen ließen denn auch nichts von den Stücken übrig, die über einem Feuer aus dürrem Holze gebraten worden waren. Der Hund sättigte sich mit den zarten Geflügelknochen, die ihm fast in zu großer Menge zugeworfen wurden.

Im Laufe des Nachmittags machten sich immerhin noch ein paar Flintenschüsse nöthig, als es sich darum handelte, minder gern gesehene und wegen ihrer großen Zahl sogar etwas gefährliche Thiere zu verscheuchen. Ja, es kamen sogar alle drei Gewehre in Thätigkeit zur Verjagung einer Herde wilder Katzen derselben Art, die man schon nahe den Grenzen des Gelobten Landes bemerkt hatte, als dem Grünthale der erste, sich weiter ausdehnende Besuch abgestattet wurde. Mit greulichem Geschrei, einem Mitteldinge zwischen Miauen und Heulen, flüchtete das Katzenvolk, von dem nicht wenige verwundet waren. Vielleicht erschien es doch rathsam, sich in der folgenden Nacht wegen eines Ueberfalles durch diese Thiere etwas sorgsamer vorzusehen.

War das hiesige Gebiet, ohne von dem eigentlichen Federwilde zu reden, von Vögeln – wie von Papageien, leuchtend rothen Aras, von den kleinen Pfefferfressern mit grünen, mit Gold besetzten Flügeln, großen blauen Hähern von Virginien und hochgewachsenen Flamingos – stark bevölkert, so fehlte es ihm auch nicht an Antilopen, Elchhirschen, Quaggas, Onagres und Büffeln. Sobald diese Thiere aber die Anwesenheit von Menschen, selbst auf sehr große Entfernung hin, witterten, flüchteten alle so eilig, daß es ganz unmöglich gewesen wäre, an sie heranzukommen.

Auf der ganzen, nach der Bergkette zu aufsteigenden Strecke zeigte das Land überall die gleiche Fruchtbarkeit, die sich mit der des nördlichen Inseltheiles recht wohl messen kannte. Bald sollten nun Wolston, Ernst und Jack aber eine stark bewaldete Gegend erreichen. Bei der Annäherung an den Fuß der Bergkette [206] wurde ein weit hinausreichender, scheinbar sehr dichter Hochwald sichtbar. Für den nächsten Tag waren also beim weiteren Marsche jedenfalls größere Schwierigkeiten zu erwarten.

Am heutigen Abende verzehrten die hungrig gewordenen Wanderer eine Anzahl Haselhühner, von denen jeder sein Theil aus einem Volke von solchen erlegt hatte, das Falb unterwegs aus dem hohen Grase aufgescheucht hatte. Als Lagerplatz wählte man dann eine Stelle am Rande eines Waldes von herrlichen Sagopalmen, die von einem kleinen Wasserlaufe durchschnitten wurde, welcher, infolge der Neigung des Erdbodens in einen Sturzbach verwandelt, nach Südwesten zu abströmte.

Diesmal bestand Wolston darauf, für die Zeit des Nachtlagers eine sorgsame Bewachung anzuordnen und ein bis zum Morgenroth andauerndes Feuer zu unterhalten. Die Nacht über mußte man einander dazu also regelmäßig ablösen, denn vereinzeltes Geheul ließ sich schon jetzt aus größerer Nähe hören.

Am nächsten Tage trat man die weitere Wanderung schon in den ersten Morgenstunden an. Noch drei Lieues, und der Fuß der Berge mußte erreicht sein. Vielleicht war, vorausgesetzt, daß sich dem Marsche keine unerwarteten Hindernisse entgegenstellten, diese zweite Wegstrecke im Laufe des Tages zu überwinden.

War dann die Wand des Bergrückens an dessen nördlichem Abhange einigermaßen gangbar, so konnte am nächsten Morgen der Aufstieg nur noch wenige Stunden in Anspruch nehmen.

Doch welchen Unterschied zeigte das Land hier gegenüber dem am südlichen Ausgange des Grünthales! Zur Rechten und zur Linken starrten hohe Stämme empor. Fast ausschließlich bestand der Wald aus den harzreichen Baumarten, die man gewöhnlich auf größeren Höhen antrifft und die hier von verschiedenen lärmenden und nach Osten abstürzenden Rios bewässert wurden. Ob Nebenarme und Zuflüsse des Montrose-Flusses, jedenfalls trockneten diese in der Sommerhitze so gut wie gänzlich aus, und auch jetzt kam man beim Durchschreiten derselben nur bis zum halben Unterschenkel ins Wasser.

Im Laufe des Vormittags erachtete es Wolston für rathsamer, um einige dieser Holzbestände herumzugehen, zwischen denen sich da und dort kleinere freie Flächen befanden. Wurde der Weg dadurch auch etwas verlängert, so kam man auf diese Weise doch leichter vorwärts, als wenn man versucht hätte, durch das mit Lianen verflochtene Unterholz des Hochwaldes hindurchzudringen.

[207] In dieser Weise wurde die Wanderung bis elf Uhr fortgesetzt und dann Halt gemacht, um zu essen und um auszuruhen, denn der Weg war immerhin anstrengend genug gewesen. An Wild hatte es dabei niemals gefehlt. Ueberdies war es Jack gelungen, eine junge Antilope zu erlegen, von der er die leckersten Stücke mitbrachte, und davon blieb auch noch genug für das Abendessen übrig.

Man konnte sich beglückwünschen, diesen Vorrath mitgenommen zu haben, denn am Nachmittage war wenigstens von Federwild nichts zu sehen. Da mag einer nun ein noch so treffsicherer Jäger sein, es nützt ihm ja nichts, wenn er keine Gelegenheit findet, ein paar wohlgezielte Schüsse abzugeben.

Gegen Mittag machte man also Halt, und zwar im Schatten einer mächtigen Seekiefer, an deren Fuße Ernst ein Feuer aus abgestorbenem Holze anzündete. Während dann ein Antilopenviertel, von Jack sorgsam überwacht, röstete, entfernten sich Wolston und sein Bruder noch auf einige hundert Schritte, um die nächste Umgebung zu besichtigen.

»Dehnt sich dieses waldige Gebiet bis zur Bergkette hin aus, sagte Ernst, so ist anzunehmen, daß es auch deren untere Abhänge bedeckt. Das glaubte ich schon heute Morgen zu bemerken, als wir von unserer Lagerstelle aufbrachen.

– In diesem Falle, antwortete Wolston, werden wir wohl oder übel hindurchdringen müssen, denn es dürfte unmöglich sein, es rechts oder links zu umgehen, ohne den Weg sehr beträchtlich zu verlängern oder gar bis zur Küste im Osten geführt zu werden.

– Und diese Küste, Herr Wolston, erklärte Ernst, dürfte, wenn meine Schätzung zutrifft, etwa zehn Lieues von hier entfernt sein. Ich meine dabei den Theil der Küste, nach dem wir mit der Pinasse an die Mündung des Montrose gekommen waren... ja, wenigstens zehn Lieues von hier.

– Wenn es an dem ist, lieber Ernst, können wir gar nicht daran denken, die Berge von Osten her zu ersteigen. Wie es im Westen davon aussieht...

– Davon wissen wir eigentlich gar nichts, Herr Wolston, höchstens daß die Bergkette, wenn man sie von den Anhöhen des Grünthales aus betrachtet, sich sehr weit nach Abend hin auszudehnen scheint.

– Da uns also keine Wahl bleibt, erklärte Wolston, werden wir es unternehmen müssen, mitten durch den Wald zu ziehen und uns einen Weg bis zu dessen oberem Saume zu brechen. Erweist es sich als unmöglich, das in einem Tage durchzuführen, nun, so wenden wir eben zwei, wenn es sein muß, auch drei Tage daran, zum Ziele aber müssen wir auf jeden Fall gelangen.«


Dann stürzten auch stets drei oder vier größere Blöcke mit hinab. (S. 216.)

Die beiden Brüder theilten völlig die Ansichten des Herrn Wolston, da sie ja ebenso wie er entschlossen waren, den Ausflug bis zur Höhe der Bergkette auszudehnen. Ueber diesen Punkt wurde also gar nicht wei [208] ter verhandelt.

Das über glühenden Kohlen vollends gar geröstete Antilopenfleisch, einige Maniokkuchen und ein halbes Dutzend Früchte von den nächsten Bäumen, von Bananen, Goyaven- und Zimmetapfelbäumen, lieferten die Einzelgerichte der Mahlzeit, die nur einen einstündigen Aufenthalt erforderte. Darauf drangen,[209] Waffen und Jagdtaschen auf den Schultern und auf dem Rücken, Wolston, Ernst und Jack unter das Zweiggewölbe des Waldes ein.

Zwischen dessen geradstämmigen und etwas von einander abstehenden Tannen mit wenig unebenem Erdboden, der mit Gras oder vielmehr mit einer Art Moos gepolstert und nur stellenweise mit Brombeerbüschen und Gesträuch bewachsen war, ging der Marsch recht bequem vorwärts, jedenfalls besser als in anderen Wäldern, die vielfach von Schmarotzergewächsen und einem Netze von Lianen durchsetzt waren. Hier in dem umfänglichen Tannengehölze, wie überhaupt in solchen, konnte man ohne nennenswerthe Hindernisse vorwärts dringen. Einen Pfad gab es natürlich nicht, nicht einmal eine Fährte von Thieren, doch boten die Bäume wenigstens, einige Abweichungen von der geraden Richtung abgerechnet, einen freien Durchgang.

Sperrte nun kein unüberschreitbarer Wasserlauf – z. B. ein wilder Bergstrom – weiterhin den Weg, so hatte man sich hier wirklich nicht zu beklagen. Wolston, Ernst und Jack marschirten unter dem Schutze der dichtbewachsenen Baumgipfel hin, die trotz des hohen Standes der Sonne kein Strahl durchdrang, und das war gewiß eine Wohlthat für einfache Fußgänger, die übrigens noch der durchdringende Harzduft der Bäume erquickte.

Obwohl das Wild hier selten geworden war, sahen sich Wolston und Jack, ja sogar Ernst doch genöthigt, unterwegs wiederholt ihre Gewehre abzufeuern. Es handelte sich hier zwar nicht um so gefährliche Raubthiere, wie um Löwen, Tiger, Panther oder Quaggas, die früher schon in der Nähe des Gelobten Landes und in den Grenzgebieten der Perlenbai aufgetaucht waren, dafür aber um eine sehr zahlreiche, hinterlistige Rotte von Vierhändern.

»O, diese Spitzbuben! rief Jack. Sollte man nicht glauben, sie hätten sich alle in diesen Wald geflüchtet, seit wir sie aus den Gehölzen bei Waldegg und bei Zuckertop verjagt haben!«

Und nachdem ihn mehrere, von einem kräftigen Arme geschleuderte Tannenzapfen mitten auf die Brust getroffen hatten, beeilte er sich, die beiden Läufe seines Gewehres auf die frechen Burschen abzufeuern.

Diese Abwehr mußte, selbst auf die Gefahr einer Erschöpfung der Munition hin, eine volle Stunde lang fortgesetzt werden; dann lagen gegen zwanzig schwer oder tödtlich verwundete Vierhänder auf der Erde. Wenn sie von Zweig zu Zweig herunterpurzelten, stürzte sich Falb auf die, die nicht mehr zu fliehen im Stande waren, und machte ihnen mit den Zähnen vollends den Garaus.

[210] »Wären es nur Cocosnüsse gewesen, meinte Jack, die jene Spitzbuben uns als Geschosse zugeworfen hätten, dann ließe man sich ein solches Bombardement eher gefallen.

– Sapperment, erwiderte Wolston, ich ziehe denn doch Tannenzapfen den Cocosnüssen vor. Jene sind weniger hart...

– Ja, sie liefern dafür aber kein Nahrungsmittel, entgegnete Jack. Von einer Cocosnuß kann man doch essen und trinken!

– Zugegeben, fiel jetzt Ernst ein, wir wollen aber froh sein, daß die Affen jetzt im Inselinnern und nicht in der Nähe unserer Meiereien hausen. Wir haben ja genug Mühe gehabt. ihre Verwüstungen zu verhindern und sie durch Fallen und andere Mittel zu vernichten. Mögen sie hier im Tannenwalde bleiben und niemals nach dem Gelobten Lande zurückkehren, das ist alles, was man von ihnen verlangt...

– Und recht höflich obendrein!« setzte Jack hinzu, der zum Beweise dieser Höflichkeit schnell noch einen letzten Schuß abgab.

Nach der Abwehr dieses Angriffes ging die Wanderung weiter. deren einzige Schwierigkeit darin bestand, die beste Richtung nach den Bergen hin einzuhalten.

Das dichte und von oben her undurchdringliche Tannengehölz nahm noch immer kein Ende und wies auch keine Lücke auf, auf der man die Stelle hätte sehen können, wo sich die im Sinken begriffene Sonne eben befand. Nirgends zeigte sich eine Waldblöße, nirgends ein umgestürzter Baum. Wolston konnte sich beglückwünschen, weder Wagen noch Gespann mitgenommen zu haben. Die Büffel oder der Wildesel Jacks hätten da und dort, wo die Bäume so dicht standen, daß sie sich fast berührten, gar nicht hindurch kommen können, und dann wäre ein Umkehren kaum zu vermeiden gewesen.

Gegen sieben Uhr abends erreichten Wolston, Ernst und Jack die südliche Grenze des Tannengehölzes. Der Boden war schon so stark angestiegen, daß der Wald noch die ersten Bergabsätze bedeckte und die Gipfel wurden erst in dem Augenblicke sichtbar, wo die Sonne hinter den letzten westlichen Vorbergen der Kette versank.

Hier lagen nun Felsstücke umher, Trümmer, die sich vom Gipfel des Berges gelöst hatten. An manchen Stellen sprudelten auch Wasserfäden hervor, die wahrscheinlich die Quellen des Montrose bildeten und der Bodenneigung entsprechend nach Osten zu hinabflossen.

[211] Den Aufstieg noch an demselben Abend zu unternehmen und vielleicht die ganze Nacht daran zu wagen, das wäre offenbar gefährlich gewesen. Trotz ihres Verlangens nach Erreichung des letzten Zieles, kam auch weder Herrn Wolston noch den zwei Brüdern ein solcher Gedanke. Sie sachten und fanden nur eine Aushöhlung in der Felsmasse, in der sie die Nacht geschützt zubringen konnten. Während sich Ernst dann mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigte, sammelten Wolston und Jack bei den letzten Bäumen noch dürres Gras und Moos ein, um den steinigen Boden der Grotte damit zu bedecken. Dann verzehrte man einige eben erlegte Tetras, eine Art kleiner Auerhähne, nachher aber dachten alle bei ihrer großen Ermüdung nur noch daran, bald eine erquickende Ruhe zu finden.

Einige Vorsichtsmaßregeln mußten indeß vorher doch noch getroffen werden. Mit einbrechender Dunkelheit ließ sich wiederholt ein nahes Heulen hören und es schien sogar, als ob sich dem ein Brüllen beimischte, über dessen Natur kein Zweifel herrschen konnte.

Deshalb wurde am Grotteneingange ein Feuer angezündet und die ganze Nacht über mit dem trockenen Holze unterhalten, das Wolston und Jack in großer Menge herbeigeschafft hatten.

Hierauf übernahmen Ernst als der erste, Jack als der zweite und Wolston als der letzte, bei dreistündiger Ablösung, bis zum Sonnenaufgang die Wache.

Schon sehr früh waren alle drei wieder auf den Füßen.

»Halloh, Herr Wolston, rief da Jack mit weithin schallender Stimme, nun ist der große Tag gekommen!... Binnen wenigen Stunden wird Ihr sehnlichster Wunsch erfüllt sein und Sie werden endgiltig unsere Flagge auf dem höchsten Punkte der Neuen Schweiz aufgepflanzt haben!

– Binnen wenigen Stunden... nun ja... wenn die letzte Wegstrecke nicht allzuviele Schwierigkeiten bietet, bemerkte Ernst.

– Jedenfalls, ob es nun heute ist oder morgen, antwortete Wolston werden wir bald über den Umfang der Insel aufgeklärt sein...

– Mindestens, fiel Jack ein, wenn sie sich von ihrem südlichen Theile nach Westen zu nicht bis über Sehweite hin ausdehnt.

– Was gar nicht unmöglich wäre, setzte Ernst hinzu.

– Ich glaube das nicht, antwortete Wolston, denn dann wäre sie bisher nicht den Seefahrern entgangen, die diesen Theil des Indischen Oceans besuchen.

– Nun, wir werden ja sehen!« schloß Jack das Gespräch.

[212] Nach einem Frühstück von kaltem Wild wurde der Ueberrest sorglich mitgenommen, denn auf dem steilen Abhange, den zu erklimmen selbst Falb keine besondere Lust verrieth, fehlte es gewiß ganz an jagdbaren Thieren. Da nach dem Verlassen der Grotte ein Angriff von Raubthieren nicht mehr zu befürchten war, wurden die Gewehre an ihrem Gurt übergehängt. Dann begannen, Jack an der Spitze, Ernst hinter ihm und Wolston als Nachtrab, alle drei den Aufstieg nach den ersten Absätzen.

Nach einer Schätzung Ernsts mochte die Höhe des Bergrückens elf- bis zwölfhundert Fuß betragen. Ein vereinzelter Kegel, der sich gegenüber dem Tannenholze erhob, überragte die Kammlinie noch etwa um fünfzig Toisen. Auf dem Gipfel dieses Bergkegels beabsichtigte Wolston die Flagge der Neuen Schweiz zu hissen.

Hundert Schritte von der Grotte nahm die Waldzone der Gegend ein plötzliches Ende. Darüber zeigten sich einzelne grünende Bodenstücke, Grasflächen mit Gebüschen, Aloes, Mastixsträuchern, Myrthen und Haidekraut, bis auf sechs- bis siebenhundert Fuß Höhe – wo die zweite Bergzone abschloß. Die Steilheit der Abhänge war aber schon so groß, daß sie stellenweise fünfzig Grade überschritt. Infolge dessen mußte der Weg etwas verlängert werden, indem man abwechselnd nach links und rechts schräg emporstieg.

Das Hinaufdringen wurde übrigens dadurch begünstigt, daß der Boden überall einen sicheren Stützpunkt bot. Noch brauchte man nicht die Hände zum Klettern zu Hilfe zu nehmen oder gar auf allen Vieren zu kriechen. Der Fuß stand immer fest auf dem Grün, das durch Wurzeln und steinige Spitzen uneben war. Ein Sturz war also kaum zu befürchten, und schlimmsten Falls wäre man dabei höchstens einige Fuß tief auf eine dichte Moosdecke gepurzelt.

Der Aufstieg vollzog sich also ohne Unterbrechung, wenn auch im Zickzack, um den Steigungswinkel zu verkleinern, obwohl das eine längere Anstrengung kostete. Der Gipfel konnte indeß nicht erreicht werden, ohne daß die Bergsteiger sich einigemale genöthigt sahen, Halt zu machen, um Athem zu schöpfen. Fühlten sich auch Ernst und Jack, zwei kräftige, junge Leute mit täglicher Uebung in allerlei Körperanstrengungen, nicht allzusehr erschöpft, so konnte es ihnen Wolston, schon infolge seines Alters, an Kraftaufwand und Geschmeidigkeit nicht gleichthun. Er erklärte jedoch, schon zufrieden sein zu wollen, wenn er und seine Gefährten zur Frühstückszeit bis zum Fuße des Bergkegels gelangt wären. Dann mußten eine oder zwei Stunden genügen, den höchsten Gipfel zu erreichen.

[213] Wiederholt wurde Jack ermahnt, nicht so kühn wie eine Gemse emporzuklimmen, da ihn die Natur nun einmal nicht zur Classe dieser Kletterthiere verwiesen hätte. So ging es denn immer weiter bergauf, und Wolston war fest entschlossen, um seinetwillen keinen Halt machen zu lassen, ehe nicht der Fuß des Kegels, die obere Grenze der zweiten Bergzone, erreicht wäre. Immerhin war es noch nicht erwiesen, ob man das schlimmste Stück Weges dann schon hinter sich hätte. Von der jetzt erreichten Höhe aus konnte man wohl die Gegend nach Norden, Osten und Westen hin, nicht aber das Land überblicken, das noch nach Süden hin liegen mochte. Dazu mußte erst der Gipfel des Kegelberges erstiegen werden. Was die nach dem Grünthale zu gelegenen Landstrecken betraf, so waren diese zwischen der Mündung des Montrose und dem letzten Vorberge an der Perlenbucht ja bereits bekannt. Die sehr natürliche und völlig berechtigte Neugier der Bergsteiger konnte also nur Befriedigung finden, wenn diese den Gipfel selbst erreichten oder, im Falle, daß das unausführbar wäre, wenn sie um diesen herumgelangen konnten.

Nach Ueberwindung der zweiten Zone mußte an deren Grenze einmal Halt gemacht werden. Eine so große Anstrengung erforderte wenigstens einige Ruhe. Es war jetzt Mittag, und nach eingenommenem zweiten Frühstück sollte der Marsch über den obersten Abhang sogleich wieder angetreten werden. Uebrigens waren alle recht hungrig geworden. Nun steht es zwar fest, daß starke physische Anstrengungen für den Magen nicht gerade vortheilhaft sind, sondern seine Verdauungsthätigkeit nicht unwesentlich beeinträchtigen; doch ohne Rücksicht darauf, ob das Frühstück gut oder schlecht verdaut würde, galt es jetzt in erster Linie, ein solches zu verzehren. Uebrigens beschränkte sich dieses in der Hauptsache auf die letzten Stücke der gebratenen jungen Antilope.

Nach Verlauf einer Stunde erhob sich Jack wieder, sprang trotz der Warnungen Wolston's auf die ersten Steinblöcke des steilen Abhanges und rief:

»Wer mich lieb hat, folgt mir nach!

– Na, wir wollen ihm diesen Beweis von Zuneigung nicht schuldig bleiben, lieber Ernst, antwortete Wolston, vor allem aber, um ihn vor Unklugheiten zu behüten!«

[214]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Die Ankunft auf dem Gipfel des Kegels. – Umschau nach allen Seiten. – Was im Norden, Osten und Westen zu sehen war. – Das Land im Süden. – Ein Schiff am Horizonte. – Die britische Flagge.

Drei- bis vierhundert Faß... das übertrifft nicht einmal die Höhe der großen Pyramide von Aegypten. Freilich hätte man an den Seiten des Bergkegels vergeblich die riesigen Stufen gesucht, die die Erklimmung des Pharaonenbauwerkes von Gizeh erleichtern und ohne die es ganz unmöglich wäre, nach seiner Spitze zu gelangen. Die Winkel, den die schrägen Seitenlinien des Kegels mit der Senkrechten bildeten, waren übrigens hier etwas größer als bei der großen Pyramide.

Das Ganze bildete eigentlich nur einen ungeheueren Haufen regellos aufgethürmter Felsstücke, die meist recht unzulänglich gestützt zu liegen schienen. Daran gab es aber genug hervorspringende Ränder, Kanten, Ecken und Wülste, die dem Fuß einen sicheren Stützpunkt boten. Jack, der immer voraus war, prüfte die Sicherheit, tastete rechts- und linkshin, und indem Wolston und Ernst ihm ohne Uebereilung folgten, schwangen sie sich nach und nach von Block zu Block empor.

Doch welch trostlose Unfruchtbarkeit herrschte in dieser dritten Zone! Nirgends entdeckte man eine Spur von Pflanzenwuchs, höchstens einige Büschel jenes mageren Sandkrautes, das mit ein paar Krümchen Erde vorlieb nimmt, und größere Bodenstücke mit trockenen Flechtenarten, die dem Felsen eine graugrüne Färbung verliehen.

Die Hauptschwierigkeit bestand jetzt darin, ein Abgleiten zu verhüten, denn der Abhang war zuweilen so glatt wie ein Spiegel Hier wäre ein Sturz, bei dem man bis zum Fuße des Kegels hinabrollen mußte, jedenfalls tödtlich gewesen. Außerdem verlangte es große Vorsicht, die wirr durcheinander geworfenen Bruchstücke nicht ins Wanken zu bringen und eine Lawine auszulösen, die bis zum Fuß der Bergkette hinabgepoltert wäre.

Das mächtige Gerippe des Berges bestand übrigens ausschließlich aus Kalkstein und Granit; nichts davon verrieth einen vulcanischen Ursprung. Das ließ also annehmen, daß die Neue Schweiz von Eruptionen und Erderschütterungen als Wirkung unterirdischer Kräfte verschont bleiben werde.

[215] Wolston, Jack und Ernst gelangten ohne Unfall bis zur halben Bergeshöhe. Selbst beim behutsamsten Klettern hatten sie aber doch zuweilen Felsstücke ins Rollen gebracht. Dann stürzten auch stets drei oder vier größere Blöcke mit hinab, die, erst an den Bergflanken aufschlagend, sich zwölfhundert Fuß weiter unten im Walde verloren und deren Hinabdonnern das Echo der Bergkette weckte.

Ueber dieser Höhe schwebten noch einige große Vögel, die einzigen Vertreter des Thierlebens in der dritten Zone, auf der sie aber nirgends zu rasten suchten. Kleinere Vögel zeigten sich gar nicht, diese hielten sich wohl immer in dem ausgedehnten Tannenwalde auf. Einige Pärchen prächtiger Luftsegler zogen langsamen Flügelschlags noch über den trotzigen Gipfel des Kegels hin. Da zitterte Jack schon das Gewehr in den Händen und gern hätte er eine Kugel hinausgejagt nach den zu den »Umbus« gehörigen Geiern oder nach den riesigen Condors, die offenbar über das Erscheinen von Menschen in dieser traurigen Einöde erstaunten..

Mehr als einmal war der junge Jäger schon dabei, das Gewehr an die Schulter zu legen.

»Was könnt' es nützen? rief ihm Wolston zu.

– Wie... nützen...? erwiderte Jack. Es wäre doch...«

Er vollendete den Satz jedoch nicht, sondern sprang, nachdem er die Waffe wieder umgehängt hatte, weiter auf den Blöcken hinaus.

In gleicher Weise blieb einem prächtigen Malabaradler das Leben erhalten. Statt diesen zu erlegen, wäre es rathsamer gewesen, ihn einzufangen. Er hätte dann Fritzens treuen Begleiter ersetzen können, der bei der Kajakfahrt zur Aufsuchung des Rauchenden Felsens im Kampfe mit dem Tiger umgekommen war.

Je mehr man sich der Kegelspitze näherte, desto schroffer fiel der Abhang ab. Der letzte Theil des Berges glich schon mehr einem Zuckerhüte. Wolston zweifelte schon daran, ob ganz oben für drei Personen Platz genug sein werde. Alle mußten sich gegenseitig, oder richtiger einer dem anderen helfen. Jack zog erst Ernst und dieser dann Herrn Wolston zu sich empor. Eine Umgehung des Kegels wäre eine vergebliche Mühe gewesen. Hier an der Nordseite bot dieser noch die geringsten Schwierigkeiten.

Gegen zwei Uhr Nachmittags ließ sich eine vibrirende Stimme vernehmen – die Stimme Jacks – wohl die erste, die auf diesem Gipfel erschallt war.

»Eine Insel... es ist eine Insel!«

[216] [219]Eine letzte Kraftanstrengung brachte Wolston und Ernst an die Seite Jacks. Erschöpft, schachmatt, keuchend und kaum noch der Sprache mächtig, dehnten sie sich auf der zwei Quadrattoisen großen Gipfelfläche erst einmal ordentlich aus, um wieder zu Athem zu kommen.

Daß die Neue Schweiz eine Insel war, unterlag ja seit dem Hierherkommen der »Licorne« keinem Zweifel mehr. Umschloß sie das Meer auch von allen Seiten, so war das doch hier vom Berge aus in verschiedener Entfernung der Fall.


Die Taube wurde aus ihrem kleinen Bauer genommen. (S. 226.)

Weit ausgedehnt im Süden, etwas beschränkter im Westen und Osten und zu einem bläulichen Landstreifen zusammengeschrumpft im Norden, erglänzte die Insel unter den Strahlen der Sonne, die jetzt nur wenige Grade unter ihrem Culminationspunkte stand.

Der erste Blick lehrte Ernst schon, daß der Bergrücken nicht durch die Mitte des Landes verlief. Dieser stieg vielmehr im südlichen Theile auf und beschrieb nach Osten und nach Westen hin einen ziemlich regelmäßigen Bogen.

Von diesem, fünfzehnhundert Fuß über der Meeresfläche gelegenen Punkte aus konnte man bis zum Horizonte ungefähr siebzehn bis achtzehn Lieues weit sehen. Die Neue Schweiz hatte aber keine entsprechend große Oberfläche.

Wolston stellte an Ernst eine hierauf bezügliche Frage.

»Meiner Schätzung nach, antwortete dieser, dürfte unsere Insel einen Umfang von sechzig bis zweiundsechzig Lieues haben. Das ergäbe immerhin eine erhebliche Oberfläche, mindestens eine größere als die des Cantons Luzern.

– Wie groß wäre sie also annähernd? fragte Wolston weiter.

– Soweit ich das abzuschätzen vermag, und wenn ich. ihre Gestaltung eines Ovals in Rechnung ziehe, erklärte Ernst, kann sie wohl vierhundert Quadratlieues etwa halb so viel wie Sicilien, messen.

– O, rief Jack, es gibt eine Menge bekannte und wichtige Inseln, die lange nicht so groß sind!

– Ganz recht, stimmte Ernst ein, und täuscht mich mein Gedächtniß nicht, so hat eine der wichtigsten Inseln des Mittelmeeres, die für England von ganz besonderer Bedeutung ist, nur neun Lieues in der Länge bei vieren in der Breite...

– Welche denn?

– Malta.

– Malta! rief Wolston, dessen Britendünkel bei diesem Namen erwachte. Nun, warum sollte die Neue Schweiz nicht zu einem Malta des Indischen Oceans werden?...«

[219] In Jack stieg dabei freilich die Frage auf, warum denn die alte Schweiz sie nicht ebenso gut für sich behalten und hier vielleicht eine blühende helvetische Colonie anlegen könnte.

Der Himmel war sehr klar und die Luft bis zum Horizonte völlig frei von Dünsten. Keine Spur von Feuchtigkeit war zu bemerken und das Land mit allen seinen Unebenheiten ganz deutlich zu übersehen.

Da der Abstieg jedenfalls dreimal weniger Zeit erforderte, als der Aufstieg, blieben Wolston und den beiden Brüdern einige Stunden übrig, ehe sie nach dem Tannenwalde hinunter wieder aufbrechen mußten. Mit dem von Hand zu Hand gehenden Fernrohre betrachteten sie aufmerksam das weite Land, das sich vor ihnen ausdehnte.

Ernst hatte Taschenbuch und Bleistift hervorgeholt und zeichnete die Linien des Ovals ab, die den neunzehnten Grad südlicher Breite mit einer Länge von etwa vierundzwanzig Lieues und den hundertvierzehnten Meridian mit einer solchen von neunzehn Lieues durchschnitten.

Auf einer Strecke, die in der Luftlinie zehn bis elf Lieues messen mochte, ließ sich nach Norden zu folgendes erkennen:

Zunächst begleitete ein schmaler Meeresstreifen jenseit der Küste den Theil, der zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem Vorgebirge lag, das die Perlenbucht abschloß.

»Nein, da ist kein Irrthum möglich, meinte Jack, und ich brauche gar kein Fernrohr, das Gelobte Land und die Küste bis zur Rettungsbucht zu erkennen...

– Gewiß nicht, setzte Wolston hinzu, und dort an der entgegengesetzten Seite sieht man das Cap im Osten, das die »Licorne«-Bai beschützt.

– Leider kann man, versetzte Jack, selbst mit Ernstens vorzüglichem Fernrohre die Gegend in der Umgebung des Schakalbaches nicht sehen.

– Das kommt, erwiderte Ernst, daher, daß sie von der sie im Süden begrenzenden Felsenwand verdeckt wird. Da man von Felsenheim und Falkenhorst aus den höchsten Gipfel der Berge nicht zu sehen vermag, kann man auch von der Höhe der Kette aus Falkenhorst und Felsenheim nicht sehen. Das ist doch logisch, meine ich...

– Vollkommen, Du Erzlogiker, Du! antwortete Jack. Das müßte aber ebenso für das Cap der Getäuschten Hoffnung Geltung haben, und doch ist das jenes weit nach Norden hinausreichende Vorgebirge, das man von hier aus erkennen kann...

[220] – Ja, doch so sicher es ist, fuhr Ernst fort, daß man von jenem Cap und selbst vom Prospect-Hill aus den Kegelberg hier wahrnehmen kann. gehört doch vor allem dazu, daß man einmal danach hinblickt. Wahrscheinlich haben wir das noch nie mit der nöthigen Aufmerksamkeit gethan.

– Aus dem allen, meinte Wolston, geht hervor, daß die eigentliche Bergkette doch von den Anhöhen des Grünthales aus sichtbar sein müßte.

– Gewiß, Herr Wolston, erklärte Ernst, und eben diese Höhen verbergen Felsenheim unseren Blicken.

– Das bedauere ich, fiel Jack ein, denn ich bin überzeugt, daß wir da meinen Vater, meine Mutter, Frau Wolston und Annah hätten unterscheiden können, und wenn es ihnen eingefallen wäre, sich nach dem Prospect-Hill zu begeben, wette ich, daß wir sie einzeln hätten erkennen können... natürlich mit dem Fernrohre. Jetzt weilen sie nun da unten, sprechen von uns, zählen die Stunden und sagen sich vielleicht: Gestern mußten unsere Ausflügler am Fuße der Berge, und heute werden sie auf deren Kamme sein. Sie fragen sich wohl auch. welche Ausdehnung die Neue Schweiz haben möge. und ob sie sich im Indischen Meere hübsch sehen lassen könne...

– Sehr schön, lieber Sohn, es ist, als ob wir sie hörten! sagte Wolston..

– Und als ob wir sie sähen, versicherte Jack. Doch einerlei, ich beklage immerhin, daß jene Höhen uns den Schakalbach und unsere Wohnung in Felsenheim verhüllen...

– Ueberflüssiges Bedauern, meinte Ernst, dem man sich besser nicht hingiebt.

– Daran ist nur der dumme Gipfel hier schuld! sagte Jack. Warum ist er denn nicht noch etwas höher? Stiege er nur noch einige hundert Fuß mehr in die Luft auf, so würden unsere Angehörigen uns auch von da unten aus sehen... sie würden uns Zeichen geben... würden auf dem Felsenheimer Taubenhause eine Flagge aufziehen... und wir sendeten ihnen einen Gruß mit der unserigen...

– Aha, Jack ist wieder im Durchgehen! spöttelte Wolston gutmüthig.

– Auch bin ich überzeugt. Ernst sähe da die Annah...

– O, die sehe ich immer...

– Natürlich, auch ohne Fernglas, rief Jack. Sapperlot, wie weit reichen doch die Augen des Herzens!«

[221] Vom Gelobten Lande war also keine Einzelheit zu sehen. Unter diesen Umständen erübrigte es nur, die Gesammtinsel sorgsam zu betrachten, um ihre Umfassungslinien sowie ihren geologischen Aufbau kennen zu lernen.

Die Küste im Osten, also das Land hinter der »Licorne«-Bai, zeigte einen felsigen Rand, der den ganzen unfruchtbaren Theil, der schon seit der ersten Fahrt der Pinasse bekannt war, völlig einrahmte. Weiterhin erniedrigte sich das Steilufer, dagegen stieg das Land bis zur Mündung des Montrose mehr auf, lief endlich in einen spitzen Vorberg aus und bildete einen rückläufigen Bogen bis zu der Stelle, wo die eigentliche Bergkette im Südosten ihren Anfang nahm.

Gleich einem leuchtenden Faden glänzten in einiger Entfernung die Windungen des Montrose. In seinem Unterlaufe bewässerte dieser eine grünende und bewaldete Gegend, im Oberlaufe dagegen eine ganz nackte Landstrecke. Von zahlreichen, aus den unteren Theilen des Tannenholzes hervorrieselnden Rios ernährt, machte der Fluß vielfach Umwege und Schleifen. Jenseit des dichten Hochwaldes und zwischen Hainen und vereinzelten Baumgruppen verstreut, zeigten sich Ebenen und Grasflächen bis zur äußersten Westgrenze der Insel, wo wieder ein ziemlich hoher Hügel aufragte, gegen den sich, fünf bis sechs Lieues von hier, das andere Ende der Bergkette stützte.

Geometrisch dargestellt, hatte die Insel fast genau die Gestalt eines etwas breiteren als langen Blattes, dessen Stiel nach Süden hinausragte. Den Blattnerven entsprachen die Felsenkämme, dem Zellgewebe die grünen Flächen, die den größten Theil der Oberfläche bedeckten.

Im Westen glitzerten im Sonnenschein noch andere Wasserläufe, die zusammen ein ansehnliches hydrographisches System bildeten, jedenfalls ein mehr lückenloses Netz als das im Osten, das sich auf den Montrose und den Ostfluß beschränkte.

Kurz, die Neue Schweiz zeigte, nördlich von der Bergkette, mindestens zu fünf Sechsteln ihrer Oberfläche eine reiche Fruchtbarkeit und mußte recht gut einige tausend Einwohner ernähren können.

Was ihre Lage in diesem Theile des Indischen Oceans betraf, lag es vor Augen, daß sie mit keiner Inselgruppe, mit keinem Archipel in Verbindung stand.

Auch durch das Fernrohr war am äußersten Horizonte keine Spur von Land zu entdecken. Die nächste Küste wäre erst in der Entfernung von dreihundert[222] Lieues zu suchen gewesen, und das war, wie wir wissen, die von Neu-Holland.

Fehlte der Insel also auch ein Kranz von ihrem Ufer abgetrennter Eilande so erhob sich wenigstens, etwa vier Lieues westlich von der Perlenbucht, ein einzelnes Felsgebilde. Jack richtete das Fernrohr danach hin.

»Der Rauchende Berg... der nicht raucht, rief er, und ich stehe dafür ein: Fritz hätte ihn auch schon mit unbewaffnetem Auge erkannt!«

Die Neue Schweiz eignete sich demnach in ihrem größten Theile zur Anlegung einer bedeutenden Colonie. Was der Norden, Osten und der Westen dazu bot. hätte man vom Süden freilich nicht verlangen können.

Gleich einem Bogen gekrümmt. lehnten sich die beiden Ausläufer der Bergkette in fast gleicher Entfernung vom Fuße des Kegels, der also gerade die Mitte einnahm, gegen das Ufer. Der hierdurch abgeschlossene Landestheil war nach dem Meere zu von einer Reihe steiler Uferwände begrenzt, deren Untergrund man nicht sehen konnte, die aber lothrecht abzufallen schienen.

Welch ein Unterschied zwischen diesem sechsten Theile der Insel und den fünf anderen, die von der Natur so freigebig begünstigt waren! Hier herrschte die furchtbare Einöde einer Wüstenei, das abschreckendste Chaos. Die obere Zone der Bergkette reichte bis zum südlichen Ende der Insel hin – ein Hochgebiet, das völlig unübersteigbar zu sein schien. Vielleicht lief sie nach dieser Seite hin über ein Ufer mit Einschnitten, Spalten oder Escarenen aus, wie man stark gefurchte, steile Uferabhänge zu nennen pflegt. Der äußerste Strich Landes, ein sandiger oder mit Geröll bedeckter Streifen, an dem eine Landung möglich gewesen wäre, beschränkte sich wahrscheinlich auf einen schmalen, nur bei der Ebbe trocken liegenden Strand.

Schweigend betrachteten Wolston, Jack und Ernst das trostlos wüste Bild, das sich hier vor ihren Augen entrollte. Endlich fand Ernst wieder das Wart zu folgender gerechtfertigten Bemerkung:

»Wären wir nach dem Schiffbruche des »Landlord« an diese Küste geworfen worden, so wäre unser Tonnenboot ohne Zweifel in Trümmer gegangen und wir wären von dem schrecklichen Hungertode bedroht gewesen!

– Ganz richtig, lieber Ernst, sagte Wolston, an diesem Ufer wäre schwerlich auf Rettung zu hoffen gewesen. Stießt Ihr damals freilich nur wenige Lieues weiter nördlich ans Land, da hätte sich schon fruchtbarer Boden und eine wildreiche Gegend gezeigt. Ich vermuthe übrigens, diese schreckliche Gegend [223] stehe mit dem Innern in keinerlei Verbindung, und glaube auch nicht, daß es möglich sei, nach ihr zu gelangen, wenn man einen Abstieg über die Südseite der Bergkette versuchte...

– Ja, das ist wohl kaum anzunehmen, setzte Jack hinzu; wenn wir aber um die Küste herumfuhren, hätten wir ja die Mündung des Montrose und den fruchtbaren Theil der Insel erreicht gehabt...

– Gewiß, antwortete Ernst, doch unter der Bedingung, daß unser Boot nach Westen oder nach Osten hin gelangen konnte. Die ganze Südküste hätte ihm keine Bucht geboten, wie unsere Rettungsbucht, wo wir ohne zu viele Mühe landen konnten!«

Es war in der That ein Glück zu nennen, daß die Schiffbrüchigen vom »Landlord« an das nördliche Ufer der Neuen Schweiz geworfen worden waren. Wie hätten sie sonst, hier am Fuße des riesigen Felsengewirres, einer der schrecklichsten Todesarten entrinnen können?

Wolston, Ernst und Jack wollten bis um vier Uhr Nachmittag auf dem Gipfel des Kegels bleiben. Sie machten, so gut das anging, alle nöthigen Aufnahmen, um eine Karte der Neuen Schweiz zu entwerfen, eine Karte, die nur im Süden eine Lücke aufwies, weil sie den dahin gelegenen Theil nicht vollständig übersehen konnten.

Diese Lücke sollte jedoch nach dem Eintreffen der »Licorne« ergänzt werden, wenn der Lieutenant Littlestone die hydrographische Aufnahme der Insel vollendet hätte.

Ernst hatte eben ein Blatt aus seinem Notizbuche gerissen und begann darauf folgende Zeilen zu schreiben:

»Heute, am 30. September 1817, Nachmittag vier Uhr, und auf dem Gipfel des...«

Da unterbrach er sich.

»Ja, wie wollen wir denn den Kegelberg taufen?... Es scheint mir übrigens, er wäre richtiger mit dem Worte Pic statt mit Bergkegel zu bezeichnen.

– Zugegeben, also »Pic des Bedauerns«, schlug Jack vor, weil wir Felsenheim von hier aus nicht sehen konnten.

– Nein, der »Pic Jean Zermatt«, zu Ehren Eures Vaters, meine jungen Freunde!« lautete der Vorschlag Wolston's.

Dieser Vorschlag fand beifällige Annahme. Jack holte einen kleinen Becher aus der Jagdtasche und Wolston und Ernst thaten das gleiche. Jeder wurde mit [224] einer Kleinigkeit Branntwein gefüllt, und beim Trinken ein dreifaches Hurrah ausgebracht. Darauf fuhr Ernst fort zu schreiben.

»... auf dem Gipfel des Pic Jean Zermatt richten wir an Euch geliebte Eltern, an Sie, verehrte Frau Wolston, und an Dich, meine liebe Annah, diese wenigen Zeilen, die unserem getreuen Boten anvertraut werden sollen, der – glücklicher als wir – bald wieder in Felsenheim eintreffen wird.

»Unsere Neue Schweiz, die vereinzelt in diesem Theile des Indischen Oceans aufragt, dürfte sechzig bis siebzig Lieues Umfang haben. Auf dem größten[225] Theile ihrer Oberfläche höchst fruchtbar, ist sie vom Südabhange der Bergkette an ganz dürr und scheint dort völlig unbewohnbar zu sein.


Sobald sie die Taube in Händen hatte... (S. 231.)

»Binnen zweimal vierundzwanzig Stunden – da der Rückweg weniger Zeit beanspruchen wird – hoffen wir, wieder bei denen zu sein, die wir von Herzen lieben, und vor Ablauf von drei Wochen werden wir, so Gott will, auch die anderen, so sehnsüchtig erwarteten Abwesenden wiedergesehen haben.

»Von uns allen, Herrn Wolston, meinem Bruder und Euerem treuergebenen Sohn, übermittelt den geliebten Eltern, der Frau Wolston und seiner herzlieben Annah die innigsten Grüße Ernst.«

Die Taube wurde aus ihrem kleinen Bauer genommen, und nachdem das Blättchen an ihrem linken Fuße befestigt worden war, ließ Ernst sie auffliegen.

Anfänglich erhob sich das Thierchen noch dreißig bis vierzig Fuß über die Gipfelfläche hinaus, als suchte es einen noch größeren Gesichtskreis zu gewinnen, dann eilte es – von seinem außerordentlichen Orientierungsinstincte, diesem sechsten Sinne, der jedem Thiere verliehen zu sein scheint, geleitet – raschen Flügelschlages in der Richtung nach Norden hin und war bald den Blicken der drei Männer entschwunden.

Nun galt es nur noch, die Flagge auf der Spitze des Pic Jean Zermatt zu hissen, und als Flaggenmast wurde der lange Bergstock Wolston's zwischen den obersten Felsblöcken befestigt. War das geschehen, so brauchten die Ausflügler nur noch bis zum Fuße der Bergkette hinunter zu steigen und sich nach der Grotte zu begeben, um dort eine tüchtige Mahlzeit zu verzehren, wozu ja die Jagd alles nöthige zu liefern versprach, und schließlich konnten sie sich der nach einem so anstrengenden Tage wohlverdienten Ruhe hingeben.

In der Frühe des folgenden Tages sollte dann der Rückmarsch angetreten werden. Folgten die Ausflügler dabei dem ihnen schon bekannten Wege, so erschien es nicht unmöglich, Felsenheim vor Ablauf von achtundvierzig Stunden zu erreichen.

Wolston und Jack gingen also daran, den Stock tief im Gestein zu befestigen, um ihn auch gegen die in dieser Höhe sehr heftigen Windstöße widerstandsfähig zu machen.

»Es kommt vor allem darauf an, bemerkte Jack, daß unsere Flagge bis zum Eintreffen der »Licorne« hier oben wehe, damit der Lieutenant Littlestone sie schon bei der Annäherung an die Insel erblicken kann. O, wie wird Fritz und Jenny, Franz, ihren Kindern, Herr Wolston, aber auch uns selbst das [226] Herz freudiger klopfen, wenn wir erst die einundzwanzig Kanonenschüsse hören, die die Flagge der Neuen Schweiz begrüßen!«

Der Stock ließ sich bequem in einem Felsenspalt aufstellen und wurde darin mittels kleiner Steine unbeweglich festgeklemmt.

Gerade als Wolston dann das Flaggentuch an dessen oberem Ende anbringen wollte, hielt er, starr nach Westen hinausschauend, plötzlich inne, so daß Jack ihn verwundert ansah.

»Was giebt es denn, Herr Wolston? fragte er.

– Mir schien, als sähe ich doch... antwortete dieser, während er das Ocular des Fernrohres vors Auge brachte.

– Als sähen Sie?... fiel Ernst ein.

– Einen Rauchstreifen dort über dem Ufer, antwortete Wolston, wenn es sich nicht wieder um Dunstmassen handelt, wie ich sie schon einmal beobachtete, als die Pinasse der Montrose-Mündung gegenüber lag.

– Zerstreut sich denn die Rauchwolke? fragte Ernst.

– Nein, erwiderte Wolston, und sie scheint an derselben Stelle wie früher, über dem Ende der Bergkette zu schweben. Sollten etwa seit mehreren Wochen Schiffbrüchige oder gar Wilde an jener Stelle der Küste lagern?«

Jetzt betrachtete Ernst aufmerksam den bezeichneten Punkt, konnte dort aber nichts besonderes entdecken.

»O, Herr Wolston, rief da Jack, auf dieser Seite ist nichts zu sehen... dagegen hier... nach Süden zu...«

Er wies dabei mit der Hand über das hohe Ufer hinweg nach dem Meere.

»Das ist ja ein Segel! sagte Ernst.

– Ja... unzweifelhaft... ein Segel! wiederholte Jack.

– Dort befindet sich ein Schiff in Sicht der Insel, fuhr Ernst fort, und es scheint auf diese zuzusteuern«

Wolston, der jetzt das Fernrohr wieder ergriff, konnte sehr deutlich einen Dreimaster erkennen, der mit allen Segeln zwei bis drei Lieues von der Küste dahinzog.

Da rief Jack aufspringend und jubelnd:

»Das ist die »Licorne«... das kann nur die »Licorne« sein!... Sie sollte erst gegen Mitte October eintreffen und kommt nun schon Ende September, vierzehn Tage früher...

[227] – Unmöglich wäre das ja nicht, meinte Wolston. Ehe wir das aber beurtheilen können, müssen wir genau wissen, nach welcher Seite jenes Fahrzeug segelt.

– Es hält auf die Neue Schweiz zu, versicherte Jack. Morgen früh wird es im Westen der Rettungsbucht auftauchen, und wir werden zu seinem Empfange nicht anwesend sein!... Vorwärts, Herr Wolston, wir wollen die ganze Nacht hindurch wandern!«

Ein letzter Blick Ernsts nach dem Meere hinaus hielt jedoch Jack zurück, der sich schon zum Abstieg wendete und gleich an der Seite des Kegels hinuntergleiten wollte.

»Nein, nein, sagte er. Sehen Sie nur noch einmal genau hin, Herr Wolston, das Fahrzeug steuert einen anderen Curs.

– Ja ja, so ist es, erklärte dieser, nachdem er die Bewegung des Schiffes einige Augenblicke beobachtet hatte.

– Dann wäre es also die »Licorne« nicht? rief Jack halb enttäuscht.

– Nein, versicherte Ernst.

– Die »Licorne« würde übrigens, setzte Wolston hinzu, im Nordwesten ans Land gehen, während jenes Fahrzeug nach Südosten segelt und sich von der Insel entfernt.«

Ein Irrthum war jetzt ganz ausgeschlossen. Das Schiff in der Ferne steuerte mehr nach Osten zu und schien die Neue Schweiz gar nicht weiter zu beachten.

»Nun gut, sagte Jack, die »Licorne« muß aber doch bald eintreffen, und mindestens werden wir dann zur Stelle sein, der Corvette Sr. Majestät Wilhelms III. die gebührende Ehrenbezeugung zu erweisen.«

Die Flagge wurde nun auf dem Gipfel des Pic Jean Zermatt gehißt und flatterte bald lustig im Winde, während sie Jack mit zwei Gewehrschüssen begrüßte.

[228]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
In Felsenheim. – Beunruhigende Verzögerung. – Nach der Einsiedelei Eberfurt. – Herr Wolston und Ernst. – Was geschehen war. – Bei der Verfolgung der Elephanten. – Ein Vorschlag Wolston's. – Widrige Winde. – Jack!

Am Abende des nämlichen Tages hatten sich Zermatt und seine Gattin, nebst Frau Wolston und deren Tochter nach redlich gethaner Arbeit im Bibliothekzimmer zusammengefunden.

Plaudernd saßen sie nahe dem nach dem rechten Ufer des Schakalbaches hinausgehenden Fenster, und selbstverständlich betraf ihr Gespräch die in der Ferne Weilenden, die nun schon vier Tage lang fort waren. Wegen des Erfolges dieses Ausfluges beruhigte sie vorzüglich der Umstand, daß die Witterung sich gut gehalten hatte und die Hitze für den Anfang der schönen Jahreszeit keine unerträgliche gewesen war.

»Wo mögen sie jetzt wohl sein? fragte Betsie.

– Meiner Ansicht nach, antwortete der ältere Zermatt, müssen sie den Gipfel der Bergkette erreicht haben. Haben sie keine Verzögerung erfahren, so werden ihnen drei Tage genügt haben, zum Fuße der Berge vorzudringen, und am vierten wird der Aufstieg erfolgt sein...

– Doch wer weiß, unter welchen Beschwerden... welchen Gefahren? fiel Annah ein.

– Gefahren? Nein, liebes Kind, beruhigte sie Zermatt. Was die Beschwerden betrifft, so befindet sich Ihr Vater ja noch im kräftigsten Alter, und meine Söhne haben schon ganz andere Anstrengungen ausgehalten.

– Ernst hat aber nicht die zähe Ausdauer seines Bruders, konnte sich das junge Mädchen zu erwidern nicht enthalten.

– Nicht ganz dieselbe, bestätigte Frau Zermatt; er hat von jeher das Studieren den Körperübungen vorgezogen.

– Na, na... schon gut, Betsie! sagte Zermatt. Mache nur aus Deinem Sohne keinen halben Mann und kein halbes Weib! Hat er fleißig mit dem Kopfe gearbeitet, so hat er das mit den Armen und Beinen doch nicht minder gethan. Ich denke also, diese Auskundschaftung wird für alle nur einen Touristenausflug [229] bedeuten. Hätte ich es überwinden können, Sie, Frau Wolston und Annah, und Dich, meine Liebe, hier in Felsenheim allein zurückzulassen, so wäre ich trotz meiner siebenundvierzig Jahre flott mit abmarschiert und hätte an diesem Entdeckungszuge mit Freuden theilgenommen.

– Nun, warten wir bis morgen, äußerte Frau Wolston. Vielleicht kommt die von Ernst mitgenommene Brieftaube morgen zeitig mit einer Nachricht für uns zurück...

– Warum nicht schon heute Abend?... unterbrach sie Annah. Die Taube würde ihren Schlag doch auch in der Nacht wiederfinden; nicht wahr, Herr Zermatt?

– Ganz gewiß, Annah. Dieser Vogel fliegt ja so außerordentlich schnell – man sagt, zwanzig Lieues in der Stunde – daß er die Strecke von der Bergkette bis zu uns binnen sechzig bis siebzig Minuten müßte zurücklegen können.

– Wenn ich nun auf seine Rückkehr bis zum Morgen wartete?... schlug das junge Mädchen vor.

– Ah, bemerkte Frau Zermatt, unser liebes Kind hat große Sehnsucht, etwas von ihrem Vater zu hören...

– Und auch von Ihren Söhnen, Frau Zermatt, gestand Annah, sie umarmend.

– Es ist wirklich zu bedauern, ließ Frau Wolston sich vernehmen, daß jene Bergkette von der Höhe bei Felsenheim nicht zu sehen ist. Mit Hilfe eines guten Fernrohres hätten wir uns sonst wohl unterrichten können, ob die Flagge bereits auf der Spitze des Pics flattert...

– Das ist freilich bedauerlich, Frau Wolston, antwortete Zermatt. Für den Fall, daß die Taube morgen früh noch nicht eingetroffen wäre, denke ich, unseren Leichtfuß zu satteln und mich nach der Einsiedelei Eberfurt zu begeben, von wo aus man den Pic, der die Kette überragt, ja sehen kann.

– Recht schön, mein Schatz, sagte Frau Zermatt, doch wozu vorzeitige Beschlüsse? Da jetzt Essenszeit ist, wollen wir zunächst zu Tische gehen. Wer weiß denn, ob dann inzwischen und ehe wir uns niederlegen nicht die Taube mit einigen Worten von Ernst angelangt sein wird.

– Freilich, es ist ja nicht das erstemal, daß wir von Ernst auf gleichem Wege Nachricht erhielten. Du entsinnst Dich wohl, Betsie, wenn's auch schon lange her ist, daß unsere Söhne uns über Waldegg, Prospect-Hill und Zuckertop [230] Mittheilungen sendeten – leider betrübende; sie betrafen die dort von Affen und anderen schädlichen Thieren angerichteten Verwüstungen – und diese erhielten wir ebenfalls durch Taubenpost. Ich hoffe, der geflügelte Bote bringt uns diesmal bessere!

– Da... da ist er schon! rief Annah, ans Fenster eilend.

– Du hast die Taube anfliegen sehen? fragte ihre Mutter.

– Nein, ich hörte sie nur in den Schlag zurückkehren,« antwortete das junge Mädchen.

Ein kurzes, trockenes Geräusch hatte ihre Aufmerksamkeit erweckt. Das rührte von der kleinen Fallthür her, die den über der Bibliothek angelegten Taubenschlag an dessen unterem Theile abschloß.

Der ältere Zermatt ging sofort hinaus; Annah, Frau Zermatt und Frau Wolston folgten ihm. Vor dem Taubenschlage lehnte er eine Leiter gegen die Felswand, stieg deren Sprossen hinauf und sah in das Taubenhaus hinein.

»Sie ist wirklich da! sagte er.

– O, ergreifen Sie sie... fangen Sie die Taube, Herr Zermatt!« bat Annah voller Ungeduld.

Sobald sie die Taube in Händen hatte, drückte sie ihr einen Kuß auf das bläuliche Köpfchen und streichelte sie nach Ablösung des an einem Fuße befestigten Zettels aufs neue. Dann wurde das Thierchen freigegeben und es flatterte nach seinem Verschlage zurück, wo eine Handvoll Körner seiner wartete.

Annah las Ernsts Mittheilung mit lauter Stimme vor. Die wenigen Zeilen, die das Blatt enthielt, beruhigten alle bezüglich der Abwesenden und meldeten den vollen Erfolg des Ausfluges. Für jeden fand sich ein freundliches Wort darin, und Annah erhielt davon, wie wir wissen, nicht das kärgste Theil.

Mit dem beglückenden Gedanken, daß die Heimkehr in achtundvierzig Stunden erfolgen solle, zogen sich der ältere Zermatt und seine Gattin, sowie Frau Wolston mit ihrer Tochter nach ihren Zimmern zurück. Der eingetroffene Bote hatte die erwünschtesten Nachrichten gebracht... alle dankten Gott dafür und schlummerten dann friedlich bis zum Aufgange der Sonne.

Der Tag wurde nur häuslichen Verrichtungen gewidmet. Natürlich hatte der ältere Zermatt in Folge der Ankunft der Taube seine Absicht, sich nach den Höhen der Schlucht der Cluse zu begeben, fallen lassen. Hätte ein gutes Fernrohr es auch ermöglicht, von dort aus die auf der Spitze des Pics flatternde Fahne zu erkennen, so erfuhr man dadurch doch nichts neues. Es unterlag [231] übrigens keinem Zweifel, daß Wolston, Ernst und Jack jetzt schon auf dem Heimwege begriffen waren.

Am folgenden Tage gab es wieder ein tüchtiges Stück Arbeit, das sich nicht aufschieben ließ. Ein großer Schwarm Lachse war in die Mündung des Schakalbaches eingedrungen. Diese Fische stiegen zur gleichen Jahreszeit stets den Wasserlauf hinaus. Leider vermißte man die drei Abwesenden jetzt recht schmerzlich, denn mit ihrer Unterstützung wäre der Fang der schmackhaften Fische gewiß noch weit reichlicher ausgefallen.

Am Nachmittage ließen Herr und Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah ihre Arbeit ruhen, überschritten die Familienbrücke und machten sich auf den Weg in der Richtung nach der Einsiedelei Eberfurt. Wolston, Ernst und Jack konnten nun den Eingang zur Cluse erreicht haben und binnen zwei Stunden die Entfernung, die die Meierei von Felsenheim trennte, recht wohl überwinden.

Der Tag verging jedoch, ohne daß etwas auf ihre Annäherung hindeutete. Die Hunde, die ihre Herren sicherlich gewittert hätten, schlugen nicht an, auch hörte man keinen Schuß, und Jack hätte seine Rückkehr gewiß mit einem solchen verkündigt.

Um sechs Uhr stand die Mahlzeit bereit – ein reichliches und nahrhaftes Essen, genügend, auch den stärksten Appetit zu befriedigen. Man wartete auf die Ausflügler, doch da diese nicht kamen, fiel es gar niemand ein, sich zu Tische zu setzen.

Noch ein letztesmal gingen die beiden Zermatt's mit Frau Wolston und Annah eine Viertelstunde weit den Weg am Schakalbach hinaus. Türk und Braun die daneben mitliefen, blieben still und stumm. Gott weiß, wie freudig sie gebellt, wie tolle Sprünge sie gemacht hätten, wenn die zwei Brüder etwa nur noch einige hundert Schritte entfernt gewesen wären!

Die Vier mußten sich endlich wohl oder übel entschließen, nach Felsenheim zurückzugehen, und wenn sie sich auch etwas beunruhigt fühlten, sagten sie sich zum Troste doch, daß die Heimkehr der anderen sich kaum viel verzögern könne. Beklommen und gespannt nach draußen horchend, ging man zu Tische, doch berührten die einen und die anderen kaum die Gerichte, von denen die Abwesenden wohl nichts übrig gelassen hätten.

»Nur ruhig... nur geduldig! sagte endlich der ältere Zermatt. Wir dürfen nichts übertreiben! Da es dreier Tage bedurft hat, den Fuß der Berge zu erreichen, warum sollte die Rückkehr nicht ebensoviel Zeit erfordern?


Der kühne junge Mann wollte die sich hier bietende Gelegenheit benutzen. (S. 237.)

[232]

[233] [235]– Sie können wohl recht haben, Herr Zermatt, antwortete Annah, doch agt die Mittheilung Ernsts nicht ausdrücklich, daß dazu achtundvierzig Stunden genügen würden?

– Jawohl, mein liebes Kind, redete Frau Zermatt ihr zu. Der gute Junge hat aber jedenfalls ein so großes Verlangen, uns wieder zu sehen, daß er etwas versprochen hat, was er nicht halten kann.«

Alles in allem war jetzt keine ernstere Befürchtung berechtigt, was der ältere Zermatt mit gutem Grunde betonte. Immerhin fand keiner der Insassen von Felsenheim diese Nacht einen so ruhigen Schlummer, wie in der vorigen.

Wie erklärlich, verschärfte sich die erste Besorgniß am folgenden Morgen zur wirklichen Unruhe und schließlich zur quälenden Beängstigung, denn der Abend des 3. October kam heran, ohne daß Wolston, Ernst oder Jack wieder erschienen wären. Eine derartige Verzögerung erschien bei den kräftigen und unermüdlichen Fußgängern doch kaum erklärbar. Natürlich dachte jedermann nun an einen Unfall. Hindernisse konnten doch dem Rückwege auch nicht mehr entgegenstehen, als dem Hinwege, und die einzuhaltende Richtung war ja bekannt, wenn sie nicht beschlossen hatten, einen anderen, schwierigeren und längeren Weg einzuschlagen.

»Nein, nein! versicherte Annah. Bei der Wahl eines anderen Weges hätte Ernst nicht gemeldet, daß sie binnen achtundvierzig Stunden hier sein würden!«

Dagegen war leider nichts zu sagen. Betsie und Frau Wolston begannen schon, alle Hoffnung zu verlieren. Annah konnte ihre Thränen nicht zurückhalten, und womit hätte der ältere Zermatt sie zu trösten vermocht?

Man einigte sich also dahin, wenn die Abwesenden auch am folgenden Tage in Felsenheim noch nicht erschienen wären, nach der Einsiedelei Eberfurt zu fahren, da jene unbedingt durch den Eischnitt der Cluse zurückkehren mußten. Ging man ihnen aber entgegen, so konnte man sie um zwei Stunden früher begrüßen.

Der Abend kam, die Nacht verrann; von Herrn Wolston, von Ernst und Jack zeigte sich keine Spur. Da hätte nun nichts mehr in Felsenheim alle die zurückhalten können, die jene unter tödtlicher Angst erwarteten, und das hätte jetzt niemand mehr eine Uebertreibung nennen können.

Schnell wurden schon am Morgen die Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen, der Wagen bespannt und mit einigem Mundvorrath versehen, worauf alle darin Platz nahmen. Das Gefährt rollte davon; Braun sprang ihm voraus. Nach Ueberschreitung des Schakalbaches folgte es den Wäldern und den Ackerfeldern, [235] die an der Straße nach Eberfurt lagen, so schnell es eben anging. Der Wagen war in der Entfernung von einer Lieue nahe dem Stege angelangt, der den in den Schwanensee mündenden Abzugscanal überspannte, als Zermatt plötzlich Halt machte.

Braun, der immer lauter bellte, war schon weiter vorausgesprungen.

»Da sind sie!... Da sind sie!« rief Frau Wolston erfreut.

Wirklich tauchten in der Entfernung von dreihundert Schritten an einer Wegbiegung zwei Männergestalten auf.

Es waren Wolston und Ernst.

Wo war denn Jack?... Er konnte doch nicht weit, jedenfalls nur um einige Flintenschußlängen zurück sein...

Laute Freudenrufe empfingen Wolston und Ernst, da diese aber keinen Schritt vorwärts thaten, eilten die anderen auf sie zu.

»Und Jack?... Wo ist Jack?« fragte Frau Zermatt.

Weder Jack noch sein Hund Falb war zur Stelle.

»Was aus unserem armen Jack geworden ist, wissen wir leider nicht.«

Wolston berichtete darauf, wiederholt durch das Schluchzen seiner Zuhörer unterbrochen, etwa das Folgende:

Der Abstieg vom Pic bis zum Fuße der Kette war binnen zwei Stunden erfolgt. Jack, der zuerst unten anlangte, erlegte am Saume des Tannenwaldes einiges Wild. Man aß noch vor der Grotte zu Abend, ließ das draußen entzündete Feuer brennen und zog sich in das Innere zurück. Einer überwachte den Eingang, während allemal die beiden anderen, doch zu jeder Abwehr gerüstet, einige Stunden schliefen.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall, höchstens war von Zeit zu Zeit in der Ferne das Brüllen von Raubthieren zu vernehmen.

Am nächsten Morgen machten sich Wolston und die beiden Brüder bei Sonnenaufgang wieder auf den Weg.

Vom Gipfel des Pics aus hatte Ernst erkannt, daß der Wald sich nach Osten zu mehr lichtete, und auf seinen Vorschlag hin wandten sich alle Drei nach dieser Seite. Sie kamen damit schneller vorwärts, während der Weg von der Bergkette bis zum Grünthale sich höchstens um eine Lieue verlängerte.

Gegen elf Uhr wurde Rast gemacht. Nach eingenommenem Frühstück drangen alle in den weniger dichten Hochwald ein, der ein bequemeres Fortkommen gestattete.

[236] Gegen zwei Uhr ließ sich ein Geräusch von schweren Schritten vernehmen und gleichzeitig erschallten unter den Bäumen einige trompetenähnliche Töne.

Eine Täuschung blieb hier ausgeschlossen: das war ein Trupp von Elephanten, die durch das Tannenholz trotteten.

Ein Trupp?... Nein, es zeigten sich nur drei dieser Dickhäuter, zwei sehr große, der Vater und die Mutter, und ein dritter, ein Elephantenbaby, das jene begleitete.

Jack hatte, wie der Leser weiß, schon immer das lebhafte Verlangen gehabt, ein solches Thier einzufangen, um es zu zähmen. Der kühne junge Mann wollte die sich hier bietende Gelegenheit benutzen, und das führte dazu, daß man ihn verlor.

Gegenüber der Möglichkeit eines Angriffes hatten sich Wolston, Jack und Ernst zur Vertheidigung bereit gemacht und warteten mit den schußfertigen Gewehren in der Hand, trotzdem aber etwas besorgt um den möglichen Ausgang eines Kampfes mit den gewaltigen Thieren.

Als die Elephanten die Waldblöße erreicht hatten, blieben sie stehen, doch als sie drei Menschen bemerkten, wendeten sie sich, ohne gerade zu eilen, nach links und trotteten tiefer in den Hochwald hinein.

Jede Gefahr war also schon vorüber, als Jack, von unbezwinglicher Jagdlust getrieben, hinter den Elephanten, nur von seinem Falb begleitet, verschwand.

»Jack!... Jack! rief Wolston.

– Jack, komm doch zurück! Komm zurück!« rief Ernst.

Entweder hörte der Unkluge nicht oder – wahrscheinlicher – wollte er nichts hören.

Noch einmal tauchte er im Dickicht auf, dann verlor man ihn aus den Augen.

Arg beunruhigt folgten Wolston und Ernst seinen Spuren und hatten in wenigen Augenblicken die Lichtung erreicht. Sie war leer.

In diesem Augenblicke hörte man wieder das Stampfen schwerer Füße, doch ließ sich kein Schuß vernehmen.

Hatte nun Jack sich seines Gewehres nicht bedienen wollen oder hatte er das nicht mehr gekonnt?

Jedenfalls mußte es schwierig werden, ihn einzuholen, da es auf dem mit dürren Zweigen und welken Blättern bedeckten Erdboden ganz unmöglich war, Fußspuren von ihm zu erkennen.

[237] Allmählich erstarb in der Ferne jedes Geräusch; einige Zweige, die sich vorher bewegt hatten, wurden wieder ruhig, und nichts unterbrach mehr das Schweigen des Waldes.

Wolston und Ernst durchstreiften bis zum Abende die Umgebung der Lichtung; sie drängten sich in das dichteste Buschwerk und riefen nach Jack, so laut sie konnten. Sollte der Unglückliche das Opfer seiner Unbedachtsamkeit geworden sein? Hätte er einem Angriffe der Elephanten nicht ausweichen können? Läge er regungslos oder gar todt in irgend einem Winkel des dunkeln Gehölzes?

Kein Ruf, kein Schrei drang Wolston und Ernst zu Ohren; Flintenschüsse, die sie wiederholt abgaben, blieben ohne Antwort.

Als es Nacht geworden war, sanken beide, erschöpft vor Anstrengung und gequält von Unruhe, am Fuße eines Baumes nieder, lauschten aber immer gespannt auch auf das leiseste Geräusch. Sie hatten ein tüchtiges Feuer angezündet, in der Hoffnung, daß Jack, durch den Schein der Flammen geleitet, sie auffinden könnte, und sie schlossen auch selbst die Nacht über kein Auge.

Zu hören war in den langsam hinschleichenden Stunden aber nichts als das Heulen und Brüllen von Raubthieren, die zuweilen recht nahe zu sein schienen. Das erweckte den Gedanken, daß Jack, wenn er sich auch nicht gegen die Elephanten zu vertheidigen gehabt hätte, doch einem noch gefährlicheren Angriffe durch Tiger, Löwen oder Pumas erlegen sein könnte.

Dennoch durften sie ihn noch nicht als verloren aufgeben. Der ganze nächste Tag wurde deshalb verwendet, im Tannenwalde nach Spuren von ihm zu suchen. Vergeblich. Wolston und Ernst erkannten wohl hier und da an niedergetretenem Grase, zerbrochenen Zweigen und ausgerissenen Büschen, daß die Elephanten an diesen Stellen vorübergekommen waren, von Jack aber fanden sie nichts... weder etwas von den suchen, die er bei sich trug, noch sein Gewehr oder seine Jagdtasche, ebensowenig aber eine Andeutung, daß er verwundet worden wäre... kein blutiges Fleckchen, doch auch keine Fußtapfen, die auf seine Fährte hätten leiten können.

So herzzerreißend der Gedanke, ohne ihn zurückzukehren, auch war, mußten sie nach ihren vergeblichen Bemühungen doch zu einem Entschlusse kommen. Wolston sachte deshalb Ernst zu überzeugen, daß es auch im Interesse seines Bruders wäre, nun schleunigst nach Felsenheim zurückzukehren und von dort aus die Nachforschungen unter günstigeren Bedingungen wieder aufzunehmen.

[238] Ernst wäre gar nicht imstande gewesen, hierüber erst noch zu verhandeln. Er fühlte es, daß Wolston recht habe, und folgte ihm, fast ohne Bewußtsein dessen, was er that. Beide durchstreiften zum letztenmale den Theil des Tannenwaldes, den sie schon am Abend vorher abgesucht hatten.

Dann wanderten sie die Nacht hindurch und den ganzen folgenden Tag, gönnten sich nur wenige Stunden der Ruhe und brachen ungesäumt wieder auf, und am Morgen waren sie dann am Eingange der Schlucht der Cluse angelangt.

»Mein Sohn! Mein armer Sohn!« hatte Frau Zermatt wiederholt schluchzend gerufen.

Als diese Worte dann noch einmal ihren Lippen entflohen, war sie, zusammenbrechend, Frau Wolston und deren Tochter, die neben ihr niederknieten, in die Arme gefallen..

Der ältere Zermatt und Ernst konnten, von Schmerz übermannt, kein Wort hervorbringen.

Da begann endlich Wolston entschlossenen Tones:

»So hört, was wir zu thun haben, ohne einen Augenblick zu zögern...«

Der ältere Zermatt trat auf ihn zu.

»Nun... was denn? fragte er.

– Wir begeben uns eiligst nach Felsenheim und machen uns dort noch heute wieder auf, um Jacks Spuren aufzusuchen. Ich habe alles reiflich überdacht, lieber Zermatt, und bitte Sie, meinen Vorschlag anzunehmen.«

Ja, sie mußten sich wohl Wolston's Beschlüssen fügen. Er allein hatte sich genug Kaltblütigkeit bewahrt, einen klugen Rath zu geben, und ihm hatten sie blindlings zu folgen.

»Jack ist in dem nahe der Küste gelegenen Theile des Waldes verschwunden, fuhr er fort. Nach dieser Gegend haben wir uns auf kürzestem Wege zunächst zu begeben. Doch dahin wieder durch die Cluse und über das Land zu gehen, das wäre zu weit. Wir wollen lieber die Pinasse benützen. Der Wind ist jetzt günstig, das Cap im Osten zu umschiffen, und nachher segeln wir mit dem Seewinde längs des Ufers hin. Fahren wir noch heut' Abend ab, so erreichen wir vor Tagesanbruch die Mündung des Montrose; diese lassen wir hinter uns und gehen an dem Theile des Ufers vor Anker, wo die Bergkette ausläuft. Dorthin zu war Jack, der durch den Tannenwald lief, verschwunden. Begeben wir uns zu Wasser nach dieser Gegend, so ersparen wir gut zwei Tage!«

[239] Der Vorschlag fand ohne Widerrede Annahme. Da er den Vortheil eines Zeitgewinnes versprach, durfte man nicht zaudern und keine Stunde verlieren, wenn man noch den Wind ausnützen wollte, der es der »Elisabeth« bei zwei- bis dreimaligem Kreuzen ermöglichen konnte, über das Cap im Osten hinauszukommen.

Die beiden Familien bestiegen wieder den Wagen, dessen Gespann so lebhaft angetrieben wurde, daß es anderthalb Stunden später schon bei Felsenheim anlangte.

Nun war es die erste Sorge, die Pinasse zur sofortigen Abfahrt klar zu machen und für mehrere Tage zu verproviantieren. Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah wollten mitfahren; sie hätten niemals zugestimmt, jetzt in Felsenheim zurückzubleiben, und dem älteren Zermatt kam es auch gar nicht in den Sinn, ihnen das zuzumuthen.

Am Nachmittage, als die Thiere alle für eine Woche mit Futter versorgt waren, sollte die Pinasse eben absegeln, als sie plötzlich ein widriger Umstand davon abhielt. Gegen drei Uhr begann der Wind, der eine Zeitlang abgeflaut war, heftig aus Osten zu wehen. Obwohl draußen schon ein starker Seegang herrschen mochte, hätte die »Elisabeth« doch nicht gezögert, sich über das Cap im Osten hinauszuwagen. Wie konnte sie jetzt aber gegen die mächtigen Wellen, die von der offenen See her hereinrollten, aufkommen? Schon von ihrem Ankerplatze abzukommen, bot die größten Schwierigkeiten, und an der Haifischinsel vorüberzusegeln, mußte ganz unmöglich sein.

Das war zum verzweifeln!... Warten sollen, warten, wo vielleicht die geringste Verzögerung den Erfolg der Nachforschungen vereitelte. Und wenn nun der Gegenwind anhielt, wenn sich am Abend und in der nächsten Nacht der Zustand der Atmosphäre nicht änderte oder vielleicht gar verschlimmerte, was dann?

»Vorwärts also, sagte Wolston wie als Antwort auf die Fragen, die jetzt allen auf den Lippen lagen, was wir zu Wasser nicht ausführen können, versuchen wir zu Lande. Der Wagen trete an Stelle der Pinasse! Machen wir ihn fertig, den Weg nach Eberfurt einzuschlagen!«

Sofort begann man mit den nöthigen Vorbereitungen. Ging die Reise mit dem Wagen vor sich, so mußte eine Richtung nach Südosten eingeschlagen werden, um den Tannenwald zu umgehen, durch den – wenigstens in dem Theile vor der Bergkette, den Wolston und Ernst durchmessen hatten – kein[240] Fuhrwerk hätte fortkommen können.


Unten an diesem war ein Lager aufgeschlagen. (S. 248.)

Von da aus wollte man versuchen, das Ostende des Hochwaldes, also nahezu die Stelle, zu erreichen, wo die »Elisabethankern sollte, wenn der Wind ihr das Auslaufen gestattet hätte Leider ergab sich hieraus eine Verzögerung von sechsunddreißig Stunden, die sich jedoch in keiner Weise vermeiden ließ.

Die Hoffnung auf einen Umschlag des Wetters ging nicht in Erfüllung. Immer mehr auffrischend wehte der Wind aus Nordosten. Am Abend donnerten gewaltige Wogen an das Ufer bei Felsenheim. Die Nacht drohte noch schlimmer [241] zu werden, und unter diesen Umständen blieb nichts anderes übrig, als auf die Seefahrt zu verzichten.

Wolston ließ also die bereits an Bord geschafften Mundvorräthe wieder herausholen und nach dem Wagen schaffen. Gleichzeitig besorgte man noch alles für die beiden Büffel und den Onagre für die morgen ganz früh geplante Abfahrt.

Frau Zermatt war ein Bild des Jammers und konnte kaum reden.

»Mein Sohn! Mein armer Sohn!« seufzte sie nur mit halb geschlossenen Lippen.

Plötzlich, gegen acht Uhr, zeigten sich die Hunde Türk und Braun sehr aufgeregt. Wolston, der sie beobachtete, verwunderte sich nicht wenig, sie immer längs der Einfriedigung hin und her laufen zu sehen. Braun vor allem konnte sich gar nicht an einundderselben Stelle halten.

Zwei Minuten später ließ sich von der Ferne her ein deutliches Bellen vernehmen.

»Das ist Falb!« rief Ernst.

Falb... Der Hund Jacks! Braun und Türk erkannten ihn ebenfalls und antworteten mit lautem, freudigem Gebell.

Frau Zermatt und ihr Gatte, Frau Wolston und Annah stürmten vor die Wohnung hinaus.

Fast gleichzeitig erschien Jack an der Eingangsthür und warf sich seiner Mutter in die Arme.

»Ach ja... gerettet, rief er, doch vielleicht droht uns eine ernste Gefahr!

– Eine Gefahr? Welche? fragte Zermatt, der seinen Sohn heranzog und ans Herz drückte.

– Die Wilden, antwortete Jack, die Wilden, die auf der Insel gelandet sind!«

[242]
16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Jacks Bericht. – Im Walde verirrt. – Die Wilden auf der Insel. – Zunehmende Beunruhigung. – Das Ausbleiben der »Licorne«. – Drei Wochen des Wartens. – Bei der kleinen Kapelle von Felsenheim.

Die beiden Familien kehrten, trotz Jacks beunruhigender Mittheilung, freudig klopfenden Herzens nach dem Speisezimmer zurück. Alle dachten ja nur an das Eine: Jack ist wieder da!

Und doch hätte man sich eine ernsthaftere Kunde, als die von der Anwesenheit jener Wilden an der Küste der Neuen Schweiz, kaum vorstellen können. Jetzt gewann man auch die Ueberzeugung, daß der leichte Dunst, den Wolston bemerkt hatte, als die Pinasse damals von der Mündung des Montrose-Flusses wegfuhr, und dann noch einmal, als sie alle drei auf dem Gipfel des Pics sich befanden, der Rauch aus einem an diesem Theile der Küste aufgeschlagenen Lager gewesen sei.

Jack brach vor Hunger fast zusammen. Er mußte sich erst etwas stärken und nahm an dem Tische Platz, an den sich alle gesetzt hatten. Dann begann er seine Abenteuer zu berichten.

»Liebe Eltern, ich bitte dringend um Verzeihung wegen des Kummers, den ich Euch bereitet habe... ja, ich gestehe es, ich ließ mich nur durch den Wunsch, einen jungen Elephanten zu fangen, so arg verleiten. Ich hörte nicht auf Herrn Wolston und auf Ernst, die mich zurückriefen, und es ist fast ein Wunder, daß ich noch heil und gesund zurückgekommen bin. Meine Unbesonnenheit wird aber wenigstens die eine gute Folge haben, daß es uns nun ermöglicht ist, eine bessere Vertheidigung vorzubereiten, falls die Wilden bis zum Gelobten Lande vordrängen und Felsenheim entdeckten.

»Ich war also bei der Verfolgung der drei Elephanten tief in den Tannenwald eingedrungen, ohne eigentlich zu wissen, wie es mir gelingen könnte, den kleinsten abzufangen. Dessen Vater und Mutter gingen ruhig dahin, brachen sich durch alles Buschwerk Bahn und bemerkten wohl gar nicht, daß ich ihnen nachschlich. Freilich verbarg ich mich möglichst sorgsam vor ihren Blicken, dachte aber kaum daran, wohin sie mich und Falb – der nicht weniger beutelustig schien als ich – verleiten könnten, und auch nicht daran, ob es mir möglich [243] sein würde, mich rückwärts zurecht zu finden. Eine unwiderstehliche Macht trieb mich vorwärts, und dabei irrte ich über zwei Stunden lang immer weiter, vergeblich darauf bedacht, wie ich den kleinen Elephanten von dem großen Paare trennen könnte.

»Hätte ich versuchen wollen, die großen Thiere zu erlegen, so würde das zahllose Kugeln gekostet haben, ehe es zum Ziele führen konnte, und vielleicht wäre die einzige Folge davon die gewesen, daß die beiden Riesen wüthend wurden und über mich herfielen.

»Inzwischen kam ich immer tiefer und tiefer in den Tannenwald hinein, dachte dabei aber weder an die verflossene Zeit, noch an die Entfernung, in der ich mich befand, ebenso weder an die Schwierigkeit, Herrn Wolston und Ernst wiederzufinden, noch – mögen sie mir darum nicht gar zu sehr zürnen! – an die schlimme Lage, in die ich sie versetzte, wenn sie nach mir suchen wollten.

»Meiner Schätzung nach hatte ich, ohne jeden Erfolg, wohl zwei reichliche Lieues nach Osten hin zurückgelegt. Damals kam ich, in Rücksicht auf meine Lage vielleicht etwas spät, mehr zur Vernunft. Da die drei Thiere nicht Anstalt machten, einmal stehen zu bleiben, sagte ich mir, es sei für mich wohl das beste, einfach umzukehren.

»Es mochte gegen vier Uhr sein. Rings um mich standen die Bäume jetzt weiter voneinander ab und ließen auch da und dort wirkliche Lichtungen frei. Hier muß ich im Vorübergehen einfügen, daß man sich geraden Wegs nach Südosten zu wenden hat, wenn jemand nach dem Pic Jean Zermatt gehen will...

– Ja... der Zettel von Ernst hat es uns gemeldet... Ihr habt ihm meinen Namen gegeben, fiel der ältere Zermatt ein.

– Lieber Vater, antwortete Ernst, das geschah auf den Vorschlag des Herrn Wolston hin.

– Versteht es sich denn nicht von selbst, mein guter Freund, setzte Wolston hinzu, daß der höchste Punkt der Neuen Schweiz nach dem Namen des Familienoberhauptes getauft wurde?

– Na, meinetwegen, so mag es bei dem Pic Jean Zermatt bleiben, antwortete der ältere Zermatt mit einem Danke an Wolston. Jetzt mag aber Jack weiter erzählen und uns über die Wilden berichten.

– Sie sind nicht mehr weit, erklärte Jack.

[244] – Nicht weit? rief Frau Zermatt erschrocken.

– In meiner Geschichte nämlich, liebste Mutter, in meiner Geschichte treten sie nun bald auf. Thatsächlich dürften sie von Felsenheim gut zehn Lieues entfernt sein.«

Diese Antwort war ja in gewissem Maße beruhigend, und Jack fuhr nun mit folgenden Worten fort:

»Ich befand mich also vor einer ziemlich ausgedehnten Blöße im Tannenwalde und wollte, entschlossen, nicht weiter zu gehen, Halt machen, als die Elephanten ebenfalls stehen blieben. Falb ware gleich auf sie zugeeilt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte.

»Sollten die Thiere, so fragt' ich mich, hier ihr gewohntes Lager haben, hier, wo sich ein Rio durch das hohe Gras hinschlängelte? Die Burschen – ich betrachtete sie schon als meine Beute – löschten aus dem Wasserlauf, indem sie die Rüssel senkten, ihren Durst.

»War's ein Wunder, daß mein Jagdfeuer wieder aufloderte, als ich sie so ruhig, so ahnungslos dastehen sah? Mich packte ein unwiderstehliches Verlangen, den kleinen zu isoliren, nachdem ich die beiden anderen erlegt hätte, und sollte mir das auch meinen letzten Schuß Pulver kosten! Vielleicht genügten ja schon zwei Kugeln, wenn sie nur die richtige Stelle trafen, und welcher Jäger vertraut nicht, gerade wenn er's braucht, auf sein Glück? Daran, wie ich den kleinen Elephanten einfangen sollte, wenn ich die beiden großen erlegt hätte, oder wie es mir gelingen sollte, ihn dann nach Felsenheim zu bringen, dachte ich im ersten Augenblicke nicht im geringsten. Ich legte das mit Kugeln geladene Gewehr an; zwei Schüsse krachten, und wenn sie auch die Elephanten trafen, so waren diese doch offenbar nicht ernstlich verwundet, denn sie begnügten sich, die Ohren zu schütteln und sich noch einmal eine tüchtige Menge Wasser ins Maul zu gießen.

»Kurz, sie drehten sich nicht einmal um, um zu sehen, von wo aus die Schüsse gekommen wären, und bekümmerten sich auch gar nicht um das Bellen Falbs. Ehe ich ein zweitesmal feuern konnte, waren sie weiter getrottet, diesmal aber so schnellen Schrittes, fast gleich dem Galopp eines Pferdes, daß ich auf ihre Verfolgung verzichten mußte.

»Noch ein paar Minuten hindurch tauchten die Kolosse zwischen den Bäumen und den Büschen auf, von denen sie mit dem Rüssel grüne und dürre Zweige abknickten, und dann waren sie völlig verschwunden.

[245] »Jetzt handelte es sich für mich darum, den Rückweg zu finden und zunächst um die Richtung, die ich einschlagen sollte. Die Sonne neigte sich dem Untergange zu und im Tannenwalde mußte es bald dunkel werden. Selbstverständlich mußte ich nach Westen zu gehen, doch ob ich mich dabei mehr nach links oder nach rechts zu halten hätte, dafür fehlte mir jeder Anhalt. Ich hatte weder Ernsts Compaß zur Hand, noch verfügte ich über das ihm eigene Orientierungsvermögen, das ja fast dem eines Chinesen gleichkommt. Natürlich war ich in nicht geringer Verlegenheit.

»Schließlich mußte es mir doch gelingen, meine eigene Fährte oder wenigstens die der Elephanten zu entdecken, wenn das auch durch die zunehmende Dunkelheit erschwert wurde. Außerdem kreuzten sich im Walde zahlreiche Fährten. Aus der Ferne hörte ich auch die Trompetenstößen ähnlichen Laute von Elephanten; die Thiere kamen wahrscheinlich des Abends nach dem kleinen Wasserlaufe zusammen.

»Ich sah bald ein, daß ich meinen Weg vor dem Aufgang der Sonne nicht wiederfinden würde, und auch Falb fand sich trotz seines Instinctes offenbar nicht mehr zurecht.

»Eine Stunde lang irrte ich so aufs Gerathewohl dahin, ohne zu wissen, ob ich der Küste näher kam oder mich von ihr entfernte. Ach, liebe Mutter, glaube mir, daß ich mir meiner Unüberlegtheit wegen schwere Vorwürfe gemacht habe, am meisten bekümmerte mich aber der Gedanke, daß Herr Wolston und Ernst es wahrscheinlich noch nicht aufgegeben hätten, nach mir zu suchen. Das mußte ihre Rückkehr nach Felsenheim verzögern und Euch hier nicht wenig Sorge machen, indem wir nicht zu der auf Ernsts Zettel angesagten Zeit ankamen. Für diesen und Herrn Wolston bedingte das noch weitere Beschwerden, und alles das war meine Schuld!

– Ja freilich, Deine Schuld, mein Sohn, sagte der ältere Zermatt, und wenn Du, als Du allein davon gingst, nicht an Dich dachtest, hättest Du doch an Deine Begleiter und an uns denken sollen.

– Das ist nicht zu bestreiten, fiel Frau Zermatt, ihren Sohn umarmend, ein, er hat einen großen Fehler begangen, einen Fehler, der ihm hätte das Leben kosten können. Doch da wir ihn wieder haben, sei ihm das verziehen!«

Jack erzählte weiter.

»Ich komme nun zu dem Theile meiner Abenteuer, wo sich meine Lage arg verschlimmerte.

[246] »Bisher hatte ich ja keine ernste Gefahr zu erleiden gehabt. Mit meinem Gewehre konnte ich für die nöthige Nahrung sorgen, selbst wenn eine ganze Woche verging, ehe ich den Weg nach Felsenheim wiederfand. Folgte ich nur der Küste, so mußte ich ja früher oder später dahin kommen. Mit den Raubthieren, deren es in jenem Theile der Insel viele zu geben scheint, hoffte ich ebensogut fertig zu werden, wie bei so mancher früheren Gelegenheit.

»Vorzüglich zürnte ich mir, weil ich annehmen mußte, daß Herr Wolston und Ernst sich so vergeblich abmühen würden, meine Fährte zu entdecken. Vielleicht hatten sie, wie ich, eine östliche Richtung durch den hier weniger dichten Wald eingeschlagen und waren womöglich gar nicht so weit entfernt von der Stelle, wo ich Halt gemacht hatte...

»Der schlimmste Umstand war, daß es nun bald Nacht werden mußte. Deshalb hielt ich es für das beste, gleich an jener Stelle zu bleiben und hier ein Feuer anzuzünden, einmal, weil Herr Wolston und Ernst das vielleicht hätten bemerken können, und dann, weil dessen Gluthschein jedenfalls die verdächtigen Thiere verscheuchte, die ich in der Umgebung heulen, grunzen und brüllen hörte.

»Vorher rief ich aber noch einmal nach allen Himmelsgegenden die Namen meiner verlorenen Gefährten hinaus.

»Keine Antwort.

»Nun blieb mir nur übrig, einige Schüsse abzufeuern. Das that ich wiederholt.

»Kein Flintenknall antwortete mir.

»Dagegen glaubte ich, rechts von mir ein Rascheln im Gestrüppe zu vernehmen

»Ich horchte und wollte schon wieder rufen... da fiel mir aber ein, daß Herr Wolston und Ernst doch unmöglich von dieser Seite kommen könnten; sie hätten wohl auch schon nach mir gerufen und wir wären einander schon in die Arme gesunken gewesen...

»Hier schlichen also offenbar Thiere heran... Raubthiere... vielleicht gar eine Schlange.

»Ich fand nicht mehr die Zeit, mich zur Abwehr zu rüsten. Vier große Gestalten von menschlicher Form tauchten aus dem Schatten auf, nicht etwa Affen wie ich im ersten Augenblicke glaubte. Auf mich zuspringend, riefen sie einander in einer mir unverständlichen Sprache irgend etwas zu, und ich konnte nicht mehr zweifeln, es hier mit Wilden zu thun zu haben.

[247] »Wilde Menschen auf unserer Insel!

»Sofort wurde ich niedergeworfen und fühlte, daß zwei Knie auf meiner Brust lasteten; dann wurden mir die Hände gefesselt, ich mußte mich erheben, wurde an den Schultern gepackt, und die abscheulichen Kerle trieben mich rasch vorwärts.

»Einer von ihnen hatte mein Gewehr ergriffen, ein anderer sich meine Jagdtasche angeeignet. Es schien aber, wenigstens vor der Hand, nicht so, als ob sie mir nach dem Leben trachteten.

»Die ganze Nacht über marschirten wir weiter... in welcher Richtung, davon hatte ich keine Ahnung. Ich bemerkte nur, daß der Hochwald nach und nach lichter wurde; der Mondschein drang bis auf den Erdboden, und jedenfalls näherten wir uns der Küste.

»Ach, jetzt dachte ich wahrlich nicht mehr an mich, sondern nur an Euch, meine Lieben! Ich stellte mir die Gefahren vor, die die Anwesenheit von Eingeborenen auf unserer Insel mit sich brachte. Diese brauchten ja nur am Ufer bis zum Montrose-Flusse hinauszuziehen und diesen zu überschreiten, um das Cap im Osten zu erreichen; dann konnten sie leicht bis nach Felsenheim hinunterschwärmen. Kamen sie aber hierher noch vor dem Wiedereintreffen der »Licorne«, so würdet Ihr kaum imstande gewesen sein, sie zurückzutreiben.

– Hast Du nicht vorhin gesagt, Jack, fragte der ältere Zermatt, daß jene vom Gelobten Lande noch recht entfernt wären?

– Gewiß, Vater, sechs bis sieben Lieues südlich vom Montrose, also etwa zehn Lieues von hier.

– Nun also: vor Ablauf von vierzehn, vielleicht nur von acht Tagen, wird die »Licorne« in der Rettungsbucht vor Anker liegen, bemerkte der ältere Zermatt, und dann haben wir nichts mehr zu fürchten. Doch, erzähle erst weiter.«

Jack fuhr mit folgenden Worten fort:

»Erst in der Morgenfrühe und nach einem sehr langen Marsche, der durch keine Rast unterbrochen wurde, kamen wir an dem die Küste beherrschenden Steilufer an.

»Unten an diesem war ein Lager aufgeschlagen, in dem sich noch gegen hundert jener ebenholzschwarzen Spitzbuben aufhielten – lauter halbnackte Kerle, die da und dort in Aushöhlungen am Ufer der Felswand hockten. Meiner Ansicht nach waren es Fischer, die von dem stürmischen Ostwinde nach unserer [248] [251]Insel verschlagen sein mochten. Ihre Piroguen hatten sie nach dem Strande heraufgezogen.

»Alle kamen auf mich zugelaufen. Sie betrachteten mich ebenso überrascht wie verwundert, als wäre es zum erstenmale, daß sie einen weißen Mann sähen. Das dürfte übrigens zutreffen, da europäische Schiffe diesen Theil des Indischen Oceans ja kaum jemals durchkreuzen.

»Nachdem sie alles an mir genau besichtigt und untersucht hatten, verfielen sie wieder ihrer angeborenen Indifferenz.


Das Meer war öde und leer bis zur äußersten Linie des Horizontes. (S. 253.)

Mißhandelt wurde ich nicht. Man reichte mir einige geröstete Fische. die ich begierig verzehrte, denn ich starb schon fast vor Hunger, und meinen Durst konnte ich mit Wasser aus einem Rio stillen, der vom Steilufer herunterstürzend über den Strand hin verlief.

»Eine gewisse Befriedigung gewährte es mir, daß mein Gewehr, dessen Gebrauch die Wilden offenbar nicht kannten, und meine, übrigens unversehrt gebliebene Jagdtasche am Fuße eines Felsblockes niedergelegt worden waren, und ich nahm mir vor, bei sich bietender Gelegenheit den Burschen meine Gefangennahme mit ein paar Schüssen heimzuzahlen.

»Da sollte ein unerwarteter Zwischenfall die Sachlage plötzlich ändern.

»Abends gegen neun Uhr erhob sich am Saume des Waldes, der an das Steilufer grenzte ein gewaltiges Geräusch. bei dem den Eingeborenen der Schrecken in alle Glieder fuhr. Wie erstaunte ich aber, zu erkennen, daß dieser Lärm von einer Herde Elephanten – es mochten wohl ihrer dreißig sein – herrührte. Sie trotteten ruhig im Bette des Rio dahin...

»Ah das gab aber ein Entsetzen! Unzweifelhaft sahen sich die Wilden zum erstenmale den riesigen Vierfüßlern gegenüber, Thieren mit furchtbar langer Nase und einer Art Finger daran.

»Als die Rüssel sich dann erhoben, wieder hinabkrümmten, durcheinanderfuchtelten und die bekannten Trompetentöne von sich gaben, da war bei den Wilden kein Halten mehr! Die einen flüchteten in das Felsengewirr, die anderen suchten ihre Piroguen eiligst flott zu machen, die Elephanten aber sahen dem Getümmel mit größter Gemüthsruhe zu.

»Ich erblickte in dem Vorfalle nur die sofort zu benützende Gelegenheit zum Entkommen, und ohne mich darum zu kümmern, wie dieses Zusammentreffen der Eingeborenen mit den Elephanten enden würde, lief ich dem Steilufer zu, kletterte einen Spalt darin hinauf und flüchtete in das Gehölz, wo ich [251] meinen Falb wiederfand, der hier, mich suchend, umherirrte. Natürlich hatte ich Gewehr und Jagdtasche, die mir ja ganz unentbehrlich waren, vorher aufgerafft und mitgenommen.

»Nun wanderte ich die ganze Nacht, den ganzen nächsten Tag hindurch, erlegte mir einiges Wild zur Nahrung und rastete nur, um dieses zuzubereiten und zu verzehren, und nach vierundzwanzig Stunden erreichte ich das rechte Ufer des Montrose, nicht weit von dessen Barre.

»Jetzt wußte ich endlich, wo ich war. Ich ging bis zu dem Bache hinunter, den mein Vater und ich schon einmal stromaufwärts gefahren waren. Weiterhin hatte ich über freies Flachland und durch Wälder zu marschieren, wobei ich mich in der Richtung nach dem Grünthale hielt, und da langte ich heute am Nachmittag glücklich an. Ich ging durch die Schlucht der Cluse; wie traurig wäre es für mich aber gewesen, liebe Eltern und liebe Freunde, wenn Ihr schon ausgezogen gewesen wäret, mich vielleicht irgendwo an der Küste zu suchen, wenn ich Euch in Felsenheim nicht angetroffen hätte!«

Das war der eingehende Bericht, den Jack erstattete, und der nur zwei- oder dreimal durch Bemerkungen, die wohl Beachtung verdienten, unterbrochen worden war.

Zunächst handelte es sich um die Frage, wer jene Eingeborenen wären und woher sie gekommen sein möchten. Jedenfalls von der Westküste Australiens, des hier am nächsten gelegenen Landes, wenn sich in diesem Theile des Indischen Oceans nicht eine noch ebenso unbekannte Inselgruppe befand, wie die Neue Schweiz vor dem Eintreffen der englischen Corvette. Waren jene Wilden aber Australier, gehörten sie der auf der untersten Sprosse der Stufenleiter der Menschheit stehenden Rasse an, so war es kaum erklärlich, daß sie an Bord ihrer Piroguen eine Strecke von etwa dreihundert Lieues hätten zurücklegen können. Wahrscheinlich konnte sie dann nur das stürmische Wetter so weit verschlagen haben.

Jetzt, wo sie Jack getroffen hatten, wußten sie, daß die Insel von Leuten einer anderen Rasse als der ihrigen bewohnt war. Was würden sie nun beginnen? War etwa zu befürchten, daß sie mit den Piroguen längs der Küste hinführen und schließlich die Rettungsbucht und die Wohnstätte Felsenheim entdeckten?

Die »Licorne« mußte ja nun bald wiederkommen. Nach einer, höchstens zwei Wochen donnerten ihre Kanonen gewiß zur Begrüßung. Ankerte sie erst in wenigen Kabellängen Entfernung, so war keine Gefahr mehr zu fürchten.

[252] Heute, am 5. October, war nahezu ein Jahr seit der Abfahrt der Corvette verstrichen. Der Verabredung nach sollte sie nicht länger als zwölf Monate ausbleiben. Jeden Tag hoffte man also, sie am Horizonte auftauchen zu sehen, und die Batterie auf der Haifischinsel war schon instand gesetzt, den Gruß zu erwidern, den der Lieutenant Littlestone der auf der Spitze des Pic Jean Zermatt wehenden Flagge entbieten würde.

Es schien also, als ob es nicht sofort nöthig wäre, sich auf eine Abwehr der Wilden einzurichten. Vielleicht hatten sich diese im Schreck über den Anblick der Elephanten überhaupt schon wieder eingeschifft und waren nach der australischen Küste oder irgendwelcher Insel in der weiteren Umgebung zurückgefahren. Dann brauchte in der Lebensführung der beiden Familien zunächst nichts geändert zu werden, außer daß man die Meeresfläche vor Felsenheim immer scharf im Auge behielt.

So wurden also nach Verlauf der wenigen aufregenden Tage die gewöhnlichen Arbeiten, vorzüglich aber die an der Kapelle, wieder aufgenommen.

Alle gingen hier kräftig ans Werk, da der Bau bei der Ankunft der »Licorne« fertig sein sollte Die mit Seitenfenstern versehenen vier Mauern erhoben sich bereits bis zur Dachhöhe und im Hintergrunde erhielt die Chorhaube ihre Beleuchtung durch eine kreisrunde Oeffnung. Wolston begann das Dachgerüst aufzustellen, das, dicht genug, jeden Platzregen auszuhalten, mit Bambus eingedeckt wurde. Die Ausschmückung des Innern der Kapelle hatten Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah übernommen, und an deren gutem Geschmack konnte man nicht zweifeln.

Diese Arbeiten zogen sich bis zum 15. October, bis zu dem Tage hin, wo die »Licorne« hatte wieder eintreffen sollen Verspätete sie sich um acht oder vierzehn Tage, so war das im Hinblick auf die weite Fahrstrecke noch kein Grund zur Beunruhigung, höchstens wurde damit die Geduld der beiden Familien auf die Probe gestellt. Freilich konnte diese in Felsenheim bald niemand mehr so recht bewahren.

Am 19. hatte noch kein Kanonenschuß die Annäherung der Corvette gemeldet. Jack bestieg deshalb seinen Onagre und ritt nach dem Prospect-Hill und nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung hinaus. Vergebens! Das Meer war öde und leer bis zur äußersten Linie des Horizontes.

Auch am 27. wiederholte er diesen Ausflug, doch ebenso erfolglos wie vorher. Jetzt trat nun erklärlicherweise die Unruhe an die Stelle der Ungeduld.

[253] »O, ich bitte Euch, mahnte der ältere Zermatt, der seine kleine Welt zu beruhigen sachte, wiederholt, vierzehn Tage, selbst drei Wochen bilden doch hier keine so ernstliche Verspätung...

– Zumal da wir gar nicht wissen, setzte Wolston hinzu, ob die »Licorne« England wirklich zur verabredeten Zeit hat verlassen können.

– Die Admiralität, bemerkte Frau Zermatt sehr arglos, muß sich aber doch beeilt haben, von der neuen Colonie Besitz zu ergreifen.«

Wolston lächelte bei dem Gedanken, daß die britische Admiralität es je mit etwas eilig gehabt haben solle.

Immerhin behielt man außer der Ueberwachung des Meeres vor dem Cap der Getäuschten Hoffnung auch das Wasser vor dem Cap im Osten stets scharf im Auge. Mehrmals an jedem Tage richteten sich die Fernrohre nach der Elephantenbucht hinaus, wie man den Theil der Küste, wo das Lager der Wilden gewesen war, getauft hatte.

Bisher war keine einzige Pirogue bemerkt worden. Waren die Wilden nicht wieder abgesegelt, so schien es mindestens, als ob sie ihren Lagerplatz nicht zu verlassen gedächten. Sollten sie aber dennoch an der Spitze des Caps im Osten auftauchen und etwa nach der Rettungsbucht zu steuern, so konnte man sie doch mittels der Batterie der Haifischinsel und der Geschütze auf der Anhöhe bei Felsenheim jedenfalls zurückweisen.

Besser war es allemal, sich gegen sie nach der Seite des Meeres, als nach der des Landes hin zu vertheidigen, denn die größte Gefahr drohte dann, wenn sie nach der Erstürmung der Schlucht der Cluse zur Wohnstätte der Ansiedler vordrangen.

Fielen so gegen hundert Wilde hier ein, so war ein Angriff auf Felsenheim voraussichtlich kaum abzuwehren. Vielleicht müßten die Ansiedler dann nach der Haifischinsel flüchten, wo sie sich bis zum Eintreffen der englischen Corvette eher zu halten vermochten.

Die »Licorne« erschien aber nicht, das Ende des Octobers, des zwölften Monats seit ihrer Abfahrt, kam schon heran. Jeden Morgen hofften der ältere Zermatt, Ernst und Jack durch den Donner von Geschützen geweckt zu werden. Das Wetter war prächtig. Der leichte Dunst über dem Horizonte verschwand gleich beim Aufgang der Sonne.

So weit, wie das Auge nach dem offenen Meere hinausreichte, suchten alle ängstlich nach der »Licorne«.

[254] Noch am 7. November aber mußten sie sich, bei einem nach dem Prospect-Hill unternommenen Ausfluge, leider überzeugen, daß noch immer kein Segel zwischen den beiden Caps blinkte. Vom Cap der Getäuschten Hoffnung her erwartete man die Erfüllung der sehnlichsten Wünsche... vom Cap im Osten her konnte das schlimmste Unheil kommen.

In tiefem Schweigen standen alle auf dem Gipfel des kleinen Hügels – gebannt unter die Herrschaft eines Gefühls, in dem sich Furcht und Hoffnung zu gleichen Theilen mischten.

Ende des ersten Theiles. [255]

2. Theil

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Eine Schaluppe in Windstille. – Seit acht Tagen ausgesetzt. – Was der Kapitän Gould und der Obersteuermann John Block sich sagen. – Eine lichte Stelle in den Dunstmassen im Süden. – Land!... Land!

Es war Nacht... tiefdunkle Nacht und der Himmel kaum vom Wasser zu unterscheiden. Aus den tiefliegenden, schweren, zerfetzten Wolken zuckte zuweilen ein greller Blitz, dem ein dumpfes Donnerrollen folgte, als wäre der Luftraum ungeeignet, einen Ton schärfer wiederzugeben. In diesen seltenen Fällen erhellte sich für einen Augenblick der düstere und immer öde und leere Horizont. Keine Woge schäumte auf dem weiten Meere und nichts war zu bemerken, als das regelmäßige und eintönige Auf- und Abschwellen der Dünung mit kleinen Wellenfurchen, die dann und wann aufflimmerten. Kein Lufthauch zog über die unendliche Wasserwüste dahin, nicht einmal der schwüle Athem eines Gewitters. Im Luftmeere hatte sich aber so viel elektrisches Fluidum angesammelt, daß es sich in phosphorescirenden Ausströmungen entlud und das Takelwerk des Fahrzeuges mit den bläulichen Zungen des St. Elmsfeuers bekrönte. Obwohl die Sonne schon seit vier bis fünf Stunden untergegangen war, hielt sich die verzehrende Hitze des Tages doch noch immer auf ihrer Höhe.

Mit verhaltener Stimme plauderten zwei Männer auf dem Hintertheile einer großen, halb, bis an den Fuß des Mastes, gedeckten Schaluppe, deren Klüver-und Focksegel bei dem eintönigen Schlingern klatschend zusammenschlugen.

Einer der Männer, der das Steuer unter einem Arme hielt, suchte den heftigen Gierschlag von einem Bord zum anderen möglichst zu mäßigen. Es war ein untersetzter, kräftiger Seemann von etwa vierzig Jahren mit einem Körper von Eisen, in dem weder Anstrengungen noch Entbehrung, vor allem auch eine Entmuthigung nie die Oberhand gewannen. Dieser Bootsmann, ein Engländer, nannte sich Block – John Block.

Der andere, weit jüngere Mann – der kaum achtzehn Sommer zählen mochte – schien nicht zur Kategorie der Theerjacken zu gehören.

[256] Auf dem Boden der Schaluppe, unter dem Halbdeck oder den Bänken lag, unfähig die Ruder zu führen, eine Anzahl menschlicher Wesen. Darunter befand sich ein Kind von fünf Jahren, ein armes, kleines Geschöpf, das schluchzend weinte und das seine Mutter durch Zureden und wiederholt durch einen Kuß zu beruhigen sachte.

Nach vorn auf dem Verdecke vor dem Maste, nahe dem Steg des Klüvers, überließen sich zwei regungslos und stumm, Hand in Hand dasitzende Personen den traurigsten Gedanken, und so tief war die Dunkelheit, daß sie einander [257] nur beim Aufleuchten der Blitze zu erkennen vermochten.


Für einen Augenblick erhellte sich der öde und leere Horizont. (S. 256.)

Vom Boden des Fahrzeuges erhob sich dann und wann ein Kopf, der aber sofort wieder zurücksank.

Eben jetzt sagte der Obersteuermann zu dem neben ihm sitzenden jungen Manne:

»Nein, nein; ich habe mir den Horizont beim Sonnenuntergang genau angesehen... da war kein Land in Sicht, kein Segel auf dem Meere. Was ich aber gestern Abend nicht wahrnehmen konnte, das zeigt sich vielleicht heute mit Tagesanbruch.

– Ja, Obersteuermann, wir müssen nun sicherlich binnen höchstens achtundvierzig Stunden ein Land angelaufen haben, sonst ist keiner von uns mehr am Leben!

– Freilich... freilich... 's wird bald die höchste Zeit, daß ein Land auftaucht, erklärte John Block. Die Continente und die Inseln sind ja nur dazu geschaffen, tüchtigen Leuten Zuflucht zu bieten... na, und schließlich trifft man doch allemal eines oder das andere an.

– Vorausgesetzt, daß der Wind uns zu Hilfe kommt, Obersteuermann!

– Der ist ja überhaupt nur dazu erfunden, meinte John Block. Heute hat er unglücklicherweise anderswo zu thun... im Atlantischen oder Stillen Ocean, denn hier bei uns hat er nicht genug geweht, nur meine Müttze aufzublasen! Ja, ja, ein hübscher Sturm, der uns nach einer Küste triebe, wäre freilich angenehmer.

– Nach einer Küste triebe oder uns verschlänge, Block...

– Davon reden wir nicht... nein, nein! Das wäre ja die allerschlimmste Art, der Sache ein Ende zu machen...

– Wer kann das wissen, Obersteuermann?...«

Einige Minuten wechselten die Männer kein weiteres Wort. Man hörte nichts als ein schwaches Anklatschen des Wassers gegen die Seitenwände des Fahrzeuges.

»Und unser Kapitän?... begann darauf der jüngere wieder.

– Harry Gould, der brave Mann... mit ihm geht's leider nicht gut, antwortete John Block. Die Schurken haben ihm gar zu arg mitgespielt. Wenn er nur die schlimme Kopfwunde nicht hätte, die ihm so manchen Schmerzensruf auspreßt. Herr des Himmels, wenn ich bedenke, daß es ein Officier war, dem er das größte Vertrauen schenkte, und der doch die unseligen Burschen aufgehetzt hatte! Wahrlich, wenn jener Schurke, der Borupt, nicht eines schönen [258] Morgens oder am Nachmittage, meinetwegen auch bei Sonnenuntergang, am Ende einer Raa baumelt...

– Der Elende!... Der Judas! rief der junge Mann, dessen Hand sich vor Entrüstung zur Faust ballte. Doch der arme Harry Gould... Sie haben ihn doch wohl am letzten Abend verbunden, Block?

– Gewiß, und als ich ihn unter dem Verdeck bequem gelagert hatte, konnte er, als ein frischer kalter Umschlag auf seinem Kopfe lag, auch einige Worte, freilich nur mit ganz schwacher Stimme, zu mir sprechen.... »Danke, Block, ich danke,« sagte er, als ob es nöthig wäre, daß er sich mir gegenüber in Danksagungen erschöpfte!... »Und das Land?... Das Land?« fragte er weiter. – »Beruhigen Sie sich darüber, Kapitän,« hab. ich ihm geantwortet, »ich versichere Ihnen, daß es irgendwo liegt, vielleicht gar nicht weit von hier!« Da hat er mich noch einmal angesehen, und dann fielen ihm die Augen wieder zu.«

Vor sich hin murmelte der Seemann weiter:

»Das Land, das Land!... O, Borupt und seine Helfershelfer wußten recht gut, was sie thaten! Die ganze Zeit über, wo sie uns im Raume unten eingesperrt hielten. haben sie den Curs gewechselt... haben sich von unserem Fahrwege um ein paar hundert Lieues entfernt, ehe sie uns in dieser Schaluppe aussetzten... hier in einem Meerestheile, den wohl kaum jemals ein Schiff berührt!«

Der junge Mann hatte sich inzwischen erhoben und horchte, über Backbord hingebeugt, aufmerksam hinaus.

»Sie haben nichts gehört, Block? fragte er.

– Nichts... gar nichts, erklärte der Obersteuermann, die Dünung läuft ja auch so still, als läge eine Oelschicht auf dem Wasser!«

Ohne ein Wort zu erwidern, nahm der junge Mann, die Arme über der Brust gekreuzt, seinen früheren Platz wieder ein.

Gleichzeitig schleppte sich einer der Bootsinsassen nach einer Bank und rief mit dem Ausdrucke der Verzweiflung:

»Ach, wäre unsere Schaluppe doch von einem Wogenberge verschlungen worden und es uns erspart geblieben, alle Schrecken des Hungers zu kosten! Morgen geht unser letzter Proviant zu Ende... dann bleibt uns nichts... nichts mehr...

– Morgen... das ist erst morgen, Herr Wolston, erwiderte der Obersteuermann. Wäre die Schaluppe gekenntert, so gäb's für uns kein morgen mehr. Da wir ein solches aber noch vor uns haben...

[259] – Schön, Block, das war gut gesprochen, fiel sein junger Nachbar ein. Man darf niemals verzweifeln, James! Welche Gefahren uns auch drohen mögen, unsere Tage gehören dem allgütigen Gott, der schon schicken wird, was er für recht hält. Seine Hand lenkt ja alles, was auf Erden geschieht, und wir dürfen nicht sagen, daß er sie von uns zurückgezogen habe!

– Ja, ja, flüsterte James, den Kopf senkend, man kann sich nur nicht immer beherrsthen!«

In diesem Augenblicke trat ein anderer Passagier, ein Mann von etwa dreißig Jahren – der auf dem äußersten Vordertheile des Fahrzeuges gesessen hatte – an John Block heran.

»Obersteuermann, begann er, unser unglücklicher, vom Fieber verzehrter Kapitän kann die Schaluppe schon seit acht Tagen nicht mehr führen und Sie sind deshalb an seine Stelle getreten. Unser Heil liegt in Ihrer Hand. Hegen sie noch eine Spur von Hoffnung?

– Das will ich meinen, erklärte John Block. Ja, sicherlich, sag' ich Ihnen! Ich hoffe, daß diese verwünschte Windstille bald aufhört und daß eine gute Brise uns wohlbehalten nach einem Hafen treibt...

– Nach einem Hafen? wiederholte der Passagier, der mit dem Blicke die Finsterniß ringsum zu durchdringen suchte.

– Nun, zum Henker, polterte John Block, irgendwo muß doch einer sein! Herr Gott, wenn ich der Schöpfer wäre, sollten Sie bald ein halbes Dutzend uns passende Inseln pricken können!

– So viel verlangen wir von ihm gar nicht, Steuermann, antwortete der Passagier, der bei diesem Gedanken ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken konnte.

– Nun ja doch, lenkte John Block ein, wenn er unsere Schaluppe nur nach einer von denen führt, die schon vorhanden sind, das genügte ja, und es wäre nicht nöthig, daß er erst Inseln zu unserem Besten erschüfe, obwohl er damit in dieser Gegend thatsächlich sehr sparsam gewesen ist!

– Ja, wo befinden wir uns denn jetzt?

– Das kann ich, selbst auf einige hundert Lieues genau, leider auch nicht sagen, gestand John Block. Acht Tage, acht endlos lange Tage haben die elenden Kerle uns im unteren Schiffsraume eingeschlossen, so daß wir den Curs nicht beobachten, nicht sehen konnten, ob sie nach Norden oder Süden zu steuerten. Jedenfalls mußte das Schiff tüchtig treiben, denn geschlingert und gestampft hat es die ganze Zeit über gerade genug!

[260] – Ich glaub' es wohl, John Block, daß wir damals eine große Strecke fortgekommen sind, doch in welcher Richtung?

– Das kann ich eben nicht sagen, versicherte der Steuermann. Sind wir nach der Seite des großen Oceans hin getrieben worden, statt nach dem Indischen Meere hinauf zu fahren? Am Tage der Meuterei befanden wir uns noch Madagascar gegenüber. Da der Wind damals aber stetig aus Westen blies, wer weiß da, ob das Schiff nicht mehrere hundert Lieues weit, vielleicht nach den Inseln Sanct Paul und Amsterdam zu, gelaufen ist?

– Dorthin, wo gerade Wilde von der schlimmsten Sorte hausen, schaltete James Wolston ein. Uebrigens waren die, die uns ausgesetzt haben, auch um kein Haar besser!

– Auf jeden Fall, erklärte John Block, wird der elende Borupt den Curs der »Flag« gewechselt und sich nach Meerestheilen gewendet haben, wo er einer Bestrafung leichter entgehen könnte, um dort mit seinen Spießgesellen Seeräuberei zu treiben. Ich meine also, wir waren von unserem Reisewege schon weit weg, als die Schaluppe ausgesetzt wurde. Wenn sich in der Gegend hier nur eine Insel, wäre es auch nur eine unbewohnte, vorfindet, dann ist uns schon geholfen! Jagd und Fischfang würden uns die Nahrung liefern, irgend eine Höhle uns Unterkommen bieten. Warum sollten wir aus einer solchen Insel nicht dasselbe machen, was die Schiffbrüchigen des »Landlord« aus der Neuen Schweiz gemacht haben? Mit tüchtigen Armen, mit Umsicht und Entschlossenheit sollten wir doch...

– Gewiß, fiel James Wolston ein. Jene hatten aber den gescheiterten »Landlord« in der Nähe, dessen Ladung sie bergen konnten, wir dagegen haben von dem Frachtgute der »Flag« nichts... gar nichts!«

Das Gespräch erlitt jetzt eine Unterbrechung, da eine vom Schmerz halberstickte Stimme hörbar wurde.

»Zu trinken!... Zu trinken! lauteten die kaum verständlichen Worte.

– Das ist der Kapitän, rief einer der Insassen. Das Fieber verzehrt ihn! Zum Glück fehlt es uns nicht an Wasser, und ich will gleich...

– Das ist meine Sache, fiel der Obersteuermann ein. Nehme einer von Euch das Steuer. Ich weiß, wo die Wassertonne steht, schon einige Tropfen werden für unseren Kapitän eine Erquickung sein.«

John Block erhob sich von der Bank am Achter und schritt dem Vordertheile der Schaluppe zu.

[261] Die drei anderen Passagiere blieben stillschweigend zurück und erwarteten die Rückkehr des Mannes.

Schon nach zwei bis drei Minuten nahm John Block seinen Platz wieder ein.

»Nun, wie steht's? fragte einer der Drei.

– Es war mir bereits jemand zuvorgekommen, antwortete John Block. Einer unserer guten Engel kniete schon beim Kapitän, träufelte ihm etwas frisches Wasser auf die Lippen und kühlte seine schweißbedeckte Stirne. Ob Herr Gould bei Bewußtsein war oder nicht, das kann ich nicht entscheiden. Er schien mir mehr nur zu phantasieren. »Das Land muß doch da draußen liegen!« stieß er wiederholt mühsam hervor, und dabei schwankte seine Hand hin und her wie der Wimpel eines Großmastes, der nach allen Seiten flattert. Ich antwortete ihm: »Ja wohl, Herr Kapitän, ja wohl! Land ist nicht mehr fern. Wir werden es bald anlaufen, ich fühlte es... dort im Norden!« Da ist übrigens auch etwas Wahres daran, wir alten Theerjacken, wir fühlen so etwas vorher. Dann setzte ich noch hinzu: »Fürchten Sie nichts, Herr Kapitän, es geht alles gut! Wir haben eine solide Schaluppe und ich werde sie schon auf dem richtigen Wege halten. Hier in der Umgegend müssen so viele Inseln sein, daß uns nur die Auswahl schwer fallen wird. Wir werden aber schon eine finden, die uns paßt!« Er verstand mich auch, der arme Mann, das bin ich überzeugt, denn als ich die Bordlaterne näher an sein Gesicht hielt, sah ich ihn lächeln, freilich recht sterbenstraurig lächeln. Auch den guten Engel blickte er wehmüthig an. Dann schlossen sich seine Augen und er verfiel gleich wieder in Schlummer. Ich habe mich vielleicht einer starken Lüge schuldig gemacht, als ich vom Lande sprach, als ob es schon in Sicht wäre. Hab' ich damit ein Unrecht begangen?

– Nein, John Block, erwiderte der jüngste der drei Passagiere, das sind Nothlügen, die der Himmel verzeiht.«

Die Unterhaltung endete hiermit, und die Stille ringsum wurde nicht weiter gestört, als durch das Klatschen der Segel am Maste, wenn die Schaluppe sich von dem einen Bord nach dem anderen neigte. Die meisten von denen, die sie trug, und die von Müdigkeit erschöpft, von Entbehrungen geschwächt waren, vergaßen in bleischwerem Schlafe die drohenden Gefahren der Zukunft.

Von einer Zukunft konnte man freilich kaum sprechen, da diese vielleicht auf wenige Tage zusammenschmolz. Hatten die Unglücklichen noch einigen Vorrath, ihren Durst zu löschen, so wußten sie doch schon morgen nicht mehr, womit sie [262] ihren Hunger stillen sollten. Von den wenigen Pfunden Pökelfleisch, die bei der Aussetzung der Schaluppe noch in diese geworfen worden waren, war nichts mehr vorhanden. Die Passagiere waren – elf Personen! – nur noch auf einen Sack Schiffszwieback angewiesen. Wie sollten sie aber vorwärts kommen, wenn die Windstille anhielt?... Seit achtundvierzig Stunden war kein Lufthauch durch die erstickende Atmosphäre gestrichen, nicht einmal einer der vereinzelten Windstöße, die fast den letzten Seufzern eines Sterbenden gleichen. Hier drohte also binnen kurzer Frist der Tod durch Hunger!

Zu jener Zeit gab es noch keine Dampfschiffahrt. Es war daher nur zu unwahrscheinlich, daß auch ein Fahrzeug in diesem Meerestheile auftauchte und daß die Schaluppe wegen Mangel an Wind in Sicht einer Festlandsküste oder einer Insel kommen könnte.

Hier galt es in der That, ein festes Vertrauen auf Gott zu haben, um nicht der Verzweiflung zu verfallen, oder sich der unerschütterlichen Philosophie des Steuermanns zu erfreuen, der die Dinge immer nur von der besten Seite ansah. Auch jetzt hätte man ihn wiederholt für sich murmeln hören können:

»Ich weiß es ja, sprach er leise für sich, der Augenblick wird kommen, wo der letzte Zwieback verzehrt ist, so lange man aber noch einen Magen hat, darf man sich nicht allzu sehr beklagen, wenn man auch nichts hineinzustecken hat! Ja, wenn man keinen Magen und doch etwas hätte, einen solchen damit zu füllen, das wäre eine schlimme Verlegenheit!«

Während John Block am Steuer blieb, hatten die anderen Insassen ihren Platz auf den Bänken wieder eingenommen; sie sprachen aber kein Wort. Das Wimmern des Kindes, die ihm unbewußten Klagen des Kapitäns unterbrachen allein die unheimliche Stille.

So verstrichen zwei Stunden. Die Schaluppe war kaum um eine Kabellänge weiter gekommen und bewegte sich nur mit dem Auf- und Abschwellen der Dünung. Diese aber bleibt immer auf derselben Stelle. Mehrere Holzstückchen, die am Abend vorher über Bord geworfen worden waren, schwammen noch immer in der Nähe umher, und das Segel hatte sich nicht ein einzigesmal gebläht, die Schaluppe davon wegzuführen.

Unter diesen Umständen war es eigentlich unnöthig, am Steuer, das doch keine Wirkung haben konnte, auszuharren. Der Obersteuermann hatte seinen Posten aber nicht verlassen wollen. Die Ruderpinne unter dem Arme, versuchte er wenigstens, die Gierschläge zu mildern, die die Schaluppe immer von Backbord [263] nach Steuerbord warfen, um seinen Gefährten gar so arge Stöße zu ersparen.


»Blicken Sie da hinunter, nach Osten hin,« sagte John Block. (S. 267.)

Es mochte gegen drei Uhr Morgens sein, als John Block einen leichten Hauch an seine Wangen wehen fühlte, obwohl diese bei seinem langen Seeleben nicht gerade zart geblieben waren.

»Sollte der Wind aufwachen?« murmelte er, sich erhebend.

Nachdem er sich nach Süden zu gewendet hatte, streckte er den mit Speichel befeuchteten Zeigefinger hinaus.


Einer der ersten, die an Bord kamen, war James Wolston. (S. 271.)

Kein Zweifel, er empfand infolge der Verdunstung[264] [267] eine gewisse Kühle, und gleichzeitig hörte er aus der Ferne das Plätschern von Wellen.

Da wendete er sich an einen der Passagiere, der auf einer der Bänke in der Mitte neben einer Frauengestalt saß.

»Herr Fritz!« rief er halblaut.

Dieser erhob den Kopf und neigte sich etwas nach ihm hin.

»Was wünschen Sie, Steuermann? fragte er leise.

– Blicken Sie da hinunter, nach Osten hin, sagte John Block.

– Was sehen Sie denn da draußen?

– Täusche ich mich nicht, so entsteht dort am Horizonte ein lichterer Streifen...«

Thatsächlich breitete sich an jener Seite des Horizontes eine weniger dunkle Linie aus. Die Grenze zwischen Himmel und Wasser war deutlich zu erkennen. Es sah aus, als spaltete sich an jener Stelle die Dunsthülle, und vielleicht brach durch sie, wenn sie sich erweiterte, ein frischerer Luftzug herein.

»Das bedeutet Wind!« versicherte der Obersteuermann.

Immerhin blieb es ja nicht ausgeschlossen, daß die Dünste nur vor dem ersten Morgenscheine zeitweilig auseinander gewichen wären.

»Ist das nicht blos der Tag, der dort herauszieht? fragte einer der Passagiere.

– Möglicherweise der Tag, der freilich recht frühe käme, antwortete John Block. möglicherweise indeß auch die Brise. Ich habe schon so etwas davon an meinem Barte verspürt... da seht, die einzelnen Haare zittern ja noch. Natürlich weiß ich, daß es sich um keine Brise handelt, vor der man die Bramsegel einziehen müßte, doch aber um mehr Wind, als seit achtundvierzig Stunden geweht hat. Und dann, Herr Fritz, spitzen Sie nur die Ohren und lauschen, Sie werden wohl auch hören, was ich schon zu hören glaubte...

– Sie haben reckt, bestätigte der Angeredete, nachdem er sich über das Schandeck hinausgebeugt hatte, das ist die Brise...

– Und wir sind zu ihrem Empfange bereit, rief der Steuermann. Das Focksegel ist gehißt; wir brauchen nur die Schote etwas anzuziehen, um keinen Wind zu verlieren.

– Doch wohin wird er uns treiben?

– Wohin er will, antwortete der Steuermann, ich verlange von ihm weiter nichts, als daß er uns aus dieser verwünschten Gegend wegführt!«

[267] Wiederum vergingen zwanzig Minuten. Der Luftzug, der vorher kaum fühlbar war, wurde bald etwas stärker. Am Hintertheile schlugen kleine Wellen schon hörbar an. Die Schaluppe machte einige ausgiebigere Bewegungen, die nicht von der langsamen, mehr abschwellenden Dünung herrührten. Einzelne Falten des Segels weiteten sich etwas aus, schlossen sich dann und öffneten sich auch wieder und die Schote schlug gelegentlich gegen ihre Klampe. Der Wind war freilich noch immer nicht stark genug, das grobe Gewebe des Fock- und des Klüversegels aufzublähen. Man mußte sich vorläufig damit begnügen, die Schaluppe mittelst eines Riemens in der gleichen Richtung zu halten. Eine Viertelstunde später ließ sie aber schon ein leichtes Kielwasser hinter sich.

Jetzt bemerkte einer der auf dem Vordertheile liegenden Passagiere, der sich erhoben hatte, die Lichtung, die sich am Himmelsrand im Osten etwas mehr erweiterte. Von Bank zu Bank kletternd, kam er zu dem Steuermann.

»Deutet das auf eine Brise? fragte er.

– Ja, gewiß, versicherte John Block. Ich glaube, daß wir sie bald haben, und festhalten werden wir sie, wie einen Vogel in der Hand, daß sie uns nicht entschlüpft!«

Wirklich begann jetzt der Wind von jener Oeffnung der Wolkendecke her zu wehen und gleichzeitig brach dort der erste Schein des Tages deutlicher hindurch. Von Südosten bis Südwesten, ja fast über drei Vierteln des Himmelsgewölbes und auch oben im Zenith ballten sich aber noch dichte Wolkenmassen zusammen. Die Sehweite vom Boote aus beschränkte sich auf wenige Kabellängen, darüber hinaus wäre noch kein Schiff zu erkennen gewesen.

Da die Brise auffrischte, mußte die Schote angezogen und das Focksegel, dessen Brisse zu lose hing, besser gehißt und um einige Kompaßstriche gewendet werden, um dem Klüversegel den Wind nicht abzufangen.

»Wir haben ihn... wir haben ihn!« rief der Obersteuermann freudig, als die etwas über Steuerbord liegende Schaluppe mit dem Bug ein wenig in die ersten Wellen einschnitt.

Nach und nach vergrößerte sich die helle Stelle mehr nach dem Zenith zu. Der Himmelsgrund färbte sich mit röthlichen Tönen. Daraus war zu schließen, daß der Wind sich eine Zeit lang in der gleichen Richtung halten, und daß damit in diesem Theile des Oceans die Periode der Windstille abgeschlossen sein werde.

Jetzt wuchs auch die Hoffnung, nach einem mehr oder weniger nahen Lande zu kommen oder einem Schiffe zu begegnen, das, nachdem es ebenfalls [268] mehrere Tage still gelegen hatte, nun imstande gewesen war, seine Fahrt fortzusetzen.

Gegen fünf Uhr verbrämte sich die Wolkenöffnung mit einem Kranz sehr lebhaft gefärbten lichten Dunstes. Das war der Tag, der mit der den niedrigen Breiten der intertropischen Zonen eigenen Schnelligkeit herauszog. Bald strahlte ein purpurfarbener Schein fächerförmig vom Horizonte empor. Der Rand der durch die Refraction scheinbar schon höher schwebenden Sonnenscheibe berührte die jetzt scharfe Kreislinie zwischen Himmel und Wasser. Fast sofort hefteten sich die Strahlenbündel an die kleinen Wolken, die im Zenith hingen, so daß sie in allen Abstufungen des Roth erglühten. Nur von den im Norden lagernden dichten Dunstmassen wurden sie aufgehalten und konnten diese nicht durchdringen. Das nach rückwärts schon sehr erweiterte Gesichtsfeld blieb nach vorn zu noch immer recht beschränkt. Die Schaluppe ließ jetzt einen wirbelnden Kielwasserstreifen hinter sich, dessen Weiß von dem sonst grünlichen Wasser auffallend abstach.

In diesem Augenblick trat, in ihrem Horizontaldurchmesser stark vergrößert, die Sonne vollständig hervor. Kein Dunst verschleierte ihren Glanz, der den Augen ganz unerträglich wurde. Ihr wendeten sich auch die Blicke nicht zu, wohl aber der fast entgegengesetzten Seite. Die Passagiere bemühten sich nur, den Norden im Auge zu behalten, den Norden, dem die Brise sie zutrieb. Was die Dunstwand in dieser Richtung verhüllte, darüber wollten sie sich vor allem unterrichten, nenn nur die Sonne Kraft genug hatte, den Schleier davor zu lüften.

Endlich, kurz vor halb sieben Uhr, kletterte einer der Passagiere behende bis zur Segelstenge hinauf, gerade als die Sonnenstrahlen auch den Himmel im Norden zuerst beleuchteten.

Da rief eine laute Stimme jubelnd:

»Land!... Land im voraus!«

[269]
18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Die Abfahrt der »Licorne«. – Das Cap der Guten Hoffnung. – James Wolston und seine Familie. – Abschied von Doll. – Portsmouth und London. – Aufenthalt in England. – Die Vermählung Fritz Zermatt's und Jenny Montrose's. – Rückkehr nach Capetown.

Am 20. October war die »Licorne« von der Neuen Schweiz abgesegelt, um nach England heimzukehren. Bei der Rückfahrt von da sollte sie, nach einem kurzen Aufenthalt am Cap der Guten Hoffnung, Fritz und Franz Zermatt, Jenny Montrose und Doll Wolston wieder mitbringen, wenn die Admiralität die amtliche Besitznahme der neuen Colonie im Indischen Meere veranlaßte. Die Plätze, die früher die Familie Wolston, welche jetzt auf der Insel wohnte, eingenommen hatte, waren nun von den beiden Brüdern besetzt. Jenny und ihrer jungen Begleiterin Doll, die nach Capetown zu James Wolston, seiner Frau und beider Kind gehen sollte, war eine bequeme Cabine eingeräumt worden.

Nach Umsegelung des Caps der Getäuschten Hoffnung steuerte die »Licorne« nach Süden und ein wenig nach Westen, wobei sie die Insel des Rauchenden Felsen an Steuerbord liegen ließ. Ehe die Neue Schweiz aus dem Gesichtskreise verschwand, kam dem Lieutenant Littlestone noch der Gedanke, deren Ostküste zu besichtigen, sich dabei zu überzeugen, daß es sich hier wirklich um eine, in diesem Meerestheile vereinzelt liegende Insel handelte, und annähernd den Werth und die Bedeutung einer Colonie abzuschätzen, die unter dem Inselbesitze Großbritanniens wahrscheinlich bald eine gewisse Rolle spielen sollte. Nach dieser Besichtigung segelte die Corvette bei günstiger Brise weiter und ließ die Insel, deren südliche Küste theilweise durch Nebel verhüllt geblieben war, im Nordwesten hinter sich.

Die ersten Wochen der Seefahrt verliefen in erwünschtester Weise. Die männlichen und weiblichen Passagiere der »Licorne« hätten eine bessere Witterung gar nicht treffen und ein freundlicheres Entgegenkommen, als es ihnen hier von dem Commandanten und den Schiffsofficieren zu theil wurde, gar nicht finden können. Saßen dann alle bei Tafel in der Officiersmesse oder unter dem Sonnendache des Decks bei einander, so bewegte sich das Gespräch meist um die Wunder der Neuen Schweiz. Diese hoffte man nach einem Jahre wiederzusehen, [270] wenn die Corvette im Verlaufe der Hin- und Rückfahrt, oder von Seiten der englischen Behörden keinerlei Verzögerung erlitt.

Fritz und Jenny sprachen bei ihren täglichen Plaudereien vor allem vom Oberst Montrose, von der unendlichen Freude, mit der er diese Tochter, die er ja wiederzusehen schon lange nicht mehr gehofft hatte, in die Arme pressen würde. Seit drei Jahren fehlte es an jeder weiteren Nachricht von dem »Dorcas«, dessen in Sydney gelandete Ueberlebende nur den gänzlichen Verlust des Schiffes gemeldet hatten. Und mit welchen, über die der Dankbarkeit hinausreichenden Gefühlen würde Jenny ihrem Vater den vorstellen, der sie gerettet hatte, mit welch glücklicher Empfindung würde sie ihn bitten, ihren Bund für's Leben zu segnen!

Was Franz und das vierzehnjährige junge Mädchen – für jetzt noch Doll Wolston – anging, mußte es für den einen sehr schmerzlich werden, die andere in Capetown zurückzulassen, und er sehnte sich gewiß herzlich danach, diese ebenda wieder abzuholen.

Als die »Licorne«, etwa in der Höhe der Ile de France, den Wendekreis überschritten hatte, traf sie weniger günstige Winde an, so daß sie den nächsten Ankerplatz erst am 17. December, also fast zwei Monate nach der Abfahrt von der Neuen Schweiz, zu erreichen vermochte.

Die Corvette, die etwa acht Tage lang in Capetown bleiben sollte, ging hier im Hafen vor Anker.

Einer der ersten, die an Bord kamen, war James Wolston. Er wußte, daß sein Vater, seine Mutter und seine beiden Schwestern von Australien mit der »Licorne« weggefahren waren, und er fühlte sich nicht wenig enttäuscht, als er hier nur die eine Schwester begrüßen konnte. Doll stellte ihm Fritz und Franz Zermatt, und danach Jenny Montrose vor.

»Ihr Vater, Ihre Mutter und Ihre Schwester Annah, Herr Wolston, sagte Fritz sofort zu ihm, befinden sich zur Zeit in der Neuen Schweiz, einer vorher unbekannten Insel, nach der unsere gesammte Familie vor zwölf Jahren infolge des Schiffbruches des »Landlord« verschlagen wurde. Die Ihrigen haben beschlossen, dort zu bleiben, und erwarten auch Sie daselbst. Auf der Rückreise von Europa soll die »Licorne« Sie nebst Gattin und Kind mitnehmen, wenn es Ihnen beliebt, uns dahin zu begleiten.

– Wann soll die Corvette hierher nach dem Cap zurückkommen? fragte James Wolston.

[271] – Nach acht bis neun Monaten, antwortete Fritz, und dann wird sie sofort nach der Neuen Schweiz segeln, über der die britische Flagge wehen soll. Mein Bruder und ich haben diese Gelegenheit benützt, die Tochter des Oberst Montrose nach London zu geleiten, und der Oberst wird, wie wir hoffen, jedenfalls bereit sein, sich mit ihr in unserem zweiten Vaterlande niederzulassen...

– Und zwar mit Dir, mein lieber Fritz, der Du dann ja sein Sohn geworden sein wirst, setzte Jenny, dem jungen Manne die Hand reichend, hinzu.

– Das wird die Verwirklichung meines sehnlichsten Wunsches sein, liebste Jenny... erwiderte Fritz.

– Ebenso wie es, James, der Wunsch unserer Eltern ist, daß Du Dich mit Deiner Familie in der Neuen Schweiz ansiedeln möchtest, erklärte Doll.

– Und vergessen Sie nicht hervorzuheben, Doll, ließ sich jetzt Franz vernehmen, daß unsere Insel eine der herrlichsten ist, die jemals dem Schoße des Meeres entstiegen sind.

– Das wird James sofort bestätigen, sobald er sie nur gesehen hat, antwortete Doll. Hat man nur erst den Fuß auf die Neue Schweiz gesetzt, nur die Wohnung in Felsenheim bezogen...

– Und auf Falkenhorst genistet, nicht wahr, Doll? fiel Jenny lachend ein.

– Ja, ja, genistet, fuhr das junge Mädchen fort, dann wird man die Neue Schweiz gewiß nicht wieder verlassen wollen, oder wenn man es doch thut, geschieht es sicherlich nur mit der Absicht, dahin zurückzukehren...

– Nun... hören Sie das, Herr James? sagte Fritz.

– Gewiß, Herr Zermatt, bestätigte James Wolston. Mich auf Ihrer Insel anzusiedeln, dort die ersten Handelsverbindungen mit Großbritannien anzuknüpfen, diese Aussicht könnte mich schon dorthin verlocken. Ich werde die Sache mit meiner Frau besprechen, und wenn sie zustimmt und unsere Angelegenheiten hier geordnet sind, werden wir uns fertig halten, an Bord der »Licorne« zu gehen, sobald diese nach Capetown zurückkehrt. Ich bin überzeugt, daß Suzan nicht zaudern wird...

– Ich thue gern, was mein Mann will, versicherte Frau Wolston, und James weiß, daß ich mich seinen Wünschen niemals widersetze. Wohin er auch gehen mag, ich folge ihm stets mit größter Zuversicht.«

Fritz und Franz drückten James Wolston warm die Hand, während Doll ihre Schwägerin herzlich küßte und Jenny Montrose diese mit freundschaftlicher Zärtlichkeit begrüßte.

[272] »Wir nehmen selbstverständlich an, daß die Tochter des Oberst Montrose ebenso wie Fritz und Franz Zermatt sich, so lange die Corvette hier liegt, als hochwillkommene Gäste unseres Hauses betrachten. Dadurch werden wir am besten mit einander bekannt werden und immer Gelegenheit haben, von der Neuen Schweiz zu sprechen«

Natürlich nahmen die Passagiere von der »Licorne« diese freundliche Einladung ebenso gern an, wie sie erfolgt war. Eine Stunde später empfingen Herr und Frau Wolston bereits ihre Gäste. Fritz und Franz wurden in einem Zimmer [273] zusammen untergebracht. Jenny theilte mit Doll das für diese bestimmte Zimmer, wie sie schon auf der Fahrt hierher die Cabine mit ihr getheilt hatte.


Von ihrer Tante hörte sie, daß der Oberst im letzten Feldzuge gestorben war. (S. 276.)

James Wolston's Gattin war eine noch junge Frau von vierundzwanzig Jahren, von sanftem, gutem Charakter und hervorragender Intelligenz, deren ganzes Leben in der herzlichsten Liebe zu ihrem Gatten aufging. Dieser wieder, ein ernster, thätiger Mann, erinnerte in der äußeren Erscheinung wie in den seelischen Eigenschaften unwillkürlich an seinen Vater. Die beiden Gatten hatten ein Kind von fünf Jahren, Bob mit Namen, das ihr Stolz und ihre Freude war. Frau Wolston, eine geborene Engländerin, gehörte einer Kaufmannsfamilie an, die schon seit langer Zeit in der Colonie ansässig war. Bei ihrer Verheiratung mit dem damals siebenundzwanzigjährigen James Wolston stand sie jedoch als Waise in der Welt allein.

Die vor fünf Jahren in Capetown gegründete Firma Wolston hatte sich recht glücklich entwickelt. Als umsichtiger, überaus praktischer Engländer mußte James wohl Erfolg haben in dieser Colonie, die 1805 – hundertvierundsechzig Jahre nach ihrer Entdeckung durch die Holländer – in britischen Besitz überging und als solcher 1815 endgiltig bestätigt wurde.

Vom 17. bis 27. December, in den zehn Tagen, die der Aufenthalt der »Licorne« währte, war nur die Rede von der Neuen Schweiz, von den Ereignissen, die sich daselbst abgespielt hatten, von den verschiedenen Arbeiten und den vielfachen Anlagen, die im Laufe von elf Jahren von der Familie Zermatt und zuletzt unter der Mitwirkung der Familie Wolston ausgeführt worden waren. Dieses Gesprächsthema erschien wirklich unerschöpflich. Man mußte nur Doll von all dem Schönen erzählen und Franz sie dabei noch anfeuern, ja gelegentlich ihr noch den Vorwurf machen hören, daß sie von dem Guten ihrer wunderbaren Insel noch nicht einmal genug sagte. Dann sang wohl Jenny, zur großen Befriedigung Fritzens, das Loblied weiter. Wie überglücklich aber würde sie erst sein, wenn sie nach dem Wiedersehen mit ihrem Vater diesen bestimmen könnte – und daran zweifelt sie gar nicht – sich in einer der Meiereien des Gelobten Landes niederzulassen! Welch verheißungsvolle Aussicht, sich den Gründern dieser Colonie anzuschließen, einer Colonie, der eine so blühende Zukunft winkte!

Kurz, die Zeit verstrich ungemein schnell, und es genügt hier wohl – ohne näher darauf einzugehen – die Bemerkung, daß James Wolston sich, in Uebereinstimmung mit seiner Gattin, entschlossen hatte, vom Cap nach der Neuen Schweiz überzusiedeln. Während der Fahrt der Corvette nach Europa und zurück [274] wollte er seine Geschäftsangelegenheiten ordnen und sein Vermögen flüssig machen, um zur Abreise bereit zu sein, sobald die »Licorne« wieder erschiene. Er würde also zu den ersten Auswanderern gehören, die der so glücklich aufblühenden Gründung der Zermatts und der Wolstons ihre Kräfte liehen – ein Entschluß, der beide Familien gewiß aufs höchste erfreute.

Die Abfahrt der »Licorne« war auf den 27. festgesetzt warden. Den Gästen James Wolston's erschien der Aufenthalt des Schiffes hier freilich recht kurz. Am genannten Tage wollte kaum jemand glauben, daß die Stunde zum Abschiede schon gekommen sei und der Lieutenant Littlestone die Corvette bereits segelfertig machen lasse.

Man mußte sich jedoch wohl oder übel in die Trennung fügen, doch mit dem tröstlichen Gedanken, nach acht bis neun Monaten in Capetown zurück zu sein und dann vereinigt nach der Neuen Schweiz abzufahren. Immerhin gestaltete sich der Abschied recht schmerzlich. Jenny Montrose und Suzan Wolston küßten sich thränenden Auges, auch Doll weinte bitterlich. Das junge Mädchen war ernstlich betrübt über den Weggang Franzens, dem bei seiner warmen Zuneigung für sie das Herz ebenfalls recht schwer geworden war. Als sein Bruder und er mit James Wolston den letzten Händedruck wechselten, konnten sie sich sagen, daß sie hier einen wahren Freund zurückließen.

Am Morgen des 27. stach die »Licorne« bei etwas bedeckter Witterung in See. Ihre Fahrt verlief mit mittlerer Geschwindigkeit, da der Wind wochenlang zwischen Nordwest und Südwest wechselte Die Corvette bekam dabei nach einander St. Helena, Ascension und die Inseln des Grünen Vorgebirges in Sicht, letztere etwa in der Höhe der westafrikaniscken Besitzungen Frankreichs. Nachdem sie darauf in der Nähe der Canarien und der Azoren, sowie ziemlich weit seitwärts der Küste Portugals und Frankreichs vorübergekommen war, lief sie in den Aermelcanal ein, umschiffte die Insel Wight und ging am 14. Februar 1817 in Portsmouth vor Anker.

Jenny Wolston wollte sofort nach London weiterreisen, wo ihre Tante, eine Schwägerin ihres Vaters, wohnte. War der Oberst noch in Dienst, so konnte sie ihn dort nicht finden, da der Feldzug, zu dem er von Indien her einberufen worden war, voraussichtlich mehrere Jahre dauerte. Hatte er dagegen den Dienst quittirt, so lebte er jedenfalls in seiner Schwägerin Hause, und hier sollte er dann endlich die wiedersehen, die er als ein Opfer des Schiffbruches des »Dorcas« betrauerte.

[275] Fritz und Franz boten sich Jenny zur Begleitung nach London an, wohin sie ihre Geschäfte ebenfalls riefen, und daß Fritz Eile hatte, mit dem Oberst Montrose zusammenzutreffen, wird ja niemand wundern. Jenny ging von Herzen gern auf das Anerbieten ein. Alle drei reisten noch am nämlichen Abend ab und trafen am Morgen des 23. in London ein.

Hier sollte Jenny Montrose leider eine tiefschmerzliche Ueberraschung erfahren: von ihrer Tante hörte sie, daß der Oberst im Laufe des letzten Feldzuges gestorben war, ohne zu wissen, daß seine so viel beweinte Tochter noch lebte. Jetzt hierher geeilt, weit vom Indischen Oceane her, um ihren Vater zu umarmen und sich nie wieder von ihm zu trennen, um ihm ihren Lebensretter vorzustellen und seinen Segen zu ihrer Verbindung mit diesem zu erbitten, war es Jenny beschieden, ihn überhaupt nicht wiederzusehen.

Ihr erdrückender Schmerz gegenüber einem so unerwarteten Unglück ist wohl begreiflich genug. Vergeblich bemühte sich ihre Tante, ihr Trost zuzusprechen, vergeblich vereinte Fritz seine Thränen mit den ihrigen, der Schlag war gar zu hart, denn niemals wäre ihr der Gedanke gekommen, daß der geliebte Vater, wenn er auch nicht gerade in England anwesend war, nicht mehr unter den Lebenden weilen sollte.

Fritz empfand einen kaum minder tiefen Schmerz. Er erwartete ja vor allem die Zustimmung des Oberst Montrose zu seiner Vermählung mit Jenny, und der Oberst war nicht mehr in dieser Welt!

Einige Tage darauf und nach einem längeren Gespräche, bei dem so manche Thräne vergossen, so mancher Seufzer ausgestoßen wurde, begann Jenny:

»Fritz, mein lieber Fritz, uns beide, Dich so gut wie mich, hat ja das schwerste Unglück heimgesucht, doch wenn Deine Gesinnungen noch die früheren sind...

– Ach, meine geliebte Jenny! rief Fritz.

– Ja ja, ich weiß es, fuhr Jenny fort, und mein Vater wäre gewiß so glücklich gewesen, Dich seinen Sohn zu nennen. So wie ich seine zärtliche Liebe für mich kannte, bezweifle ich nicht im mindesten, daß er uns gefolgt wäre, um unser Leben in der neuen englischen Colonie zu theilen. Auf dieses Glück muß ich nun verzichten! Jetzt stehe ich allein in der Welt und hänge nur von mir selbst ab. Allein?... o nein! Du bist ja da, mein Fritz...

– Jenny, betheuerte der junge Mann im Tone innigster Zärtlichkeit, mein ganzes Leben soll ausschließlich Deinem Glücke geweiht sein...

[276] – Wie das meine dem Deinigen, mein geliebter Fritz! Da nun aber mein Vater nicht mehr da ist, seine Zustimmung zu geben, da ich keine näheren Blutsverwandten und keine andere Familie habe, als die Deinige...

– Ja, die meinige, zu der Du schon seit drei Jahren gehörst, meine Herzensjenny, seit jenem Tage, wo ich Dich an dem Rauchenden Felsen fand...

– Eine Familie, die mich liebt und die ich liebe, Fritz! Nun wohl, nach wenigen Monaten werden wir wieder zurück, wieder in ihrem Kreise sein...

– Verheiratet, Jenny?...

– Ja, Fritz, wenn Du es wünschest, da Du die Zustimmung Deines Vaters hast und meine Tante die ihrige nicht verweigern wird...

– Jenny. meine geliebte Jenny! rief Fritz in die Knie sinkend. Du erfüllst meinen heißesten Wunsch, daß ich Vater und Mutter mein Weib zuführen darf!«

Jenny Montrose verließ jetzt nicht mehr das Haus ihrer Tante, wo Fritz und Franz sie täglich besuchten. Inzwischen wurde alles geordnet, um die Hochzeit nach Verlauf der gesetzlichen Frist feiern zu können.

Andererseits waren die zwei Brüder auch von den nicht so belanglosen Geschäftsangelegenheiten, der ersten Ursache ihrer Reise nach Europa, in Anspruch genommen.

Zunächst handelte es sich dabei um den Verkauf der werthvollen Erzeugnisse der Insel, der Korallen von der Walfischinsel, der Perlen, die in der gleichnamigen Bucht aufgefischt worden waren ebenso wie der Muskatnüsse und des reichlichen Vorrathes an Vanille. Zermatt hatte sich über den Handelswerth dieser Gegenstände nicht getäuscht, denn deren Verkauf ergab die Summe von achttausend Pfund Sterling (160.000 Mark).

Bedenkt man nun, daß die Bänke der Perlenbucht bisher nur ganz oberflächlich ausgebeutet waren, daß an sehr vielen Stellen der Küste Korallen vorkamen, daß Muskatnüsse und Vanille sehr reichliche Ernten versprachen, so wird man, ohne von den übrigen Schätzen der Neuen Schweiz zu sprechen, leicht zugeben, daß die Zukunft der Colonie eine Entwickelung erwarten ließ, die ihr unter den überseeischen Besitzungen Großbritanniens unzweifelhaft einen hohen Rang sicherte.

Nach den Anordnungen des älteren Zermatt sollte ein Theil der aus diesen Verkäufen gelösten Summe verwendet werden, verschiedene Gegenstände zur Vervollständigung der Ausstattung Felsenheims und der Meiereien des Gelobten Landes zu erwerben. Der Rest – etwa dreiviertel des Betrages – [277] wurde nebst zehntausend Pfund Sterling, der Hinterlassenschaft des Oberst Montrose, in der Bank von England niedergelegt, wo der ältere Zermatt bei späterem Bedarf, dank der bald einzurichtenden geregelten Verbindung mit der Reichshauptstadt, darüber nach Belieben verfügen konnte.

Es sei hierbei auch bemerkt, daß verschiedene Werthsachen und Geldbeträge, die den Familien der Verunglückten vom »Landlord« gehörten, diesen zurückgegeben wurden, soweit sich die berechtigten Empfänger hatten ermitteln lassen.

Einen Monat nach dem Eintreffen Fritz Zermatt's und Jenny Montrose's erfolgte in der Kirche der Parochie deren Trauung durch den Geistlichen der Corvette Die »Licorne« hatte beide als Verlobte mitgebracht und sollte sie als junge Eheleute nach der Neuen Schweiz zurückführen.

Die bisher geschilderten Ereignisse machten bei ihrem Bekanntwerden in Großbritannien nicht geringes Aufsehen. Alle Welt interessirte sich für die seit zwölf Jahren auf einer unbekannten Insel des Indischen Oceans verlassene Familie, ebenso wie für die Schicksale Jennys und deren Aufenthalt auf dem Rauchenden Felsen.

Der von Jean Zermatt niedergeschriebene Bericht darüber erschien in den Zeitungen Englands und des Auslandes. Unter dem Titel des »Schweizer Robinson« erlangte er fast dieselbe Berühmtheit wie das unvergängliche Werk Daniel de Foe's.

Selbstverständlich beschloß die Admiralität unter dem Drucke der im Vereinigten Königreich so mächtigen öffentlichen Meinung die Besitznahme der Neuen Schweiz, eines Stückchen Landes, das trotz seiner geringen Ausdehnung wichtige Vortheile zu bieten schien. Die Insel hatte im Osten des Indischen Oceans eine vorzügliche Lage fast am Eingange der Sonda-Meere nahe der Straße nach dem äußersten Asien. Von der Westküste Australiens trennten sie höchstens dreihundert Lieues. Dieser fünfte Erdtheil, der von den Holländern 1605 entdeckt, von Abel Tasman 1644 und vom Kapitän Cook 1774 besucht wurde, entwickelte sich schon mehr und mehr zu einem der wichtigsten Besitzthümer Englands auf der südlichen Halbkugel zwischen dem Indischen und dem Großen (Stillen) Oceane. Die Admiralität konnte sich also nur beglückwünschen, eine Insel in der Nähe dieses ausgedehnten Festlandes zu erwerben.

Auch die Entsendung der »Licorne« nach jener Gegend wurde nicht beanstandet. Die Corvette sollte nach einigen Monaten unter Führung des Lieutenant Littlestone, der aus diesem Anlaß zum Kapitän ernannt wurde, zurückkehren.

[278] Fritz und Jenny Zermatt sollten sich nebst Franz darauf einschiffen und mit ihnen noch einzelne Colonisten, in Erwartung, daß noch weitere sich mit anderen Schiffsgelegenheiten dem nämlichen Ziele zuwendeten.

Gleichzeitig wurde bestimmt, daß die Corvette das Cap anlaufen und da noch James, Suzan und Doll Wolston an Bord nehmen sollte.

Daß die »Licorne« in Portsmouth auffallend lange liegen blieb, lag daran, daß an ihr nach der Fahrt von Sydney bis Europa ziemilich umfängliche Ausbesserungen nöthig geworden waren.

Fritz und Franz hielten sich nicht die ganze Zeit über in London und in England auf. Das junge Ehepaar und Franz hielten sich für verpflichtet, einmal nach der Schweiz zu gehen, um ihren Eltern Nachrichten aus der Heimat bringen zu können.

Sie begaben sich also nach Frankreich und verwendeten acht Tage, die Hauptstadt Paris zu besuchen. Jener Zeit bestand das Kaiserreich nicht mehr und auch die langen Kriege mit England waren zu Ende.

Fritz und Franz kamen nach der Schweiz, nach dem Lande, dessen sie sich, da sie es sehr jung verlassen hatten, kaum noch erinnerten, und sie begaben sich von Genf aus nach dem Canton Appenzell.

Von ihrer Familie fanden sie hier nur noch einzelne entfernte Verwandte, zu denen Herr und Frau Zermatt niemals in näherer Beziehung gestanden hatten. Das Erscheinen der beiden jungen Männer erregte in der Helvetischen Republik immerhin einiges Aufsehen. Die Geschichte der Schiffbrüchigen vom »Landlord« war jetzt allgemein bekannt und man wußte, welche Insel ihnen Zuflucht geboten hatte. Und obwohl die Schweizer wenig Neigung haben, ihr Land zu verlassen und das ungewisse Los eines Auswanderers auf sich zu nehmen, erklärten doch verschiedene ihre Absicht, sich in der Neuen Schweiz anzusiedeln, wo sie auf eine gute Aufnahme rechnen könnten.

Fritz und Franz verließen ihre ursprüngliche Heimat doch mit recht schwerem Herzen. Wenn sie vielleicht auch hoffen konnten, in Zukunft noch einmal dahin zurückzukehren, so konnte für ihre schon etwas bejahrten Eltern davon doch kaum die Rede sein.

Nach der Rückreise durch Frankreich kamen Fritz, Jenny und Franz wieder nach England.

Die Vorbereitungen zur Abfahrt der »Licorne« näherten sich ihrer Vollendung. und in den letzten Tagen des Juni sollte die Corvette zum Absegeln bereit sein.

[279] Es versteht sich von selbst, daß Fritz und Franz von den Lords der Admiralität mit Auszeichnung empfangen wurden. England war Jean Zermatt dankbar dafür, dem Lieutenant Littlestone das Besitzrecht auf seine Insel aus freien Stücken angeboten zu haben.

Zur Zeit, wo die Corvette die Neue Schweiz verlassen hatte, war ein großer Theil von dieser noch unbekannt, denn eine Ausnahme hiervon machten nur das Gebiet des sogenannten Gelobten Landes, die Küste im Norden und ein Theil der östlichen Küste bis zur »Licorne«-Bucht. Der Kapitän Littlestone sollte deshalb die Aufnahme der Süd- und der Westküste ausführen und das Innere der Insel besichtigen. Hierzu sei noch bemerkt, daß nach einigen Monaten noch mehrere Schiffe mit Auswanderern dahin abgehen sollten, die auch weitere Gegenstände für die Colonisation und die Anlage von Vertheidigungswerken mitbringen sollten.

Von dem Zeitpunkte ihres Eintreffens an war dann auch eine regelmäßige Verbindung zwischen England und jenem Theile des Indischen Oceans in Aussicht genommen.

Am 27. Juni war die »Licorne« segelfertig und wartete nur noch auf Fritz, Jenny und Franz, und am 28. trafen diese in Portsmouth ein, wo das für Rechnung der Familie Zermatt erworbene Frachtgut bereits angelangt war.


Eine ungeheure Woge schäumte über die Reling herein. (S. 288.)

An Bord der Corvette fanden sie den freundlichsten Empfang vom Kapitän Littlestone, den sie auch einigemale in London getroffen hatten. Das sollte eine Freude werden, in Capetown James und Suzan Wolston wiederzusehen, und auch die hübsche, lustige Doll, die Franz inzwischen von allem und von den Erlebnissen in England regelmäßig unterrichtet hatte.

Am Morgen des 29. Juni verließ die Corvette bei günstigem Winde den Hafen von Portsmouth – an der Gaffel die flatternde britische Flage, die sie an der Küste der Neuen Schweiz als Zeichen der Besitzergreifung hissen sollte.

[280][283]
19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Die zweite Fahrt der »Licorne«. – Aufenthalt am Cap. – Neue Passagiere und Officiere. – Der zweite Officier Borupt. – Widrige Seefahrt. – Meuterei an Bord. – Acht Tage im Frachtraume. – Mitten im Meere verlassen.

Wäre die »Licorne« nicht ein Kriegsschiff, sondern ein Handelsfahrzeug gewesen, das nach der Neuen Schweiz segelte, so hätte sie wohl eine ansehnliche Zahl von Auswanderern aufgenommen. Die Insel, die jetzt das lebhafteste Interesse der Allgemeinheit erregt hatte konnte gewiß nicht lange auf Ansiedler zu warten haben. Höchstwahrscheinlich stammten diese dann meist aus Irland, dessen Bewohner so vielfach von der Noth gezwungen werden, sich außerhalb ihres Vaterlandes eine Existenz zu suchen. Kräftigen und thatenlustigen Leuten konnte es da unten aber niemals an einträglicher Arbeit fehlen.

An Bord der »Licorne« hatten Fritz und Jenny eine hübsche Cabine erhalten, und Franz eine daneben. Ihre Mahlzeiten sollten alle drei an der Tafel des Kapitäns einnehmen.

Die Seefahrt verlief zunächst ohne besondere Zwischenfälle, höchstens wechselte, wie gewöhnlich, der Zustand des Meeres, der Wind schlug wiederholt in eine weniger günstige Richtung um oder es trat gar völlige Windstille ein, die in der Tropenzone öfters kaum enden zu wollen scheint, oder es herrschte endlich vorübergehend stürmisches Wetter, das die gut geführte Corvette indeß ohne Schaden zu nehmen überstand. Auf dem südlichen Atlantischen Meere begegnete man dann und wann Schiffen, die dann Nachrichten von der »Licorne« nach Europa brachten. In dieser Zeit tiefsten Friedens nach so langen und furchtbaren Kriegen waren alle Meere besonders sicher und den Schiffen drohte in dieser Beziehung keinerlei Gefahr.

Fritz und Franz lernten jetzt auch den Schiffskaplan näher kennen, der selbst wieder in Indien den Oberst Montrose gekannt hatte. Mit welch besserem Vertrauten hätte Jenny von ihrem Vater sprechen können, als mit dem Manne, der ein näherer Freund das Obersten gewesen war. Von ihm vernahm sie, was dieser seit seiner Rückkehr nach England gelitten hatte und wie unruhig er zuerst in Erwartung der Ankunft des »Dorcas« gewesen, der einige Tage vor dem [283] Schiffe, das ihn selbst nach Europa zurücktrug, abgesegelt war. Welche Qualen, welche Verzweiflung mochte er dann empfunden haben, als es bekannt wurde, daß der »Dorcas« mit Mann und Maus verloren gegangen war! Später war der Oberst mit gebrochenem Herzen nach jenem Feldzuge abgereist, von dem er nicht zurückkehren sollte.

War die »Licorne« bei ihrer Fahrt durch den Atlantischen Ocean so ziemlich begünstigt gewesen, so traf sie dagegen nahe dem südlichen Afrika auf recht schlechtes Wetter. In einer Nacht Mitte August brach ein schwerer Sturm von Osten her los, der sie weit aufs Meer hinaus verschlug. Da dieser an Heftigkeit mehr und mehr zunahm, mußte man, angesichts der Unmöglichkeit, den richtigen Curs einzuhalten, einfach vor ihm fliehen. Der Kapitän Littlestone entwickelte, kräftig unterstützt von seinen Officieren und Mannschaften, unter diesen Umständen eine erstaunliche Gewandtheit. Infolge mehrfacher ernster Havarien war die »Licorne« aber doch dem Untergange nahe, so daß sogar der Besanmast gekappt werden mußte. Am Hintertheile war auch ein Leck entstanden, das man nur mit Mühe nothdürftig verstopfen konnte. Als endlich der Wind abflaute, konnte der Kapitän Littlestone seinen Curs wieder aufnehmen und er beeilte sich dann, nach Capetown zu kommen, um die erlittenen Havarien ausbessern zu lassen.

Am Morgen des 10. September meldete die Wache das Insichtkommen des Tafelberges, der im Hintergrunde der gleichnamigen Bai emporragt.

Sobald die »Licorne« an ihrem Ankerplatze festgelegt war, kamen James Wolston, seine Frau und seine Schwester, die sich eines Bootes bedient hatten, an Bord.

Mit welchem Jubel wurden da Fritz, Jenny und Franz begrüßt! Welch' beglückender Augenblick für alle! Die beiden jungen Frauen waren überglücklich, einander wiederzusehen, und die reizende Doll gab unbefangen Fritz den herzlichen Kuß zurück, den dieser auf ihre frischen Wangen gedrückt hatte. Natürlich wurde übrigens Franz seinem Bruder gegenüber nicht so auffallend bevorzugt. Wie sehr drängte es endlich alle, ihre Existenz für immer in jenem zweiten Vaterlande begründet zu sehen, wo die Familie Zermatt und Wolston sie so ungeduldig erwarteten.

Seit zehn Monaten hatten sie von diesen ja keinerlei Nachricht erhalten. Obwohl sie sich über das Schicksal der Bewohner von Felsenheim wohl nicht zu beunruhigen brauchten, erschien ihnen das Fernbleiben von dort doch recht [284] lang, ja fast endlos. Wie herrlich mußte es sein, wenn sich erst alle wieder in Sicht der Neuen Schweiz vereinten, deren Längen-und Breitenlage der Kapitän Littlestone ja schon kannte. Stunde für Stande von dem Vater Zermatt, seiner Frau, von Ernst und Jack, sowie von Herrn und Frau Wolston und Annah zu plaudern, das verkürzte leider nicht die Entfernung bis zu diesen und wog nicht das Glück auf, wieder auf dem Gelobten Lande zu wandeln.

Was die Geschäftsangelegenheiten James Wol ston's anging, so hatten sich diese nach Wunsch abwickeln und ordnen lassen.

Leider war es aber zunächst unmöglich, die Reise fortzusetzen. Die Havarien der »Licorne« erwiesen sich als so bedeutend, daß ihre Ausbesserung einen längeren Aufenthalt im Hafen von Capetown nöthig machte. Jedenfalls nahmen diese, nach zeitweiliger Entladung der Corvette, noch eine Zeit von zwei bis drei Monaten in Anspruch. Vor Ende October war gar nicht darauf zu rechnen, daß sie nach der Neuen Schweiz absegeln könnte.

Das wäre ein beklagenswerther Zeitverlust gewesen, wenn sich den Passagieren der »Licorne« nicht Gelegenheit geboten hätte. ihren Aufenthalt in Capetown abzukürzen.

Im Hafen lag nämlich zu gleicher Zeit ein Schiff, das binnen vierzehn Tagen absegeln sollte. Es war die »Flag«, ein englischer Dreimaster von fünfhundert Tonnen, Kapitän Harry Gould, der nach Batavia, in den Sondainseln, bestimmt war. Die Neue Schweiz anzulaufen, brachte ihn nur wenig aus seiner Route, und wenn er sie an Bord nehmen wollte, waren Fritz und seine Gattin, James und Suzan Wolston mit ihrem Kinde, sowie Franz und Doll erbötig, einen recht anständigen Fahrpreis zu entrichten.

Der Kapitän Gould ging auf diesen Vorschlag ein, und die Passagiere der »Licorne« ließen ihr gesammtes Gepäck nach der »Flag« schaffen, wo ihnen Cabinen überwiesen wurden.

Am Nachmittage des 29. September war der Dreimaster zum Absegeln fertig und am nämlichen Abend bezogen auch James Wolston, seine Frau und seine Schwester nebst dem kleinen Bob ihre Cabinen. Dann nahmen alle innerlich bewegt vom Kapitän Littlestone Abschied und versprachen ihm, die Ankunft der »Licorne« gegen Ende November am Ausgang der Rettungsbucht zu erwarten.

Am nächsten Morgen stach die »Flag« bei recht günstigem Südwestwinde in See, und vor Ablauf des ersten Tages waren die hohen, gegen fünfzehn Lieues landeinwärts gelegenen Gipfel des Caps den Blicken entschwunden.

[285] Harry Gould war ein vortrefflicher Seemann, dessen Kaltblütigkeit seiner schnellen Entschlossenheit die Wage hielt. Jetzt im besten Mannesalter – er zählte zweiundvierzig Jahre – hatte er erst als Officier, dann als Kapitän wiederholte Proben seiner Tüchtigkeit abgelegt und seine Rheder konnten zu ihm das beste Vertrauen haben.

Dieses Vertrauen hätte der zweite Officier, Borupt mit Namen, freilich nicht verdient. Im gleichen Alter mit Harry Gould, doch neidischen und gewaltthätigen Charakters und von heftigen Leidenschaften beherrscht, glaubte er sich niemals nach Verdienst belohnt, und getäuscht in der Erwartung, selbst den Befehl über die »Flag« zu übernehmen, barg er in der Seele gegen den Kapitän einen grimmigen Haß, den er zunächst gut zu verheimlichen wußte. Dennoch durchschaute ihn der Obersteuermann John Block, ein furchtloser, zuverlässiger Mann, der seinem Vorgesetzten mit Leib und Seele ergeben war. Im übrigen gehörte die Besatzung der »Flag«, gegen zwanzig Matrosen, nicht gerade zu den besten Leuten, was auch Harry Gould nicht unbekannt war. Der Obersteuermann bemerkte mit Mißvergnügen die Nachgiebigkeit Robert Borupt's gegen verschiedene Matrosen, über die er sich dienstlich zu beklagen hatte. Alles das kam ihm verdächtig vor, und er behielt deshalb den zweiten Officier stets scharf im Auge, um Harry Gould im Nothfalle alles mittheilen zu können. Der Kapitän aber würde auf die Worte des erfahrenen, braven Mannes gewiß ebenso Gewicht legen, wie bisher.

Vierzehn Tage lang erlitt die regelmäßige Seefahrt keinerlei Unterbrechung. Der Zustand des Meeres und die Richtung des Windes, der freilich nur als schwache Brise auftrat, hatten sie immer begünstigt. Hielt der Dreimaster wie bis jetzt eine mittlere Geschwindigkeit ein, so mußte die Neue Schweiz gegen Mitte October, d. h. zur vorher angenommenen Zeit, erreicht werden.

Jetzt traten aber wiederholt Anzeichen von Unbotmäßigkeit der Mannschaft an den Tag und es schien sogar, als ob diese Erschlaffung der Disciplin von dem zweiten und dem dritten Officier unter Verletzung ihrer Dienstpflicht noch begünstigt würde. Von seiner eifersüchtigen, gemeinen Natur geleitet, bemühte sich Robert Borupt nicht im mindesten, die gestörte Ordnung wieder herzustellen. Im Gegentheil hetzte er die Leute mit nicht mißzuverstehenden Worten auf und verschloß die Augen gegen alles, was er sonst hätte strengstens rügen und bestrafen müssen. Kurz, es wurde allmählich deutlicher, daß auf dem Schiffe eine Meuterei drohte.

[286] Inzwischen steuerte die »Flag« nach Nordosten weiter. Am 9. September ergab das Besteck 20 Grad 17 Minuten der Breite und 80 Grad 45 Minuten der Länge von Greenwich; das Schiff befand sich also nahezu in der Mitte des Indischen Oceans und nahe dem Wendekreise des Steinbockes, den es unlängst überschritten hatte.

In der letzten Nacht waren mehrere Vorzeichen schlechter Witterung eingetreten: ein starker Fall des Barometers und die Bildung gewitterhafter Wolken, was auf einen jener plötzlichen Stürme hindeutete. welche die Meere hier gar zu häufig heimsuchen.

Gegen drei Uhr des Nachmittages entstand ein so heftiger Wogengang, daß er das Schiff fast zu verschlingen drohte. Es steht schon sehr schlimm um ein Fahrzeug wenn es auf die Seite gelegt dem Steuer nicht mehr gehorcht und Gefahr läuft, sich, ohne daß die Masten gekappt werden, nicht wieder aufrichten zu können. Dann ist es auch nicht mehr imstande, durch gerades Anlaufen auf die Wellen zu gegen diese anzukämpfen, und ist dem Wüthen des Orcans hilflos preisgegeben.

Es versteht sich von selbst. daß sich die Passagiere seit dem Anfange des Sturmes hatten zurückziehen müssen, denn das Verdeck wurde immer und immer wieder mit einem schäumenden Wassersckwalle überspült. Nur Fritz und Franz waren oben geblieben, um der Mannschaft im Falle der Noth an die Hand zu gehen. Von der ersten Stunde an hatten Harry Gould mittschiffs, und der Obersteuermann am Ruder ihren Posten eingenommen, während der zweite und der dritte Officier nahe dem Bugspriet standen. Die Mannschaft hielt sich bereit, jeden Befehl schleunigst auszuführen, denn es handelte sich hier um Leben und Tod. Der geringste Fehler in einem Segelmanöver hätte, wenn die Wogen an die weit nach Backbord übergebeugte »Flag« anprallten. den gewissen Untergang bringen können. Vor allem kam es jetzt darauf an, das Schiff wieder emporzurichten und die Segel so einzustellen, daß es den Windstößen sozusagen die Stirn bot.

Und doch sollte ein solcher Fehler begangen werden, wenn nicht gar absichtlich, da das Schiff dadurch unterzugehen drohte. so doch infolge der falschen Auffassung einer Anordnung des Kapitäns, die bei einem Officier mit der nöthigen Erfahrung und mit seemännischem Instinct nicht hätte vorkommen dürfen.

Keinem anderen als Robert Borupt, dem zweiten Officier, fiel dafür die Verantwortlichkeit zu. Unter dem Drucke des falsch gestellten Marssegels tauchte[287] das Fahrzeug vorn noch tiefer ein und eine ungeheure Woge schäumte über die Reling herein.

»Der verdammte Borupt will uns wohl zum Kentern bringen! rief Harry Gould.

– Er hat dazu wenigstens gethan, was er konnte,« antwortete der Obersteuermann, der sich mit aller Kraft bemühte, das Ruder nach Steuerbord umzulegen.

Der Kapitän stürmte über das Deck hin nach dem Vordertheile zu, ohne darauf zu achten, daß er über Bord gespült werden könnte, und erreichte mit großer Mühe den Bug des Schiffes.

»In Ihre Cabine, rief er mit wüthender Stimme, hinein in Ihre Cabine, und verlassen Sie diese nicht wieder!«

Der von Robert Borupt begangene Fehler lag so offenbar auf der Hand, daß keiner von der Mannschaft, die sonst bereit gewesen wäre, sich auf seinen Ruf um ihn zu schaaren, jetzt die Stimme zu erheben wagte. Der zweite Officier gehorchte ohne Widerspruch und schwankte nach dem Hintertheile und seiner Cabine zu.

Harry Gould that nun sofort, was ihm unter den gegebenen Umständen möglich war. Durch angepaßte Einstellung aller Segel, die die »Flag« jetzt tragen konnte, gelang es ihm, diese wieder mehr aufzurichten, ohne die Masten kappen zu müssen, und nun lag auch das Schiff nicht mehr mit der Breitseite gegen den Wogengang.

Drei Tage lang mußte man vor dem Sturme flüchten – immer unter schweren Gefahren, die indeß durch den Kapitän und den Obersteuermann glücklich abgewendet wurden. Fast die ganze Zeit über mußten Suzan, Jenny und Doll in ihren Cabinen bleiben, während Fritz, Franz und James sich an den Segelmanövern betheiligten.

Am 13. September ließ sich endlich eine Abnahme der atmosphärischen Störung erkennen. Der Wind flaute ab, und wenn sich das Meer auch nicht sofort beruhigte, so nahm die »Flag« doch kein Wasser mehr über.

Nun beeilten sich die Passagiere, ihre Cabinen zu verlassen. Sie wußten, was zwischen dem Kapitän und dem zweiten Officier vorgekommen und warum dieser seiner Function enthoben worden war. Ueber eine Bestrafung Robert Borupt's sollte erst nach der Rückkehr eine Seebehörde entscheiden.

Zunächst waren jetzt viele Havarien am Segelwerk auszubessern; John Block, der diese Arbeiten leitete, erkannte aber sehr bald, daß die Mannschaft zu einer Meuterei geneigt sei.


Sie waren aber wenigstens beisammen! (S. 293.)

[288]

Das konnte auch Fritz, Franz und James Wolston nicht entgehen und flößte ihnen vielleicht mehr Besorgniß ein, als vorher der tolle Sturm. Gewiß würde der Kapitän gegen jeden, wer es auch sein mochte, mit der größten Strenge vorgehen; es fragte sich nur, ob es dazu nicht schon zu spät wäre.

Im Laufe der nächsten acht Tage kam indeß kein weiterer Verstoß gegen die Disciplin vor. Da die »Flag« aus ihrer Route um mehrere hundert Seemeilen nach Osten verschlagen worden war, mußte sie jetzt nach Westen umkehren, um in gleiche Länge mit der Neuen Schweiz zu kommen.

[289] Da erschien am 20. September gegen zehn Uhr Robert Borupt, obwohl sein Arrest nicht aufgehoben worden war, zum Erstaunen aller wieder auf dem Verdeck.

Die auf dem Hintertheile des Schiffes versammelten Passagiere hatten die unbestimmte Empfindung, daß der bisherige Ernst der Lage sich noch verschlimmern werde.

Sobald der Kapitän den zweiten Officier nach dem Verdeck gehen sah, trat er auf diesen zu.

»Lieutenant Borupt, rief er diesen an, Sie haben noch Arrest! Was haben Sie hier zu schaffen? Antworten Sie!

– Ja... gewiß, erwiderte Borupt grollend, meine Antwort sollen Sie sofort hören!«

Damit drehte er sich zu den Mannschaften des Schiffes um.

»Hierher... zu mir, Kameraden! rief er.

– Hurrah für Robert Borupt!« schallte es vom Bug bis zum Heck zurück.

Harry Gould eilte nach seiner Cabine und erschien daraus wieder mit einer Pistole in der Hand. Doch ehe er Gebrauch machen konnte, krachte schon ein Schuß von einem der Matrosen, die sich um Borupt drängten, und am Kopfe schwer verwundet, sank er dem Obersteuermann in die Arme.

Gegenüber der gesammten sich empörenden Besatzung, die vom zweiten und dritten Officier noch aufgehetzt wurde, war jetzt an Widerstand nicht zu denken. Trotzdem versuchten John Block, Fritz, Franz und James Wolston, die sich um Harry Gould geschart hatten, den Kampf aufzunehmen. Von der Menge erdrückt, sahen sie sich jedoch sehr bald überwunden, und zehn Matrosen schleppten sie sammt dem Kapitän nach dem Laderaum hinunter.

Jenny, Doll und Suzan mit dem Kinde wurden in ihre Cabinen eingesperrt, vor deren Thüren Borupt, der jetzt allein den Befehl führte. Wachen stellte.

Das war eine entsetzliche Lage für die Gefangenen in dem fast ganz finsteren Frachtraume, und vor allem für den unglücklichen Kapitän mit seiner schmerzhaften Kopfwunde, auf die hier nur feuchte, kalte Umschläge gelegt werden konnten. Der Obersteuermann bemühte sich jedoch, ihn zu pflegen, so gut es anging. Fritz, Franz und James Wolston waren natürlich die Beute der quälendsten Unruhe. Die drei Passagiere in der Gewalt der Meuterer der »Flag«! Wie centnerschwer drückte auf sie das Gefühl ihrer traurigen Ohnmacht.

[290] So verstrichen mehrere Tage. Je zweimal, des Morgens und des Abends wurde der Deckel der Luke des Frachtraumes abgehoben und erhielten die Gefangenen etwas Nahrung. Auf alle Fragen John Block's antworteten die Matrosen nur mit rohen, drohenden Worten, und gegen Fritz, Franz und James stießen sie die schlimmsten Beleidigungen aus.

Wiederholt versuchten der Obersteuermann und seine Unglücksgefährten sich dadurch zu befreien, daß sie den Lukendeckel abzuwerfen suchten. Dieser wurde aber Tag und Nacht streng bewacht; doch wenn es ihnen auch gelungen wäre, ihn abzuheben, die Wachposten zu bezwingen und auf das Verdeck zu gelangen, so mußten sie hier doch der übrigen Mannschaft unterliegen, und Robert Borupt hätte wohl noch eine grausamere Behandlung und Strafe über sie verhängt.

»Dieser Elende!... Dieser Schurke! wiederholte Fritz in Gedanken an seine Gattin, an Suzan und Doll.

– Ja, der verruchteste Kerl, den es geben kann, sagte John Block, und wenn der nicht einst noch am Galgen baumelt, giebt es keine Gerechtigkeit mehr auf Erden.«

Um die Meuterer zu bestrafen, um ihrem Anführer den verdienten Lohn zu geben, wäre es freilich nöthig gewesen, daß sich ein Kriegsschiff der »Flag« bemächtigte. Robert Borupt hütete sich aber weislich, nach mehr befahrenen Gegenden zu steuern, wo seine Spießgesellen und er Gefahr liefen, verfolgt zu werden.

Er hatte das Schiff jedenfalls von seinem Curs weggeführt, wahrscheinlich zunächst nach Osten zu, um von den Küsten Afrikas und Australiens gleich weit entfernt zu sein. Jeder Tag vergrößerte jetzt die Entfernung der »Flag« vom Meridian der Neuen Schweiz gut um fünfzig bis sechzig Lieues. Harry Gould und der Obersteuermann konnten aus der stets über Backbord geneigten Lage des Fahrzeuges erkennen, daß dieses schnell dahinsegelte. Des Knarren und Krachen an der Einfügungsstelle der Masten verrieth, daß der zweite Officier hatte so viel Segel wie möglich setzen lassen. Was sollte aber aus den Passagieren werden, wenn die »Flag« erst die entlegenen, zur Ausübung der Piraterie so geeigneten Wasserwüsten des Großen Oceans erreicht hatte? An Bord würden sie doch schwerlich behalten werden... vielleicht setzte man sie an einer unbewohnten Insel aus... Gleichviel, alles war doch besser, als auf diesem Schiff unter den Händen Robert Borupt's und seiner Spießgesellen zu bleiben.

[291] Zum berechneten Termine sollte also, an Stelle der am Cap zurückgehaltenen »Licorne«, auch die »Flag« nicht an der Neuen Schweiz erscheinen. Dort wartete man wochen-, ja monatelang vergeblich, und welch quälende Unruhe mußte die Familien Zermatt und Wolston erfüllen! Ankerte endlich gar erst die »Licorne« in der Rettungsbucht und meldete sie, daß die »Flag« schon längere Zeit vor ihr nach der Colonie abgegangen war, so mußte sich ja die Befürchtung aufdrängen, daß diese mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sei.

Seit der Einsperrung Harry Gould's und seiner Gefährten war schon eine Woche vergangen, ohne daß diese etwas von den Frauen in den Cabinen gehört hatten. Da – am 27. September – schien die Schnelligkeit des Dreimasters wesentlich verändert zu sein, entweder weil er gegengebraßt oder weil der Wind sich gelegt hatte.

Abends gegen acht Uhr erschienen einige Matrosen bei den Gefangenen.

Der dritte Officier befahl diesen, ihm zu folgen, und sie mußten ihm wohl oder übel gehorchen.

Was mochte oben vorgegangen sein?... Sollten sie in Freiheit gesetzt werden?... Hatte sich eine Robert Borupt feindliche Partei gebildet, die die Führung des Schiffes dem Kapitän Gould übergeben wollte?

Nach dem Verdecke gelangt, sahen sie Robert Borupt, der sie in Gegenwart der ganzen Besatzung am Fuße des Großmastes erwartete. Vergeblich warfen Fritz und Franz einen Blick in das Vorderkastell, dessen Mittelthür offen stand. Keine Lampe, keine Laterne verbreitete darin das geringste Licht.

Als der Obersteuermann sich aber der Steuerbordreling näherte, konnte er die Spitze eines Mastes erkennen, der an der Seite des Schiffes schwankte.

Offenbar war die große Schaluppe aufs Meer gesetzt worden.

Das deutete darauf hin, daß Robert Borupt den Kapitän und dessen Gefährten auf dem Boote einschiffen, sie hier aussetzen und allen Zufälligkeiten des Meeres überlassen wollte, ohne daß diese wußten, ob sie sich in der Nähe eines Landes oder einer Insel befanden.

Unentschieden erschien es, ob die unglücklichen Frauen an Bord zurückbehalten werden und hier den schlimmsten Gefahren ausgesetzt bleiben sollten.

Bei dem Gedanken, sie niemals wiederzusehen, wollten Fritz, Franz und James einen letzten Versuch zu ihrer Befreiung, sogar auf die Gefahr hin wagen, daß es ihnen selbst das Leben kostete.

[292] Fritz stürmte nach dem Kastell zu und rief nach Jenny. Da hielten ihn aber nervige Fäuste zurück, ebenso wie Franz und James, der auch Suzan auf seinen Ruf nicht antworten hörte. Trotz ihres Widerstandes sofort überwältigt. wurden sie mit Harry Gould und John Block über die Reling in die Schaluppe hinabgelassen, die mittels einer Leine noch längs des Schiffes festgehalten war.

Welche Ueberraschung, welche Freude sollte ihnen aber hier zu theil werden! Im Boote befanden sich bereits die geliebten Wesen, die sie eben vergeblich gerufen hatten. Die Frauen waren einige Augenblicke vor den Gefangenen aus dem Frachtraume in die Schaluppe befördert worden. Hier hatten sie, eine Beute der schrecklichsten Angst, gewartet, ob ihre Begleiter gleichzeitig mit ihnen hier mitten im Großen Oceane ausgesetzt werden sollten, wohin Robert Borupt sicherlich die »Flag« geführt hatte.

Da gab es ein Wiedersehen unter heißesten Thränen. Schon allein der Gedanke, wieder vereinigt zu sein, erschien ihnen als die größte Gnade, die der Himmel ihnen erweisen konnte.

Und doch, welche Gefahren bedrohten sie an Bord dieses kleinen Fahrzeuges. Sie fanden darin nur vier Beutel mit Schiffszwieback und conservirtem Fleisch, drei Fäßchen Trinkwasser, verschiedene Kochgeräthschaften nebst einem Packet Kleidungsstücke und Decken, die ohne zu wählen aus den Cabinen genommen worden waren... alles in allem kaum genug, etwaigem schlechten Wetter zu wiederstehen und die Qualen des Durstes und Hungers zu stillen.

Sie waren aber wenigstens beisammen! Nur der Tod konnte sie in Zukunft trennen. Jetzt hatten sie übrigens gar keine Zeit zum überlegen. In wenigen Minuten mußte sich die »Flag« bei dem eben wieder einsetzenden Winde schon weit von ihnen entfernt haben.

Der Obersteuermann hatte sich ans Ruder gesetzt, und Fritz und Franz standen am Maste, bereit, das Segel zu hissen, sobald die Schaluppe von dem Schiffe klar abgekommen wäre.

Der Kapitän war unter das kleine Deck am Bug niedergelegt worden, wo ihn, auf Decken ausgestreckt und unfähig, sich aufrecht zu erhalten, Jenny nach Möglichkeit unterstützte.

Von der »Flag« starrten die über die Reling gebeugten Matrosen schweigend nach dem Boote hinunter. Keiner davon empfand das geringste Mitleid mit den Opfern Robert Borupt's, und man sah ihre brennenden Augen im Dunkel ordentlich leuchten.

[293] In diesem Augenblicke ertönte eine Stimme... die Stimme Harry Gould's, dem der aufwallende Ingrimm einige Kraft verliehen hatte.

Unter dem kleinen Deck hervorkriechend, hatte er sich von Bank zu Bank geschleppt und mit Mühe halb aufgerichtet.

»Ihr Elenden! rief er, Ihr werdet der irdischen Gerechtigkeit doch nicht entgehen!

– Und der himmlischen auch nicht! setzte Franz hinzu.

– Loslassen!« befahl Robert Borupt.

Die Leine fiel herab, die Schaluppe schwamm frei und das Schiff verschwand bald in der Finsterniß der Nacht.

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Ein Ausruf Franzens. – Welche Küste mag das sein? – Die Insassen der Schaluppe. – Das Land im Nebel verschwunden. – Drohende Witterung. – Das Land wieder sichtbar. – Windstöße aus Süden. – An der Küste.

»Land! Land!« erscholl es plötzlich. Franz war es, der diesen Ruf wie eine Verheißung der Rettung ausstieß. Auf dem kleinen Deck am Bug stehend, hatte er durch eine Lichtung in den Nebelmassen die Umrisse einer Küste unbestimmt zu erkennen geglaubt. Sofort ergriff er ein Stagseil, kletterte zur Mastspitze empor und starrte, auf der Gaffel sitzend, von hier aus in der Richtung wie vorher hinaus.

Zehn Minuten mochten verstrichen sein, ehe er im Norden wiederum Spuren eines Landes wahrnehmen konnte, und darauf glitt er am Mast herunter.

»Du hast eine Küste gesehen? fragte ihn Fritz.

– Ja... dort draußen... unter dem Rande jener dicken Wolke, die über dem Horizonte schwebt.

– Sie haben sich doch nicht getäuscht, Franz? sagte John Block.

– Nein, Obersteuermann, gewiß nicht! Die Wolke hat sich jetzt auf den Horizont herabgesenkt, hinter ihr liegt aber das Land. Ich hab' es gesehen, ich bleibe dabei, es genau erkannt zu haben!«

[294] Jenny hatte sich eben erhoben und ergriff den Arm ihres Gatten.

»Wir dürfen getrost glauben, was Franz sagt, erklärte sie. Er hat ein sehr scharfes Gesicht und wird sich nicht getäuscht haben.

– Nein, ich habe mich nicht getäuscht, versicherte Franz nochmals. Glaubt mir, wie mir Jenny glaubt! Ganz deutlich habe ich dort eine Anhöhe unterscheiden können, sie war in einem Wolkenspalt wohl eine Minute lang sichtbar, doch ob sie sich nach Osten und nach Westen hier weiter fortsetzte, war nicht zu erkennen. Doch gleichviel: Insel oder Continent... da draußen liegt das Land!«

Die so bestimmten Behauptungen Franzens ließen keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit zu. Da man ja so gern glaubt, was man sehnlich wünscht, klammerten sich auch jetzt alle hoffnungsvoll an die Rettung verkündende Botschaft. und die Unglücklichen vereinigten sich gern mit Franz in dem Gebete, das dieser zum Allmächtigen schickte.

Welchem Lande jene Küste angehörte, das würde ja vielleicht klar werden, wenn die Schaluppe sie erst erreicht hatte. Jedenfalls wollten ihre Insassen, fünf Männer – Fritz, Franz, James, der Kapitän Gould und der Obersteuermann John Block – und drei Frauen – Jenny, Doll und Suzan nebst ihrem Kinde – an dem Ufer, mochte es sein. welches es wollte, zu landen versuchen. Bot es keinerlei Hilfsquellen, war es unbewohnbar oder durch wilde Eingeborene gefährdet, so sollte die Schaluppe, nachdem sie, so gut es anging, frisch mit Wasserproviant versehen war, wieder abfahren.

Harry Gould wurde sofort von allem unterrichtet, und trotz seiner Schwäche und seiner schmerzhaften Leiden verlangte er doch, nach dem Hintertheile des Fahrzeuges geschafft zu werden.

In Bezug auf das in Sicht gekommene Land äußerte Fritz sich noch folgendermaßen:

»In erster Linie interessiert uns augenblicklich offenbar dessen Entfernung. Bei der geringen Höhe, von der aus es gesehen wird, und unter Berücksichtigung der dunstigen Luft glaub' ich, daß sie kaum mehr als fünf bis zehn Lieues betragen wird.«

Der Kapitän Gould stimmte dieser Schätzung zu, der Obersteuermann schüttelte dagegen den Kopf.

»Mit einer guten Brise aus Süden, fuhr Fritz fort, müßten wir es also binnen zwei Stunden erreichen können.

[295] – Leider ist der Wind, sagte Franz, nicht recht stetig und scheint eher nach Norden umlaufen zu wollen. Wenn er sich nicht gänzlich legt, fürchte ich, er werde uns mehr hinderlich als nützlich sein.

– Da giebt es ja noch Ruder, antwortete Fritz. Können wir denn nicht nach diesen greifen, lieber Bruder, während der Obersteuermann seines gewohnten Amtes waltet?... Ein paar Stunden tüchtig ausgegriffen zu haben, wird uns auch noch nicht die letzten Kräfte rauben!

– An die Ruder also!« commandirte Harry Gould, doch mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte.

Es war unangenehm, daß der Kapitän seines geschwächten Zustandes wegen nicht steuern konnte, denn zu Vieren arbeitend, wären die Passagiere weit schneller ans Ziel gekommen.

Fritz, Franz und James, obwohl im Alter voller Jugendkraft, ebenso der noch sehr rüstige Obersteuermann, waren, wenn auch an anstrengende Thätigkeit gewöhnt, jetzt durch Entbehrung und und Mühsal doch stark erschöpft. Schon waren acht Tage verflossen, seit man sie von der »Flag« ausgesetzt hatte. Von ihrem mit äußerster Sparsamkeit verbrauchten Proviant war nur ein Rest, etwa der Bedarf für vierundzwanzig Stunden übrig. Drei- oder viermal war es mittels nachgeschleppter, langer Angelschnüre gelungen, einige Fische zu fangen. Ein kleiner Ofen, ein Kasserol und ein Kochtopf – das waren die sämmtlichen Geräthschaften, die sie nebst ihren Messern besaßen. Und wenn jenes Land nur eine felsige Insel war, wenn die Schaluppe noch viele Tage lang wieder hinausfahren mußte, um ein Festland oder eine bewohnbare Insel zu suchen, was sollte dann aus den unglücklichen Verlassenen werden?

Als Franz den Ruf »Land! Land!« ausstieß, war jedoch bei allen die Hoffnung neu erwacht. Man muß nur derartige Prüfungen durchgekostet haben, um zu begreifen, an welches Nichts sich menschliche Geschöpfe klammern können! Der Schiffbrüchige hält sich ja krampfhaft an dem kleinsten Stück einer treibenden Planke! Statt des von Windstößen bedrohten, von den Wellen umhergeworfenen und von übergenommenem Wasser halb angefüllten Bootes sollte ihr Fuß ja wieder festen Boden betreten. Sie dachten hier in einer Höhle Zuflucht gegen schlechte Witterung zu suchen, sie fanden vielleicht fruchtbares Erdreich, erquickendes Grün, eßbare Wurzeln und mancherlei Früchte, von denen es in der Tropenzone ja so unendlich viele giebt. Dort konnten sie, ohne Hunger und Durst zu erleiden, das Erscheinen eines Schiffes abwarten. Dieses Schiff würde ihre Signale [296] wahrnehmen... wurde den Verlassenen zu Hilfe kommen... alles das sahen sie bereits im Spiegel ihrer tröstlichen Hoffnung.

Gehörte die unbestimmt gesehene Küste wohl zu einer Gruppe der jenseit des Wendekreises des Steinbockes gelegenen Inseln? Das war eine Frage, worüber Fritz und der Obersteuermann mit gedämpfter Stimme eben verhandelten.


»Können wir denn nicht nach diesen greifen?...« (S. 296.)

Jenny und Doll hatten ihre alten Plätze wieder eingenommen, und der kleine Knabe schlummerte in den Armen der Frau Wolston. Den vom Fieber geschüttelten Kapitän hatte man wieder unter das kleine Verdeck schaffen müssen, wo Jenny [297] seine Kopfumschläge fleißig mit frischem Wasser anfeuchtete. Fritz verlor sich inzwischen in einem wenig beruhigenden Gedankengange. Er bezweifelte nicht, daß die »Flag« nach der an Bord ausgebrochenen Meuterei binnen acht Tagen eine weite Strecke nach Osten hin zurückgelegt haben werde. Traf das zu, so wäre die Schaluppe auf dem Theile des Großen Oceans ausgesetzt worden, wo auf den Karten nur vereinzelte Inseln, wie Amsterdam und St. Paul, oder, weiter im Süden, die Gruppe der Kerguelen verzeichnet waren. Schließlich erschien aber ja auch auf diesen zum Theil öden, zum Theil bewohnten Inseln ihr Los gesichert, ihre Rettung gewiß und vielleicht winkte ihnen dort früher oder später die Heimkehr nach dem ersehnten zweiten Vaterlande.

War die Schaluppe dagegen seit dem 27. September durch die südlichen Winde mehr nach Norden getrieben worden, so konnte jener Küstenstrich auch dem australischen Festlande, im glücklichen Falle vielleicht Tasmanien oder den Provinzen Victoria oder Südaustralien angehören. Trafen sie auf Hobart-Town, Melbourne oder Adelaide, so war ihre Rettung gesichert. Landete das Fahrzeug aber am südwestlichen Theile des fünften Continentes, etwa in der König Georgs-Bai oder am Cap Leuwin, wo nur wilde Volksstämme hausen, so war ihre Lage eher noch verschlimmert. Hier auf freiem Meere war freilich auch kaum Aussicht, einem nach Australien oder nach den Inseln des Großen Oceans bestimmten Schiffe zu begegnen.

»Auf jeden Fall, liebe Jenny, sagte Fritz zu seiner Gattin, die neben ihm Platz genommen hatte, sind wir von der Neuen Schweiz weit, gewiß mehrere hundert Lieues weit, entfernt.

– Das mag sein, antwortete Jenny, es ist aber schon etwas werth, daß wir Land vor uns haben. Was Deine Angehörigen auf Eurer Insel gethan haben, was mir auf dem Rauchenden Felsen gelungen ist, warum sollte uns das hier unmöglich sein? Nachdem wir so schwere Prüfungen erlitten, mein Lieber, haben wir das Recht, auf unsere Thatkraft, unsere Entschlossenheit zu vertrauen. Nein, nein, zwei Söhne Jean Zermatt's können nimmer an sich selbst verzweifeln.

– Wahrlich, mein herziges Weib, sollte mich je eine Schwäche anwandeln, so braucht' ich nur Deinen Worten zu lauschen. Gewiß, wir werden nicht ermatten, zumal da wir noch recht wirksame Hilfe haben. Auf den Obersteuermann ist in jeder Lage zu zählen; unser armer Kapitän freilich...

– Mit ihm wird's auch noch besser gehen, er wird schon wieder genesen, lieber Fritz, versicherte Jenny. Das Fieber, das ihn jetzt verzehrt, muß doch [298] einmal nachlassen. Dort drüben auf dem Lande können wir ihn auch besser pflegen, dort wird er wieder zu Kräften kommen, wird wieder unser Haupt und Führer sein!

– Ach, meine Jenny, rief Fritz, der die muthige junge Frau an sein Herz drückte, gebe nur der Himmel. daß jenes Land uns wenigstens die nothdürftigsten Hilfsmittel biete! Ich verlange ja gar nicht so viel. wie uns in der Neuen Schweiz geboten wurde. Das Land hier liegt nicht in einer Erdengegend, wo man von der Natur, ohne eigene Anstrengung, fast alles erwarten könnte. Das schlimmste wär' es für uns, mit Wilden zusammenzutreffen, gegen die wir ohnmächtig wären, und daß die Schaluppe, ohne mit neuem Proviant versorgt zu sein, wieder weitersegeln müßte. Lieber an einer menschenleeren Küste landen, und wär' es die der kleinsten Insel! Da gäb' es im Wasser doch Fische, am Strande jedenfalls eßbare Muscheln und vielleicht auch Schaaren von Vögeln, wie wir solche am Uferlande von Felsenheim antrafen. Dann könnten wir uns mit frischen Vorräthen versehen und nach ein oder zwei Wochen, wenn wir uns von den jetzigen Mühsalen erholt hätten und der Kapitän wieder zu Kräften gekommen wäre. zur Aufsuchung einer gastlicheren Küste weiterfahren. Diese Schaluppe ist ja fest gebaut und wir haben einen erfahrenen Seemann zu ihrer Führung. Die schlechte Jahreszeit naht heran. Nachdem wir schon manchen harten Windstoß ausgehalten haben, werden wir auch über weitere solche hinwegkommen. Möge uns das Land da draußen, welches es auch sein mag, nur Nahrungsmittel bieten, mit Gottes Hilfe hoff' ich dann...

– Lieber Fritz, antwortete Jenny, die Hand ihres Gatten in den ihrigen drückend, alles das müssen wir unseren Leidensgefährten vorstellen; es wird ihnen gewiß frischen Muth einflößen.

– An Muth hat es ihnen ja keinen Augenblick gefehlt, mein herziges Weibchen, sagte Fritz, und wenn sie ihn verlieren sollten, wirst Du, die entschlossenste, die thatkräftigste, die junge Engländerin vom Rauchenden Felsen es sein, die in ihnen neue Hoffnung erweckt!«

Was Fritz hier aussprach, das dachten auch alle Uebrigen von der tapferen Jenny. Als die Frauen in ihrer Cabine eingeschlossen waren, hatte sie allein durch ihren ermuthigenden Zuspruch Doll und Suzan vor drohender Verzweiflung bewahrt.

Das hier nahe liegende Land hatte auch noch einen anderen Vorzug; es lag nicht. wie die Neue Schweiz, in einer Weltgegend, die von Handelsschiffen [299] kaum jemals berührt wurde. Im Gegentheil mußte es voraussichtlich, ob es nun die Südküste Australiens oder Tasmaniens, oder auch nur eine zu den pacifischen Archipelen gehörige Insel war, doch wohl auf den Seekarten eingetragen sein.

Doch zugegeben, daß der Kapitän Gould und seine Schicksalsgenossen die Hoffnung hegten, hier einmal von einem Schiffe aufgenommen zu werden, mußte sie der Gedanke an die weite Entfernung bis zur Neuen Schweiz immerhin recht traurig stimmen... jedenfalls betrug die Entfernung ja hunderte von Lieues, die die »Flag« auf achttägiger Fahrt nach Osten zurückgelegt hatte. Und wenn das Unglück sie verurtheilte, hier ebensolange zu leben, wie die Familie Zermatt auf ihrer Insel, wenn die Schaluppe sich für eine längere Seefahrt unzureichend erwies, wenn ihr Vertrauen, trotz der schon überstandenen Prüfungen doch dahinschwinden sollte, wie verzweifelt mußten erst die sein, die in weiter Enfernung auf sie warteten!

Dieser Gedanke beschäftigte unablässig Fritz und Jenny, Franz, James und dessen Frau und Schwester, ja sie vergaßen sogar den Ernst der sie bedrohenden Gefahren, um nur an ihre Eltern und Freunde zu denken.

Jetzt war schon der 13. October. Vor fast einem Jahre war die »Licorne« von der Insel abgesegelt, an der sie um diese Zeit hatte wieder landen sollen. In Felsenheim zählten die beiden Zermatts, Ernst und Jack, Herr und Frau Wolston und deren Tochter sehnsüchtig die Tage... die Stunden...

Alle wollten bei dem Eintreffen der Corvette gegenwärtig sein, wenn diese, das Cap der Getäuschten Hoffnung umsegelnd, sich mit Kanonenschüssen meldete, auf die die Batterie der Haifischinsel antworten sollte. Was würden sie aber nach einem, nach zwei Monaten sagen! Zunächst wahrscheinlich, daß widrige Winde die »Licorne« zurückhielten, daß sie nicht zur vorausbestimmten Zeit von England habe abfahren können, vielleicht daß ein Seekrieg ihre Fahrt störte... nie würden sie aber annehmen, daß das Fahrzeug etwa mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sein könnte.

Nach einigen Wochen, und nach ihrer Ausbesserung in Capetown erschien die »Licorne« jedenfalls in den Gewässern der Neuen Schweiz. Die Familien Zermatt und Wolston erfuhren dann, daß die Abwesenden sich auf der »Flag« eingeschifft hatten, die an ihrem Bestimmungsort nicht eingetroffen war. Wäre es dann möglich zu bezweifeln, daß dieses Fahrzeug bei einem der so häufigen Stürme im Indischen Ocean untergegangen wäre?...

[300] Das betraf indeß die Zukunft; die Gegenwart aber drohte noch mit so vielerlei ernsten Zwischenfällen, daß man sich mehr mit diesen beschäftigte.

Seitdem Franz Land in Sicht gemeldet hatte, war Block bemüht gewesen, nach Norden zu steuern, obwohl das ohne Compaß seine Schwierigkeiten hatte. Die von Franz angegebene Lage des Landes beruhte ja nur auf einer Schätzung. Wenn die Dunstmassen sich auflösten oder der Horizont sich wenigstens auf seiner nördlichen Seite aufhellte, mußte es leichter werden, auf die Küste zuzuhalten. Leider verbarg aber der dichte Nebelschleier noch immer die Uferlinie, die für Beobachter auf der Meeresoberfläche vier bis fünf Lieues entfernt liegen mochte.

Inzwischen waren die Riemen jedoch ausgelegt worden und Fritz, Franz und James ruderten aus Leibeskräften. Bei ihrer Erschöpfung konnten sie die schwer belastete Schaluppe jedoch nicht gerade schnell vorwärts treiben, und es nahm deshalb den ganzen Tag in Anspruch, die Strecke, die sie von der Küste trennte, zu überwinden.

Wenn sie nur nicht obendrein noch von widrigen Winden betroffen wurden! Da wäre es doch besser, daß die jetzige vollkommene Ruhe der Luft bis zum Abend anhielte. Eine nördliche Brise hätte ja das kleine Fahrzeug wieder weit vom Lande weg verschlagen.

Zu Mittag betrug die seit dem Morgen zurückgelegte Strecke kaum eine Lieue; der Obersteuermann glaubte daraus schließen zu dürfen, daß daran eine Gegenströmung schuld sein werde, wenn es sich nicht einfach um eine Wirkung der Ebbe handelte. Bestand hier wirklich eine dauernde Gegenströmung, so mußten sie wohl davon absehen, gegen diese anzukämpfen.

Gegen zwei Uhr Nachmittag rief da John Block, der einmal aufgestanden war:

»Es springt wieder eine Brise auf... ich fühle es! Da wird uns das Klüversegel allein bald mehr nützen, als unsere Ruder!«

Der erfahrene Seemann täuschte sich nicht. Nach wenigen Minuten begann die Meeresfläche von Südosten her sich leicht zu kräuseln und kleine Wellen klatschten an die Längswand der Schaluppe.

»Da... da... die Bestätigung Ihrer Prophezeiung, Block! sagte Fritz. Die Brise ist nur leider so schwach, daß wir trotzdem noch werden rudern müssen.

– Ja freilich, Herr Zermatt, antwortete der Obersteuermann, immer noch tüchtig auslegen, bis wir mit dem Segel allein nach der Küste kommen können.

[301] – Wo aber ist sie denn? fragte Franz, dessen Augen vergeblich die dichte Dunstwand zu durchschauen suchten.

– Dort vor uns... ohne jeden Zweifel!

– Ist das wirklich so gewiß, Block? fragte Franz auf einmal.

– Ja, wo in aller Welt soll sie denn sonst sein, als hinter der verwünschten Nebelbank im Norden?

– Das wünschen wir freilich, sagte James Wolston, doch wünschen allein genügt leider nicht!«

Klarheit konnte hierüber freilich nur erlangt werden, wenn der Wind mehr auffrischte.

Das verzögerte sich noch eine Zeitlang und es wurde drei Uhr, ehe die halb aufgegeiten Segel erkennen ließen, daß sie benützt werden konnten.

Jetzt wurden die Riemen eingezogen. Fritz und Franz machten das Focksegel klar und hißten es dann mit aller Kraft, während der Obersteuermann die Schote hielt.

Noch wußte freilich niemand, ob die Brise stetig genug bleiben werde, den Nebel wirklich zu zerstreuen.

Zwanzig Minuten verstrichen in dieser Ungewißheit, dann nahmen die Wellen ein wenig zu und schlugen an die Seite der Schaluppe, so daß der Obersteuermann diese mit dem Wrickruder in eine günstigere Lage bringen mußte. Nun schwellten auch Fock- und Klüversegel an, daß sich ihre Schoten spannten.

Vorläufig und bis der Wind den Horizont reingefegt hatte, wurde der Curs nach Norden beibehalten.

Der Ausblick mußte sich ja klären, wenn die Brise bis zum Horizonte fortgeschritten war. Voller Erwartung blickten alle nach dieser Seite hinaus. Zeigte sich das Land nur einen Augenblick, so genügte das John Block vollkommen, sicher darauf zuzusteuern.

Der Dunstvorhang theilte sich jedoch nicht, obgleich der Wind beim weiteren Sinken der Sonne an Stärke zu gewinnen schien. Das Fahrzeug glitt jetzt ziemlich schnell dahin. Fritz und der Obersteuermann legten sich schon die Frage vor, ob sie nicht über die Insel – wenn es eine solche war – hinausgefahren wären, oder ob sie nicht im Osten oder Westen ein Festland umschifft hätten, wenn es sich hier um ein Festland handelte.

Nun tauchten auch wieder allerlei Zweifel auf. Vielleicht hatte sich Fritz doch getäuscht, und es war gar kein Land, was er im Norden gesehen hatte.

[302] Dagegen verwahrte er sich freilich mit aller Bestimmtheit. Habe er es auch nur allein sehen können, so habe er es doch gesehen... mit den eigenen Augen gesehen...

»Es war ein hohes Vorland, erklärte er von neuem, eine Art Steilufer mit fast ebenem Kamme, das ich unmöglich mit einer Wolke verwechseln konnte.

– In der Zeit, wo wir nun darauf zuhalten, warf Fritz ein, müßten wir das Land aber erreicht haben; es sollte ja kaum mehr als fünf bis sechs Lieues von uns entfernt liegen.

– Sind Sie Ihrer Sache sicher, John Block, ließ sich Franz vernehmen, daß die Schaluppe immer darauf zu, immer genau nach Norden hin segelte?

– Ja... es ist immerhin möglich. daß wir einen falschen Weg eingeschlagen haben, erklärte der alte Seemann. Ich halte es überhaupt für richtiger, abzuwarten, bis der Horizont klar geworden ist, müßten wir auch die ganze Nacht über hier liegen bleiben.«

Das war vielleicht das klügste. Befand sich die Schaluppe schon in der Nähe einer Küste, so durfte man sich mit ihr jetzt nicht zwischen die Klippen wagen, die jene höchst wahrscheinlich umrahmten. Gespannt lauschend, bemühten sich auch alle, etwas von dem Donner einer Brandung zu hören, denn das schlimmste wäre es doch gewesen, von einer solchen ans Ufer geschleudert zu werden.

Nichts... man vernahm nichts von dem langen, dumpfen Grollen der Wellen, wenn sie sich an einem Felsgewirr brechen oder schäumend über einen sanft abfallenden Strand auslaufen.

Hier galt es aber immerhin, mit Klugheit vorzugehen. Der Obersteuermann ließ deshalb gegen fünf Uhr die Focksegel einziehen, während das Klüversegel gehißt blieb, um die Wirkung des Steuers zu erhöhen.

Gewiß war es das beste, die Fahrgeschwindigkeit der Schaluppe zu vermindern, bis ihre Lage mit Sicherheit erkannt war, und das konnte nur eintreten, wenn das Land deutlich sichtbar geworden war.

Nach Einbruch der Nacht mußte das Fahrzeug ja ernsthaft Gefahr laufen, wenn es sich einer unbekannten Küste zu weit näherte. Bei mangelndem Winde hätte es ja auch eine Strömung darauf zutreiben können. Unter solchen Umständen würde ein Schiff nicht bis zum Abend gezögert haben, sich auf freiem Wasser in Sicherheit zu bringen. Was einem größerem Fahrzeuge leicht ausführbar erscheint, ist es freilich nicht für ein einfaches Boot. Gegen den auffrischenden [303] Südwind anzukreuzen, damit hätte man sich, abgesehen von der dadurch bedingten schweren Arbeit, der Gefahr ausgesetzt, zu weit von der jetzigen Stelle abzukommen.

Die Schaluppe trieb also unter ihrem Klüversegel kaum merkbar nach Norden weiter.

Jeder Irrthum, jeder Zweifel wurde jedoch glücklich beseitigt, als sich die Sonne gegen sechs Uhr Abends vor dem Untertauchen ins Meer noch für kurze Zeit zeigte.

Am 21. September ging ihre Scheibe genau im Westpunkte unter, und am 13. October, dreiundzwanzig Tage nach der Tagundnachtgleiche, versank sie auf der südlichen Halbkugel etwas weiter nach Süden zu. In diesem Augenblicke, wo die Dünste vor der Schaluppe sich etwas zerstreut hatten, konnte Fritz sehen, wie sie sich dem Horizonte näherte. Zehn Minuten später berührte die glühende Scheibe schon die Linie zwischen Himmel und Wasser.

»Dort... dort ist Norden!« rief Fritz, wobei er mit der Hand noch einem Punkte wies, der von der bisher eingehaltenen Richtung der Schaluppe etwas links lag.

Fast gleichzeitig antwortete ihm ein Jubelruf, den alle miteinander ausstießen:

»Land! Land!«

Die Dunstwand war allmählich verschwunden und das Ufer zeigte sich in einer Entfernung von kaum einer halben Lieue. Von einem hohen Steilufer überragt, ließ es sich aber nicht erkennen, ob es sich weit nach Osten oder Westen hin ausdehnte.


Alle wollten bei dem Eintreffen der Corvette gegenwärtig sein. (S. 300.)

Der Obersteuermann hielt gerade darauf zu. Das wieder gehißte Focksegel blähte sich noch einmal unter dem letzten Wehen der Brise auf.

Eine halbe Stunde später hatte die Schaluppe einen sandigen Strand angelaufen und wurde hinter einer vorspringenden Felsenspitze gegen die Brandung geschützt festgelegt.

[304][307]
21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Auf dem Lande. – Ein Gespräch zwischen Fritz und dem Obersteuermann. – Ruhige Nacht. – Das Aussehen der Küste. – Entmuthigender Eindruck. – Ein Ausflug. – Die Höhlen. – Der Bach. – Das Vorgebirge. – Häusliche Einrichtung.

Endlich hatten die Verlassenen festen Boden unter den Füßen. Während der so beschwerlichen und mit Gefahr verknüpften zweiwöchigen Seefahrt war keiner von ihnen der Erschöpfung oder den Entbehrungen unterlegen, wofür sie dem Himmel von Herzen dankbar waren. Nur der vom Fieber befallene Kapitän Gould hatte grausam zu leiden Trotz seiner Kraftlosigkeit schien sein Leben jedoch nicht bedroht zu sein, und vielleicht genügten einige Tage wirklicher Ruhe, ihn vollkommen wieder herzustellen.

Jetzt, wo Fritz und seine Gefährten glücklich gelandet, wo sie Sturm und Wetter nicht mehr ausgesetzt waren und nicht mehr ins Ungewisse hineinfuhren, drängte sich zunächst die Frage auf, welches Land sie eigentlich erreicht hätten.

Welches es jedoch auch sein mochte, die Neue Schweiz – wo die »Flag« ohne die Meuterei Robert Borupt's und der Mannschaft zur berechneten Zeit jedenfalls eingetroffen wäre – die ersehnte Neue Schweiz war es leider nicht. Was mochte nun dieses unbekannte Ufer an Stelle der Annehmlichkeiten Felsenheims zu bieten haben?

Augenblicklich war es nicht an der Zeit, sich darüber Betrachtungen und Vermuthungen hinzugeben. Bei dem herrschenden nächtlichen Dunkel ließ sich ja nichts genauer erkennen, außer dem Strande mit einem hohen Steilufer dahinter und einer Art Felsenmauer an den Seiten. Unter diesen Verhältnissen beschloß man, bis zum Sonnenaufgang doch noch einmal in der Schaluppe zu übernachten. Fritz und der Obersteuermann übernahmen bis zum Morgen die Wache; es war ja möglich, daß die Küste hier von Eingeborenen besucht wurde, und deshalb galt es, streng auf der Hut zu sein. Ob das Land dem australischen Continent oder einer pacifischen Insel angehörte, jedenfalls verlangte die Klugheit größte Vorsicht, um im Fall eines Angriffes draußen auf dem Meere Rettung suchen zu können.

Jenny, Doll und Suzan nahmen also ihren Platz neben dem Kapitän Gould wieder ein. Dieser wußte übrigens davon, daß die Schaluppe an ein [307] Land gelangt war. – Franz und James streckten sich zwischen den Bänken aus, bereit, beim ersten Alarmruf des Obersteuermannes aufzuspringen. Bei ihrer Erschöpfung fielen sie zunächst aber schnell in tiefen Schlummer.

Fritz und John Block setzten sich im Hintertheile nieder und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme.

»Da wären wir ja im Hafen, Herr Fritz, begann der alte Seemann, ich wußte ja, daß uns das schließlich gelingen werde. Wenn's auch eigentlich kein Hafen ist, werden Sie doch zugeben, daß wir hier besser liegen, als wenn wir weiter draußen inmitten der Risse ankerten. Für die Nacht ist unser Fahrzeug in Sicherheit; morgen werden wir ja sehen...

– Ich beneide Sie um Ihre Zuversicht, lieber Block, antwortete Fritz. Die ganze Gegend flößt mir wenig Vertrauen ein, und unsere Lage an einer völlig unbekannten Küste ist doch keineswegs eine befriedigende.

– Diese Küste ist aber doch immer eine Küste, Herr Zermatt. Sie hat Buchten, Strandflächen und Felsen, gleicht darin den meisten anderen und wird, denk' ich, unter unseren Füßen nicht versinken. Ob wir sie wieder verlassen oder uns hier zu längerem Verweilen einrichten, das mag später entschieden werden.

– Auf jeden Fall, Freund Block, hoffe auch ich, daß wir uns zur Weiterfahrt nicht eher genöthigt sehen werden, als bis unser Kapitän sich durch längeres Ausruhen gründlich erholt hat. Ist das Land hier unbewohnt, bietet es uns nur die nothwendigsten Hilfsmittel und sind wir sicher, nicht eingeborenen Wilden in die Hände zu fallen, dann können wir ja eine Zeitlang hier verweilen.

– Unbewohnt, so scheint es ja bisher, erwiderte der Obersteuermann, und meiner Ansicht nach ist das für uns das wünschenwertheste...

– Ja, ja, das meine ich auch, Block, und ich denke, der Fischfang wird, abgesehen von der Jagd, uns doch die Möglichkeit gewähren, unseren Proviant zu erneuern.

– Gewiß, Herr Zermatt. Da sich das Wild hier auf kaum eßbare Seevögel beschränkt, wird die Jagd in den Wäldern und auf den Ebenen des Landesinnern den Ertrag aus der Fischerei vervollständigen können... ohne Gewehre freilich...

– O jene Schurken, Block, die uns keine einzige Feuerwaffe gelassen haben!

– Daran haben sie, ich meine, in ihrem Interesse, wohlgethan, erklärte der Obersteuermann. Als wir abstießen, hätt' ich's doch nicht überwinden können,[308] dem Hallunken Borupt, diesem elenden Verbrecher, eine Kugel durch den Kopf zu jagen!

– Und Verbrecher, setzte Franz hinzu, sind auch seine Spießgesellen alle!

– Eine Schandthat, die sie früher oder später noch zu büßen haben werden, sagte John Block.

– Halt... haben Sie soeben nicht etwas gehört? fragte plötzlich Fritz gespannt lauschend.

– Nein... was ich höre, ist nur das Anschlagen der Wellen aus Ufer. Bisher hat sich nichts verdächtiges gezeigt, und obwohl es pechdunkel ist... ich habe zu gute Augen...

– Schließen Sie sie keinen Augenblick, lieber Block, und halten wir uns zu allem bereit.

– Unser Haltetau kann sofort losgeworfen werden, antwortete der Obersteuermann. Im Nothfalle brauchen wir nur die Ruder zu ergreifen, und ich verpflichte mich, die Schaluppe mit dem Bootshaken augenblicklich auf zwanzig Schritt weit von den Felsen abzustoßen.«

Noch mehrmals wurde inzwischen die Aufmerksamkeit der beiden Männer erregt. Es schien ihnen, als ob sie auf dem Ufersande etwas hinkrichen hörten, doch machte ihnen das keine ernstliche Unruhe.

Ringsum herrschte sonst tiefes Schweigen. Der Wind hatte sich gelegt. das Meer sich geglättet. Nur am Fuße der Felsen stand eine leichte Brandung. Einzelne Möven und Seeschwalben schwebten von der offenen See her den Nestern am Steilufer zu. Im übrigen störte gar nichts diese erste Nacht am Ufer der Insel. Am nächsten Morgen waren alle schon bei Tagesanbruch auf den Füßen; wie krampfte sich ihnen aber das Herz zusammen beim Anblick der Küste, an der sie Zuflucht gefunden hatten!

Schon am vergangenen Tage und als sie etwa noch eine halbe Lieue von ihm lag, hatte Fritz sie zum Theil überblicken können. Von dieser Entfernung aus gesehen. schien sie sich zwischen Osten und Westen vier bis fünf Lieues weit zu erstrecken. Jetzt überblickte man von dem Vorberge, an dessen Fuße die Schaluppe verankert lag, kaum ein Fünftel davon zwischen zwei Winkeln, über die hinaus sich das zur Rechten klare, zur Linken noch düstere Meer ausdehnte. Der acht- bis neunhundert Toisen lange Strand war an den Seiten von hohen Felsvorsprüngen eingerahmt und im Hintergrunde schloß ihn ein Steilufer mit fast schwarzer Wand auf seine ganze Länge ab.

[309] Diese Uferwand mochte sich acht- bis neunhundert Fuß über den Strand erheben, der übrigens nach ihrem Fuße zu merkbar anstieg. Ob sie weiter rückwärts noch mehr emporragte, ließ sich nur erkennen, wenn man den Gipfel eines der felsigen Ausläufer erkletterte, von denen der im Osten infolge seiner weit ins Meer hinausreichenden Fortsetzung ein weniger steiles Profil zeigte. Immerhin schien von dieser Seite dessen Ersteigung sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu sein.

Der Kapitän Gould und seine Gefährten hatten zunächst ein Gefühl der Entmuthigung beim Anblick dieses trostlosen, stellenweise von Felsenblöcken unterbrochenen Strandes. Kein Baum, kein Strauch, keine Spur von Pflanzenleben... nichts als die traurigste, schrecklichste Dürre. Als einziges Grün magere Flechten, jenes unvollkommene Naturerzeugniß ohne Wurzel, Stengel und ohne Blätter und Blüthen, das nur wie ein Fleck auf der Felswand erscheint und neben dem Grün hier schon eine gelbliche, dort noch eine lebhaft rothe Farbe zeigte. Daneben ein wenig zähklebriger Schimmel, eine Folge des hier vorherrschenden feuchten Südwindes. Am Rande des Steilufers sproßte kein Grashalm, an seinen Granitwänden keine der sonst zwischen Steinen wurzelnden Pflanzen, die sich mit der geringsten Menge Humus begnügen. War daraus zu schließen, daß auch in der Höhe jeder Humus fehlte? War die Schaluppe nur an einer der wüsten, kleinen Inseln gelandet, die man nicht einmal eines Namens gewürdigt hat?

»Na, hübsch ist es hier gerade nicht, flüsterte der Obersteuermann Fritz ins Ohr.

– Vielleicht hätten wir es besser getroffen, wenn wir an der Ost- oder der Westseite ans Land gegangen wären.

– Vielleicht... ja, vielleicht, erwiderte John Block; hier sind wir aber wenigstens vor Wilden sicher«

Thatsächlich hätte hier kein menschliches Wesen, selbst keines, das auf der untersten Stufe der Menschheit stand, dauernd leben können.

Jenny, Franz und Doll, James und seine Gattin ließen den Blick über die Umgebung schweifen, die sich so unvortheilhaft von dem üppigen Gestade des Gelobten Landes, der Mündung des Schakalbaches, der Rettungsbucht und des Ufers bei Falkenhorst unterschied. Selbst das Eiland des Rauchenden Felsen hatte trotz seines traurigen Anblickes Jenny Montrose doch noch Naturproducte, in seinem Bache klares Wasser und im Wald und auf der Ebene [310] mancherlei Wild geliefert. Hier dagegen fand sich nichts als Stein und Sand, nach links hin eine Muschelbank und an der Grenze, bis zu der die Wellen hinausrollten, eine lange Linie von Meerpflanzen... kurz. ein trostlos öder Landstrich!

Das Thierreich, beschränkte sich auf einige Seevögel, wie Trauerenten, Möven und Seeschwalben, die das Erscheinen von Menschen aus ihrer Ruhe aufscheuchte und die mit betäubendem Geschrei umherflatterten. In größerer Höhe schwebten langsamen Flügelschlages einzelne Fregatt- und Eisvögel neben Albatrossen dahin.

»Kommt der Strand hier, begann da der Obersteuermann, auch dem Ufer der Neuen Schweiz nicht gleich, so ist das doch kein Grund, ihn nicht anzulaufen.

– Ans Land also, rief Fritz, ich hoffe, wir finden am Fuße des Steilufers wenigstens einen Unterschlupf.

– Ja, wir wollen aussteigen, sagte Jenny.

– Liebes Kind, erwiderte Fritz, ich rathe Dir, mit Frau Wolston und ihrer Schwester zunächst noch an Bord zu bleiben, während wir uns erst weiter auf dem Lande umsehen. Eine Gefahr ist hier nicht zu vermuthen, Ihr habt also nichts zu fürchten.

– Uebrigens, meinte der Obersteuermann, werden wir einander kaum aus dem Gesicht verlieren.«

Fritz sprang auf den Sand hinaus, und ihm folgten die anderen Männer. Doll rief ihnen noch nach:

»Vergeßt nicht, uns etwas zum Frühstück mitzubringen, Franz, wir verlassen uns auf Euch.

– Nein, entgegnete Franz, wir müssen vielmehr auf Euch rechnen, Doll. Werft zwischen Steinen die Angeln aus. Du bist ja so geschickt, so geduldig...

– Ja ja, erklärte Frau Wolston, es ist besser, wir bleiben vorläufig zurück. Jenny, Doll und ich, wir werden während Eurer Abwesenheit unser möglichstes thun!

– Vor allem, mahnte Fritz, kommt es darauf an, den noch vorhandenen Rest an Schiffszwieback zu schonen, für den Fall, daß wir gezwungen wären, noch weiter zu fahren.

– Eh, Frau Zermatt, rief John Block, machen Sie nur immer den Ofen zurecht. Wir sind nicht die Leute dazu, uns mit einer Flechtensuppe [311] oder mit Kieseln in der Schale zu begnügen. Wir versprechen Ihnen, etwas ordentliches zum Essen mitzubringen.«

Das Wetter war recht schön geworden; dann und wann huschte ein Sonnenstrahl durch das Gewölk im Osten.

Fritz, Franz und James und der Obersteuermann gingen am Rande des Ufers auf dem von der letzten Fluth noch feuchten Sande dahin.

Etwa zehn Fuß weiter oben lag die Zickzacklinie der vom Meere ausgeworfenen Pflanzen auf dem ziemlich stark abfallenden Uferlande. Diese Pflanzen gehörten zur Familie der Seegräser und des Varecs und waren vielfach vermischt mit an der Spitze rothschimmerndem Tang und vielfach mit Fadentang, der die beerenartigen Auswüchse zeigt, die unter dem Fußtritte geräuschvoll zerplatzen.

Einige dieser Fucus- (Tang-)Arten enthalten etwas genießbaren Nährstoff.

»Da giebt's ja schon etwas Eßbares, rief deshalb John Block, wenigstens wenn man nichts besseres hat. Bei mir zu Hause, in den Häfen des irischen Meeres, macht man das Zeug auf Vorrath ein.«

Nach drei- bis vierhundert Schritten in der gleichen Richtung erreichten Fritz und seine Begleiter den Fuß des Vorberges. Er bestand aus mächtigen, glatten und senkrecht abgeschnittenen Blöcken und fiel ganz steil in das klare, kaum von einer leichten Brandung bewegte Wasser ab, das auf sieben bis acht Toisen Tiefe bis zum Fuße der Felsmasse durchsichtig war.

Da diese übrigens völlig lothrecht aufragte, war es unmöglich, sie zu ersteigen... ein bedauerlicher Umstand, da nur von der Höhe des Steilufers aus zu beurtheilen war, ob hinter diesem nicht weniger unfruchtbares Land läge. Mußte man also auf eine Besteigung des Vorberges verzichten, so erkannte man auch, daß man diesen ohne Benützung der Schaluppe nicht einmal umgehen konnte. Vor der Hand erschien es jedoch die Hauptsache, am unteren Theile des Steilufers eine Aushöhlung zu suchen, die für den Aufenthalt an dieser Küste einigen Schutz zu bieten versprach.

Alle kehrten also längs des Vorberges nach dem hinteren Theile des Strandes zurück.

Da flog eine zahlreiche Vogelschaar auf, die nach dem Meere zu hinauseilte und übrigens erst spät am Abend wiederkam.

An dem Winkel, den das Steilufer mit dem Vorberge bildete, angelangt, fanden Fritz, Franz, James und der Obersteuermann dicke Schichten völlig [312] trockenen Seegrases. Da der äußerste Auswurf von der Fluth über hundert Toisen weiter südwärts abgelagert war, konnten diese Pflanzenreste, bei der Steigung des Strandes, nicht durch die Fluthwellen, sondern mußten jedenfalls durch die in dieser Gegend sehr heftigen Südwinde hierher geworfen sein.

»Sollten wir kein Holz finden, bemerkte Fritz, so würde uns, wären wir hier zum Ueberwintern genöthigt, dieses Seegras für lange Zeit Heizmaterial liefern...


Noch mehrmals wurde inzwischen die Aufmerksamkeit der beiden Männer erregt. (S. 309.)

– Ein Heizmaterial, das leider sehr schnell verbrennt, setzte der Obersteuermann hinzu. Freilich, ehe wir so große Massen aufgehäuft haben... Na, [313] mindestens haben wir für heute etwas, den Kochtopf zu erhitzen, wenn wir nur auch schon etwas darin hätten!

– So wollen wir danach suchen,« antwortete Franz.

Das Steilufer bestand aus verschieden dicken Schichten, deren Längsspalten nach Osten zu abfielen. Leicht erkannte man die krystallinische Natur des Gesteines, in dem eine Mischung von Feldspath und Gneis eine ungeheuere Masse einer Granitart vulcanischen Ursprunges von außerordentlicher Härte bildete.

Diese Felsmasse erinnerte also Fritz und Franz in keiner Weise an das Gestade ihrer Insel von der Rettungsbucht bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung, wo sich nur mit Hammer und Meißel leicht zu bearbeitender Kalkstein vorfand, in dem auch die Grotte von Felsenheim ausgearbeitet worden war. In dem Granit hier wäre eine solche Arbeit unausführbar gewesen.

Zum Glück war auch keine Veranlassung gegeben, sie nur zu versuchen. Etwa hundert Schritt weit vom Vorberge aus und hinter dem Seegrashaufen fanden sich mehrere Oeffnungen in der hohen Wand. Den Zellen einer ungeheueren Honigwabe ähnlich, boten sie vielleicht einen Zugang nach dem Inneren des Steilufers.

Thatsächlich fanden sich nicht eine, sondern mehrere Aushöhlungen an dessen Fuße. Erwiesen sich die einen auch nur als sehr enge Schlupfwinkel, so waren die anderen doch geräumig und tief, freilich wegen des vorgelagerten Seegrases recht dunkel. Wahrscheinlich gab es aber auch weiterhin nach Osten eine, den Seewinden weniger ausgesetzte Höhle, in der das Material von der Schaluppe untergebracht werden konnte.

Um sich dem Ankerplatze möglichst zu nähern, begab sich Fritz mit den übrigen jetzt nach dem Vorberge der Ostseite. Dank seinem, am unteren Theile sich verlängernden Profile war dieser vielleicht eher zu besteigen oder im Nothfalle zu umgehen. Fiel er auch von oben her senkrecht ab, so neigte er sich doch schon von der Mitte aus weniger stark und lief am Meere mit einer Spitze aus.

Was Fritz erwartet hatte, sollte sich bewahrheiten. Genau im Winkel, den der Vorberg bildete, öffnete sich eine leicht zugängliche Höhle. Ihrer Lage nach gegen die Winde aus Osten, Norden und Süden geschützt, konnte sie nur von den hier seltenen Westwinden getroffen werden.

Fritz, Franz, James und John Block drangen ins Innere dieser Höhle ein, wo es hell genug war, sie vollkommen übersehen zu können. Elf bis zwölf Fuß hoch, gegen zwanzig breit und fünfzig bis sechzig Fuß tief, enthielt sie [314] noch verschiedene, ungleich große Nischen, die ebenso vielen, um einen gemeinschaftlichen Saal gelegenen Einzelzimmern glichen. Ein seiner Sand ohne jede Spur von Feuchtigkeit bedeckte den Boden. In die Höhle gelangte man durch eine Oeffnung, die leicht verschlossen werden konnte.

»Auf Steuermannsehre, rief John Block, etwas besseres hätten wir gar nicht finden können!

– Ganz meine Ansicht, antwortete Fritz. Mich beunruhigt nur, daß dieses Gestade so völlig öde und unfruchtbar ist, und wahrscheinlich sieht es auf der Höhe auch nicht anders aus.

– Jetzt nehmen wir erst Besitz von der Höhle, das weitere wird sich ja finden.

– Ach, klagte Franz, unsere Wohnung in Felsenheim ist das leider nicht, und ich entdecke nicht einmal einen Bach mit Süßwasser, wie unseren Shakalbach!

– Geduld, Geduld! ermahnte der Obersteuermann. Wir werden zwischen den Felsen schon noch einen Quell finden, oder gar ein Flüßchen, das vom Kamme des Steilufers herabrauscht.

– Das mag ja sein, meinte Fritz, doch uns an dieser Küste für längere Zeit einzurichten, daran ist nicht zu denken. Können wir um den Faß des Vorberges nicht herumkommen, so müssen wir das mit Hilfe der Schaluppe ausführen. Zeigt es sich dann, daß wir uns nur auf einer kleinen Insel befinden, so bleiben wir nur bis zur Wiedergenesung des Kapitäns Gould hier. Ich denke, vierzehn Tage werden dazu genügen.

– Na, vorläufig haben wir doch das Haus, erklärte John Block. Wer sagt uns, daß der zugehörige Garten nicht dicht dabei, vielleicht an der anderen Seite des Vorberges liege?«

Alle gingen nun wieder hinaus und schräg über den Strand hinweg. um den Vorberg womöglich zu umgehen.

Von dem einspringenden Winkel aus, in dem die Höhle lag, zählte man gegen hundert Toisen bis zu den vordersten, ins Meer auch bei halber Ebbe noch eintauchenden Felsen. An dieser Seite fand sich keine Anhäufung von Wasserpflanzen, wie an dem linken Theile des Strandes. Mächtige Steinmassen, offenbar vom Kamme des Steilufers herabgestürzt, bildeten allein diesen Vorberg. In der Nähe der Grotte konnte man ihn nicht überklettern, neben der Stelle, wo die Schaluppe lag, sank er dagegen weit genug herunter, um für Fußgänger passirbar zu sein.

[315] Es wurde nicht einmal nöthig, bis an sein Ende zu gehen, und vorher schon wurde die Aufmerksamkeit des Obersteuermannes durch das Geräusch fließenden Wassers erregt.

Hundert Schritte von der Grotte aus murmelte zwischen den Felsblöcken ein Bach, der in mehreren Wasserfäden herabfiel.

Ein Spalt im Gestein gestattete auch, bis zum Bette des kleinen, von einer darüber liegenden Cascade gespeisten Rio hinaufzusteigen, der schließlich ins Meer einmündete.

»Da... da haben wir's ja, das beste Süßwasser! rief John Block, der mit der Hand aus dem Rio eine Probe geschöpft und gekostet hatte.

– Frisch und klar, bestätigte Franz, als er sich damit die Lippen netzte.

– Und warum sollte es oben hinter dem Steilufer kein Pflanzenleben geben, bemerkte John Block, wenn sich da auch nichts mehr als ein Bach hinschlängelt?

– Heute ein Bach, sagte Fritz, der in der heißen Jahreszeit jedenfalls versiegt, in der Regenzeit aber zum wilden Bergstrome anschwillt.

– Na, wenn er nur noch einige Tage aushält, meinte der Obersteuermann nachdenklich, mehr verlangen wir von ihm ja nicht.«

Fritz und seine Gefährten verfügten nun also über eine wohnlich leicht einzurichtende Höhle und über einen Bach, der es ihnen ermöglichte, die Wassertonnen ihres Fahrzeuges frisch aufzufüllen. Jetzt galt es noch in erster Linie, die tägliche Nahrung aus den Erzeugnissen des Erdbodens, entweder auf der Höhe des Plateaus oder jenseits des Vorberges, zu beschaffen.

Das machte jedoch unerwünschte Schwierigkeiten. Nach Ueberschreitung des Baches erlebten die Wanderer eine recht bittere Enttäuschung.

Auf der anderen Seite des Vorberges erblickten sie eine etwa dreiviertel Lieue lange rundliche Bucht, vorne mit sandigem Strande und nach hinten wiederum von einem Steilufer begrenzt. An ihrem Ende erhob sich ein steil abfallender Hügel, dessen Fuß ins Meer tauchte.

Der Strand hier erwies sich ebenso unfruchtbar, wie der andere. Das Pflanzenreich beschränkte sich auf vereinzelte Stellen mit Flechten und auf verschiedene Seepflanzen, die von der Fluth angespült worden waren. War die Schaluppe also wirklich nur auf ein felsiges, einsames und unbewohnbares Eiland im Indischen Ocean gestoßen? Das war leider anzunehmen, leider zu fürchten.

[316] Es erschien nutzlos, noch über den, die Bucht abschließenden Hügel hinauszugehen. Schon drehten sich alle um, um nach dem Ankerplatze zurückzukehren, da rief James, die Hand nach dem Strande zu ausstreckend, plötzlich:

»Was sehe ich denn da... da, nicht weit vom Ufer?... Seht doch einmal hier... bewegliche Punkte... man könnte dabei an Ratten denken...«

Aus der Entfernung gesehen, schien es wirklich so, als ob ein Volk Ratten nach dem Meere zu liefe.

»Ratten? antwortete Fritz. Die Ratte ist aber eßbar, wenn sie zur Sippe der Ondatras gehört. Erinnerst Du Dich, Fritz, nicht mehr an die Hunderte, die wir einst, bei der Suche nach der Boa, getödtet haben?

– Gewiß, Franz, erwiderte Fritz, ich erinnere mich aber auch, daß uns deren Fleisch wegen seines widrigen Sumpfgeschmackes sehr wenig behagte.

– Mag sein, ließ sich der Obersteuermann vernehmen, richtig zubereitet, kann man das Viehzeug aber recht gut essen. Uebrigens... nein, das unterliegt keinem Zweifel... jene schwarzen Punkte sind gar keine Ratten...

– Und wofür halten Sie sie denn? fragte Fritz.

– Für Schildkröten...

– O, wenn Sie damit doch recht hätten!«

Der Obersteuermann irrte sich wohl nicht; man konnte sich auf seine scharfen Augen getrost verlassen. Thatsächlich war es eine Anzahl Schildkröten, die auf dem Ufersande hinkrochen.

Während nun Fritz und James, gleichsam als Wachposten, auf dem Vorberge zurückblieben, ließen sich John Block und Franz an dessen anderer Seite hinabgleiten, um der Schar der Chelidonier womöglich den Rückweg abzuschneiden.

Die kleinen Schildkröten – sie maßen nur zwölf bis fünfzehn Zoll – hatten einen langen Schwanz und gehörten einer Art an, die sich hauptsächlich von Insecten nährt. Es mochten ihrer fünfzig sein; sie waren aber nicht auf dem Wege nach dem Meere, sondern auf dem nach der Bachmündung, wo von der Ebbe her ein wenig schleimiger Bandtang liegen geblieben war.

Nach dieser Seite hin zeigte der Boden kleine Erhebungen, Anhäufungen von Sand, deren Natur Franz auf den ersten Blick erkannte.

»Darunter liegen Schildkröteneier! rief er erfreut.

– So graben Sie die Eier aus, Herr Franz, erwiderte John Block, ich werde die zugehörigen Hühner abfangen. Sapperment, das giebt doch ein besseres [317] Gericht, als meine gedämpften Strandkiesel, und wenn die kleine Doll nun noch nicht zufrieden ist...

– Keine Sorge, Block, fiel ihm Franz ins Wort, die Eier werden hochwillkommen sein.

– Und die Schildkröten nicht minder, das sind gar leckere Thiere und geben eine vortreffliche Bouillon... das kenne ich!«

Bald nachher hatten der Obersteuermann und Franz gegen zwanzig Stück auf den Rücken gewendet, die in dieser, für Chelidonier besonders unbequemen Lage vorläufig ausharren mußten. Dann rafften sie ein halbes Dutzend davon nebst den Eiern zusammen und begaben sich nach der Schaluppe zurück.

Der Kapitän Gould hörte den Bericht John Block's mit gespannter Aufmerksamkeit an. Seit er nicht mehr auf dem Meere hin und her geschüttelt wurde, hatte er von seiner Verletzung weniger zu leiden, das Fieber verminderte sich auch allmählich und voraussichtlich reichte eine Woche hin, ihm seine Kräfte wiederzugeben. Bekanntlich heilen gerade Kopfwunden, wenn sie nicht gar zu schwerer Art sind, besonders leicht und in kurzer Zeit. Die Kugel hatte damals, nach Zerreißung eines Theiles der Wange, nur die Seitenwand des Schädels gestreift; viel hatte freilich nicht mehr gefehlt, daß sie das Schläfenbein zertrümmerte. Dank der Ruhe und der sorgsamen Pflege, war wohl eine schnelle Besserung im Zustande des Verwundeten zu erwarten.

Harry Gould vernahm mit großer Befriedigung, daß viele Schildkröten an jener Bucht vorkamen, die deshalb auch die Schildkrötenbucht genannt wurde. Damit war für alle eine bekömmliche und reichliche Nahrung, sogar für lange Zeit gesichert. Außerdem konnte man davon einen Vorrath einsalzen, aufbewahren und damit die Schaluppe beladen, wenn diese einmal weiterfahren sollte.

Jedenfalls mußte man sich ja entschließen, im Norden ein gastlicheres Land aufzusuchen, wenn sich das Hochland des Steilufers ebenso unfruchtbar erwies, wie die Schildkrötenbucht, wenn sie weder Wälder noch Ebenen hatte, und das Land, das den Passagieren der »Flag« jetzt Zuflucht bot, sich nur als eine Anhäufung von Felsmassen erwies.

»Nun, Doll, und auch Sie, Jenny, fragte Franz, als er zurückgekehrt war, seid Ihr nun zufrieden? Hat in unserer Abwesenheit auch der Fischfang etwas ergeben?

– Ja... ein wenig, antwortete Jenny und zeigte dabei nach einigen Fischen, die auf dem kleinen Deck am Buge lagen.

[318] – O, rief Doll lustig, wir haben Euch auch noch etwas besseres zu bieten...

– Was denn? fragte Fritz.

– Ei, Miesmuscheln, die sich am Fuße des Vorberges in Menge finden. Da im Kessel werden sie schon abgesotten...

– Unseren Glückwunsch... in Erwartung des Deinigen, Jenny, sagte Franz, denn wir kommen auch nicht mit leeren Händen; hier... einige Eier...

– Hühnereier? rief der kleine Bob.

– Schildkröteneier, erklärte Franz.

– Schildkröteneier? wiederholte Doll. Ihr habt Schildkröten entdeckt?

– O, eine ganze Gesellschaft, sagte der Obersteuermann; es sind noch mehr da drüben, jedenfalls genug für die Zeit, wo wir in dieser Bucht liegen bleiben.

– Ich meine doch, flocht der Kapitän Gould ein, vorher müßte einmal eine weitere Küstenstrecke besichtigt und auch das Steilufer erstiegen werden.

– Das werden wir versuchen, Herr Kapitän, antwortete John Block. Allzusehr brauchen wir uns damit aber nicht zu beeilen, denn hier haben wir genug zu leben. ohne unseren Rest von Schiffszwieback anzugreifen.

– Ja ja, das meine ich auch, Block.

– Wir, Herr Kapitän, wünschen vor allem, daß Sie durch die Ruhe Ihre Gesundheit wieder erlangen, daß Ihre Wunde gut verheilt und Sie wieder ganz zu Kräften kommen. Eine bis zwei Wochen können wir hier recht gut aushalten. Sind Sie erst wieder auf den Füßen, so werden Sie ja selbst sehen, wie die Dinge hier liegen, und werden entscheiden können, was weiter zu thun sei.«

Im Laufe des Vormittags schaffte man noch den Inhalt der Schaluppe ans Land, die Zwiebacksäcke, die Wassertonnen, das Brennmaterial, die Werkzeuge und die Kleidungsstücke, und legte alles in der Höhle nieder. Der kleine Kochofen, der in dem Winkel am Vorberge Aufstellung fand, sollte zur Bereitung der Schildkrötenbouillon dienen.

Auf Fritzens und des Obersteuermanns Arm gestützt, begab sich der Kapitän Gould nach der Grotte, wo für ihn ein von Jenny und Doll aus trockenem Seegras hergestelltes Lager bereit stand, auf dem er sich, um einige Stunden zu schlummern, bequem ausstreckte.

[319]
22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Der Einzug. – Die erste Nacht auf dieser Küste. – Fritz und Jenny. – Besserung im Zustande des Kapitäns Gould. – Verhandlungen. – Die Ersteigerung des Steilufers unmöglich. – Die Nacht vom 26. zum 27. October.

Ein besseres Unterkommen als in dieser Höhle wäre kaum zu finden gewesen. Die verschiedenen Nischen an der Innenwand gestatteten jedem, sich nach Bedürfniß von den anderen abzuschließen.

Daß diese ungleich tiefen Nischen auch während des Tages fast finster waren und auch die Höhle selbst halb dunkel blieb, hatte ja nicht viel zu bedeuten, da man sich, außer bei schlechtem Wetter, doch nur die Nacht über darin aufhielt. Auch Harry Gould sollte jeden Morgen hinausgetragen werden, um ihm den Genuß der belebenden salzhaltigen Luft und des wohlthätigen Sonnenscheines zu ermöglichen.

Im Innern richtete Jenny eine der seitlichen Wandvertiefungen für sich und ihren Gatten ein. James Wolston, seine Frau und der kleine Bob wurden in einer größeren, für alle drei ausreichenden Nische untergebracht. Franz sollte sich, in Gesellschaft mit Harry Gould und dem Obersteuermann, mit einem lauschigen Winkel der Höhle begnügen. An Platz fehlte es also nicht in dieser natürlichen Aushöhlung, deren Tiefe noch nicht einmal bekannt war.

Der Rest des Tages wurde ausschließlich der Ruhe gewidmet. Nach den vielfachen, aufregenden Vorkommnissen der letzten Woche mußten sich die Passagiere der Schaluppe von den so muthvoll ertragenen Beschwerden erst tüchtig erholen.

Daneben galt es doch auch, sich an die neue Lage der Dinge etwas zu gewöhnen. Der Entschluß, etwa vierzehn Tage an dieser Bai zu verweilen, wo ja für die nöthigsten Bedürfnisse nichts zu fehlen schien, war gewiß zu billigen. Auch wenn der Zustand des Kapitäns Gould es nicht erfordert hätte, würde John Block nicht zugestimmt haben, sofort weiter zu fahren. Zunächst galt es, an die Gegenwart zu denken – an die Zukunft erst später.

Und doch, was barg diese in ihrem Schoße, wenn das Land hier nur eine kleine, im Großen Ocean verlorene Insel war, wenn sie sie wieder verlassen und sich in ihrem gebrechlichen Fahrzeug aufs neue den hier so häufigen, mächtigen [320] [323]Stürmen aussetzen mußten?... Wie würde ihnen das aufgedrungene Wagniß ausgehen?

Am Abend und nach einer zweiten Mahlzeit, die aus Bouillon. Eiern und Fleisch von Schildkröten bestand, sprach Franz für alle noch ein Gebet, und dann zogen sie sich jeder nach seinem Platze in der Höhle zurück.


Man erkannte, daß man diesen ohne Benützung der Schaluppe nicht umgehen konnte. (S. 312.)

Dank der Pflege Jennys und Dolls wurde der Kapitän jetzt schon nicht mehr vom Fieber geschüttelt. Auch von seiner, bereits in Vernarbung begriffenen Wunde litt er weit weniger, und es war wohl zu hoffen, daß er nun einer schnellen und vollkommenen Genesung entgegenginge.

Die Nacht über brauchte niemand zu wachen; an diesem öden Strande war weder von Wilden, noch von Raubthieren etwas zu fürchten. Diese düstere, traurige Einöde hatte gewiß noch keines Menschen Fuß betreten. Nur der heisere und melancholische Schrei der nach den Vertiefungen im Steilufer heimkehrenden Seevögel unterbrach die herrschende Stille. Auch der Wind legte sich mehr und mehr und kein Lufthauch rührte sich bis zum Wiederaufgang der Sonne.

Schon mit dem Morgenrothe traten die Insassen der Höhle ins Freie John Block ging als der erste längs des Vorberges nach dem Ufer hinunter und begab sich nach der Stelle wo die Schaluppe lag. Augenblicklich schwamm sie noch, mit weiter vorschreitender Ebbe mußte sie bald auf dem Trockenen liegen. Durch Seile an jeder Seite festgehalten, war sie selbst beim höchsten Wasserstande nicht gegen die Felsen gestoßen, und so lange der Ostwind stand, lief sie auch keinerlei Gefahr. Für den Fall, daß die Brise nach Süden umschlug, sollte ein anderer Ankerplatz für das Fahrzeug gesucht werden. Das Wetter schien aber sehr beständig zu sein, und überdies war jetzt die schöne Jahreszeit.

Bei der Rückkehr begegnete der alte Seemann Fritz und sprach mit ihm über dieses Thema.

»Ich meine, es verlohnt sich der Mühe, sagte er, daran bei Zeiten zu denken. Das Boot ist für uns doch das wichtigste. Eine wohlverwahrte Grotte... na ja, die ist recht schön, man kann aber nicht an Bord einer Grotte übers Meer fahren, und wenn dafür die Stunde geschlagen hat, dürfen wir doch nicht daran verhindert sein.

– Natürlich nicht, Block, sagte Fritz, und wir werden auch dafür sorgen, daß die Schaluppe keine Havarie erleidet. Vielleicht findet sich an der anderen Seite des Vorberges ein noch besserer Ankerplatz.

[323] – Das werden wir sehen, Herr Fritz, und da auf dieser Seite hier alles gut steht, werde ich nach der anderen hinübergehen, um Schildkröten zu fangen. Wollen Sie mich nicht begleiten?

– Nein, Block, gehen Sie nur allein. Ich begebe mich zum Kapitän zurück; die ungestörte Nachtruhe wird wohl sein Fieber vollends besiegt haben. Wenn er erwacht, wird er sich gewiß zu unterrichten wünschen, wie es mit uns steht, und ich möchte ihm darüber Aufschluß geben.

– Ganz recht, Herr Fritz, ganz recht; sagen Sie ihm nur auch, daß vorläufig nicht das geringste zu fürchten ist.«

Der Obersteuermann begab sich nach dem Ende des Vorberges, sprang da von Felsblock zu Felsblock, stieg dann nach der Einbuchtung hinunter und wendete sich schließlich nach der Stelle, wo Franz und er am Tage vorher auf die Schildkröten getroffen waren.

Fritz schritt wieder der Grotte zu, in deren Nachbarschaft Franz und James beschäftigt waren, neuen Vorrath an trockenem Tang zu sammeln. Frau Wolston kleidete den kleinen Bob an.

Jenny und Doll waren noch beim Kapitän. In dem Winkel am Vorberge knisterte das Feuer im Kochofen, der Kessel fing an zu singen und bald drangen weiße Dampfstrahlen daraus hervor.

Als Fritz den Kapitän Gould über alles aufgeklärt hatte, begab er sich mit Jenny nach dem Strande, und nach einigen fünfzig Schritten wendeten beide sich dem Steilufer zu, das sie gleich einer Kerkermauer einschloß.

»Liebe Frau, begann da Fritz mit tiefbewegter Stimme, ich muß mein Herz einmal gegen Dich ausschütten, denn es ist übervoll von dem, was vorgefallen ist, seit ich das Glück hatte, Dich vom Rauchenden Felsen zu retten. Ich sehe uns noch im Kajak, dort... in der Perlenbucht, dann trafen wir die Pinasse und segelten alle vereint nach Felsenheim. Zwei glückliche Jahre sind mir mit Dir bescheert gewesen, voller Freude und Befriedigung über unser stilles, durch nichts gestörtes Leben. Wir waren so glücklich in unseren beschränkten Verhältnissen, daß die Welt außerhalb unserer Insel für uns gar nicht existirte. Wenn es nicht um Deines Vaters willen gewesen wäre, liebste Jenny, so wären wir wohl nicht mit der »Licorne« fortgefahren, hätten wir die Neue Schweiz vielleicht niemals verlassen...

– Wohin willst Du hinaus, lieber Fritz? fragte Jenny, die ihre Erregung zu bemeistern suchte.

[324] – Ach, ich will Dir nur offenbaren, wie bedrückt ich mich im Herzen fühle, seit das Unglück sich gegen uns verschworen hat. Ja, mich martern Gewissensbisse, Dich dazu verleitet zu haben, es mit mir zu theilen.

– Dieses Unglück, antwortete Jenny, solltest Du nicht so sehr fürchten. Darf sich denn ein Mann voll Muth, ein Mann voll Thatkraft der Verzweiflung hingeben?

– Laß mich vollenden, was ich Dir sagen wollte, Jenny. Weit da draußen war eines Tages die »Licorne« im Gewässer der Neuen Schweiz erschienen. Sie ist auch zurückgesegelt und hat uns nach Europa gebracht. Seitdem hat das Unglück Dich unaufhörlich verfolgt. Dein Vater war gestorben, ohne seine Tochter wiedergesehen zu haben...

.. – Mein armer, guter Vater! schluchzte Jenny, sich ihrem Schmerz überlassend. Ja, die Freude, mich in seine Arme zu drücken, ist ihm versagt geblieben, und auch die, meinem Retter dadurch zu danken, daß er unsere Hände ineinander legte... Gott hat es nicht gewollt, Fritz, ihm müssen wir uns fügen!

– Ja gewiß, mein Herz, erwiderte Fritz, doch Du... Du befandest Dich wieder in England, hattest Deine Heimat wiedergesehen... Du konntest dort bei einer Verwandten bleiben, dort die Ruhe finden und das Glück...

– Das Glück? unterbrach ihn Jenny. Ohne Dich, Fritz?

– Und dann, meine Jenny. hättest Du jede neue Gefahr vermieden nach der, der Du wie durch ein Wunder entronnen warst. Und dennoch hast Du Dich bereit erklärt, mir zu folgen, nach unserer Insel zurückzukehren...

– Du vergißt wohl ganz, daß ich Dein Weib bin, Fritz! Hätte ich denn zaudern können, Europa zu verlassen, um da draußen die wiederzusehen, die ich liebe, Deine Familie, Fritz, die ja inzwischen auch die meinige geworden ist?

– O, Jenny, Jenny, es ist darum nicht minder wahr, daß ich Dich in neue Gefahren geführt habe, in Gefahren, an die ich nur mit Entsetzen denken kann... ja, mit Entsetzen, wenn ich mir die Lage vorstelle, in der wir uns befinden! Und Du, Du hattest doch Deinen Antheil an Prüfungen dieser Welt schon reichlich überstanden! O, die Elenden, die an unserem Unglück schuld sind.. die uns verlassen und ausgesetzt haben... die Dich, schon ein Opfer des schiffbrüchigen »Dorcas«, auf ein unbekanntes Land geworfen haben, das noch weniger bewohnbar erscheint, als der Rauchende Fels!

– Ich bin hier aber nicht allein, bin bei Dir, mein herzliebster Mann, bei Deinem Bruder und unseren Freunden, bei entschlossenen Männern, und ich [325] zittere vor den gegenwärtigen Gefahren ebenso wenig, wie vor zukünftigen. Ich weiß, Du wirst alles thun zum Heile aller!

– Alles, mein geliebtes Weib, rief Fritz; doch obwohl der Gedanke, daß Du mit hier bist, meinen Muth verdoppeln müßte, bedrückt mich dieser Gedanke doch gar so sehr, und ich möchte Dir zu Füßen sinken, Dich um Vergebung anflehen! Es ist ja meine Schuld, daß...

– Fritz, fiel die junge Frau, sich ihren Gatten ans Herz werfend, ein, kein Mensch konnte doch voraussehen, was da vorgefallen ist... eine Meuterei an Bord... die Folgen dieser Empörung, auch nicht unsere Aussetzung auf offenem Meere. Ist es nicht besser, die traurigen Erlebnisse zu vergessen und die Augen auf die glücklichen zu richten? Wir konnten von den Meuterern der »Flag« hingemordet, konnten verurtheilt werden, in unserer Schaluppe alle Qualen des Hungers und Durstes auszukosten; wir konnten in einem Sturme umkommen, und doch ist das alles nicht geschehen! Wir haben vielmehr ein Land erreicht, wo es doch nicht an allen Hilfsquellen fehlt und das uns ein hinreichendes Obdach bietet. Wissen wir jetzt noch nicht, welches dieses Land ist, so werden wir das doch zu ergründen suchen, und es auch wieder zu verlassen, wenn das nothwendig wird...

– Um wohin zu gehen, meine arme Jenny?

– Anderswohin, wie unser wackerer Obersteuermann sagen würde, dahin zu gehen, wohin Gott uns führt! Ich vertraue auf ihn, lieber Fritz, wie auf alle unsere Gefährten...

– Ach, liebste Frau, rief Fritz, Deine Worte haben meinen Muth wieder belebt, doch ich hatte das unabweisbare Bedürfniß, das Herz vor Dir auszuschütten. Ja ja, wir werden kämpfen, werden keiner Verzweiflung anheimfallen! Wir werden an die kostbaren Leben denken, die uns anvertraut sind, und werden sie retten, retten mit der Hilfe des Herrn...

– Dessen Güte man nie vergeblich anruft! sagte Franz, der die letzten Worte seines Bruders gehört hatte. Habe nur Vertrauen zu ihm, der Allgütige verläßt seine Kinder nicht!«

Jenny hatte ihrem Gatten mit so großer Zuversicht geantwortet, daß dieser all seine Energie wiedergewann. Durch Muth und Opferwilligkeit konnte sich ja noch alles zum Besten wenden. Daran fehlte es Fritz nicht, und auch die anderen waren gewiß bereit, selbst übermenschliche Anstrengungen auf sich zu nehmen.

[326] Gegen zehn Uhr konnte der Kapitän Gould, da das Wetter sehr schön war, am Ende des Vorberges in den belebenden Sonnenschein gebracht werden. Der Obersteuermann kehrte eben von seinem Ausgange zurück, den er um die Ausbuchtung bis zum Fuße des Hügels im Osten ausgedehnt hatte. Weiter hinaus war nicht zu gelangen. Selbst bei Tiefebbe hätte man vergeblich versucht, den Fuß der von den Strömungen umspülten Uferhöhe zu umgehen.

John Block hatte James schon auf dem Strande getroffen, und beide brachten jetzt Schildkröten und Eier von solchen mit zurück. Die Chelidonier kamen an diesem Theile des Ufers zu Hunderten vor. In Voraussicht einer baldigen Weiterfahrt konnte man leicht große Vorräthe von deren schmackhaftem Fleische ansammeln, das die Ernährung der Passagiere sicherstellte.

Nach dem Frühstück plauderte man von dem und jenem, während Jenny, Doll und Suzan sich mit der Reinigung der benützten Leibwäsche im Wasser des Baches beschäftigten. Bei der starken Luftwärme mußten die Wäschestücke, der Sonne ausgesetzt, sehr bald trocknen. Dann sollten die Kleider ausgebessert werden, damit jeder an dem Tage, wo die Weiterfahrt beschlossen würde, auch zur Abreise fertig wäre.

Die Lage des Landes hier war noch immer unbekannt, und ohne Benützung von Instrumenten ließ sich höchstens dessen geographische Breite durch Beobachtung der Mittagshöhe der Sonne auf einige Grade genau bestimmen. Noch an demselben Tage ergab eine solche Beobachtung, daß das Land, wie der Kapitän Gould schon früher angenommen hatte, zwischen dem vierzigsten und dem dreißigsten Parallelkreise liegen mußte. Welcher Meridian aber es von Norden nach Süden durchschnitt, das nachzuweisen, fehlte es an jedem Mittel, höchstens wußte man, daß die »Flag« nach dem westlichen Theile des Pacifischen Oceans zu gesteuert worden war.

Jetzt handelte es sich zunächst noch darum, das Hochplateau zu ersteigen, da es ja erwünscht schien, vor der völligen Wiederherstellung des Kapitäns Gould darüber klar zu sein, ob die Schaluppe ein Festland, eine Insel oder nur ein Eiland angelaufen habe. Vielleicht war von sieben- bis achthundert Fuß Höhe aus in nicht zu großer Entfernung noch ein anderes Land zu sehen. Fritz, Franz und der Obersteuermann beschlossen deshalb, eine Ersteigung des Steilufers zu versuchen.

Mehrere Tage verstrichen ohne jede Aenderung der Sachlage. Alle empfanden die Nothwendigkeit, eine solche herbeizuführen, freilich mit der Besorgniß, ihre [327] Lage vielleicht gar verschlimmert zu sehen. Das Wetter blieb immer schön. Trotz starker Wärme zeigte sich doch keine Gewitterneigung.

Wiederholt hatten John Block, Fritz und Franz die Ausbuchtung im Westen vom Vorberge bis zu dem Hügel am anderen Ende durchstreift, doch vergebens nach einer Schlucht, einem Einschnitt oder einem sanfteren Abhang gesucht, von wo aus es möglich gewesen wäre, das Oberland zu erreichen. Die lothrechte Felsenwand erhob sich wie die Mauer einer Façade.

Inzwischen nahte die Stunde der völligen Genesung des Kapitäns heran. Seine jetzt vernarbte Wunde war nur noch von einer leichten Binde bedeckt. Die Fieberanfälle hatten sich allmählich abgeschwächt und blieben jetzt gänzlich aus. Die Kräfte des Leidenden nahmen freilich nur sehr langsam zu; immerhin konnte sich Harry Gould bereits ohne fremde Unterstützung auf dem Strande ergehen. Da erörterte er nun mit Fritz und dem Obersteuermann die Aussichten, die eine Weiterfahrt in nördlicher Richtung bieten könnte. Im Laufe des 25. vermochte er sich sogar selbst bis zu dem Hügel im Westen zu begeben, und überzeugte sich hier mit eigenen Augen von der Unmöglichkeit, dessen Fuß zu umgehen.

Fritz, der ihn mit Franz und John Block begleitete, schlug deshalb vor, einfach ins Meer zu springen, um das darüber hinaus gelegene Ufer zu erreichen. Obwohl er ein vortrefflicher Schwimmer war, mußte der Kapitän den tollkühnen jungen Mann wegen der starken Strömung am Hügelfuße doch abhalten, diese gefährliche Absicht auszuführen. Wer konnte wissen, ob Fritz, einmal von der Strömung gepackt, das Ufer wieder zu erreichen vermöchte?

»Nein, sagte der Kapitän, das wäre eine Unklugheit, ein nutzloses Wagniß. Wir werden die Schaluppe zu Hilfe nehmen, um diesen Theil des Ufers zu besichtigen, und von einigen Kabellängen Entfernung aus werden wir es auch in größerer Ausdehnung übersehen können. Leider fürchte ich, daß es sich ebenso unwirthlich wie der uns bekannte Theil des Landes erweisen werde.

– Wir befänden uns demnach, folgerte Franz aus diesen Worten, auf einer Art Eiland?

– Das ist wohl anzunehmen, antwortete Harry Gould.

– Mag sein, setzte Fritz hinzu, vielleicht liegt dieses Eiland aber nicht so allein hier, vielleicht gehört es zu einer im Norden, Osten oder Westen verstreuten Gruppe von Inseln.

– Welcher Gruppe denn, mein lieber Fritz? erwiderte der Kapitän. Wenn die Meeresgegend hier, wie alles anzudeuten scheint, zu den Gewässern Australiens [328] oder Neuseelands gehört, so findet sich keine Inselgruppe in diesem Theile des Pacifischen Oceans.

– Nun, daß die Karten keine solche enthalten, wandte Fritz ein, ist doch noch kein Beweis dafür, daß keine vorhanden wären. Die Lage der Neuen Schweiz war lange Zeit eben so wenig bekannt, und dennoch...


Das Erklimmen des Vorberges war ein sehr gefährliches Unternehmen. (S. 331.)

– Ja, gewiß, antwortete Harry Gould, das erklärt sich aber durch deren Lage außerhalb der gewöhnlichen Schiffswege. Nur sehr selten kommen Fahrzeuge in den Theil des Indischen Oceans, wo sie liegt, während das Meer im [329] Süden von Australien sehr viel befahren wird, und eine Inselgruppe von nur einiger Bedeutung wäre den Schiffern auf keinen Fall entgangen.

– Da bleibt aber noch immer die Hypothese übrig, meinte Franz, daß wir uns in der Nähe von Neuholland befinden.

– Das ist nicht abzuweisen, antwortete der Kapitän, und es würde mich gar nicht wundern, wenn das Land hier zu seinem südwestlichen Ausläufer, etwa in der Nachbarschaft des Caps Leuwin, gehörte. In diesem Falle hätten wir leider von den wilden Eingeborenen Australiens das schlimmste zu befürchten.

– Es ist auch stets besser, meinte der Obersteuermann, auf einem Eiland und dadurch vor einem Zusammentreffen mit Cannibalen gesichert zu sein.

– Und darüber würden wir uns klar sein, sagte Franz, wenn wir das Steilufer hätten ersteigen können.

– Jawohl, sagte Fritz, leider ist das nur an keiner Stelle möglich.

– Auch nicht über den Rücken des Vorberges hin? fragte der Kapitän Gould.

– Bis zur halben Höhe, erklärte Fritz, wäre das wohl ohne besondere Schwierigkeiten ausführbar, die oberen Wände fallen aber völlig senkrecht ab. Da müßten wir geradezu Leitern zu Hilfe nehmen, und auch solche könnten noch unzureichend sein. In einem Einschnitte und mittels langer Seile könnte man das Plateau vielleicht erreichen; ein Einschnitt, eine Schlucht ist aber nirgends vorhanden.

– So benützen wir also die Schaluppe, um die Küste zu untersuchen, entschied nun Harry Gould.

– Nicht eher, als bis Sie gänzlich hergestellt sind, Herr Kapitän, erklärte Fritz. Wir haben ja einige Tage Zeit...

– O. mein lieber Fritz, ich fühle mich schon weit besser; wie hätte das auch bei der mir gewidmeten Pflege anders sein können? Frau Wolston, Ihre Gattin und Doll hätten mich schon dadurch geheilt, daß sie mich ansahen. Spätestens nach achtundvierzig Stunden unternehmen wir die kleine Fahrt...

– Und steuern nach Osten oder nach Westen? fragte Fritz.

– Das wird auf die Windrichtung ankommen, erwiderte der Kapitän.

– Und ich hoffe, setzte der Obersteuermann hinzu, daß der kleine Ausflug nicht ohne Nutzen für uns sein wird.«

Um hierauf später nicht wieder zurückzukommen, sei gleich noch eingeschaltet, daß Fritz, Franz und John Block das menschenmögliche versucht hatten, den [330] Vorberg zu erklimmen. Etwa zweihundert Fuß hoch waren sie trotz der sehr steilen Abhänge, mitten unter Trümmerstücken von einem Felsblock zum anderen klimmend und mit der Geschmeidigkeit der Gemse bis auf ungefähr ein Drittel der Höhe hinausgelangt... ein sehr gefährliches Unternehmen, bei dem der Obersteuermann bald Hals und Bein gebrochen hätte. Von da aus war aber ein weiterer Aufstieg vollkommen unmöglich. Der Vorberg endete weiter oben mit einer lothrechten Wand aus ganz ebenen Steinplatten. Nirgends bot sich ein Stützpunkt für den Fuß, nirgends ein Vorsprung oder eine Spitze, woran die Haltetaue der Schaluppe hätten befestigt werden können. Bis zur Kante des Steilufers war es aber noch sechs- bis siebenhundert Faß hoch.

Nach der Grotte zurückgekehrt, machte der Kapitän Gould die anderen mit dem gefaßten Beschlusse bekannt. Binnen zwei Tagen, am 27 October, sollte das Fahrzeug seinen Ankerplatz verlassen und längs der Küste hinsegeln. Wäre ein mehrtägiger Ausflug beabsichtigt gewesen, so hätten wohl alle daran theilgenommen. Da es sich aber nur um eine oberflächliche Auskundschaftung handelte, erschien es eigentlich besser, sie nur von dem Kapitän, von Fritz und dem Obersteuermann unternehmen zu lassen. Diese genügten ja zur Führung der Schaluppe und sie würden sich auch nicht mehr als nöthig nach Norden zu entfernen. War das Ufer nur das eines vereinzelt liegenden Eilandes, das vielleicht nur zwei bis drei Lieues Umfang hatte, so würden sie ringsherum fahren und spätestens nach vierundzwanzig Stunden wieder zurückgekehrt sein.

So kurz die Trennung auch sein sollte, verursachte sie bei allen doch einige Unruhe. James Wolston und seine Gattin, Franz, Jenny und Doll würden ihre Gefährten nicht ohne eine gewisse Beklemmung absegeln sehen, wußte doch niemand, was ihnen unterwegs zustoßen könnte. Und wenn sie nun gar von Wilden überfallen wurden... wenn ihre Rückkehr sich verzögerte... wenn sie vielleicht gar nicht wiederkamen?...

Jenny machte ihre Bedenken mit der Energie geltend, die alle ihre Gedanken und Handlungen kennzeichnete. Sie verlangte, daß man zu so vielen Prüfungen und Besorgnissen nicht noch die hinzufügte, die ein vielleicht verlängertes Ausbleiben erzeugen müßte. Fritz begriff ihre Gründe, der Kapitän billigte sie, und schließlich kam man überein, daß alle an der geplanten Ausfahrt theilnehmen sollten.

Dieser Entschluß fand allgemeinen Beifall, und John Block ging deshalb sofort daran, die Schaluppe bestens instand zu setzen. Nicht, daß sie eigentlicher[331] Reparaturen bedurft hätte, denn sie war seit ihrer Aussetzung aufs Meer kaum beschädigt worden, es empfahl sich aber, sie mit allem nothwendigen für den Fall auszurüsten, daß die Fahrt etwa nach einem benachbarten Lande fortgesetzt werden sollte. Der Obersteuermann bemühte sich auch, das kleine Vorderdeck gänzlich abzuschließen, um wenigstens den weiblichen Passagieren Schutz gegen scharfe Winde und überschlagendes Wasser zu gewähren.

Jetzt galt es also nur noch zu warten und Mundvorräthe einzuladen, wenn die Fahrt sich unerwarteterweise verlängerte. Wurde es nöthig, die Schildkrötenbucht endgiltig zu verlassen, so erforderte es die einfache Klugheit, das ohne Säumen zu thun und die schönere Jahreszeit zu benützen, die in diesem Theile der südlichen Halbkugel erst unlängst begonnen hatte. Eine Ueberwinterung hier erschien doch wahrlich nicht wünschenswerth. Wohl bot die Höhle Schutz gegen die Stürme aus Süden, die in diesen Gegenden des Großen Oceans mit furchtbarer Gewalt auftreten, und der Kälte hätte man bei der reichlichen, am Fuße des Steilufers angehäuften Menge dürren Tangs und Seegrases allenfalls Trotz bieten können; würde es dann aber nicht an Schildkröten fehlen und sollte man sich allein auf die Erzeugnisse des Meeres beschränkt sehen? Konnte die Schaluppe denn bis über den Bereich der Wellen hinausgeschafft und im Winter auch der andrängenden Fluth entzogen werden, die offenbar bis zum Hintergrunde des Strandes hinaufschäumte? Harry Gould, Fritz und die anderen hatten ja nur ihre Arme, kein Werkzeug, keinen Hebel, keine Winde, und das Fahrzeug war doch so schwer, daß ihre Kräfte zu seiner Bergung auf dem Lande voraussichtlich nicht hinreichten.

In der jetzigen Jahreszeit waren zum Glück nur vorübergehende Gewitterstürme zu erwarten. Dabei hatten die vierzehn Tage des Aufenthaltes am Lande allen die leiblichen und seelischen Kräfte und eine frohe Zuversicht wiedergegeben.

Die nöthigsten Vorbereitungen waren am Morgen des 26. beendigt. Gegen Mittag bemerkte Fritz mit einiger Unruhe, daß vom Süden her Wolken herauszogen. Trotz ihrer großen Entfernung ließen sie doch eine fahle Färbung erkennen. Ein Luftzug war kaum zu spüren. Die schweren Wolken wälzten sich dicht gedrängt heraus. Wenn das Wetter losbrach, mußte es gerade über die Schildkrötenbucht hinwegziehen.

Bisher hatten die äußersten Felsblöcke vor dem Vorberge die Schaluppe gegen die Ostwinde geschützt. Auch von der anderen Seite hätten die Westwinde [332] ihr wenig anhaben können, da sie, von den Tauen festgehalten, so leicht nirgends anstoßen konnte. Rollten aber hohe Wogen vom offenen Meere herein, so fehlte dem Fahrzeug der Schutz und es konnte vielleicht zertrümmert werden.

An die Aufsuchung eines anderen Ankerplatzes an der Rückseite des Högels oder des Vorberges war gar nicht zu denken. weil hier selbst bei ruhigem Wetter eine heftige Brandung stand.

»Was sollen wir nun thun?« fragte Fritz den Obersteuermann, der freilich auch keinen Rath wußte.

Noch bestand die Hoffnung, daß das Unwetter sich austobte, ehe es die Küste hier erreichte. Lauschte man aufmerksam, so ließ sich trotz der Windstille doch schon ein fernes Grollen hören. Offenbar war das Meer weiter draußen stark aufgewühlt, und auch in der Nähe huschte zuweilen ein leichter Windstoß, der ihm eine bleigraue Färbung verlieh, darüber hin.

Harry Gould betrachtete den Horizont.

»Wir sind von einem schlimmen Wetter bedroht, sagte Fritz zu ihm.

– Das fürchte ich auch, antwortete Harry Gould, von einem schlimmeren, als wir es erwarten konnten.

– Herr Kapitän, mischte sich der Obersteuermann ein, jetzt ist aber nicht die Zeit, die Hände in den Schoß zu legen, jetzt heißt's: die Arme einölen, wie die Matrosen sagen.

– Wir wollen versuchen, die Schaluppe weit auf den Strand herauf zu schleppen, drängte Fritz, der nach James und seinem Bruder rief.

– Ja, versuchen wir das, stimmte Harry Gould ein, die steigende Fluth wird uns dabei unterstützen. Inzwischen wollen wir unser Fahrzeug so viel wie möglich erleichtern.«

Das war jedenfalls das einzige, was zu thun war. Alle gingen an die Arbeit, die Segel wurden auf den Ufersand geworfen, der Mast niedergelegt, das Steuer ausgehoben, Bänke und Spieren ausgeladen und in die Höhle geschafft.

Als das Wasser den höchsten Stand erreicht hatte, konnte die Schaluppe gegen zehn Toisen weiter herausgezogen werden. Um sie aber gegen den Anprall der Wellen zu sichern, mußte sie wenigstens um das Doppelte aufs Land hinauf geschleppt werden.

Mangels anderer Hilfsmittel, ließ der Obersteuermann Planken unter ihren Kiel legen, worauf sie leichter hingleiten könnte, und alle vereinigten sich nun, [333] sie von der Stelle zu ziehen. Vergebliche Mühe! Das schwere, zum Theil im Sande liegende Fahrzeug rückte nicht einen Fuß weiter über die letzte Fluthgrenze hinaus.

Gegen Abend drohte der Wind sich zum Orcan zu entwickeln. Aus den am Zenith angehäuften massigen Wolken zuckten häufige Blitze hernieder, denen furchtbare, vom Echo am Steilufer noch verstärkte Donnerschläge folgten

Obwohl die Schaluppe bei fortschreitender Ebbe jetzt schon hätte wieder trocken liegen sollen, stürmten die höher angeschwollenen Wogen doch unter ihr dahin und hoben sie wenigstens am Hintertheile in die Höhe.

Jetzt stürzte auch der Regen in großen, gleichsam mit Luftelektricität geladenen Tropfen herab, die beim Aufschlagen auf den Ufersand zu explodiren schienen.

»Meine liebe Jenny, sagte Fritz, Du darfst nicht länger mehr hier draußen bleiben. Ich bitte Dich... geh' in die Grotte zurück, auch Sie, Doll, und Sie ebenfalls, Frau Wolston.«

Jenny wollte ihren Mann nicht gern verlassen, doch jetzt mischte sich auch der Kapitän ein.

»Ziehen Sie sich zurück, Frau Zermatt, sagte er.

– Und Sie, Herr Kapitän, erwiderte die junge Frau, Sie sollten sich doch mehr schonen!

– Ich habe nichts mehr zu befürchten, entgegnete Harry Gould.

– Jenny... ich wiederhole Dir... geh' zurück... es ist die höchste Zeit!« sagte Fritz.

Jenny, Doll und Suzan flüchteten nach der Höhle in dem Augenblick, wo der mit Hagelkörnern vermischte Regen in Masse herabzustürzen anfing.

Harry Gould, der Obersteuermann, Fritz, Franz und James, die bei dem Fahrzeuge blieben, hatten große Mühe, sich gegen den über den Strand hinfegenden Sturm aufrecht zu halten. Schon hüllte der Wasserstaub der überbrechenden Wogen die ganze Bucht in einen dichten, feuchten Schleier.

Die Lage war gefährlich angesichts der Ungewißheit, ob die Schaluppe bei den heftigen Stößen, die sie von einer Seite zur anderen warfen, würde festgehalten werden können. Wenn sie zertrümmert wurde, wie sollten dann Harry Gould und die übrigen vor dem Winter von dieser Küste wegkommen können?

Sie standen alle fünf beisammen, und wenn das weiter herausschlagende Wasser das Fahrzeug aufhob, klammerten sie sich an die Bordwände, um es an der Stelle zu halten.

[334] Bald tobte das Gewitter in voller Wuth. Gleich von zwanzig Punkten zischten die Blitze hervor. Wenn ein Strahl die Vorberge traf, hörte man abgesprengte Felstrümmer auf die Tanganhäufung herunterpoltern. Ach, wenn die Blitze doch das Steilufer gespalten. eine Bresche hineingelegt hätten, wie ein schweres Geschoß in eine Mauer... eine Bresche, die es ermöglicht hätte, bis zum oberen Theile der Wand zu gelangen!

In diesem Augenblicke wälzte sich eine vom Orcan aufgethürmte, fünfundzwanzig bis dreißig Fuß hohe Riesenwoge einer Wasserhose ähnlich über den Strand.

Von dem mächtigen Schwalle gepackt, wurden die Männer bis zu dem Seegrashaufen im Hintergrunde zurückgeschleudert, und es war ein Wunder zu nennen, daß keiner davon mit weggeschwemmt wurde, als das Wasser wieder ins Meer zurücksank.

Das schon gefürchtete Unglück war jetzt aber geschehen. Von ihrem Lager gerissen, war die Schaluppe erst auf das Uferland geworfen und dann gegen die äußersten Felsblöcke des Vorberges geschleudert worden. Dabei war sie zerbrochen, und ihre, kurze Zeit in dem Schaume der Brandung schwimmenden Trümmer verschwanden hinter der Erhebung.

23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Verschlimmerie Lage. – Fritz und Jenny geben die Hoffnung nicht auf. – Ergiebigter Fischfang. – Ein Versuch, die Ostküste kennen zu lernen. – Der Albatros vom Rauchenden Felsen. – Trauriges Jahresende.

Bisher schon ernster als je, drohte die Lage sich jetzt noch weiter zu verschlimmern. So lange sich die Unglücklichen, wenn auch den Gefahren des Meeres ausgesetzt, noch in dem Fahrzeuge befanden, hatten sie doch Aussicht, von einem Schiffe aufgenommen zu werden oder ein Land zu erreichen. Ein Schiff war ihnen nicht begegnet. Ein Land hatten sie zwar gefunden, das erwies sich aber als fast unbewohnbar, und doch mußten sie jetzt auf alle Hoffnung verzichten, es verlassen zu können.

[335] »Wären wir freilich, so äußerte sich John Block gegen Fritz, von einem derartigen Sturme auf offenem Meere überrascht worden, so läge die Schaluppe mit uns jetzt tief unten auf dem Grunde!«

Fritz erwiderte kein Wort, und unter einer Sündfluth von Regen und Hagel flüchtete er zu Jenny, Doll und Suzan, die in ängstlicher Sorge in der Grotte saßen.

Dank deren Richtung und Lage am Winkel des Vorberges, war das Wasser nicht in sie hineingedrungen.


Bei den heftigen Stößen wurde die Schaluppe von einer Seite zur anderen geworfen. (S. 334.)

[336] [339]Gegen Mitternacht, als der Regen aufgehört hatte, häufte der Obersteuermann eine Menge trockenes Seegras, das er aus Vertiefungen am Steilufer geholt hatte, nahe am Eingang der Höhle an. Bald loderte ein lebhaftes Feuer in die Höhe, an dem die vom Regen und Wellenschlag durchnäßten Kleidungsstücke getrocknet wurden.


Da zog ihn Jenny an sich und nahm ihn auf die Knie. (S. 341.)

Während der größten Heftigkeit des Unwetters stand der ganze Himmel stets in Flammen. Erst als die Wolken weiter nach Norden abzogen, milderte sich das furchtbare Rollen des Donners. So lange die Bucht aber noch von fernen Blitzen erleuchtet wurde, vermehrte sich eher noch die Gewalt des Sturmes, der die hohen, schäumenden Wogen über den Strand hinaustrieb.

Mit dem Tagesgrauen traten die Insassen der Höhle wieder ins Freie. Zerrissene Wolken jagten über den Kamm der hohen Felswand dahin; die niedrigsten davon schienen fast an deren Rande hinzustreichen. In der Nacht hatte diesen der Blitz an zwei oder drei Stellen getroffen, das verriethen noch viele große Sprengstücke, die unten am Steilufer lagen. Nirgends aber zeigte sich ein Spalt oder ein Riß, durch den man nach dem oberen Plateau hätte emporklimmen können.

Harry Gould, Fritz und John Block besichtigten, was von dem Fahrzeuge noch übrig geblieben war. Das bestand aus dem Maste, dem Fock- und dem Klüversegel, dem Takelwerk nebst den Rollen und Flaschenzügen, ferner aus dem Steuer, dem kleinen Anker und seiner Kette, den Rudern, den Planken der Bänke und den Trinkwasserfässern. Die meisten dieser mehr oder weniger beschädigten Gegenstände ließen sich gewiß noch irgendwie verwerthen.

»Das Unglück hat uns recht grausam heimgesucht! sagte Fritz. Hätten wir jetzt nur die armen Frauen – drei Frauen und ein Kind – nicht bei uns! Welches Los wartet ihrer auf diesem Uferlande, das wir nun nicht mehr verlassen können!«

Franz verhielt sich, trotz seines innigen Gottvertrauens, jetzt schweigend... er wußte wohl selbst nicht, was er hätte sagen sollen.

John Block legte sich inzwischen die Frage vor, ob der Sturm die Schiffbrüchigen – diesen Namen verdienten sie wohl – nicht noch schlimmer geschädigt habe. Er befürchtete, der Wogenschwall könnte auch die Schildkröten vernichtet und ihre Eier aus den flachen Gruben im Sande weggeschwemmt haben. Welch unersetzlicher Verlust, wenn diese, fast einzige Nahrungsquelle versiegt war!

[339] Der Obersteuermann winkte Franz zu sich heran und raunte ihm einige Worte zu. Dann überkletterten beide den Vorberg und begaben sich nach der jenseitigen Uferstrecke, um diese bis zu dem Hügel an ihrem Ende zu besichtigen.

Während der Kapitän Gould, Fritz und James über den Strand hin nach dem westlichen Vorberge gingen, nahmen Jenny, Doll und Suzan ihre gewohnte Beschäftigung wieder auf: die Ordnung und Besorgung des Haushaltes, wenn man in der gegebenen Lage von einem solchen reden kann. Der kleine Bob spielte in kindlicher Unbefangenheit im Sande und wartete höchstens darauf, daß seine Mutter ihm ein Stück in siedendem Wasser erweichten Schiffszwieback bringen sollte. Welch verzweifelnde Angst erfüllte dagegen Suzan bei dem Gedanken an das Elend und die Entbehrungen, denen ihr Kind jedenfalls nicht gewachsen sein würde.

Nachdem sie im Innern der Höhle alles in Ordnung gebracht hatten, gesellten sich Jenny und Doll wieder zu Frau Wolston, mit der sie in recht trüber Stimmung plauderten...

Konnten sie von etwas anderem sprechen, als von ihrer seit gestern so arg verschlimmerten Lage? Doll und Suzan, die noch trostloser zu sein schienen, als die junge Frau, wagten kaum, sich die Zukunft auszumalen, und ihre Augen füllten sich mit heißen Thränen.

»Was soll nun aus uns werden? sagte Suzan.

– Vor allem laßt uns das Vertrauen bewahren, antworte Jenny, und uns bemühen, die Männer nicht zu entmuthigen.

– Es ist nun aber, fuhr Doll fort, ganz unmöglich, von hier wegzugehen. Wenn dann gar erst die schlechte Jahreszeit kommt...

– Dir, liebe Doll, unterbrach sie Jenny, wiederhole ich ebenso wie Suzan, daß den Muth zu verlieren, zu gar nichts führt.

– Wer könnte hier noch die leiseste Hoffnung hegen? rief Frau Wolston, die einer Ohnmacht nahe war.

– Und doch, Du mußt es... es ist Deine Pflicht! sagte Jenny. Denk' an Deinen Mann, an James, dem Du das Herz zerreißen wirst, wenn er Dich weinen sähe!

– Du bist stark, Jenny, meinte Doll, Du hast schon einmal gegen schweres Unglück gekämpft... doch wir...

– Ihr? antwortete Jenny Vergeßt Ihr denn, daß der Kapitän Gould und Fritz, daß Franz, James und John Block ihr möglichstes thun werden, alle zu retten?

[340] – Was werden sie aber thun können? fragte Suzan.

– Das weiß ich jetzt noch nicht. Suzan. Sie werden aber Erfolg haben, wenn wir ihre Kraft nicht dadurch lähmen, daß wir uns der Verzweiflung überlassen.

– Mein Kind... mein Kind!« murmelte die arme Mutter, die ihre Seufzer fast erstickten.

Ganz bestürzt, seine Mutter weinen zu sehen, machte Bob große Augen.

Da zog ihn Jenny an sich und nahm ihn auf die Knie.

»Deine Mutter hat sich geängstigt, mein Herzchen, sagte sie. Sie rief nach Dir und Du gabst keine Antwort, und dann... Du spieltest doch im Sande, nicht wahr?

– Ja, antwortete Bob, mit dem Schiffe, das mir der gute Onkel Block gebaut hat. Ich wollte aber auch ein hübsches weißes Segel dazu haben, daß es fortschwimmen könnte. Da im Sande ist eine ganze Menge Löcher mit Wasser drin, darauf wollte ich es setzen. Tante Doll hat versprochen, mir ein Segel zu machen...

– Jawohl, mein kleiner Bob, das sollst Du auch noch heute bekommen, sagte Doll.

– Dann lieber zwei Segel, fuhr das Kind fort, zwei, wie die von der Schaluppe, auf der wir hierher gefahren sind.

– Natürlich, zwei, antwortete Jenny. Tante Doll wird Dir ein schönes Segel machen, und ich nähe Dir auch eines.

– Danke, danke, Tante Jenny, rief Bob in die Hände klatschend. Wo ist denn aber unser großes Schiff? Ich sehe es ja gar nicht mehr.

– Das ist... ist zum Fischfang ausgefahren, erklärte Jenny. Es wird schon bald wiederkommen und schöne, zappelnde Fische mitbringen. Du hast ja übrigens Dein Schiffchen, das vom Onkel Block...

– Ja, ich werde ihm aber doch sagen, daß er mir noch ein anderes baut, eines, worin ich fahren kann, auch mit Papa und Mama... mit Tante Doll und Jenny und mit allen anderen!«

Der arme Kleine! Er sprach in seiner Unschuld aus, was jetzt am meisten noth that: der Ersatz der Schaluppe; doch wie war dieser möglich?

»Geh, spiele nur weiter, mein Schatz, sagte Jenny, lauf' aber nicht zu weit davon!

– Nein, ganz hier in der Nähe, Tante Jenny!« versprach der Kleine.

[341] Dann umarmte er seine Mutter und lief in kindlicher Fröhlichkeit hinweg.

»Meine liebe Suzan, meine beste Doll, nahm Jenny wieder das Wort, Gott kann es nicht wollen, daß dieses herzige Kind nicht gerettet werde. Nein, das kann er nicht wollen... und seine Rettung ist doch auch die unsere!... Ich bitte Euch: keine Schwäche, keine Thränen! Vertraut auf die gütige Vorsehung, wie ich es immer gethan habe.«

Die Worte der muthigen Jenny kamen ihr wirklich aus dem Herzen, als eine Eingebung ihrer unerschrockenen Seele, die sie niemals verzweifeln ließ. Kam die rauhe Jahreszeit heran, ohne daß sie diese Küste hatten verlassen können – und daran war, ohne daß sie zufällig von einem Schiffe aufgenommen würden, gar nicht zu denken – so mußten sie sich eben auf eine Ueberwinterung einrichten. Die Grotte würde gegen schlechtes Wetter Schutz bieten; die Masse dürrer Seepflanzen lieferte genug Heizmaterial, wenn es zu kalt wurde, Fischfang und Jagd versprachen, die Ernährung aller zu sichern... unter diesen Umständen war doch einige Hoffnung zu bewahren.

Zunächst war es wichtig zu wissen, ob die Befürchtungen John Block's wegen der Chelidonier gerechtfertigt wären. Nein... zum Glück nicht. Nach einer Stunde kehrten der Obersteuermann und Franz zurück und brachten die gewohnte Menge von Schildkröten, die während des Unwetters unter dem Seegras Schutz gefunden hatten, leider aber kein einziges Ei mit heim.

»Sie werden schon wieder Eier legen, die braven Thiere, meinte John Block, und werden sich des Vertrauens würdig zeigen, das wir in sie setzen!«

Alle mußten bei den Scherzworten des Obersteuermanns unwillkürlich lächeln.

Bei ihrem Gange bis zum anderen Vorberge hatten der Kapitän Gould, Fritz und James sich überzeugt, daß es unmöglich war, anders als zu Wasser um diesen herum zu kommen. Dort gieng, einmal in dieser und dann in entgegengesetzter Richtung, eine sehr starke Strömung. Selbst bei stillem Wetter hätte die heftige Brandung jedem Boote eine Annäherung verhindert, und der beste Schwimmer wäre weit ins Meer hinaus getrieben worden oder schon zwischen den Uferblöcken verunglückt.

Die Nothwendigkeit, das Oberland des Steilufers auf andere Weise zu erreichen, machte sich jetzt also mehr als je geltend.

»Was nun? sagte da eines Tages Fritz, der voller Ungeduld an der unersteigbaren Wand emporblickte.

[342] – Aus einem Gefängniß mit tausend Fuß hohen Mauern gibt es kein Entweichen, antwortete James.

– Wenigstens, wenn man nicht die Mauer durchbricht, meinte Fritz.

– Durchbrechen... diese Granitmasse, die vielleicht noch dicker ist als hoch? bemerkte James.

– Wir können aber doch nicht für immer in diesem Gefängniß bleiben! rief Fritz in ohnmächtiger Wuth, die er nicht zu bemeistern vermochte.

– Sei geduldig und habe Vertrauen, ermahnte ihn Franz, der seinen Bruder zu beruhigen sachte.

– Geduld... die kann ich wohl haben, erwiderte Fritz, doch Vertrauen...«

Worauf hätte sich dieses Vertrauen auch gründen, diese Zuversicht stützen sollen? Rettung konnte ihnen nur winken, wenn zufällig ein Schiff in der Nähe vorbeikam. Doch selbst wenn das der Fall war, blieb es unsicher, ob es die Signale bemerken würde, die ihm der Obersteuermann durch das Entzünden eines Feuers auf dem Strande oder der Spitze des östlichen Vorberges zu geben gedachte.

Vierzehn Tage waren schon verstrichen, seit die Schaluppe hier gelandet war, und mehrere Wochen vergingen weiter ohne jede Aenderung der Sachlage. Bezüglich der Nahrung sahen sich der Kapitän Gould und seine Leidensgefährten auf Schildkröten und deren Eier, sowie auf Krustenthiere, wie Krabben und Hummern, beschränkt. Von den letzteren hatte John Block einige fangen können. Gewöhnlich beschäftigte sich John Block, nicht ohne Erfolg, mit dem Fischfange, wobei ihn Franz meist unterstützte. Mit Schnüren, die an Stelle der Angelhaken mit passend gebogenen, aus den Planken der Schaluppe herrührenden Nägeln versehen waren, gelang es, verschiedene Arten Fische zu fangen, z. B. zehn bis zwölf Zoll lange Goldbrachsen von schön rother Farbe und höchst schmackhaftem Fleisch, ferner kleine Wolfs- und größere Seebarsche und einmal sogar einen mächtigen Stör, der nur mit Hilfe einer Schlinge auf den Strand herausgezogen werden konnte.

Die Seehunde, deren es hier sehr viele gab, ließen als Nahrungsmittel freilich alles zu wünschen übrig. Von ihnen wurde nur das Fett, und zwar zur Anfertigung roher Kerzen, benützt, die einen Docht aus dürrem Seegras bekamen. So beunruhigend die Aussicht auf eine Ueberwinterung auch war, durfte man doch nicht vergessen, für die langen, dunkeln Abende der schlechten Jahreszeit auch für nothdürftige Beleuchtung zu sorgen.

[343] Auf Lachse, die zu gewissen Zeiten so zahlreich den Schakalbach der Neuen Schweiz hinaufstiegen, war hier nicht zu rechnen. Dafür »strandete« aber eines Tages wenigstens ein Schwarm von Heringen an der Mündung des kleinen Rios. Davon wurden mehrere Hunderte erbeutet, und diese bildeten, über einem Feuer von trockenem Tang geräuchert, einen recht schätzenswerthen Nahrungsvorrath.

»Sagt man nicht, bemerkte John Block, daß der Hering die nöthige Butter gleich in sich hat? Na, wenn das wahr ist, dann kann sie diesen hier nicht fehlen! Ich weiß gar nicht, was wir mit all den guten suchen noch anfangen sollen!«

In den sechs folgenden Wochen des hiesigen Aufenthaltes hatte man wiederholt versucht, das Steilufer über den Rücken des Vorberges zu erklimmen. Da das stets vergeblich geblieben war, beschloß Fritz, den Hügel im Osten zu umgehen Er hütete sich aber weislich, jemand – außer John Block – seine Absicht mitzutheilen.

Am Morgen des 7. Decembers begaben sich daraufhin die beiden Männer nach der Ausbuchtung an der Ostseite unter dem Vorwande, wie gewöhnlich Schildkröten holen zu wollen.

Am Fuße der mächtigen Felsmasse des Hügels brachen sich die Wellen mit großer Heftigkeit, und Fritz setzte, wenn er auf die andere Seite des Hügels gelangen wollte, unzweifelhaft sein Leben aufs Spiel.

Vergeblich bemühte sich der Obersteuermann, ihn von dem Wagniß abzuhalten, es blieb ihm nichts übrig, als sich im Nothfall zu seiner Unterstützung bereit zu halten.

Fritz legte die Kleidung ab, befestigte sich eine lange Leine – das Fockreep von der Schaluppe – um den Leib, John Block packte deren Ende, und der junge Mann sprang beherzt ins Wasser.

Hier drohte ihm die zweifache Gefahr, entweder von der Brandung gegen den Fuß des Hügels geschleudert oder von der Strömung hinweggetragen zu werden, im Fall, daß die Leine etwa risse.

Zweimal versuchte Fritz erfolglos, sich über die Wellen emporzuarbeiten, erst beim drittenmale gelang es ihm, sich so weit oben zu halten, daß er einen Blick auf die Gegend jenseit des Hügels werfen konnte. Dann zog John Block ihn nicht ohne Mühe nach dem Ufer zurück.

»Nun, fragte der Obersteuermann, wie sieht es da drüben aus?

[344] – Felsen, nichts als Felsen, antwortete Fritz, als er wieder etwas zu Athem gekommen war. Ich habe nichts anderes gesehen, als kleine Buchten und Steinvorsprünge. Das Steilufer verläuft nach Norden zu in gleicher Weise weiter.

– Darüber wundere ich mich gar nicht!« begnügte sich der Obersteuermann zu antworten.

Als das Ergebniß dieses kühnen Versuches bekannt wurde, von dem Jenny mit begreiflicher Erregung hörte, schien allen jede Hoffnung zu schwinden. Das[345] Eiland, das der Kapitän Gould und die übrigen nicht mehr sollten verlassen können, erwies sich als ein unbewohnbarer und unbewohnter Steinhaufen!


Zweimal versuchte Fritz erfolglos, sich über die Wellen emporzuarbeiten. (S. 344.)

Welch schmerzliche Gedanken rief die Erkenntniß dieser Sachlage wach. Ohne die Meuterei befänden sich die Passagiere der »Flag« jetzt schon seit zwei Monaten in den fruchtbaren Gefilden des Gelobten Landes! Wie mußten sich auch alle die ängstigen, die sie erwarteten und sie doch nicht eintreffen sahen. Wie sollten sich die beiden Familien diese Verzögerung deuten? Wäre die Corvette etwa gar untergegangen? Sollten sie Fritz, Jenny, Franz, James, Suzan und Doll niemals wiedersehen? Und wenn die »Licorne« Schiffbruch gelitten hatte, war das auf der Fahrt von der Insel nach Europa oder vor oder nach ihrem Auslaufen von Capetown geschehen?

Die Angehörigen und Freunde der hier Verlassenen waren wirklich mehr zu beklagen, als diese selbst. Sie wußten jene wenigstens in der Neuen Schweiz in Sicherheit.

Die Zukunft bot ein recht trübes Bild angesichts einer Lage, deren Ausgang niemand vorhersehen konnte.

Und welch neue Besorgniß wäre noch zu so vielen anderen gekommen, wenn alle gewußt hätten, was Harry Gould und dem Steuermann allein bekannt war: daß die Zahl der Schildkröten sich infolge des täglichen Verbrauches merkbar verminderte.

»Vielleicht, äußerte hierzu John Block, kommt das daher, daß die Thiere Kenntniß von einem unterirdischen Gange haben, durch den sie die Buchten im Osten oder Westen erreichen können, ohne daß es uns möglich wäre, ihnen zu folgen.

– Jedenfalls, Block, antwortete Harry Gould, sprechen Sie davon gegen niemand!

– Darüber beruhigen Sie sich, Herr Kapitän. Wenn ich es Ihnen gesagt habe, geschah es nur, weil man Ihnen doch alles mittheilen kann...

– Und auch mittheilen muß, Block!«

Von jetzt ab mußte der Obersteuermann noch mehr als bisher dem Fischfange obliegen, denn das Meer lieferte ja stets, was die Erde zu versagen anfing. Durch eine ausschließliche Ernährung mit Fischen, Weich- und Schalthieren drohte freilich die Gesundheit allmählich Schaden zu erleiden, und wenn erst Krankheiten ausbrachen, dann war der Becher des Unglücks ja übervoll.

Die letzte Woche des Decembers kam heran. Das Wetter blieb immer schön, nur traten einige Gewitter ein, die aber nicht so schwer waren, wie das [346] erste. Die zuweilen außerordentliche Hitze wäre manchmal kaum zu ertragen gewesen ohne den Schatten, den das Steilufer über den Strand hin warf. Das bot doch einigen Schutz gegen die Gluthstrahlen der Sonne, die ihren Tagesbogen am nördlichen Himmel beschrieb.

Zu dieser Zeit erschienen hier auch sehr viele Vögel, und zwar nicht nur Seeschwalben, Trauerenten, Möven und Fregattvögel, die gewohnten Gäste des Strandes, sondern gelegentlich auch ganze Völker von Kranichen und Reihern. Das erinnerte Fritz an seine schönen Jagden auf dem Schwanensee oder in der Umgebung der Meiereien des Gelobten Landes. Auf dem Gipfel des Hügels zeigten sich auch Cormorans, wie der Jennys, der jetzt im Geflügelhof von Felsenheim umherstolzirte, und zuweilen Albatrosse, gleich dem, den sie zu ihrem Boten vom Rauchenden Felsen gemacht hatte.

Alle diese Vögel hielten sich aber in sicherer Entfernung. Wenn sie sich auch auf dem Vorberge niederließen, versuchte man doch vergeblich, ihnen näher zu kommen, denn sie flatterten dann sofort über die unersteigbare Höhe davon.

Eines Tages wurden der Kapitän Gould und alle übrigen durch einen Ruf des Obersteuermanns nach dem Strande gelockt.

»Da seht doch... seht doch! wiederholte John Block, indem er nach dem Rande des oberen Plateaus hinwies.

– Was giebt es denn? fragte Fritz.

– Sehen Sie denn gar nicht die Reihe schwarzer Punkte da oben? erwiderte John Block.

– Das sind Pinguine, erklärte Franz.

– Ja, ganz richtig, Pinguine, bestätigte Harry Gould, und wenn sie uns nicht größer als Krähen erscheinen, liegt das an der großen Höhe, in der sie sitzen.

– Und da diese Vögel, bemerkte Fritz, haben nach dem Plateau gelangen können, so muß der Abhang an der anderen Seite des Steilufers leichter zugänglich sein.«

Das war wohl anzunehmen, denn die sehr unbeholfenen und schweren Pinguine hätten mit ihren kurzen Flügelstümpfen nicht bis zu jenem Kamme hinausfliegen können. War dessen Ersteigung auch von Süden her unmöglich, so schien sie doch von Norden her ausführbar zu sein. Bei dem Mangel eines Bootes aber, mit dem man hätte längs der Küste hinfahren können, mußte man darauf verzichten, den Gipfel des Steilufers zu erreichen.

[347] Traurig, gar traurig gestaltete sich das Weihnachtsfest dieses Unglücksjahres. Wie niederdrückend war der Gedanke, welch fröhliche Christmas im großen Saale von Felsenheim inmitten der beiden Familien und in Gesellschaft des Kapitäns Gould und John Block's gefeiert worden wäre! Es schien wirklich, als ob die Qual des Verlassenseins sich damit verdoppelte, und so beschränkte sich die Feier auf innige Gebete, worin sich freilich kaum noch eine schwache Hoffnung ausdrückte.

Und dennoch mußte man wohl dem Schöpfer danken, daß trotz so schwerer Prüfungen die Gesundheit dieser kleinen Welt noch nicht gelitten hatte. Dem Obersteuermann vorzüglich hatten alles Elend und alle Enttäuschungen auch nicht das geringste anhaben können.

»Ich werde fett, erklärte er wiederholt, ja, richtig fett! Das kommt davon, wenn man seine Zeit mit Nichtsthun verbringt!«

Mit Nichtsthun, ach, in dieser unglückseligen Lage war ja leider nichts zu thun.

Am Nachmittag des 29. ereignete sich ein Zwischenfall, der zwar auch keine erwünschte Aenderung der Dinge hervorbringen konnte, der aber die Erinnerung an glücklichere Zeiten wachrief.

Auf dem noch erreichbaren Theile des Vorberges hatte sich ein Vogel niedergesetzt.

Es war ein Albatros, der jedenfalls von weither kam und sehr müde zu sein schien. Er streckte sich so zu sagen, die Füße nach hinten und die Flügel gefaltet, auf dem Felsen aus.

Fritz wollte versuchen, ihn zu fangen. Bei seiner Geschicklichkeit im Schleudern des Lassos konnte ihm das vielleicht gelingen, wenn er eine Leine von der Schaluppe mit einem Laufknoten versah.

Der Obersteuermann machte eine solche Leine zurecht, und Fritz begann den Vorberg vorsichtig und geräuschlos zu erklimmen.

Alle folgten ihm mit den Blicken.

Der Vogel rührte sich nicht; Fritz konnte sich bis auf einige Toisen heranschleichen, dann sauste sein Lasso durch die Luft und schlang sich um den Leib des Albatrosses.

Dieser versuchte kaum, sich zu wehren, als Fritz ihn auf den Armen nach dem Strande hinuntertrug.

Da erscholl aus Jennys Mund ein Schrei der Ueberraschung.

[348] »Er ist es! Er ist es! jubelte sie, den Vogel streichelnd, ich erkenne ihn wieder!

– Wie, rief Fritz, das wäre...

– Ja ja, Fritz, das ist mein Albatros, mein Gefährte vom Rauchenden Felsen, derselbe, dem ich das Billet ans Bein gebunden hatte, das Dir in die Hand gefallen war.«

War das wohl möglich? Täuschte sich Jenny nicht? Sollte dieser Albatros, der niemals nach jenem Eiland zurückgekehrt war, jetzt, drei Jahre später, nach dieser Küste geflogen sein?

Jenny irrte sich indeß nicht, und das zeigte sich handgreiflich, als sie auf ein Bindfadenendchen hinwies, das noch an dem einen Bein des Vogels hing. Von dem Leinwandstückchen, worauf Fritz einige Antwortzeilen geschrieben hatte, war freilich keine Spur mehr zu entdecken.

Der Albatros war gewiß von sehr weit her gekommen, denn diese kräftigen Luftsegler vermögen überraschend große Strecken zu überwinden. Jedenfalls hatte dieser hier vom Osten des Indischen bis in diese Gegend des Stillen Oceans eine Entfernung von etwa tausend Lieues zurückgelegt.

Von der Pflege und von den Liebkosungen, die dem Boten vom Rauchenden Felsen zutheil wurden, können wir füglich schweigen. Bildete er nicht eine Art Band, das die Schiffbrüchigen mit ihren Eltern und ihren Freunden in der Neuen Schweiz verknüpfte?

Zwei Tage später endete das Jahr 1817, das in den letzten Monaten so reich an Unglück gewesen war, und wer konnte wissen, wieviel davon die Zukunft noch in ihrem Schoße barg!

24. Capitel
Vierundzwanzigstes Capitel.
Ein Gespräch über den Albatros. – Gutes Einvernehmen zwischen dem kleinen Bob und dem Vogel. – Anfertigung von Kerzen. – Ein neuer Gegenstand des Schmerzes. – Vergebliche Untersuchungen und Verzweiflung. – Ein Schrei des Albatrosses.

Täuschte sich der Kapitän Gould über die Lage des Eilandes nicht, so konnte der Sommer hier höchstens noch drei Monate andauern. Nach diesen drei Monaten trat der schreckliche Winter ein mit seinen kalten Windstößen und [349] furchtbaren Stürmen. Die schwache Aussicht, draußen auf dem Meere ein Schiff zu erblicken und es durch Signale zu Hilfe zu rufen, war dann ganz entschwunden, denn in dieser Zeit des Jahres meiden die Seefahrer diese gefährlichen Meerestheile. Immerhin vollzog sich bis dahin vielleicht noch eine Aenderung der Sachlage, wenn es auch sehr kühn erschien, auf eine solche zu hoffen.

Das Leben ging also in derselben Weise weiter, wie seit dem 26. October, dem Unglückstage, an dem die Schaluppe zerstört worden war. Wie schwer wurde den arbeitsfrohen Verlassenen diese Eintönigkeit, diese Unthätigkeit, da es ihnen ja unmöglich war, nur irgend etwas zu unternehmen. Darauf beschränkt, längs des Fußes des Steilufers, das sie gefangen hielt, hinzuirren, ermüdeten ihre Augen durch die unablässige Beobachtung des immer öden Meeres, und sie bedurften wirklich einer außerordentlichen Willensstärke, nicht der Entmuthigung zu erliegen.

Die langen Tage verstrichen meist unter Gesprächen, die Jenny in Gang zu bringen sich bemühte. Die muthige junge Frau flößte ihrer ganzen Umgebung neues Leben ein, wußte sie zu zerstreuen und besprach Pläne, über deren Werth sie sich freilich keineswegs täuschte. Fritz und sie tauschten gegenseitig ihre Gedanken aus, ohne daß es dazu der Worte bedurft hätte. Der Kapitän Gould und John Block sprachen meist über die Zukunft. Zuweilen fragten sie sich wohl auch, ob die Lage des Eilandes wirklich die sei, die sie – als im Pacifischen Oceane – annahmen. Der Obersteuermann konnte sich hierüber eines leisen Zweifels nicht erwehren.

»Hat Sie das Eintreffen des Albatrosses auf solche Gedanken gebracht? fragte ihn eines Tages der Kapitän.

– Ja, so ist es, antwortete John Block, und ich glaube, nicht ohne berechtigten Grund.

– Wollen Sie daraus schließen, daß unser Eiland doch höher im Norden liege, als wir es vermutheten?

– Jawohl, Herr Kapitän, und – wer weiß es? – vielleicht in der Nähe des Indischen Oceans. Ein Albatros kann doch leichter Hunderte statt Tausende von Lieues weit fliegen, ohne einmal auszuruhen.

– Das weiß ich, Block, erwiderte Harry Gould, ich weiß aber auch, daß Borupt daran gelegen sein mußte, mit der »Flag« möglichst nach dem Pacifischen Ocean zu segeln. Die acht Tage über, die wir im Frachtraum eingesperrt [350] waren, hat es mir, und auch Ihnen. so geschienen. als wenn wir Westwind gehabt hätten.

– Das geb' ich zu, antwortete der Obersteuermann, und doch... dieser Albatros... ist er nur aus der Nähe oder ist er von weit her gekommen?...

– Und wenn es so wäre, Block, wenn wir uns über die Lage dieses Eilandes vorher getäuscht hätten, wenn es nur wenige Lieues von der Neuen Schweiz entfernt läge, ist das für uns, die wir es nicht verlassen können, nicht ganz dasselbe, als ob es Hunderte von Lieues bis dahin wären?«

Die Anschauung des Kapitäns Gould war leider gar zu berechtigt. Uebrigens mußte man immer noch annehmen, daß die »Flag« nach dem Pacifischen Ocean hin, also weit, weit weg aus der Gegend der Neuen Schweiz, gesteuert wäre. Was aber John Block dachte, das dachten die anderen ebenfalls. Es schien, als ob der Vogel vom Rauchenden Felsen alle mit neuer Hoffnung erfüllt hätte.

Nachdem sich der Albatros erholt hatte, zeigte er sich, wie das ja zu erwarten war, weder furchtsam, noch wild. Ihn noch weiter zu zähmen, war sehr leicht, und bald bewegte er sich über den Strand hin, nährte sich von Varecbeeren oder von Fischen, die er sehr geschickt fing, und zeigte gar keine Neigung, fortfliegen zu wollen.

Zuweilen stieg er doch längs des Vorberges auf und setzte sich, laut schreiend, am Rande des Steilufers nieder.

»Aha, sagte dann der Obersteuermann, der ladet uns ein, hinaufzukommen! Wenn er mir nur seine Flügel borgte, dann wollte ich schon bis dahin fliegen und auskundschaften, wie es auf der anderen Seite aussieht. Freilich, die Seite da drüben wird auch nicht mehr werth sein als diese hier; 's ist doch aber immer besser, das bestimmt zu wissen!«

Zu wissen?... Wußte man das nicht seit dem Tage, wo Fritz jenseit des Hügels dieselben nackten Felsen, dieselben unübersteiglichen Höhen gesehen hatte?

Einer der besten Freunde des Albatrosses war der kleine Bob. Zwischen dem Kinde und dem Vogel herrschte bald die größte Vertraulichkeit. Sie spielten zusammen auf dem Sande. Da war keine Neckerei von der einen, kein Schnabelhieb von der anderen Seite zu fürchten. Bei schlechtem Wetter zogen sich beide nach der Grotte zurück, worin der Albatros seinen Winkel hatte, den er jeden Abend einnahm.

[351] Außer diesem Zwischenfalle, an den sich doch auch keine Hoffnungen knüpfen ließen. ereignete sich nichts, was dem Kapitän Gould und seinen Gefährten das eintönige Leben unterbrochen hätte.

Jedenfalls war es jetzt nothwendig, ernstlich an die Wahrscheinlichkeit einer demnächstigen Ueberwinterung zu denken, die den armen Schiffbrüchigen vier bis fünf Monate rauher Jahreszeit in Aussicht stellte. Unter dieser Breite und inmitten des Pacifischen Oceans wüthen dann oft außerordentlich heftige Stürme, die auch eine sehr starke Temperaturerniedrigung herbeiführen können.

Der Kapitän Gould, Fritz und John Block tauschten zuweilen ihre Gedanken hierüber aus. Da sie die Unannehmlichkeiten der nächsten Zeit nicht vermeiden konnten, war es gewiß richtiger, ihnen gerade ins Gesicht zu sehen. Entschlossen zu kämpfen, fühlten sie jetzt nichts mehr von der Entmuthigung, die sie beim Verluste der Schaluppe befallen hatte.

»Wenn unsere Lage nur nicht durch die Anwesenheit der drei Frauen und des Kindes erschwert wäre, sagte öfters Harry Gould. Ja, wenn wir hier nur Männer wären...

– Wir haben deshalb nur die Verpflichtung, noch mehr zu thun, als wir sonst gethan hätten,« antwortete Fritz.

In der Voraussicht des Winters erhob sich noch eine recht ernste Frage, die nämlich, ob es bei strengerer Kälte, wenn Tag und Nacht ein Feuer unterhalten werden müßte, nicht schließlich an Brennmaterial fehlen würde.

Das war vielleicht nicht zu fürchten, wenn sie sich mit dem Tang begnügten, der bei jeder Fluth ausgeworfen und von der Sonne schnell getrocknet wurde. Da die Verbrennung dieser Seepflanzen aber einen beißenden Rauch erzeugte, konnte man sie nicht wohl zur Erwärmung der Grotte anwenden, worin die Luft sonst bald unathembar geworden wäre. Daneben machte es sich noch nöthig, deren Eingang mit den Segeln der Schaluppe, und zwar recht dicht und fest zu verschließen, um einen sicheren Schutz gegen die Windstöße zu haben, die im Winter gegen den Fuß des Steilufers anstürmten.

Endlich mußte die Grotte doch erleuchtet werden, wenn das Wetter alle Arbeiten im Freien verbot.

Der Obersteuermann und Franz gingen deshalb, von Jenny und Doll unterstützt, daran, einen großen Vorrath grober Kerzen aus dem Speck und Fett der Seehunde herzustellen, die an der östlichen Ausbuchtung in Menge vorkamen und deren Fang keine besonderen Schwierigkeiten bereitete.

[352] [355]Ganz entsprechend dem in Felsenheim geübten Verfahren schmelzte John Block dieses Fett ein und erhielt dadurch ein Oel, das beim Erkalten erstarrte.


Suzans Verzweiflung machte sich in schweren Seufzern Luft. (S. 357.)

Da er keine Baumwolle, wie man sie in der Neuen Schweiz erntete, zur Verfügung hatte, mußte er sich mit den Fasern von Seegras begnügen, die immerhin brauchbare Dochte lieferten.

Außerdem kam endlich die Kleidung in Frage, womit alle nur dürftig versehen waren, und wie hätte diese, wenn sich der Aufenthalt hier verlängerte, ersetzt werden sollen?

»Ich bleibe dabei, sagte eines Tages der Obersteuermann, wenn man durch einen Schiffbruch auf eine wüste Insel geworfen wird, ist es klug und weise, ein Schiff oder ein Wrack zur Hand zu haben, worauf sich alles Nothwendige vorfindet. Anderenfalls ist das ein miserables Ding!«

Die Bewohner der Neuen Schweiz hatten sich freilich aus dem »Landlord« mit allem reichlich versorgen können.

Am Nachmittage des 17. erregte ein Vorfall, dessen Folgen niemand hätte voraussehen können, allgemein eine sehr lebhafte Unruhe.

Bob spielte bekanntlich gerne mit dem Albatros. Wenn er sich so auf dem Strande belustigte, behielt ihn seine Mutter stets im Auge, damit er sich nicht zu weit entfernte, denn er kletterte gerne einmal an den untersten Blöcken des Vorberges hinauf oder lief den heranrollenden Wellen entgegen. Blieb er dagegen mit dem Vogel in der Grotte zurück, so war keine Unannehmlichkeit zu fürchten.

Es mochte gegen drei Uhr sein. James Wolston half dem Obersteuermanne die Spieren zum Tragen des Vorhanges zuzurichten, der vor dem Eingange angebracht werden sollte. In dem Winkel nahe dem Kochofen saßen Jenny, Suzan und Doll mit dem Ausbessern ihrer Kleider beschäftigt.

Jetzt war die Zeit, wo Bob sein Vesperbrod zu verzehren pflegte.

Frau Wolston ging nach der Grotte zu und rief nach dem Kinde.

Bob antwortete nicht.

Suzan begab sich nach dem Strande und rief noch lauter, bekam aber wiederum keine Antwort.

Da erhob auch der Obersteuermann seine Stimme:

»Bob!... Bob!... Es ist Zeit zum essen!«

Das Kind zeigte sich nicht, man sah es auch nirgends auf dem Strande.

»Der Junge war hier... ganz in unserer Nähe... und vor kaum einer Minute! versicherte James.

[355] – Wo zum Kuckuck mag er denn stecken?« fragte sich John Block, der sich schon dem Vorberge zuwendete.

Der Kapitän Gould, Fritz und Franz gingen eben am Fuße der Felswand hin.

Bei ihnen war Bob auch nicht.

Der Obersteuermann legte die Hände zum Sprachrohr zusammen und rief wiederholt: »Bob!... Bob!«

Das Kind blieb unsichtbar.

James lief nach dem Kapitän und seinen zwei Brüdern.

»Habt Ihr denn Bob nicht gesehen? fragte er sehr beunruhigt.

– Nein, antwortete Franz.

– Vor einer halben Stunde, erklärte Fritz, sah ich ihn noch mit dem Albatros spielen.«

Nun zerstreuten sich alle nach allen Seiten und riefen nach dem Kleinen.

Vergebens.

Fritz und James eilten nach dem Vorberge, bestiegen die ersten Felsblöcke und ließen die Blicke über die ganze Bucht hin schweifen.

Weder das Kind, noch der Vogel waren zu bemerken.

Darauf kehrten beide zu Jenny und Doll und zu Frau Wolston zurück, die vor Angst ganz bleich geworden war.

»Hat denn jemand in der Grotte nachgesucht?« fragte da der Kapitän Gould.

Bob konnte ja wieder hineingelaufen sein, nur erschien es auffällig, daß er nicht herauskam, als nach ihm gerufen wurde.

Fritz war mit einem Sprunge in der Grotte, suchte darin alle Ecken und Winkel ab, kam aber, ohne das Kind mitzubringen, wieder heraus.

Frau Wolston irrte bestürzt und kaum ihrer Sinne mächtig hin und her Möglicherweise war das Kind zwischen den Felsblöcken hinabgeglitten... war vielleicht gar ins Meer gefallen... kurz, es schienen, da Bob nirgends gefunden wurde, die schlimmsten Befürchtungen gerechtfertigt.

Immerhin konnte man nichts anderes thun, als die Nachsuchungen am Ufer und bis nach der Bucht hin fortzusetzen.

»Fritz und James, sagte der Kapitän Gould, kommt Ihr beide mit mir, wir wollen den Fuß des Steilufers absuchen. Vielleicht ist Bob in einen Tanghaufen gerathen.

[356] – Ja, thun Sie das, antwortete der Obersteuermann, Franz und ich, wir werden die ganze Bucht untersuchen...

– Und den Vorberg auch, setzte Franz hinzu. Es kann ja sein, daß Bob darauf umhergeklettert und in ein Loch gefallen ist.«

Die Männer gingen nun nach rechts und nach links hin davon. Jenny und Doll blieben bei Frau Wolston, um diese in ihrer Herzensangst zu beruhigen.

Eine halbe Stunde später waren alle nach einer erfolglosen Bemühung zurück. Im ganzen Umkreise der Bucht war kein lebendes Wesen zu finden gewesen. Niemand hatte auch nur eine Spur von dem Kinde entdeckt und alles Rufen war ohne Antwort geblieben.

Suzans Verzweiflung machte sich in schweren Seufzern Luft. Dann befiel sie ein heftiger Brustkrampf, so daß man sie trotz ihres Sträubens in die Grotte schaffen mußte. Ihr Gatte, der mit ihr ging, brachte kein Wort über die Lippen.

Draußen sagte Fritz:

»Es ist gar nicht anzunehmen, daß das Kind verunglückt wäre. Ich wiederhole Euch, daß ich den Kleinen vor kaum einer Stunde auf dem Strande habe umherlaufen und springen sehen, doch nicht in der Richtung nach dem Meere zu Er hielt einen Strick mit einem Kiesel am Ende in der Hand.

– Ja, wo ist denn überhaupt der Vogel? fragte Franz, sich umsehend.

– Ja freilich, wo ist denn der?« wiederholte John Block.

An diesen hatte anfänglich niemand gedacht, und der Obersteuermann überzeugte sich, daß auch der Albatros jetzt fehlte.

»Sollten denn beide zusammen verschwunden sein? bemerkte Harry Gould.

– Das scheint fast so,« antwortete Fritz.

Die Männer richteten die Blicke nun nach allen Seiten hinaus, vorzüglich aber nach den Felsen, auf die der Vogel sich mit Vorliebe zu setzen pflegte.

Man sah ihn weder, noch vernahm man seinen Schrei, der von dem der Trauerenten, der Seeschwalben und der Möven so leicht zu unterscheiden war.

Daß der Albatros über das Steilufer hinweg und nach einer anderen Höhe geflogen wäre, war ja nicht ganz auszuschließen, trotz seiner Gewöhnung an den Strand hier, an die, die darauf lebten, und vor allem an Jenny. Jedenfalls konnte aber der Knabe nicht mit davongeflogen sein. Vielleicht war er aber bei der Verfolgung des Vogels auf dem Vorberge weiter hinaufgeklettert, wenn [357] das auch nach den Nachsuchungen Franzens und des Obersteuermannes kaum anzunehmen war.

Immerhin blieb ein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Bobs und dem des Albatrosses höchst wahrscheinlich. Gewöhnlich trennten sich ja diese beiden niemals, und jetzt sah man weder den einen noch den anderen. Das war doch merkwürdig genug.

Als der Abend herannahte und Vater und Mutter des Kleinen von der tödtlichsten Angst gefoltert wurden, konnten sich Jenny, Doll, der Kapitän Gould und die anderen beim Anblicke Suzans, deren unzusammenhängende Worte fast für ihren Verstand fürchten ließen, nur schweigend verhalten. Bei dem Gedanken aber, daß das Kind, wenn es in eine Vertiefung oder einen Spalt gestürzt wäre, die ganze Nacht über darin hilflos liegen müßte, wurden die Nachsuchungen doch noch einmal aufgenommen. Am äußeren Ende des Vorberges zündete man ein Feuer aus trockenem Tang an, das dem Kleinen als Führer dienen sollte, wenn dieser bis zur jenseitigen Ausbuchtung hinübergekommen wäre. Bis zu den spätesten Abendstunden wurden die Nachsuchungen fortgesetzt, dann mußte man die Hoffnung, Bob noch zu finden, aufgeben... aufgeben in der Befürchtung, am folgenden Tage vielleicht auch nicht erfolgreicher zu suchen.

Alle waren in die Grotte zurückgekehrt... nicht um zu schlafen, denn wem wäre das heute möglich gewesen? Bald schlich der eine, bald der andere wieder hinaus, spähte umher, lauschte auf das mindeste Geräusch neben dem Gurgeln der Brandung und kam zurück, um sich stumm niederzusetzen.

O, das war die schmerzlichste, die verzweiflungsvollste Nacht von allen, die der Kapitän Gould und die übrigen auf dieser öden Küste zugebracht hatten!

Gegen zwei Uhr des Morgens begann der bis dahin sternenklare Himmel sich zu bedecken. Der Wind war nach Norden umgeschlagen und trieb von dorther Wolken zusammen. Waren diese auch nicht gerade drohender Art, so jagten sie doch sehr schnell dahin, und jedenfalls war das Meer im Osten und Westen des Steilufers schon stark bewegt.

Jetzt war auch die Stunde, wo die steigende Fluth die Wellen wieder über das flache Ufer wälzte.

Da sprang Frau Wolston auf und stürzte, ohne daß sie jemand zurückzuhalten vermochte, eine Beute der Verzweiflung, hinaus ins Freie.

»Mein Kind... mein Kind!« rief die arme Mutter in herzzerreißendem Tone.

[358] Man mußte sie mit Gewalt zurückbringen. Wolston war seiner Gattin nachgeeilt, faßte sie am Arme und führte sie mehr todt als lebendig wieder in die Grotte.

Hier blieb die Unglückliche, stumpf vor sich hinblütend, auf dem Seegraslager liegen, wo Bob neben ihr zu schlummern pflegte. Jenny und Doll bemühten sich, sie wieder zu sich zu bringen, was ihnen aber nur mit großer Mühe einigermaßen gelang.

Die ganze Nacht hindurch heulte ein scharfer Wind über das Plateau des Steilufers hin. Zwanzigmal wohl suchten Fritz, Franz, Harry Gould und der Obersteuermann das Ufer ab, immer mit der Befürchtung, einen kleinen, auf den Strand gespülten Leichnam zu finden.

Vergeblich... es blieb nur noch die Annahme übrig, daß das Kind von den Wellen ins Meer hinausgetragen worden war.

Gegen vier Uhr, als beim Wechsel der Gezeiten die Ebbe wieder eintrat, zeigte sich am östlichen Horizonte der erste hellere Schimmer.

Da vernahm Fritz, der im Grunde der Grotte an der Wand lehnte, eine Art Aufschrei hinter der Steinwand. Er lauschte gespannt, und da er sich getäuscht zu haben fürchtete, wendete er sich an den Kapitän.

»Folgen Sie mir!« redete er diesen an.

Ohne zu wissen, was Fritz vorhätte, ja ohne ihn nur darum zu fragen, folgte Harry Gould dieser Aufforderung.

»Horchen Sie,« sagte Fritz.

Der Kapitän Gould spitzte die Ohren.

»Das war der Schrei eines Vogels, was ich eben hörte, erklärte er.

– Ja... der eines Vogels! bestätigte Fritz.

– Da muß sich also ein Hohlraum hinter der Wand befinden...

– Ohne Zweifel, und vielleicht ein Gang, der mit dem Freien in Verbindung steht... denn wie erklärte sich sonst...

– Ja, ja, Sie haben recht, Fritz.«

Inzwischen war John Block herangetreten und hörte, wovon die beiden sprachen. Nachdem auch er das Ohr kurze Zeit an die Wand gelegt hatte, rief er:

»Das ist die Stimme des Albatrosses... ich erkenne sie!

– Und wenn der Albatros da drüben ist, sagte Fritz, so wird, so maß der kleine Bob auch da sein...

– Wie hätten die beiden aber dorthin gelangen können? fragte der Kapitän.

[359] – O... das werden wir ja ermitteln,« erwiderte John Block.

Franz, Jenny und Doll wurden von den Wahrnehmungen unterrichtet. Wolston und seine Gattin schöpften wieder eine schwache Hoffnung.

»Er ist dort!... Er ist dort!« wiederholte Suzan.

John Block hatte eine der dicken Kerzen angezündet. Daß der Albatros sich hinter dieser Wand befand, war nicht mehr zu bezweifeln, denn man hörte ihn immer und immer wieder schreien.


Eine Minute später brachte er den ohnmächtigen Bob daraus mit hervor. (S. 362.)

Ehe man untersuchte, ob er vielleicht draußen durch einen Felsenspalt dahin geglitten sei, wo er sich jetzt befand, schien es [360] rathsamer, nachzusehen, ob nicht im Höhleninnern eine Oeffnung in der Wand zu finden sei.


Das Feuer verbreitete sich mit so rasender Schnelligkeit... (S. 366.)

Das Licht in der Hand, untersuchte deshalb der Obersteuermann sorgfältig die Hinterwand der Höhle. Er entdeckte zunächst nichts als einige Sprünge, die aber viel zu wenig klafften, als daß der Albatros und Bob erst recht hätten da hindurch gelangen können. Ganz unten fand sich indeß im Erdboden ein Loch von zwanzig bis fünfundzwanzig Zoll Durchmesser, groß genug also, das Kind und den Vogel hindurchschlüpfen zu lassen.

[361] Da der Albatros jetzt aber schwieg, fürchteten doch noch alle, daß sich der Kapitän Gould, Fritz und der Obersteuermann getäuscht haben könnten.

Jetzt trat Jenny an des letzteren Stelle, beugte sich nach dem Loche nieder und rief wiederholt nach dem Vogel, der an ihre Stimme ebenso wie an ihre Liebkosungen gewöhnt war.

Da antwortete ihr ein Schrei und kurz darauf kam der Albatros aus der Oeffnung hervor.

»Bob! Bob!« rief jetzt Jenny.

Das Kind antwortete weder, noch wurde es sichtbar. Sollte es doch nicht mit dem Vogel hinter der Wand gewesen sein? Seine Mutter konnte einen Aufschrei der Verzweiflung nicht unterdrücken.

»Warten Sie ein wenig,« sagte da der Obersteuermann.

Er kniete nieder, vergrößerte das Loch, aus dem er den Sand hinter sich warf, und nach einigen Minuten war dieses erweitert genug, daß er hinein- und hindurchkriechen konnte.

Eine Minute später brachte er den ohnmächtigen Bob daraus mit hervor; unter den Küssen seiner Mutter kam der Kleine aber bald wieder zur Besinnung.

25. Capitel
Fünfundzwanzigstes Capitel.
Die zweite Grotte. – Getäuschte Hoffnung. – Fritzens Kerze. – Durch die Felswand. – Mehrmalige Rast. – Das obere Plateau. – Nichts im Süden, im Osten und im Westen. – Im Augenblick des Abstieges.

Frau Wolston brauchte einige Zeit, sich von der erlittenen schrecklichen Seelenqual zu erholen. Bob war ihr indeß wiedergegeben, und für die Leiden einer Mutter giebt es ja kein besseres Heilmittel, als die Liebkosungen ihres Kindes.

Was hier überhaupt vorgegangen war, ist jetzt wohl leicht zu errathen. Beim Spielen mit dem Albatros war Bob diesem nach dem Hintergrunde der Grotte nachgelaufen. Doch der Vogel hatte sich in das enge Loch gezwängt und Bob war ihm nachgefolgt. Am Ende des kurzen unterirdischen Ganges lag eine[362] finstere Aushöhlung, aus der sich der Kleine nicht hatte wieder herausfinden können. Zuerst hatte er jedenfalls gerufen, doch ohne gehört zu werden. dann hatte er das Bewußtsein verloren, und wer konnte wissen, was aus ihm geworden wäre, wenn Fritz nicht, rein durch einen glücklichen Zufall, den Schrei des Albatrosses vernommen hätte.

»Na, begann der Obersteuermann, jetzt, wo Bob wieder in den Armen der Mama liegt, jetzt ist ja alles wieder gut; obendrein haben wir durch ihn noch eine zweite Grotte entdeckt. Freilich wissen wir damit nichts anzufangen. Die erste genügt uns ja, und es verlangt wohl keinen, aus dieser wegzuziehen.

– Mindestens, fiel der Kapitän Gould ein, möcht' ich aber wissen, ob sie sich etwa weiterhin erstreckt.

– Bis zur anderen Seite des Steilufers, Herr Kapitän?...

– Das wäre doch möglich, Block.

– Ja freilich, gestand der Obersteuermann. Doch angenommen, sie reichte durch die ganze Felsmasse hindurch, was würden wir jenseit dieser finden? Sand, Felsen, Buchten, Vorgebirge, von fruchtbarem Boden und Pflanzen aber nicht so viel, wie in meinen Hut hineinginge.

– Das mag wohl richtig sein, meinte Fritz. Immerhin dürfen wir nicht unterlassen, zu sehen...

– Werden's sehen, Herr Fritz, werden alles sehen, und, wie man sagt, das Ansehen kostet ja nichts!«

Diese Besichtigung konnte indeß nichtsdestoweniger die wichtigsten Folgen haben, sie mußte also ohne Zögern vorgenommen werden, was denn auch sofort ausgeführt wurde.

Der Kapitän, Fritz und Franz begaben sich nach dem Hintergrunde der Grotte zurück, und mit einigen dicken Kerzen in der Hand folgte der Obersteuermann ihnen nach Um das Hindurchkommen zu erleichtern, erweiterten die ersteren die noch etwas enge Oeffnung und den Gang, indem sie einige, da hineingestürzte Steine herausholten.

Es bedurfte jedoch über eine Viertelstunde, ehe die Oeffnung hinreichend groß war. Uebrigens hatte weder der Kapitän Gould, noch einer der anderen seit der Landung an dieser Insel an Leibesumfang zugenommen. Drei Monate einer immerhin dürftigen Lebensführung und einseitigen Ernährung waren dazu auch nicht geeignet, außer wenn einer von der Natur besonders zum Embonpoint neigt, wie der Obersteuermann, der, seit er von der »Flag« weg war, doch um [363] einige Pfund zugenommen hatte. Als alle hindurchgekrochen waren, wurden die Lichter angebrannt, deren Schein nun eine Untersuchung der zweiten Höhle ermöglichte.

Diese erwies sich bedeutend tiefer als die erste, zwar weniger breit, dagegen wohl hundert Fuß lang. Eigentlich bildete sie nur eine Art natürlichen Stollens von zehn bis zwölf Fuß Höhe und gleicher Breite. Vielleicht hingen noch andere Hohlräume mit ihr zusammen und bildeten im Innern der Felsmasse ein Labyrinth mit Gängen nach verschiedenen Richtungen. In diesem Falle konnte ja, wie der Kapitän Gould es sich gedacht hatte, recht wohl ein solcher Gang, wenn auch nicht nach dem Plateau, so doch nach der anderen Seite des Steilufers des westlichen Vorberges oder des Hügels an der Ostseite führen.

Kapitän Gould kam noch einmal auf diese Möglichkeit zu reden.

»Ja, das kann ja richtig sein, meinte John Block, und wenn es uns von außen her nicht gelungen ist, das Plateau zu erreichen, so gelingt es vielleicht von innen her.«

Nach etwa hundert Schritten durch den Gang, der sich mehr und mehr verengerte, erreichten die drei Männer eine Felswand, vor der sie Halt machen mußten.

John Block leuchtete daran von unten bis nach oben überall umher, entdeckte dabei aber nur einige ganz enge Spalten, worin kaum eine Hand Platz hatte. Hier schwand also jede Hoffnung, weiter durch die Steinmasse vorzudringen.

Die Seitenwände des Ganges zeigten in ihrer ganzen Länge nirgends eine Oeffnung. Die zweite Aushöhlung hinter der ersten Grotte... das blieb vorläufig die einzige Entdeckung, die der Zwischenfall mit Bob zur Folge hatte.

»Auf diesem Wege, äußerte Harry Gould, werden wir also nicht über das Steilufer hinauskommen...

– Und auch nicht hinauf!« setzte der Obersteuermann hinzu.

Als man sich hierüber klar war, blieb nichts weiter übrig, als umzukehren.

Empfand man es immerhin als eine Täuschung, im Berginnern keinen wirklichen Durchgang entdeckt zu haben, so hatte doch auch vorher niemand ernstlich daran geglaubt.

Und dennoch schien es dem Kapitän Gould, John Block und Fritz, als sie zurückgekehrt waren, so, als ob sie jetzt fester als je an diesen Strand gekettet wären.

[364] Im Laufe der folgenden Tage zeigte das bis dahin sehr schöne Wetter deutlich Neigung umzuschlagen. Der Himmel bedeckte sich mit anfänglich leichten, bald aber dichter werdenden Wolken. Diesmal aber trieb sie eine nördliche Brise über das obere Plateau hin, eine Brise, die am Abend des 22. schnell an Stärke zunahm.

Bei dieser Windrichtung war für die Schildkrötenbucht nichts zu fürchten. Unter dem Schutze der Uferhöhe war sie dem Wogenschlage nicht so ausgesetzt, wie bei dem schrecklichen Sturm, der die Schaluppe zerstört hatte. Das Meer blieb längs des unteren eigentlichen Ufers ruhig, da es der Kraft des tollen Windes erst eine gute halbe Lieue draußen ausgesetzt war; es war also nichts zu fürchten, selbst wenn jetzt ein Orkan losbrechen sollte.

In der Nacht vom 22. bis zum 23. tobte ein sehr schweres Gewitter. Gegen ein Uhr Morgens wurden alle durch einen Donnerschlag erweckt, der stärker war, als ein Kanonenschuß, den man dicht am Eingange der Grotte abgefeuert hätte.

Fritz, Franz und der Obersteuermann sprangen aus ihren Nischen hervor und stürzten nach dem Ausgange.

»Hier hat es ganz in der Nähe eingeschlagen, sagte Franz.

– Jedenfalls oben am Rande,« antwortete John Block, der einige Schritte weit hinaustrat.

Suzan und Doll, die sich immer ängstlich beklommen fühlten bei den Gewittern, die ja nervöse Personen so peinlich erregen, waren Jenny vor die Grotte hinaus gefolgt.

»Nun, wie steht's? fragte Doll,

– Es ist keinerlei Gefahr, meine liebe Doll, antwortete Franz. Geht nur wieder hinein und macht Augen und Ohren hübsch fest zu.«

Jenny war eben an ihren Gatten herangetreten.

»Das riecht hier aber nach Rauch, Fritz, sagte sie.

– Kein Wunder! Es ist Feuer... da draußen... rief der Obersteuermann

– Wo denn? fragte der Kapitän Gould.

– Der Tanghaufen am Fuße des Steilufers brennt!«

In der That hatte der Blitz den Haufen trockener Pflanzen entzündet, und in kürzester Zeit verbreitete sich der Brand auf die Schicht von Seegras, die am Fuße der Bergmasse abgelagert war. Das Ganze brannte wie Stroh, knisterte im Winde und wirbelte in züngelnden und umherhüpfenden Flammen empor, die weithin einen scharfen, beißenden Rauch verbreiteten.

[365] Zum Glück lagerte nichts von dem gefährlichen Materiale vor dem Eingange der Grotte, so daß das Feuer diese nicht erreichen konnte.

»Da... da gehen unsere Wintervorräthe in Rauch und Flammen auf! rief John Block.

– Ist denn gar nichts davon zu retten? sagte Fritz.

– Nein, leider nicht das geringste,« antwortete der Kapitän Gould.

Das Feuer verbreitete sich mit so rasender Schnelligkeit, daß ihm überhaupt nicht Einhalt zu thun und nur etwas von dem einzigen Brennmaterial der Schiffbrüchigen zu bergen gewesen wäre.

Das Meer lieferte zwar unablässig neues, Tang und Seegras wurden ja fast täglich ausgeworfen, doch wie langer Zeit bedurfte es, eine so große Menge wie die frühere anzusammeln! Die Fluth spülte davon, je zweimal in vierundzwanzig Stunden, ja stets nur einige Armvoll ans Land. Was jetzt auf dem Strande lagerte, war das Werk mehrerer Jahre; wer konnte aber voraussagen, ob die Wellen in den wenigen Wochen bis zum Eintritt der schlechten Jahreszeit genug für den Bedarf einer Ueberwinterung auswerfen würden?

In weniger als einer Viertelstunde hatte sich die Feuerlinie über den ganzen Hintergrund des Vorlandes ausgedehnt, und außer einigen kleinen Seegrashaufen längs des Vorberges war nichts mehr übrig. Dieser neue Schicksalsschlag verschlimmerte die ohnehin beunruhigende Lage nicht wenig.

»Nein, Sapperment, so geht es nicht weiter!«

Im Munde des sonst so zuversichtlichen Obersteuermanns hatten diese Worte eine um so schwerer wiegende Bedeutung.

Die Mauern dieses Kerkers barsten darum aber doch nicht, um die Gefangenen entschlüpfen zu lassen.

Am nächsten Tage, am 23. Januar, herrschte, wenn auch nicht mehr gewitterhaftes, so doch recht unruhiges Wetter, und noch immer fegte ein scharfer Nordwind über das obere Plateau hinweg.

Zunächst galt es nun, sich zu überzeugen, ob wenigstens die dürren Ablagerungen am Vorberge vom Feuer verschont geblieben wären. Das war wenigstens theilweise der Fall. John Block, Fritz, Franz und James gingen deshalb sofort daran, so viel davon herbeizutragen, daß der Heizstoff, selbst ohne den täglichen Auswurf des Meeres zu rechnen, für eine Woche ausreichte.

So lange freilich der Nordwind anhielt, mußten die schwimmenden Pflanzenmassen nach dem Meere hinausgetrieben werden.

[366] Bei Südwind waren davon jedenfalls größere Mengen zu gewinnen.

Immerhin ermahnte der Kapitän Gould, angesichts der späteren Zeit keine vernünftige Vorsicht außeracht zu lassen.

»Ja ja, Sie haben recht, Herr Kapitän, stimmte John Block ein, wir könnten, was uns von Tang übrig geblieben ist, in Hinblick auf den Winter wohl unter Schutz bringen.

– Da ließe sich ja. fügte Fritz hinzu. als Lagerplatz recht gut die zweite Grotte benützen, die wir erst gestern entdeckt haben.«

Das erschien sehr rathsam, und gleich am Vormittage desselben Tages wollte sich Fritz noch einmal in diese hineinbegeben, um ihre inneren Raumverhältnisse eingehender zu besichtigen. Mit einer Kerze ausgerüstet, kroch er durch die enge Oeffnung, die die beiden Grotten in Verbindung setzte. Die zweite konnte ja doch einen Ausgang nach der anderen Seite der Felswand haben.

Da fühlte Fritz in dem Augenblicke, wo er das Ende des langen Ganges erreichte, einen frischen Luftzug und vernahm auch, als er aufhorchte, ein ununterbrochenes Pfeifen.

»Der Wind, murmelte er, das ist der Wind!«

Jetzt trat er noch näher, an die Wand heran, und über diese mit der Hand hinstreichend, entdeckte er einige Sprünge im Gestein.

»Der Wind, wiederholte er, das ist der Wind. Er dringt hier hindurch, weil er von Norden her weht. Irgendwo muß also, nach der Seite oder nach dem Kamme des Steilufers zu, doch ein Durchgang vorhanden sein. Von dieser Seite also bestände eine Verbindung nach dem nördlichen Abhange.«

Da, als Fritz längs der Wand hinleuchtete, erlosch plötzlich die Kerze, die ein schärferer Windhauch, der durch einen Sprung eindrang, ausgeblasen hatte.

Das war für Fritz genug des Hinweises; seine Ueberzeugung stand nun fest: drang man durch diese Steinwand, so war ein Ausgang ins Freie gewonnen.

Sich nach der Höhle zurückzutasten, wo ihn alle erwarteten, diesen seine Entdeckung mitzutheilen, sie mit sich zu nehmen, um den Beweis zu liefern, daß er sich nicht getäuscht hätte, das war das Werk weniger Minuten.

Fritz, hinter ihm der Kapitän Gould, dann John Block, Franz und James begaben sich aus der ersten Höhle in die zweite, bei deren Beleuchtung durch mehrere Kerzen jetzt aber die Vorsicht gebraucht wurde, sie nicht zu sehr der Wand im Hintergrunde zu nähern.

Fritz hatte sich nicht getäuscht: durch die Wand strich ein kühlerer Luftzug.

[367] Der Obersteuermann senkte nun das Licht nach dem Erdboden, und siehe da, der Gang war hier nur durch Steingeröll verschlossen, das jedenfalls nach und nach von der Hauptmasse losgebröckelt war.

»Die Thür, rief er, da ist die Thür! Und es bedarf nicht einmal eines Schlüssels. sie zu öffnen!... O, Herr Kapitän, Sie hatten doch uns gegenüber recht!

– Ans Werk... aus Werk!« begnügte sich Harry Gould zu antworten.

Der Durchgang war ohne Schwierigkeit von den Steinen zu befreien. Von Hand zu Hand reichte man sie einander hin; es waren freilich ziemlich viele, denn der Geröllhaufen hatte fünf bis sechs Fuß Höbe. Mit dem Fortschreiten der Arbeit wurde der Luftstrom immer lebhafter. Unzweifelhaft war eine Aushöhlung, die in die Bergmasse von der anderen Seite hereinreichte, vorhanden.

In einer Viertelstunde war der Durchgang genügend freigelegt.

Fritz drang zuerst hinein und stieg, die anderen hinter ihm, einen steilen, von schwachem Tageslicht erhellten Stollen zwölf bis vierzehn Fuß hoch hinaus.

Ein lothrechter Schacht, den die Männer hier vermuthet hatten, fand sich nirgends. Sie gelangten endlich zwischen zwei sehr hohe, glatte Felsmauern, über denen der Himmel sichtbar war, und die eine fünf bis sechs Fuß breite, gewundene Schlucht bildeten. Längs dieser Schlucht war es, wo der Wind sich fing, der im Hintergrunde des Ganges durch die Spalten der Steinwand eindrang.

Das Steilufer war also in seiner ganzen Dicke gespalten; doch wohin lief dieser Spalt aus?

Um das zu erfahren, mußte man schon bis zu seinem Ende hingehen, wenn das überhaupt möglich war.

Es bedarf wohl kaum der Schilderung des Eindruckes, den diese Entdeckung hervorrief; fühlten sich doch alle in der Lage von Gefangenen, vor denen sich die Thür des bisherigen Kerkers öffnete.

Da es erst acht Uhr Morgens war, fehlte es nicht an Zeit zur weiteren Auskundschaftung, auch entstand gar nicht die Frage, einen Einzelnen, ob Fritz oder den Obersteuermann, damit zu beauftragen. Alle wollten sie weiter vordringen, ohne einen Augenblick zu verlieren.

»Wir wollen aber wenigstens einige Nahrungsmittel mitnehmen, bemerkte Jenny, da sich unsere Abwesenheit verlängern könnte.

– Und übrigens wissen wir ja gar nicht, wohin wir gehen, sagte Franz.

[368] [371]– Wohin?... Hinaus!... In die Freiheit!« erwiderte der Obersteuermann.

Mit diesen wenigen Worten gab er den Empfindungen. die alle beherrschten, den treffendsten Ausdruck.


Der Weg verlief ziemlich steil aufwärts... (S. 373.)

Der Kapitän Gould bestand indeß darauf, erst vorher zu frühstücken und für die Möglichkeit eines längeren Ausbleibens gleich für mehrere Tage Proviant mitzunehmen.

Das Frühstück wurde bald verzehrt. Jeder führte gleich doppelte Bissen zum Munde, und keiner sprach ein Wort, nur um schneller essen zu können. Harry Gould und seine Gefährten verlangte es, nach viermonatlichem Aufenthalt an dieser Bucht. doch dringend zu erfahren. ob ihre Lage hier sich jetzt bessern oder vielleicht gänzlich verändern sollte.

Zur Rückkehr war es immer noch Zeit, wenn das obere Plateau sich ebenso unwirthlich wie das Vorland erweisen, wenn es sich nicht zu einer mehr dauernden Niederlassung eignen sollte und wenn auch von seinem höchsten Punkte aus kein Land in der Nähe zu erblicken wäre. Ueberzeugten sich die Ausgesetzten von der »Flag«, daß sie hier auf einem Eiland oder einer Insel weilten, so wollten sie nach ihrer Grotte zurückkehren und sich so gut wie möglich für eine Ueberwinterung einrichten.

Bevor der Weg durch die Schlucht mit ihrem ganz unbekannten Ausgange angetreten wurde, hätte es ja rathsamer erscheinen können, vielleicht Harry Gould, Fritz und den Obersteuermann vorauszuschicken, damit diese sich überzeugten, ob sie überhaupt einen passirbaren Ausgang nach dem Plateau oder nach einer Flanke des Steilufers hätte. Das hätte aber niemand zugegeben... alle wollten an dem Unternehmen theil haben. Jenny, Doll und Suzan Wolston waren vorzüglich dafür eingenommen, und da kein Hinderniß vorlag, zusammen zu gehen, wurde darüber kein weiteres Wort verloren.

Nach eingenommenem Frühstück beluden sich die Männer mit einigen Speisevorräthen. Alle begaben sich, sogar der Albatros. der neben Jenny hertrabte, aus der ersten Grotte durch die Oeffnung nach dem dahinter liegenden Gang.

Die spaltartige Schlucht erreichten Fritz und Franz als die ersten; nach ihnen kamen Jenny, Doll und Suzan mit dem kleinen Bob an der Hand.

Der Kapitän Gould und James folgten diesen, und John Block bildete den Schluß des Zuges.

In ihrem ersten Theile war die Schlucht so enge, daß alle einzeln hintereinander marschiren mußten; verbreiterte sie sich später, so wollten sie zu zweien[371] oder dreien gehen. Thatsächlich wanderten sie ja nur gleichsam im Grunde eines Risses des Bergstockes, der zwischen zwei lothrechten, acht- bis neunhundert Fuß hohen Wänden hin verlief.

Nach etwa hundert Schritten auf gerader Strecke zeigte der Boden eine deutliche Neigung, so daß man schnell vorwärts kam. Freilich verlängerte sich dadurch der Gesammtweg, denn wenn er auf dem Plateau ausmündete, mußte an der etwa achtzig Toisen betragende Höhenunterschied zwischen diesem und dem Vorlande erst überwunden werden. Der Weg wurde auch durch viele Krümmungen noch weiter verlängert. Das Ganze machte den Eindruck eines Labyrinths, das sich in schroffen und launischen Windungen durch die Bergmasse hinzog. Da es aber an Licht von obenher niemals fehlte, glaubte Harry Gould beurtheilen zu können, daß die Hauptrichtung der Schlucht von Süden nach Norden verlief. Die Seitenwände traten nach und nach weiter auseinander, was das Fortkommen des kleinen Trupps erleichterte.

Gegen zehn Uhr mußte einmal zur Erholung Halt gemacht werden. Man hatte eine geräumige, halbrunde Stelle erreicht, über der ein größeres Stück des Himmels sichtbar war.

Franz schätzte die Höhenlage dieser Stelle nur auf etwa zweihundert Fuß über der Meeresfläche.

»Wenn das richtig ist, sagte er, würden wir zum Aufstieg fünf bis sechs Stunden brauchen.

– O, dann wär' es ja noch heller Tag, wenn wir oben ankommen, bemerkte Fritz, und wir hätten nöthigenfalls sogar noch Zeit, vor der Nacht zurückzukehren.

– Sie haben ganz recht, Fritz, sagte Harry Gould, wissen wir denn aber, ob die Schlucht sich nicht durch zahlreiche Umwege verlängert?

– Und ob sie überhaupt nach dem Steilufer hinausführt? setzte Franz hinzu.

– Ob wir nun nach dem Gipfel oder nach der Seite der Felsmauer kommen, ließ sich der Obersteuermann vernehmen, nehmen wir die Dinge, wie sie liegen. Gelangen wir nach oben... nun gut, kommen wir tiefer unten heraus... auch gut, es kommt ja darauf nicht so viel an!«

Das war ja richtig, und doch, welche Enttäuschung, welche Entmuthigung mußte es zur Folge haben, wenn dieser Weg durch ein unüberwindliches Hinderniß geschlossen war und also keinen Ausgang ins Freie bot.

Nach halbstündiger Rast brach die kleine Gesellschaft wieder auf. Die auch weiterhin in Windungen verlaufende Schlucht, die zehn bis zwölf Fuß Breite[372] hatte, zeigte einen sandigen, zuweilen mit Steinen besäten Boden, doch keine Spur von Pflanzenwuchs. Das ließ darauf schließen. daß auch das Oberland unfruchtbar sein müsse, denn sonst hätte doch ein, vom Regen hereingespültes Samenkorn, hätte irgend ein Keim hier doch Wurzel geschlagen; davon zeigte sich aber nichts, nicht einmal ein Büschel von Flechten oder Moosen.

»Liebe Jenny, begann Fritz nach Beendigung des einfachen Mahles, ich ersuche Dich, mit Frau Wolston und Doll hier zurückzubleiben, Franz wird Euch gern Gesellschaft leisten. Der Kapitän Gould, John Block und ich, wir werden versuchen, die Höhe des Steilufers zu erreichen. Verirren können wir uns ja unmöglich. Dann treffen wir Euch hier an dieser Stelle wieder an und Ihr habt Euch eine vielleicht nutzlose Anstrengung erspart«

Jenny bat aber, unterstützt von Suzan und Doll, ihren Gatten so inständig, sie mitzunehmen, daß Fritz nachgeben mußte, obwohl Harry Gould seinem ersten Vorschlage beigestimmt hatte.

Um drei Uhr wurde der Weg wieder fortgesetzt, gleich von Anfang an aber zeigte sich, daß dieser je länger je mehr immer größere Schwierigkeiten bot. Er verlief ziemlich steil aufwärts, und dazu machte der oft mit Geröll bedeckte Boden, auf dem bei jedem Schritte einzelne Steine ins Rollen kamen, den Aufstieg höchst mühsam, so daß Harry Gould und Fritz nur mit äußerster Vorsicht dahinschritten. Die Schlucht hatte sich jetzt übrigens zu einer Art Hohlweg verbreitert, dessen Böschung noch um zwei- bis dreihundert Fuß aufstieg. Wiederholt mußte einer der Wanderer dem anderen helfen und diesen an den Armen emporziehen. Alles deutete indeß darauf. hin, daß das Plateau zu erreichen sein werde. Der Albatros breitete die mächtigen Schwingen aus und schwebte leicht in die Höhe, als wolle er einladen, ihm zu folgen. Ach, daß man ihn in seinem Fluge nicht begleiten konnte!

Nach unerhörten Anstrengungen befanden sich gegen fünf Uhr alle glücklich auf der Uferhöhe.

Von hier aus war aber nach Süden, Osten und Westen hin nichts zu sehen, als das unendliche Meer!

Nach Norden dagegen zeigte das Plateau eine Ausdehnung, die nicht abzuschätzen war, weil dessen Grenze verdeckt lag. Deshalb ließ sich nicht beurtheilen, ob es auch dort mit einer steilen, nach dem Meere zu gewendeten Wand ausliefe, und ob man bis zu seinem Rande vordringen müsse, um den Meereshorizont sehen zu können.

[373] Wie enttäuschend wirkte dieses Bild auf die Armen, die hier ein fruchtbares, grünendes, bewaldetes Land zu finden gehofft hatten! Ueberall dieselbe trostlose Unfruchtbarkeit wie an der Schildkrötenbucht, die, wenn auch ebenso unfruchtbar, doch minder traurig aussah, da sie hier und da mit Moos bewachsene Stellen aufwies und an ihrem Rande wenigstens einige Seepflanzen vorkamen. Nach Sonnenauf-und -untergang zu spähte man vergeblich nach einem Festlande oder einer Insel... alles deutete hier auf ein vereinzelt liegendes Eiland hin.

Daß das Meer im Norden nicht sichtbar war, lag an der mehrere Lieues betragenden Ausdehnung des Plateaus. Diese Strecke mußte jedenfalls noch überwunden werden, um sich über die Größe und Gestaltung des ganzen Eilandes zu vergewissern.

Gegenüber diesem Schwinden ihrer letzten Hoffnung sprach jetzt keiner auch nur ein einziges Wort. Da die schreckliche Einöde nicht die geringsten Hilfsquellen versprach, blieb kaum etwas anderes übrig, als wieder nach dem Hohlweg umzukehren, den bis her bewohnten Strand mit der Grotte aufzusuchen und sich in dieser für die langen Wintermonate so gut wie möglich in der Erwartung einzurichten, daß doch einmal noch Hilfe von außen kommen werde.

Es war jetzt um die fünfte Stunde, und da es bald zu dunkeln drohte, war keine Zeit mehr zu verlieren. Ging der Abstieg voraussichtlich auch schneller von statten, als der Aufstieg, so mußte der Weg in der Finsterniß jedenfalls mehr Hindernisse bieten.

Da nun der nördliche Theil des Plateaus noch zu besichtigen war, entstand die Frage, ob das wohl geschehen solle, so lange es heute noch Tag war, oder sollte man sich gar zu einer Uebernachtung zwischen den auf dem Plateau verstreut liegenden Felsblöcken entschließen? Das zweite erschien nicht rathsam, denn wo wäre hier bei einem Umschlag des Wetters Schutz zu finden gewesen? Die Vorsicht verlangte eine sofortige Rückkehr.

Da trat Fritz mit einem vermittelnden Vorschlage hervor.

»Meine liebste Jenny, sagte er, Franz mag Dich mit Doll, Frau Wolston und dem Kleinen nach der Grotte zurückgeleiten. Ihr könnt die Nacht hier nicht zubringen. Der Kapitän Gould, John Block und ich, wir werden allein zurückbleiben und morgen, sobald es hell wird, die Besichtigung vollenden.«

Jenny antwortete zunächst nicht, während Suzan und Doll einen fragenden Blick auf sie richteten.

[374] – Fritz hat mit seinem Vorschlage völlig recht, erklärte Franz, und was hätten wir übrigens zu erwarten, wenn wir alle hier verweilten?«

Jenny schwieg noch immer. Ihre Blicke schweiften über das endlose Meer an drei Vierteln des Horizontes. Vielleicht spähte sie nach einem Schiffe aus, dessen Lichter draußen auf dem Meere aufleuchten könnten...

Schon versank die Sonne schnell hinter den Wolken, die der Wind von Norden her zusammentrieb, und es bedurfte mindestens eines zweistündigen Marsches, inmitten tiefer Finsterniß, die Schildkrötenbucht zu erreichen.

Noch einmal nahm Fritz das Wort.

»Jenny ich bitte Dich... gehe!... Der morgende Tag wird für unsere Nachforschung ausreichen. Gegen Abend sind wir jedenfalls wieder bei Euch. Haben wir dann Ursache, hierher zurückzukehren, so wird es ohne Zögern geschehen.«

Jenny blickte zum letztenmale nach allen Seiten hinaus. Schon hatten sich alle zum Aufbrechen bereit erhoben. Der getreue Albatros flatterte von Felsblock zu Felsblock, während andere Vögel, wie Möven, Seeschwalben und Trauerenten, in den Vertiefungen des Steilufers kreischend ihr Nest aufsuchten.

Die junge Frau erkannte, daß sie dem Rathe ihres Gatten folgen müsse.

»Wir wollen gehen, erklärte sie, wenn auch ungern.

– Also vorwärts!« mahnte Franz.

Da sprang plötzlich der Steuermann mit einem Satz auf, krümmte die Hand wie zu einem Schalltrichter zusammen und horchte gespannt nach Norden hinaus.

Stark gedämpft durch eine weite Entfernung war ein kurzer Donner zu hören.

»Hurrah... ein Kanonenschuß!« rief John Block.

26. Capitel
Sechsundzwanzigstes Capitel.
Keiner will von der Stelle weichen. – Die Nacht auf dem Plateau. – Auf dem Wege nach Norden. – Die Fahnenstange. – Die britischen Farben. – Der Nebelschleier. – Ein Ausruf Fritzens.

Regungslos, das Herz vor Erregung fast gelähmt und die Augen starr nach Norden gerichtet, lauschten alle und wagten kaum Athem zu holen. Sollten sie nur in einer Täuschung befangen sein?... Nein... das war nicht anzunehmen. [375] Von fernher ertönten noch einige Schüsse, deren Krachen der schwache Wind hierher trug.

»Das ist ein Schiff, das draußen vor jener Küste vorbeisegelt! begann endlich Harry Gould.

– Gewiß, der Geschützdonner kann nur von einem solchen herrühren, und wenn es erst völlig dunkel ist, können wir vielleicht gar seine Positionslichter erkennen.

– Ja, warum sollten jene Kanonenschüsse, fiel Jenny ein, nicht ebenso gut vom Lande herrühren können?

– Vom Lande, liebe Jenny, antwortete Fritz. Da müßte sich also doch Land in der Nähe dieser Insel finden?

– Ich glaube weit mehr, daß dort im Norden ein Schiff hinfährt, wiederholte der Kapitän Gould.

– Wozu hätte es dann aber Kanonenschüsse abgegeben? fragte James.

– In der That... wozu jene Schüsse?« wiederholte Jenny.

Hielt man die Ansicht des Kapitäns für richtig, so mußte man auch annehmen, daß das betreffende Schiff von der Küste nicht sehr weit entfernt sein könnte. Vielleicht waren, wenn es erst ganz dunkel wurde, auch der Feuerschein der Geschützentladung und schließlich auch noch seine Positionslichter zu erkennen. Da der vernommene Kanonendonner von Norden her kam, war es erklärlich, daß das Schiff selbst nicht sichtbar war, da man nach dieser Seite hin ja auch das Meer nicht sehen konnte.

Jetzt war nun keine Rede mehr davon, wieder nach dem Hohlwege und nach der Schildkrötenbucht umzukehren. Wie das Wetter sich auch gestalten mochte, wollten doch alle bis zum Tagesanbruch an Ort und Stelle bleiben. Steuerte ein Schiff freilich im Osten oder Westen vorbei, so war es des Mangels an Holz wegen leider unmöglich, auf der Höhe des Steilufers ein Feuer zu entzünden, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen.

Jedenfalls hatten die entfernten Detonationen aber alle, die sie hier vernahmen, bis zum tiefsten Innern erregt, machten sie doch den Eindruck, als ob sie die Verlassenen wieder mit ihresgleichen verknüpften, als ob dieses Eiland jetzt minder vereinsamt im großen Meere läge.


Es war mehr ein Gemsenklettern, als eine Fußwanderung. (S. 381.)

Da empfanden alle das unwiderstehliche Verlangen, sich über die möglichen Folgen dieses Zwischenfalles für ihre endliche Erlösung auszusprechen. Gern wären sie auch, ohne erst den nächsten Tag abzuwarten, bis an das Ende [376] des Plateaus vorgedrungen, um nach Norden hin den Theil des Meeres, von wo aus der Schall der Schüsse gekommen war, übersehen zu können. Der Abend sank aber schon herab, es mußte sehr bald Nacht werden, eine Nacht ohne Mond und Sterne, und noch mehr verdunkelt durch die Wolken, die der Wind nach Süden trieb. Wie hätten sie sich aber in der Finsterniß zwischen das Felsengewirr hineinwagen können? Was am Tage schon ziemlich schwierig war, mußte ja in der Nacht ganz unausführbar sein. Damit trat denn an jeden die Aufgabe heran, sich hier, so gut es anging, einzurichten. Nach mancher vergeb [377] lichen Bemühung entdeckte der Obersteuermann endlich einen Schlupfwinkel, einen etwas geschützten Raum zwischen zwei Felsblöcken, wo Jenny, Doll, Suzan und der kleine Knabe wenigstens Unterkommen finden konnten, wenn es hier auch an seinem Sand oder einer Schicht trockenen Tangs, sich darauf auszustrecken, gebrach. Doch gleichviel, bot die Stelle doch Schutz gegen den Wind, im Falle daß dieser wieder auffrischte, und selbst nothdürftig gegen Regen, wenn die Wolken sich in dieser Höhe öffnen sollten.

Zunächst wurde nun der Proviant hervorgeholt und jeder aß mit vortrefflichem Appetit. Eßvorrath war ja für mehrere Tage vorhanden, so daß es wahrscheinlich nicht nöthig wurde, zu dessen Erneuerung zur Grotte zurückzukehren. Uebrigens war in Bezug der Ernährung, selbst in Erwartung einer Ueberwinterung an der Schildkrötenbucht, jede Besorgniß unbegründet.

Die Nacht war hereingebrochen... eine scheinbar endlose Nacht, deren lange Stunden niemand je vergaß, außer dem kleinen Bob, der im Arme seiner Mutter schlummerte. Rings herrschte tiefe Finsterniß, bei der die Lichter eines Schiffes gewiß mehrere Lieues weit zu erkennen gewesen wären.

Mit dem Kapitän Gould blieben auch die anderen Männer die ganze Zeit über wach. Ihre Blicke schweiften unablässig nach Osten, Süden und Westen, in der Hoffnung, daß dort irgend ein Schiff dahinsegle, freilich auch in der Befürchtung, daß es die hier Verlassenen doch nicht bemerken und erlösen werde. Wären sie jetzt in der Schildkrötenbucht gewesen, so hätten sie auf der Spitze des Vorberges ein Feuer angezündet. Hier war das unmöglich.

Kein Lichtschein blitzte vor dem Tagesgrauen auf, kein Knall unterbrach die Stille der Nacht, und nirgends war etwas von einem Schiff zu sehen.

Der Kapitän Gould, Fritz, Franz und der Obersteuermann fragten sich deshalb auch, ob sie sich doch nicht etwa getäuscht hätten, als sie für Geschützdonner hielten, was vielleicht von der Entladung eines fernen Gewitters herrührte.

»Nein, nein versicherte Fritz, das war von uns kein Irrthum. Dort, weit draußen im Norden, sind Kanonen abgefeuert worden.

– Ganz meine Meinung, sagte der Obersteuermann.

– Aus welchem Grunde wäre das aber geschehen? fragte James Wolston.

– Nun, es bedeutete einen Gruß oder geschah zur Vertheidigung, erklärte Fritz. Ich kenne wenigstens keine andere Veranlassung, bei der man sich der Geschütze bediente.

– Vielleicht, meinte Franz, haben dort gelandete Wilde die Insel angegriffen.

[378] – Jedenfalls, antwortete der Obersteuermann, rühren die Kanonenschüsse nicht von Wilden her.

– Demnach müßte das Eiland von Amerikanern oder Europäern bewohnt sein, sagte James.

– Das Eiland... ja, ist es denn wirklich ein Eiland? entgegnete der Kapitän Gould. Wissen wir denn, was dort draußen hinter dem Plateau liegt?... Befinden wir uns nicht etwa gar auf einer großen Insel?...

– Einer großen Insel in diesen Theile des Stillen Oceans? fragte Fritz. Auf welcher denn?... Ich wüßte keine...

– Ich bin der Ansicht, fiel der Obersteuermann ein – und er hatte wohl recht – daß es ganz nutzlos ist, hierüber lange zu reden. Wir wissen eben nicht, ob wir hier auf einem Eiland oder einer Insel des Stillen Oceans sind... damit Punktum! Noch ein wenig Geduld, bis es Tag wird, dann werden wir ja erfahren, wie es dort weiter nach Norden hin aussieht.

– Da sehen wir vielleicht vieles... vielleicht gar nichts. sagte James.

– Na, erwiderte der Obersteuermann, es ist auch schon etwas, darüber wenigstens klar zu sein.«

Gegen fünf Uhr zeigte sich das erste Morgengrauen. Am Horizonte im Osten stieg ein bleicher Schein heraus. Das Wetter war sehr still, der Wind hatte sich in der zweiten Hälfte der Nacht gänzlich gelegt. An die Stelle der von der Brise dahingetriebenen Wolken war jetzt ein Dunstschleier getreten, den die Sonne schließlich durchdrang. Der Luftkreis wurde allmählich klarer. Der scharf begrenzte feurige Schein im Osten breitete sich aus und wölbte sich über der Linie zwischen Himmel und Wasser. Endlich tauchte die glänzende Sonnenscheibe auf und warf lange Lichtstraßen auf die Oberfläche des Meeres.

Aller Blicke waren gespannt nach dem jetzt sichtbaren Theil des Oceans gerichtet.

Kein von der Windstille des Morgens festgehaltenes Schiff zeigte sich auf dem Meere.

In diesem Augenblicke kamen Jenny, Doll und Suzan Wolston mit ihrem Kinde an der Hand zum Kapitän Gould heran.

Der Albatros hüpfte mit leichtem Flügelschlag auf den Felsblöcken hin und her und entfernte sich zuweilen etwas weiter nach Norden zu, als ob er den Weg zeigen wollte.

»Sieht es nicht aus, als wollte er uns führen? meinte Jenny.

[379] – O, wir müssen ihm folgen, rief Doll.

– Nicht eher, als bis wir etwas genossen haben, antwortete Harry Gould. Vielleicht haben wir mehrere Stunden lang zu marschieren, und da empfiehlt es sich doch, erst einige Kräfte zu sammeln.«

Schnell wurde nun der Speisevorrath vertheilt. Alle brannten ja vor Ungeduld, und noch vor sieben Uhr befanden sie sich auf dem Wege nach Norden.

Das Vorwärtskommen zwischen den Felsen war höchst beschwerlich. Ueber die kleinen stieg man hinweg, die größeren mußten umgangen werden. Der Kapitän Gould und der Obersteuermann, die immer vorausgingen, zeigten den anderen die besten Wege. Jenen folgten Fritz, der Jenny, Franz, der Doll, und James, der Suzan und den kleinen Bob unterstützte. Nirgends zeigte der Boden eine Grasnarbe oder eine Sanddecke... überall nichts als ein Chaos von Steinen, wie ein weites Feld mit erratischen Blöcken oder mit sich kreuzenden Moränen. Hoch oben zogen wieder verschiedene Vögel, wie Fregattenvögel, Möven und Seeschwalben, dahin, und auch der Albatros erhob sich zuweilen zum Fluge.

So wanderten alle mit großer Anstrengung eine Stunde lang, in der sie, etwas ansteigend, kaum eine Lieue zurückgelegt hatten. Das Aussehen und die Natur des Plateaus zeigte keinerlei Veränderung.

Jetzt wurde es gebieterisch nöthig, einmal zum Ausruhen Halt zu machen.

Fritz erbot sich zwar, mit dem Kapitän und dem Obersteuermann gleich noch weiter vorzudringen, um den übrigen eine vielleicht nutzlose Bemühung zu ersparen.

Dieser Vorschlag wurde aber einstimmig verworfen; vielmehr sollte jede Trennung vermieden werden. Alle wollten zur Stelle sein, wenn sich das Meer im Norden zeigen würde... vorausgesetzt, daß das überhaupt geschah.

Gegen neun Uhr ging die Wanderung weiter. Der Nebel am Himmel mäßigte die Hitze der Sonne. In dieser Jahreszeit wäre sie sonst fast unerträglich gewesen auf dem Steinfelde, worauf deren Strahlen zu Mittag fast lothrecht herunterschoffen.

Das sich nach Norden zu verlängernde Plateau wurde auch in westöstlicher Richtung immer breiter, so daß das bis dahin in dieser Richtung sichtbar gebliebene Meer den Blicken bald entschwinden mußte. Im übrigen fand sich nirgends ein Baum, nirgends eine Spur von Pflanzen... überall dieselbe Dürre, dieselbe Verlassenheit. Weiter nach vorne zu zeigten sich da und dort kleinere [380] Bodenerhebungen. Um elf Uhr wurde aber der kahle Gipfel eines Bergkegels sichtbar. der diesen Theil des Plateaus um etwa dreihundert Fuß überragte.

»Dort... dort hinauf müssen wir gelangen! rief Jenny.

– Jawohl, antwortete Fritz, von dort aus werden wir einen sehr weiten Umkreis übersehen können. Vielleicht wird nur der Aufstieg sehr beschwerlich sein.«

Das war jedenfalls zu erwarten; alle waren aber so gespannt, endlich Aufklärung zu erhalten, daß niemand, trotz Mühen und Gefahren, hätte zurückbleiben wollen. Und doch, wer konnte wissen, ob die armen Leute nicht einer letzten Enttäuschung entgegengingen, die ihnen alle bisher bewahrte Hoffnung raubte!

Alle wendeten sich nun dem etwa dreiviertel Lieue entfernten Bergkegel zu. Wie beschwerlich war aber jeder Schritt, wie langsam kamen sie weiter durch die hunderte von Blöcken, die sie überklettern oder umkreisen mußten. Es war mehr ein Gemsenklettern, als eine Fußwanderung. Der Obersteuermann bestand darauf, Bob zu tragen, den seine Mutter ihm auch anvertraute. Fritz und Jenny, Franz und Doll, sowie James und Suzan hielten sich immer dicht zusammen, um einander bei gefährlichen Wegstellen helfen zu können.

So kam die zweite Nachmittagstunde heran, ehe sie den Fuß des Berges erreichten. Hier mußte nochmals Rast gemacht werden, denn sie hatten vom letzten Ruhepunkte aus immerhin fünfzehnhundert Toisen zurückgelegt.

Der Aufenthalt wurde nur kurz bemessen, und schon nach zwanzig Minuten begann der Aufstieg.

Der Kapitän Gould hatte beabsichtigt, eine Art Schlangenweg einzuschlagen, um einen zu steilen Aufstieg zu vermeiden, es zeigte sich indeß, daß der Bergfuß nicht gangbar war. Alles in allem handelte es sich ja doch nur darum, dreihundert Fuß hoch emporzuklimmen.

Zu Anfang fand dabei der Fuß zwischen Felsblöcken auf einem Boden mit dürftigem Pflanzenwuchs, mit Büscheln von Sandhafer, einen Stützpunkt, an dem man sich doch ein wenig anhalten konnte.

Eine halbe Stunde genügte, bis zur halben Höhe hinauszukommen. Da stieß Fritz, der den übrigen voran war, einen Schrei der Ueberraschung aus.

Alle blieben stehen und sahen nach ihm hin.

»Was ist denn das da?« sagte er, nach der obersten Spitze hinaufzeigend.

Dort ragte nämlich zwischen den letzten Felsstücken eine fünf bis sechs Faß lange Stange empor.

[381] »Sollte das der entblätterte Zweig eines Baumes sein? sagte Franz.

– Nein, das ist kein Zweig, erklärte der Kapitän Gould.

– Es ist ein Stock... eine Art Bergstock, versicherte Fritz, ein Stock, den man da oben eingesenkt...

– Und an dem man eine Flagge befestigt hat, setzte der Obersteuermann hinzu, denn die Flagge ist noch daran vorhanden!«

Eine Flagge auf dem Berggipfel!

Ja, eben entfaltete sich das Flaggentuch im leichten Winde, doch waren dessen Farben der Entfernung wegen noch nicht zu erkennen.

»Es giebt also doch Bewohner dieses Eilandes! rief Franz.

– Unzweifelhaft,... es ist bewohnt, meinte Jenny.

– Und wenn es doch nicht der Fall wäre, erklärte Fritz, so steht wenigstens das eine fest, daß bereits jemand davon Besitz genommen hat.

– Ja, welches Eiland ist es denn eigentlich? fragte James Wolston.

– Oder vielmehr, welche Flagge ist die da oben? setzte Harry Gould hinzu.

– Die britische! rief der Obersteuermann. Seht dort, das rothe Flaggentuch mit dem Unionyac in der oberen Ecke!«

Der Wind war ein wenig stärker geworden und hatte jetzt die britische Flagge völlig entfaltet.

Mit erneuten Kräften schwangen sich alle von einem Felsblock zum anderen. Hundertfünfzig Fuß trennten sie noch vom Gipfel; sie fühlten aber keine Anstrengung, dachten kaum daran, Athem zu schöpfen... immer stiegen sie, von einer übermenschlichen Kraft getrieben, nur höher, höher hinaus.

Gegen drei Uhr standen endlich der Kapitän Gould und seine Gefährten auf der Spitze des Bergkegels.

Doch nochmals erfuhren sie eine herbe Enttäuschung, als sie nach Norden hinausblickten. Ueber Sehweite hinaus lagerte ein dichter Nebel, der es unmöglich machte, zu erkennen, ob das Plateau hier ebenso wie an der Schildkrötenbucht mit einem steilen Abfalle endigte oder sich noch weiter hinaus fortsetzte. Durch den fast dunkeln Nebel war gar nichts zu erkennen. Ueber der Dunstschicht aber strahlte die schon nach Westen hinabsinkende Sonne noch in vollem Glanze.

Unter den gegebenen Umständen beschloß man, nöthigenfalls bis zum anderen Tage an Ort und Stelle auszuhalten und zu warten, bis der Wind einmal den Nebel verscheuchte. Entschieden wollte keiner umkehren, ohne den nördlichen Theil des Eilandes gesehen zu haben.

[382] Hier wehte ja die britische Flagge im Hauche der Brise, ein Zeichen, daß dieses Land gewiß schon einen bestimmten Namen führte, und daß es wahr scheinlich seiner geographischen Länge und Breite nach bereits auf den Seekarten eingetragen sei.

Die Kanonenschüsse am vorigen Abend konnten wohl ein zur Ehrung der Flagge abgegebener Salut gewesen sein; möglicherweise bot jener Theil der Küste auch eine Art Hafen zum Ausruhen und vielleicht ankerten jetzt ebenda gar einige Schiffe.

War das Land hier auch thatsächlich weiter nichts als ein Eiland, so war es doch nicht zu verwundern, daß Großbritannien davon Besitz genommen hätte, da jenes an der Grenze des Indischen und des Stillen Oceans lag. War es aber ein Theil eines Festlandes, so konnte es recht wohl zu den wenig bekannten Gebieten Australiens gehören, die sich an die unter britischer Herrschaft stehenden Strecken anschließen.

Wie erklärlich, dachte man an alle diese Möglichkeiten, malte sie aus und wog man ihre Wahrscheinlichkeit gegeneinander ab. denn mit der größten Ungeduld sah jeder dem Augenblicke entgegen, wo die Wahrheit an den Tag kommen sollte.

Da hörte man plötzlich den Schrei eines Vogels und darauf einen schnellen Flügelschlag.

Jennys Albatros war es, der davonflog und über der Nebelschicht hin sich nach Norden zu entfernte.

Wohin begab sich der Vogel?... Vielleicht nach einer fernen Küste?...

Sein Davoneilen erweckte allgemein ein Gefühl der Traurigkeit und selbst der Angst... es erschien allen wie ein Abschied für immer...

Die Zeit verstrich, das nur wenig anhaltende Wehen eines leichten Windes konnte den Nebel nicht verscheuchen, der in großen Wolken um den Faß des Kegels wogte. Es schien wirklich, als sollte die Nacht herankommen, ohne daß sich der nördliche Horizont den Blicken gezeigt hätte.

Doch nein, alle Hoffnung sollte noch nicht verloren sein. Als die Dunstmassen sich zu senken begannen, konnte Fritz erkennen, daß der Bergkegel kein Steilufer, sondern einen sanft abfallenden Boden überragte, der wahrscheinlich bis zum Meere in gleicher Abdachung verlief.

Als dann der Wind mehr zunahm, so daß das Flaggentuch sich spannte, konnte man die Böschung bequem hundert Faß weit übersehen.

[383] Sie bildete keine Anhäufung von Felsblöcken, sondern die Flanke einer Art Höhenzuges und zeigte sogar einigen Pflanzenwuchs, einen Anblick, den die armen Verlassenen seit so vielen Monaten entbehrt hatten.

Wie freudig betrachteten alle die weiten, grünenden Flächen, die Gebüsche, Aloěs, Mastixbäume und die Myrthenbäume, die sich da und dort erhoben. Jetzt wollte niemand mehr warten, bis der Nebel sich zerstreute, alle drängte es, vor Einbruch der Dunkelheit nach dem jenseitigen Fuße des Berges zu kommen.

Und siehe da!... acht- bis neunhundert Fuß weiter unten tauchten durch die Risse in dem Nebelschleier die Wipfel eines Waldes auf, der sich mehrere Lieues weit ausdehnte; darauf folgte eine fruchtbare Ebene mit vereinzelten Gesträuchen und Baumgruppen und offenen Feldstücken nebst umfänglichen Wiesen mit mehreren Wasserläufen, deren bedeutendster nach einer Einbuchtung im Osten strömte.

Im Osten und im Westen reichte das Meer überall bis zum Horizonte hinaus. Nur im Norden blieb es verdeckt; allem Anscheine nach war das Land hier also kein Eiland, sondern eine Insel, eine ziemlich große Insel!

Weit draußen hoben sich vom Himmel noch undeutlich die Linien eines von Osten nach Westen verlaufenden Felsenrückens ab. War das der Saum einer Küste?

»Vorwärts... brechen wir auf! rief Fritz.

– Ja... ohne Zögern vorwärts! drängte auch Franz. Wir können noch vor der Nacht unten sein!

– Und diese verbringen wir unter dem Schutze der Bäume,« setzte der Kapitän Gould hinzu.

Jenny ging auf Fritz zu mit dem Ersuchen, nun ja nicht länger zu zögern, als der Nebel sich eben auflöste. Der Ocean zeigte sich in seiner Unendlichkeit in einer Entfernung, die wohl sieben bis acht Lieues betragen mochte.

Eine Insel... das Land war seiner Größe nach wirklich eine Insel!

Man konnte jetzt erkennen, daß die nördliche Küste drei Buchten von verschiedener Ausdehnung bildete, von denen die größte im Nordwesten, die mittlere im Norden und die kleinste, die aber am tiefsten ins Land einschnitt, im Nordosten lag. Der in diese führende Meeresarm endigte in zwei. weit draußen aufsteigenden Caps, deren eines sich an ein ziemlich hohes Vorgebirge anschloß.

[384] Ein Land war aber auch nach Norden zu nicht zu sehen und kein Segel blähte sich auf dem Meere.

Blickte man nach Süden hin, so zeigte sich die Aussicht in etwa zwei Lieues Entfernung durch den Kamm des Steilufers abgeschlossen, das die Schildkrötenbucht umrahmte.

Welch ein Unterschied aber zwischen der unfruchtbaren, öden Landstrecke, die der Kapitän Gould und die anderen eben durchmessen hatten, und dem Bilde, das sich hier vor ihren Augen aufthat! Ueberall fruchtbares, abwechslungsreiches [385] Land mit Wäldern und offenen Ebenen, überall mit der üppigen Vegetation der Tropenzonen. Nirgends aber war ein Dorf, ein Weiler oder auch nur eine einzige Wohnstätte zu sehen.

Da entrang sich Fritz ein Schrei, ein Aufschrei der Erlösung, den er nicht zurückzuhalten vermochte, während seine Arme sich nach Norden hin ausstreckten:


An der weißlichen Asche erkannte man... (S. 389.)

»Die Neue Schweiz!...

– Ja, die Neue Schweiz! rief jetzt auch Franz.

– Die Neue Schweiz! wiederholten Jenny und Doll mit einer vor Erregung halberstickten Stimme.

Vor ihnen, jenseit jenes Waldes, jenseit jener Wiesengründe, erkannten sie den felsigen Wall als die Höhe, von der aus die Schlucht der Cluse nach dem Grünthal Eingang gewährte. Hinter diesem aber lag das Gelobte Land mit seinen Gehölzen, seinen Meiereien und dem Schakalbache. Dort draußen erhob sich Falkenhorst zwischen den mächtigen Mangobäumen, dort lag Felsenheim im Schutze seiner grünenden Einfriedigung. Die Bucht zur Linken war die Perlenbucht, in weiter Ferne erhob sich, gleich einem schwärzlichen Kegel, der von vulcanischen Dämpfen gekrönte Rauchende Fels, ferner zeigte sich die Nautilusbai, von der aus das Cap der Getäuschten Hoffnung hinausragte, und endlich die von dem Haifischeiland beschützte Rettungsbucht. Die Kanonenschüsse von gestern mochten also wohl von der Batterie dieses Eilandes abgegeben worden sein, da ein Schiff weder in der Bucht, noch auf offenem Meere zu erblicken war.

Und von unaussprechlicher Freude erfüllt, hochklopfenden Herzens und die Augen von Thränen der Dankbarkeit überströmt, vereinten sich alle in dem Gebete, das Franz dem gütigen Himmel darbrachte.

27. Capitel
Siebenundzwanzigstes Capitel.
Eine Grotte am Fuße des Bergrückens. – Rückblick auf die Vergangenheit. – Durch den Wald. – Fang einer Antilope. – Der Montrose-Fluß. – Das Grünthal. – Der Hohlweg der Cluse. – Eine Nacht in der Einsiedelei Eberfurt.

Die Grotte, worin Herr Wolston, Ernst und Jack vor vier Monaten bei Gelegenheit ihres Ausfluges nach der Bergkette übernachtet hatten, am Tage vorher, wo die englische Flagge auf dem Gipfel des Pic Jean Zermatt gehißt [386] worden war, widerhallte heute von der berechtigtsten Freude, von der lebhaftesten Bewegung. Lauter Jubel überall. Wenn heute Nacht keiner einen ruhigen Schlummer fand, so lag die Ursache dieser Schaflosigkeit nicht in bösen, beängstigenden Träumen, sondern in der geistigen Aufregung, in dem Wirbel der Gedanken, den die letzten Vorfälle erzeugt hatten.

Nachdem sie dem Schöpfer den innigsten Dank dargebracht hatten, wollten der Kapitän Gould, Fritz, Franz, James, der Obersteuermann, Jenny, Doll und Suzan Wolston keine Minute länger auf dem Berggipfel verweilen. Zwei Stunden waren noch übrig, ehe es dunkel wurde, und diese Zeit mußte genügen, bis zum Fuße der Bergkette zu gelangen.

»Es müßte merkwürdig zugehen, bemerkte Fritz, wenn wir dort nicht eine Aushöhlung fänden, die genügend groß wäre, uns alle aufzunehmen...

– Wenn aber nicht, fiel Franz ein, so schlafen wir dort unter den Bäumen... unter Bäumen der Neuen Schweiz... der Neuen Schweiz!«

Franz konnte sich nicht enthalten, den theueren, von allen gesegneten Namen zu wiederholen.

»Sagen Sie mir ihn auch einmal, liebe Doll, fuhr er fort, damit ich ihn noch einmal höre...

– Ja, der Neuen Schweiz! rief das junge Mädchen, deren Augen vor Freude erglänzten.

– Der Neuen Schweiz!« wiederholte auch Jenny, die ihrem Fritz die Hand drückte.

Selbst von dem kleinen Bob ertönte das Wort gleich einem Echo, wofür ihm mancher Kuß als Belohnung zutheil wurde.

»Liebe Freunde, begann jetzt der Kapitän Gould, wollen wir noch hinabsteigen und bis nach jenen Bergen gehen, so ist keine Zeit mehr zu verlieren.

– Und wie steht's mit dem Essen, fragte John Block, mit der Besorgung des unterwegs nöthigen Proviantes?

– Binnen achtundvierzig Stunden sind wir in Felsenheim, versicherte Franz.

– Und auf den Ebenen der Neuen Schweiz giebt es ja Wild in Ueberfluß, setzte Fritz hinzu.

– Was nützt uns das, da wir keine Gewehre haben, fragte der Kapitän Gould So gewandt Fritz und Franz auch sein mögen, glaub' ich doch nicht, daß, wenn sie sich nur so stellen, als ob sie schießen wollten...

[387] – Bah! fiel ihm Fritz ins Wort, wir haben doch flinke Beine! Das werden Sie schon noch sehen, Herr Kapitän! Morgen vor der Mittagsstunde haben wir gutes, richtiges Fleisch an Stelle des Schildkrötenfleisches...

– Fritz, sprich mir nichts schlechtes über die Schildkröten, bat Jenny, und wenn es nur aus Dankbarkeit wäre...

– Ja, Du hast recht, liebes Frauchen; doch vorwärts nun! Bob will nicht länger mehr hier bleiben; nicht wahr, Bob?

– Nein, nein, antwortete das Kind, wenn Papa und Mama mitkommen...

– Natürlich kommen sie mit, versicherte Jenny, und sie werden nicht die letzten im Zuge sein.

– Vorwärts... zum Aufbruch!...«

Alle riefen es wie aus einem Munde.

»Sapperment, sagte der Obersteuermann schalkhaften Tones, wenn man nun bedenkt, daß wir da unten... weiter südlich... ein schönes Strandgebiet haben, wo es von Schildkröten und Muschelthieren wimmelt, dazu eine prächtige Grotte mit allen Vorräthen für mehrere Wochen... in dieser Grotte die molligsten Lager auf sauberem Tang... und jetzt, jetzt sollen wir das alles im Stiche lassen...

– Oho, wir kehren schon noch einmal zurück, um unsere Schätze zu holen, verlprach Fritz.

– Ja... aber wann... fuhr John Block fort.

– Will Er gleich schweigen, verwünschter Block! befahl Harry Gould scherzend.

– Ich bin ja schon mäuschenstill, Herr Kapitän, und möchte nur noch zwei Worte sagen.

– Die wären?...

– Vorwärts marsch!«

Seiner Gewohnheit entsprechend, setzte sich Fritz an die Spitze. Die übrigen gruppirten sich in der hergebrachten Weise. Ohne Schwierigkeiten gelangten sie über den Abhang des Kegels zum Fuße der Bergkette hinab. Ein glücklicher Instinct, ein wirklicher Orientirungssinn hatte sie geleitet, denselben Weg einzuschlagen, dem Herr Wolston, Ernst und Jack früher gefolgt waren, und dabei erreichten sie noch vor acht Uhr den Saum des großen Tannenwaldes.

Durch einen glücklichen Zufall – warum darüber erstaunen, wo sich jetzt alles zu ihrem Besten zu gestalten schien? – entdeckte der Obersteuermann auch[388] die Grotte, in der Herr Wolston und die beiden Brüder Unterkunft gefunden hatten. Daß sie etwas beschränkt war, bekümmerte niemand, wenn sie nur für Jenny, Doll, Suzan und den kleinen Bob ausreichte, die Männer waren gern bereit, unter freiem Himmel zu übernachten. An der weißlichen Asche einer Feuerstatt erkannte man übrigens, daß sich hier schon früher jemand aufgehalten hatte.

Vielleicht waren also der ältere Zermatt mit Herrn Wolston, Ernst und Jack, vielleicht auch die Frauen mit ihnen, durch diesen Wald gewandert, hatten den Kegel erklommen und darauf die britische Flagge aufgepflanzt. Und wenn die einen auf dem Wege etwa voraus waren und die anderen zurückblieben, hatten sie sich hier recht gut wieder treffen können.

Nach dem Abendessen und als der kleine Bob in einer Ecke der Grotte eingeschlummert war, entwickelte sich, trotz der Mühsale des Tages, noch ein lebhaftes Gespräch über die Erlebnisse auf der »Flag«.

In den acht Tagen, wo der Kapitän Gould, der Obersteuermann, Fritz, Franz und James eingesperrt gewesen waren, mußte das Schiff nach Norden zu gesegelt sein. Das war jedenfalls nur die Folge widriger Winde, denn Borupt und der Mannschaft lag sicherlich viel daran, nach dem fernen Gebiete des Pacifischen Oceans zu entkommen. War das nicht gelungen, so lag die Schuld dafür gewiß nur am Wetter. Alles deutete darauf hin, daß die »Flag« mehr nach dem Indischen Ocean und in die Nähe der Neuen Schweiz verschlagen worden war. Mit Berücksichtigung der verflossenen Zeit und der Fahrtrichtung, als die Schaluppe ausgesetzt worden war, ließ sich ohne Irrthum annehmen, daß Harry Gould und seine Gefährten sich an jenem Tage vielleicht kaum hundert Lieues weit von der Insel befunden hatten, von der sie sich weit mehr entfernt glaubten, da die Schaluppe damals ja schon nach acht Tagen die Neue Schweiz erreicht hatte.

Freilich erfolgte die Landung an dem Theile der Südküste, den Fritz und Franz noch nicht kannten, hinter der Bergkette, die sie zum erstenmale beim Heraustreten aus dem Grünthale gesehen hatten. Wer hätte auch ahnen können, daß hinsichlich der Natur des Bodens und seiner Erzeugnisse zwischen der reichen Gegend im Norden des Bergrückens und dem trostlos öden Plateau von dem Kegelberge aus bis hinab zum Meere ein se greller Unterschied bestehen könnte?

Jetzt erklärte sich auch das Erscheinen des Albatrosses auf der Rückseite des Steilufers. Nach der Abfahrt Jenny Montrose's mochte der Vogel wohl nach[389] dem Rauchenden Felsen zurückgekehrt sein, von dem er zuweilen nach der Neuen Schweiz hinüberflog, ohne je bei Falkenhorst oder Felsenheim aufzutauchen. Welch großen Antheil hatte das Thier aber an der Rettung der Verlassenen! Ihm verdankten diese ja die Entdeckung der zweiten Grotte, wohin ihm der kleine Bob gefolgt war, und ferner die der Schlucht und des Hohlweges der auf dem Plateau des Steilufers ausmündete.

Das war die Verkettung der Umstände, die Reihenfolge der Thatsachen, woraus die dankbaren Herzen das Walten der gütigen Vorsehung erkannten. Uebrigens hatten sie, trotz aller Prüfungen und allen Unglückes, ja sogar gegenüber der Befürchtung, in der Grotte überwintern zu müssen, niemals das Vertrauen auf Gottes Hilfe verloren.

Das Gespräch dehnte sich begreiflicherweise sehr lange aus. Endlich überwältigte alle aber doch die Müdigkeit und sie verbrachten die letzten Nachtstunden in tiefem Schlafe. Am frühen Morgen und nach einem schnell eingenommenen Imbiß machten sie sich in heiterer und erwartungsvoller Stimmung wieder auf den Weg.

Nach den Ueberbleibseln der Feuerstätte in der Grotte fand die kleine Gesellschaft, als sie durch den Wald dahinzog, noch weitere Spuren. Die niedergetretenen Streifen im Grase und die da und dort abgebrochenen Zweige rührten jedenfalls von vorübergekommenen Raubthieren oder Wiederkäuern her, daneben zeigten sich aber auch mehrfach Spuren eines Lagers, über die man sich nicht täuschen konnte.

»Und wer anders als mein Vater, meine Brüder und Herr Wolston, bemerkte Fritz, hätte die Flagge auf jenem Gipfel anbringen sollen?

– Wenigstens wenn sie sich nicht von allein da aufgepflanzt hat! antwortete lachend der Obersteuermann.

– Das wäre von einer englischen Flagge auch kein besonderes Wunder, fuhr Franz im nämlichen Tone fort, denn es giebt gerade Orte genug, wo sie von selbst aus dem Boden gewachsen zu sein scheint!«

Der Kapitän Gould mußte über diese drolligen Bemerkungen unwillkürlich lächeln. Trotz aller vegetativen Eigenschaften, die der britischen Flagge zukommen mögen, unterlag es doch keinem Zweifel, daß die auf dem Gipfel von Menschenhand gehißt worden war. Der ältere Zermatt und die Seinen hatten also einen Ausflug nach den Bergen, und zwar auf dem kürzesten Wege ausgeführt, und es erschien als das einfachste, ihren Spuren zu folgen.

[390] Von Fritz geführt, stiegen die anderen die ersten Abhänge hinab, die theilweise vom Walde bedeckt waren.

Daß besondere Schwierigkeiten zu überwinden oder auf dem Wege zwischen der Bergkette und dem Gelobten Lande noch Gefahren zu bestehen wären, erschien kaum annehmbar.

Die Entfernung zwischen diesen beiden Punkten mochte der Schätzung nach acht Lieues betragen. Bei einer Tagesleistung von vier Lieues, unterbrochen durch eine zweistündige Mittagsrast und ausreichende Nachtruhe, mußte es möglich sein, am Abende des folgenden Tages den Hohlweg der Cluse zu erreichen.

Von hier aus nach Felsenheim oder Falkenhorst zu kommen, war dann nur noch die Sache von einigen Stunden.

»O, sagte Franz, hätten wir hier nur unsere beiden wackeren Büffel, Sturm und Brummer, oder Rasch, Fritzens Onagre, oder auch Brausewind, Jacks schnellfüßigen Strauß, so brauchten wir nicht einen vollen Tag, um Felsenheim zu erreichen.

– Nun ja, bemerkte Jenny scherzend, Franz wird doch vergessen haben, den Brief zur Post zu geben, worin wir baten, uns die Thiere entgegenzuschicken.

– Wie, Franz, Du? fuhr Fritz in komischem Ernste fort, Du, ein so überlegter, ein so aufmerksamer junger Mann?...

– Ach nein, entgegnete Franz, Jenny hat nur vergessen, eine Meldung an den Fuß ihres Albatrosses zu heften, ehe dieser davonflog!

– Wie unbesonnen von mir! antwortete die junge Frau.

– O, meinte Doll, es ist doch gar nicht ausgemacht, daß der Bote die Meldung an die richtige Adresse abgeliefert hätte.

– Ja, wer weiß? antwortete Franz. Jetzt erleben wir ja ein Wunder nach dem anderen.

– Recht schön und gut, schloß der Kapitän Gould, da wir jedoch weder auf Sturm und Brummer, noch auf Rasch und Brausewind rechnen können, ist es am besten, wir verlassen uns einfach auf uns selbst...

– Und machen etwas lange Beine,« vollendete Block den Satz.

Jetzt wurde der Marsch fortgesetzt, erst zu Mittag sollte wieder Halt gemacht werden. Von Zeit zu Zeit lösten sich James, Franz und der Obersteuermann ab, Bob zu tragen, obwohl das Kind unbedingt laufen wollte. Die Durchschreitung des Waldes erfuhr also keine Verzögerung.

[391] Unterwegs konnten James und Suzan Wolston, die von den Wundern der Neuen Schweiz noch nichts kannten, gar nicht genug erstaunen über die Ueppigkeit der Vegetation, die die am Cap der Guten Hoffnung bei weitem übertraf.

Und doch befanden sie sich jetzt erst in dem sich völlig selbst überlassenen Theile der Insel, dessen Entwicklung noch keine Menschenhand beeinflußt hatte. Was würden sie erst sehen, wenn sie die cultivirten Theile des Landes, die Meiereien der Einsiedelei Eberfurt, die von Zuckertop, Waldegg und des Prospect-Hill, des reichen Gebietes des Gelobten Landes besuchten!

Jagdwild, wie Agutis, Bisam- und Wasserschweine, Antilopen und Kaninchen, doch auch Trappen, Rebhühner, Auerhähne, Hasel- und Perlhühner nebst Enten gab es in Ueberfluß. Fritz und Franz hatten gewiß Ursache zu bedauern, daß ihnen jetzt die Jagdflinten fehlten. Ja, wenn nur Braun und Falb oder selbst der alte Türk hier bei ihnen gewesen wären! Selbst wenn Fritzens Adler nicht verendet wäre und seinen Herrn jetzt begleitet hätte, würde dieser wohl bald ein halbes Dutzend schmackhafte Hühner zur Strecke gebracht haben. Da die Wasser- und Bisamschweine und die Agutis aber jeder Annäherung auszuweichen wußten, verliefen auf dem ersten Theile der Wanderung alle Versache, ein solches Thier zu fangen, ganz erfolglos, und voraussichtlich mußte bei der nächsten Mahlzeit der noch vorhandene letzte Mundvorrath verzehrt werden.

Da ereignete sich ein glücklicher Zwischenfall, der die Nahrungsfrage recht befriedigend löste.

Gegen elf Uhr gab der vorausmarschirende Fritz ein Zeichen, nahe einer kleinen Waldblöße Halt zu machen. Durch diese schlängelte sich ein Rio, an dessen Ufer ein ziemlich großes Thier eben seinen Durst löschte.

Es war eine Antilope, und welch gesundes, kräftigendes Fleisch mußte man haben, wenn es gelang, sich des Wiederkäuers durch irgend ein Mittel zu bemächtigen.

Am einfachsten erschien es, die kleine Lichtung unbemerkt zu umstellen, die Antilope, wenn sie weiter laufen wollte, selbst auf die Gefahr hin, mit deren Hörnern unliebsame Bekanntschaft zu machen, abzufangen, sie zu überwältigen und zu tödten.


Es war eine Antilope. (S. 392.)

Das schwierigste hierbei war es nur, diese Einschließung auszuführen, ohne die Aufmerksamkeit des mit so scharfem Gesicht, seinem Gehör und empfindlichem Geruche ausgestatteten Thieres zu erwecken.

[392] Während Jenny, Doll, Suzan und Bob hinter einem Busche versteckt blieben begannen Fritz, Franz, James, der Kapitän Gould und der Obersteuermann, die freilich keine andere Waffe als ihre Taschenmesser besaßen, die Lichtung, sich möglichst verborgen haltend, einzukreisen.

Die Antilope trank noch immer aus dem Bache, ohne irgendwie Beunruhigung zu zeigen, als Fritz plötzlich mit lautem Aufschrei nach der Lichtung vorstürmte.

Sofort richtete das Thier sich auf, streckte den Hals weit vor und lief auf das Dickicht zu, wo es wohl mit einem Sprunge über das Buschwerk hinwegsetzen konnte [393] An der Stelle, wohin es sich wendete, standen Franz und der Obersteuermann, das Messer in der Hand. Konnten sie es nicht hindern, über ihren Kopf wegzuspringen, so war die Antilope sicherlich bald weit entflohen.

Das Thier sprang auf, jedenfalls aber mit ungenügendem Anlauf, denn es fiel vorzeitig herunter, riß dabei den Obersteuermann um und suchte sich wieder zu erheben und nach dem Walde zu entweichen, wo an dessen Einfangen nicht mehr zu denken war.

Da war aber Fritz schon zur Stelle, dem es, sich auf die Antilope stürzend, gelang, ihr das Messer in die Seite zu bohren. Dieser Stoß hätte aber noch nicht genügt, wenn Harry Gould nicht den Hals des Thieres mit dem Messer getroffen hätte.

Damit war das Thier regungslos inmitten der Zweige hingestreckt, während der Obersteuermann sich etwas schwerfällig wieder aufrichtete.

»Verwünschtes Vieh! rief John Block, der nicht ohne einige Verletzungen davongekommen war. Ich habe in meinem Leben doch schon so manchen Wasserschwall ins Gesicht bekommen, doch niemals einen, der mich über den Haufen geworfen hätte!«

James, Jenny, Doll und Suzan kamen eben herzugelaufen.

»Ich hoffe, Ihr seit nicht ernstlich verletzt, Block? fragte Harry Gould.

– Nein... ein paar Schrunden... so etwas zählt nicht, Herr Kapitän. Unangenehm und sogar beschämend ist nur, auf solche Weise einen dummen Purzelbaum geschlagen zu haben.

– Nun, fiel Jenny ein, als Schmerzensgeld soll Ihnen das beste Stück zukommen.

– Nein, Frau Zermatt, nein, ich ziehe das vor, das mich zu Boden geworfen hat, und da das der Kopf des Thieres war, so möchte ich auch seinen Kopf verzehren!«

Nun ging man daran, die Antilope auszuweiden, und die eßbaren Stücke abzuschneiden. Da jetzt die Ernährung der Wanderer bis zum morgigen Abend hinreichend gesichert war, brauchte sich vor der Ankunft im Hohlwege der Cluse niemand darum weitere Sorge zu machen.

Fritz und Franz brauchten es nicht erst zu lernen, wie man ein beliebiges Stück Wild zurichtet. Sie hatten sich das theoretisch und praktisch in den zwölf Jahren, wo sie auf den Feldern und in den Waldungen des Gelobten Landes dem Waidwerk obgelegen hatten, gründlich zu eigen gemacht. Auch der Obersteuermann [394] erwies sich bei dieser Arbeit nicht ungeschickt. Ihm schien es besonderes Vergnügen zu gewähren, sich an dem Thiere damit, daß er ihm das Fell abzog, rächen zu können. In weniger als einer Viertelstunde waren die Keulen, die Rippenstücke und andere schmackhafte Theile fertig, auf der Gluth geschmort zu werden.

Da schon die Mittagsstunde nahte, empfahl es sich, gleich auf der Lichtung Halt zu machen, zumal da der Rio hier frisches, klares Wasser lieferte. Harry Gould und James entzündeten ein Feuer von dürrem Holz am Fuße eines Mangobaumes. Als dieses zu glimmenden Kohlen heruntergebrannt war, legte Fritz die besten Stücke von der Antilope darauf, überließ es aber Suzan und Doll, das Braten zu überwachen.

Durch glücklichen Zufall fand Jenny auch eine Menge Wurzeln, die sich in der Asche rösten ließen, und die, da sie den hungrigen Magen zu füllen versprachen, das Frühstück gewiß recht angenehm vervollständigten.

Uebrigens giebt es kaum etwas schmackhafteres, als das zarte Fleisch der Antilope, das überall als hervorragender Leckerbissen gilt.

»Das ist ja herrlich, rief John Block, einmal wieder ein rechtschaffenes Stück Fleisch zu essen, das früher stolz einhergewandert, aber nicht schwerfällig auf der Erde dahingekrochen war!

– Nichts schlechtes reden von den Schildkröten, sagte mahnend der Kapitän, und wäre es auch, um die Vorzüge der Antilope zu preisen!

– Herr Gould hat recht, stimmte Jenny zu. Was wäre denn aus uns geworden ohne die vortrefflichen Thiere, die uns seit der Ankunft auf der Insel genährt haben?

– Na, meinethalben. Also: die Schildkröten leben hoch! Dafür geben Sie mir nun aber ein drittes Rippenstückchen.«

Nach Beendigung des stärkenden Mahles ging es wieder vorwärts, denn es war keine Stunde zu verlieren, wenn am Nachmittage die in Aussicht genommene Wegstrecke, von vier Lieues für den Tag, noch zurückgelegt werden sollte.

Wären Fritz und Franz hier allein gewesen, so hätten sie nach keiner Müdigkeit gefragt und sich, ohne Rast und Ruh' auch die Nacht hindurch wandernd, nach dem Hohlweg der Cluse aufgemacht. Vielleicht war ihnen auch ein solcher Gedanke gekommen, der verführerisches genug an sich hatte, da sie dann schon am Nachmittage des nächsten Tages in Felsenheim angelangt wären. Sie wagten aber gar nicht den Vorschlag, vorausgehen zu wollen, da sie wußten, daß sie [395] doch niemand ziehen lassen würde. Uebrigens war jedenfalls die Freude noch größer, wenn alle zusammen an dem ersehnten Ziele eintrafen und sich in die Arme der Eltern und Freunde stürzten, die schon so lange auf sie gewartet und vielleicht verzweifelt hatten, sie je wieder zu sehen. Welche Aufregung, welchen Jubel mußte es geben, wenn sie alle ausriefen:

»Da sind wir!... Da sind wir!«

Die zweite Wegstrecke verlief ganz ebenso wie die erste und unter Schonung der Kräfte Jennys, Dolls und Suzan Wolston's.

Alles ging ohne Zwischenfall ab, und gegen vier Uhr Nachmittags war der Saum des Waldes erreicht.

Von diesem aus lag eine fruchtbare Landschaft vor ihnen. Ihren Pflanzenwuchs verdankte sie allein der Treibkraft des Erdbodens... Hier üppige Wiesen, dort Waldmassen oder Baumgruppen, die sich bis zum Eingange des Grünthales fortsetzten.

In der Ferne trabte eine Gesellschaft von Hirschen und von Damwild vorüber. Ihnen nachzustellen, war natürlich ganz ausgeschlossen. Dann zeigten sich wieder Trupps von zahlreichen Straußen, deren Erscheinen Fritz und Franz an ihren Ausflug in die Umgebung des Araberthurms erinnerte.

Ebenso tauchten mehrere Elephanten auf; sie trotteten ruhigen Schrittes durch dichtes Gestrüpp, welch verlangende Blicke hätte ihnen aber Jack, wenn er jetzt hier war, zugeworfen!

»Warum sollte es, sagte Fritz, in unserer Abwesenheit Jack nicht gelungen sein, einen Elephanten zu fangen, ihn zu zähmen und ihn abzurichten, wie wir es ja mit Sturm, Brummer und Leichtfuß gethan haben?

– Das ist wohl möglich, mein Lieber, antwortete Jenny. Nach vierzehnmonatiger Abwesenheit läßt sich ja so manches Neue in der Neuen Schweiz erwarten...

– In unserem zweiten Vaterlande! sagte Franz.

– Ich sehe es schon, rief Doll, es wird jetzt noch andere Wohnstätten, andere Meiereien, vielleicht gar ein ganzes Dorf aufzuweisen haben.

– O, meinte der Obersteuermann, ich wäre schon mit dem zufrieden, was wir hier vor uns sehen, und ich kann kaum glauben, daß es auf Ihrer Insel ein herrlicheres Stück Land als dieses hier gäbe.

– Das ist noch gar nichts gegen das Gelobte Land, Herr Block, versicherte Doll.

[396] – Nichts, bestätigte Jenny, und wenn Herr Zermatt ihm diesen biblischen Namen gegeben hat, so hatte es ihn reichlich verdient, und wir werden, begünstigter als die alten Hebräer, das gesegnete Kanaan betreten.«

John Block mußte wohl die Ueberzeugung gewinnen. daß diese Lobsprüche keineswegs übertrieben seien.

Um sechs Uhr ließ Fritz für die Nacht Halt machen, wenn es ihm auch, wie seinem Bruder, große Ueberwindung kostete, da beide so gern noch bis zum Grünthal weitergewandert wären.

Zu dieser Jahreszeit drohte kaum ein Umschlag des Wetters und die Kälte war auch nicht zu fürchten. Im Gegentheil hatten der Kapitän Gould und alle übrigen am Tage weit mehr von der Wärme gelitten, wenigstens, trotz der schützenden Bäume, um die Mittagsstunde. Weiterhin hatten einige verstreute Gehölze gestattet, im Schatten zu marschiren, ohne dabei besonders von der geraden Richtung abzuweichen und eine Verspätung zu erfahren.

Von den flackernden Flammen eines Feuers aus trockenen Zweigen wurde das Abendessen in gleicher Weise zubereitet, wie am Mittag. Diese Nacht konnte zwar niemand in einer Grotte zubringen, bei der herrschenden Müdigkeit fand aber doch jeder den Schlaf.

Vorsichtshalber wollten Fritz, Franz und der Obersteuermann abwechselnd wachen. Als es dunkel wurde, ertönte von fernher dumpfes Gebrüll und erinnerte daran, daß auf diesem Theile der Insel verschiedene Raubthiere hausten.

Am nächsten Tage erfolgte der Aufbruch mit dem Morgenrothe. Der Engpaß der Cluse mußte mit der zweiten Etappe erreicht werden können, wenn die Strecke bis dahin, auf der sich vielfach frische Fährten zeigten, keine besonderen Hindernisse bot.

Die Wanderung ging nun wirklich ebenso unbehelligt von statten, wie am Tage vorher. Um die Sonnenstrahlen zu vermeiden, schlug man nur den Weg von Gehölz zu Gehölz ein.

Nach dem Mittagsmahle am Ufer eines schnellfließenden, neun bis zehn Toisen breiten Flusses, der nach Norden hin verlief, brauchte man nur dessen linkem Ufer zu folgen.

Weder Fritz noch Franz kannte diesen Wasserlauf, da ihre Ausflüge sie früher noch nie bis zum mittleren Theil der Insel geführt hatten. Sie ahnten natürlich auch nicht, daß dieser bereits einen Namen erhalten hatte, daß er [397] der Montrose-Fluß hieß, und ebensowenig kannten sie den neuen Namen des Pic Zermatt, auf dem die britische Flagge wehte. Wie erfreut mußte erst Jenny sein, wenn sie erfuhr, daß dieser Wasserlauf, einer der bedeutendsten der Neuen Schweiz, den Namen ihrer Familie trug!

Nach einer Stunde Weges verließen die Wanderer den ziemlich schroff nach Osten abbiegenden Montrose, und zwei Stunden später betraten die wie gewöhnlich vorauseilenden Fritz und Franz zuerst wieder eine ihnen schon bekannte Gegend.

»Das Grünthal!« riefen sie und begleiteten ihren Ruf mit freudigem Hurrah.

Thatsächlich lag das Grünthal vor ihnen und sie brauchten darin nur bis zu der Palissadenwand, die das Gelobte Land abschloß, vorzudringen, um an den Engpaß der Cluse zu gelangen.

Jetzt hätte keine Rücksicht, nicht Hunger und nicht Erschöpfung, weder die einen noch die anderen aufzuhalten vermocht. Alle folgten trotz des holperigen Weges Fritz und Franz mit schnellen Schritten. Es war als würden sie mächtig vorwärts getrieben angesichts des Zieles, das sie kaum je noch zu erreichen gehofft hatten.

O, wenn jetzt durch besonders glücklichen Zufall die Herren Zermatt und Wolston in der Einsiedelei von Eberfurt wären, wenn deren Familien sie, wie in der schönen Jahreszeit so häufig, dahin begleitet hätten...

Doch das wäre, wie man zu sagen pflegt, »des Glückes allzuviel« gewesen, und selbst John Block wollte darauf nicht hoffen.

Jetzt zeigte sich das nordwestliche Ende des Grünthals zwischen seinen Felsenwänden, und Fritz drang nach dem Hohlweg vor.

Die Pfähle an dessen Eingange standen noch fest in den Spalten des steinigen Bodens, fest genug, auch den kräftigsten Vierfüßlern zu widerstehen.

»Da... unser Thor! rief Fritz.

– Ja, sagte Jenny, das Thor unseres Gelobten Landes, wo alle die weilen, die wir lieben!«

Jetzt galt es nur, einen der breiten Pfähle auszuheben, was in wenigen Minuten geschehen war.

Endlich betrat man den Engpaß, und jeder hatte das Gefühl, als ob er »nach Hause« zurückkehrte, in die Heimat, von der man sich noch vor drei Tagen um viele hundert Lieues entfernt glaubte.

[398] Fritz, Franz und John Block setzten den Pfahl wieder in seine Vertiefung ein, um Raubthieren und Dickhäutern keinen Eingang frei zu lassen.

Gegen halb acht Uhr brach mit der den Tropenzonen eigenen Schnelligkeit die Nacht herein, als Fritz und die übrigen gerade bei der Einsiedelei von Ebenfurt eintrafen.

In der Meierei befand sich niemand, und wenn man das bedauerte, so war es doch nicht zu verwundern.

Das Häuschen hier zeigte sich gut erhalten. Nachdem Thür und Fenster geöffnet worden waren, richtete man sich zu einer letzten Rast ein, die nur etwa zehn Stunden dauern sollte.

Die Wohnung befand sich – der ältere Zermatt hielt stets darauf – in dem Zustande, die beiden Familien bei ihren mehrfachen Besuchen in jedem Jahre bequem aufnehmen zu können. Jenny, Doll, Suzan, der kleine Bob und der Kapitän Gould erhielten die vorhandenen Lagerstätten angewiesen, der mit trockenem Grase bedeckte Erdboden des Schuppens genügte den anderen für die letzte Nacht, die ihrer Rückkehr noch vorausging.

Eberfurt war übrigens stets mit Mundvorrath für eine Woche versorgt.

Jenny brauchte also nur die großen Weidenkörbe zu öffnen, die Conserven verschiedener Art, Sago, Cassavebrod oder Maniokmehl und eingesalzenes Fleisch und geräucherte Fische enthielten. Um sich Obst, wie Feigen, Mandeln, Bananen, Birnen oder Aepfel, zu beschaffen, bedurfte es nur weniger Schritte, solches von den Bäumen zu pflücken, und ebenso bequem war Gemüse aus dem Küchengarten zu holen.

Selbstverständlich waren Küche und Speisezimmer mit allem nothwendigen Geräth ausgestattet. Bald loderte ein tüchtiges Feuer auf dem Herde auf und stand der Kochtopf auf dem Dreifuße darüber. Das nöthige Wasser wurde einer Ableitung des Ostflusses entnommen, die den Behälter der Meierei speiste. Zur großen Befriedigung gereichte es endlich allen, sich an einigen Glas Palmwein aus den im Keller lagernden Fäßchen erquicken zu können.

»Sapperlot, rief der Obersteuermann jubelnd, wir sind auch lange genug auf schmale Wassercur gesetzt gewesen!

– Wir werden Ihnen auch tüchtig zutrinken, lieber Block, sagte Fritz.

– O, so viel Sie wollen, antwortete der Obersteuermann. Es giebt doch gar nichts schöneres, als sich mit einem Schluck guten Weines gegenseitig auf seine Gesundheit zuzutrinken!

[399] – Und auch, bemerkte Franz, auf das Glück, unsere Eltern und unsere Freunde in Falkenhorst oder Felsenheim wiederzusehen!«

Beim Klange der Gläser ertönten somit drei Hurrahs zu Ehren der Familien Zermatt und Wolston.

»Wahrhaftig, erklärte John Block, es giebt in England und auch anderswo so manches Gasthaus, das sich mit dem der Einsiedelei Eberfurt nicht messen kann.

– Und dazu, wackerer Block, antwortete Fritz, vergessen Sie nicht, daß hier der Unterhalt nichts kostet!«

Nach dem frohen Mahle begaben sich Jenny, Doll, Suzan und das Kind in dem einen, der Kapitän Gould in dem anderen Zimmer, und Fritz, Franz, James und der Obersteuermann unter dem Schuppen zur Ruhe, deren sie nach der langen Wanderung gar sehr bedurften.

Die Nacht verlief unter den besten Umständen und alle schliefen tief und ununterbrochen bis zum Aufgang der Sonne.

28. Capitel
Achtundzwanzigstes Capitel.
Abmarsch nach Falkenhorst. – Der Canal. – Beunruhigung. – Der verwüstete Hof. – Die Wohnung in der Luft. – Auf dem Gipfel des Baumes. – Verzweiflung. – Eine Rauchsäule über Felsenheim. – Achtung!

Am folgenden Tage um sieben Uhr früh, nach einem letzten Mahle aus den Ueberbleibseln des gestrigen, und einen Abschiedstrunk – ein Glas Palmwein – nicht zu vergessen, verließen Fritz und die übrigen die Einsiedelei von Eberfurt.

Bei ihrer Ungeduld nahmen sie sich vor, die drei Lieues bis zur Meierei Falkenhorst in weniger als drei Stunden zurückzulegen.

Nicht ohne Grund hatte Fritz beschlossen, jetzt zunächst diese Anlage aufzusuchen.

Wohl gab es noch einen zweiten Weg, den, der nach der Farm von Waldegg an der Spitze des Schwanensees führte, doch dieser war etwas länger. Am richtigsten war es, in gerader Linie nach Falkenhorst zu wandern und [400] dann nach Felsenheim die schöne Allee zu benützen, die nahe der Küste bis zur Mündung des Schakalbaches hinführte.

»Es ist immerhin möglich, meinte Fritz, daß unsere Familien gerade jetzt ihr »Luftschloß« bezogen hätten.


Das Mobiliar war hier durcheinander geschoben. (S. 405.)

– O, wenn das der Fall ist, mein Schatz, sagte Jenny, werden wir die Freude haben, sie früher als erwartet umarmen zu können...

– Und vielleicht noch eher, fiel Doll ein, wenn uns das Glück bescheert wäre, ihnen unterwegs zu begegnen...

[401] – Vorausgesetzt, daß sie nicht in der Sommerwohnung des Prospect-Hill weilen, bemerkte Franz. Dann würden wir bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung hinausgehen müssen.

– Ist das nicht dasselbe Cap, fragte Kapitän Gould, von wo aus Herr Zermatt dem Wiedereintreffen der »Licorne« entgegensehen kann?

– Ganz recht, dasselbe, antwortete Fritz, und da die Corvette ihre Reparaturen ohne Zweifel längst beendet hat, muß sie sehr bald in Sicht der Insel auftauchen.

– Na ja... so oder so..., fiel der Obersteuermann ein, ich meine, das beste, was wir thun können, ist doch: schleunigst aufzubrechen. Finden wir niemand in Felsenheim, so geht's nach dem Prospect-Hill oder sonstwohin... aber vorwärts!«

Fehlte es in Eberfurt nicht an Küchengeräthen und landwirthschaftlichen Werkzeugen, so hatte Fritz hier doch vergeblich nach Feuerwaffen und Munition gesucht. Wenn sein Vater und seine Brüder nach dieser Meierei kamen, nahmen sie nämlich ihre Gewehre wohl mit, ließen sie aber aus Vorsicht niemals da zurück.

Bei einer Wanderung durch das Gebiet des Gelobten Landes war übrigens, seitdem Tigern, Löwen und Panthern der Zutritt nach dem Engpaß der Cluse versperrt war, eigentlich gar nichts zu fürchten. Jedenfalls drohten hier weit weniger Gefahren, als auf der Strecke zwischen dem Pic Zermatt und dem Grünthale.

Ein fahrbarer Pfad – wie häufig hatte ihn der mit den Büffeln und dem Onagre bespannte Wagen schon eingeebnet – verlief zwischen im besten Wachsthum stehenden Feldstücken und in üppigem Grün prangenden Gehölzen. Das allseitige Gedeihen ergötzte den Blick. Der Kapitän Gould und der Obersteuermann, sowie James und Suzan Wolston, die diese Gegend zum erstenmale sahen, waren ganz entzückt davon. Ja, hier war Raum für Colonisten, hier hätten von solchen schon Hunderte, wie auf der ganzen Insel Tausende, ihren reichlichen Unterhalt gefunden.

Nach anderthalbstündiger Wanderung, ungefähr in der Mitte zwischen der Einsiedelei von Eberfurt und Falkenhorst, machte Fritz für kurze Zeit Halt an einem Wasserlaufe, dessen Vorhandensein in diesem Theile des Gebiets er noch nicht kannte.

»Siehe da... etwas neues! sagte er.

[402] – Ja, wirklich, antwortete Jenny, ich entsinne mich wenigstens keines Wasserlaufes in dieser Gegend.

– Dieser Rio scheint mir aber eher ein Canal zu sein!« bemerkte der Kapitän Gould.

In der That war es ein von Menschenhand gegrabener Canal.

»Sie haben recht, Kapitän, erklärte Fritz. Herr Wolston wird den Gedanken gehabt haben, einen Theil des Schakalbaches abzuleiten, um damit den Schwanensee zu speisen und darin einen, auch in der warmen Jahreszeit gleichbleibenden Wasserstand zu schaffen, der dann eine Bewässerung der Umgebung von Waldegg ermöglichte.«

Fritz täuschte sich, wie der Leser weiß, hiermit nicht.

»Ja ja, fuhr Franz fort, das kann nur Ihr Vater gewesen sein... Ihr Vater, meine liebe Doll, dem dieser Gedanke gekommen und von dem er ausgeführt worden ist.«

Franz täuschte sich bekanntlich ebensowenig.

»Oh, meinte Doll, da wird wohl Ihr Bruder Ernst auch sein Theil daran gehabt haben.

– Ohne Zweifel... unser gelehrter Ernst, bestätigte Fritz.

– Doch warum nicht auch der unerschrockene Jack... und auch Herr Zermatt selbst? fragte der Kapitän Gould.

– Also die ganze Familie! rief Jenny lachend.

– Oder vielmehr die beiden Familien, die jetzt doch nur eine einzige bilden!« erwiderte Fritz..

Da ließ der Obersteuermann wieder, seiner Gewohnheit gemäß, eine sehr treffende Bemerkung fallen:

»Haben der oder die, die diesen Canal ausgehoben haben, ein rühmliches Werk gethan, so verdienen alle Anerkennung, doch auch der oder die, die durch Anlegung einer Brücke dessen Ueberschreitung ermöglichten. Gehen wir also hinüber und dann weiter!«

Nach Ueberschreitung der kleinen Brücke gelangte man nach dem dichter bewaldeten Theil des Gebietes, aus dem der Rio hervorbrach, der in der Nähe von Falkenhorst etwas unterhalb des Walfischeilandes mündete.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß hier erwähnt werden, daß Fritz und Franz schon gespannten Ohres lauschten, ob sie nicht ein entferntes Bellen oder den Knall einer Flinte vernähmen. Was trieb denn nur Jack, [403] der leidenschaftliche Jäger, wenn er an einem so herrlichen Morgen zu jagen vergaß? Wild zeigte sich ja hier überall, floh durch die Dickichte oder flatterte von Baum zu Baum. Hätten die zwei Brüder nur Gewehre zur Hand gehabt, jetzt würden sie manche Doublette gemacht haben. Sie meinten, Haar- und Federwild sei hier im Gebiete noch niemals so zahlreich vorgekommen, und ihre Begleiter kamen aus dem Erstaunen darüber fast gar nicht heraus.

Doch außer dem Zwitschern der kleinen Vögel hörte man nur den Schrei von Rebhühnern und Trappen, das Schwatzen von Papageien und zuweilen das Gebell von Schakalen, doch niemals mischte sich der Knall einer Feuerwaffe oder die Stimme eines Hundes unter diese Laute.

Falkenhorst lag freilich noch eine gute Lieue weit entfernt, und außerdem war ja nicht ausgeschlossen, daß die beiden Familien jetzt noch in Felsenheim wohnten.

Jenseit des Falkenhorster Baches brauchte man nur dessen rechtem Ufer bis zum Saume des Waldes nachzugehen, wo sich am anderen Ende der riesige Mangobaum erhob, dessen untere Aeste die Wohnung in der Luft trugen. Eine halbe Stunde mußte hinreichen, den Wald in seiner ganzen Länge zu durchmessen.

Höchstwahrscheinlich befand sich jetzt weder das Zermatt'sche Ehepaar, noch Ernst und Jack, weder Herr Wolston, noch seine Gattin oder seine Tochter in Falkenhorst. Es schien unmöglich, daß ihre Anwesenheit nicht schon irgendwie verrathen worden wäre, denn sollten Türk, Braun und Falb wirklich ihre jungen Herren dann nicht bereits gewittert haben? Hätten sie nicht durch freudiges Gebell die Rückkehr der so lange Abwesenden gemeldet?

Tiefe Stille herrschte unter den Bäumen... eine Stille, die sogar etwas beklemmendes an sich hatte. Als Fritz Jenny ansah, las er in deren Augen ein Gefühl von Angst, die bisher doch nichts rechtfertigte. Franz lief, eine Beute einer auffälligen Nervosität, wieder holt vorwärts und zurück. Alle empfanden eine merkwürdige Bedrückung. Binnen zehn Minuten sollten sie in Falkenhorst sein... binnen zehn Minuten, war das nicht so gut, als ob sie bereits dort wären?

»Voraussichtlich, begann der Obersteuermann, der die allgemeine Niedergeschlagenheit bekämpfen wollte, werden wir einfach noch durch Ihre schöne Allee bis Felsenheim zu wandern haben. Der Verzug von einer Stunde... das ist alles... und was bedeutet das nach einer so langen Abwesenheit?«

[404] Alle schritten schneller dahin. Sehr bald zeigte sich der Waldesrand und dann der riesige Mangobaum inmitten des Hofes mit seiner Palissade. um die sich noch eine lebende Hecke hinzog.

Fritz und Franz stürmten nach der in der Hecke angebrachten Thür.

Diese Thür stand offen, und man erkannte sogar, daß sie halb aus ihren Angeln gerissen war.

Die beiden Brüder drangen in den Hof ein und blieben an dem Wasserbassin in der Mitte stehen.

Die Wohnung war verlassen.

Aus dem Geflügelhofe und den der Palissade anliegenden Ställen ertönte kein Laut, obgleich diese in der Sommerzeit gewöhnlich von Kühen, Schafen und verschiedenen Hühnerarten belebt waren. In den Schuppen lagen allerlei Gegenstände, Kasten, Körbe und Ackergeräthe in einer Unordnung umher, die mit der peinlichen Sorgsamkeit der Frau Zermatt und der Frau Wolston nebst ihrer Tochter bestimmt nicht zu vereinigen war.

Franz eilte nach den Stallungen.

Sie enthielten nichts als einige Bündel Heu in den Trögen und Krippen.

Sollten nun die Thiere wohl die Pforte der Einfriedigung gesprengt haben?... Irrten sie draußen auf dem Lande umher?... Nein, in der Umgebung von Falkenhorst war wenigstens nichts zu sehen gewesen. Nun konnten sie zwar aus dem oder jenem Grunde in den anderen Farmen mit untergebracht worden sein, doch das erklärte die hier herrschende Unordnung auch noch nicht.

Die Meierei Falkenhorst enthielt bekanntlich zwei Wohnungen, die eine zwischen den Aesten des Mangobaumes und die andere zwischen den mächtigen Wurzeln am Fuße des Stammes. Darüber lag, hergestellt aus Bambusstämmen, die das mit getheertem Moose bedeckte Dach bildeten, eine Art Terrasse mit Geländer. Diese Terrasse bedeckte wieder mehrere Einzelräume, die durch Scheidewände auf den Wurzeln getrennt und geräumig genug waren, den beiden Familien Unterkunft zu gewähren.

In dieser ersten Wohnung war es ebenso still, wie auf dem Hofe.

»Kommt mit hinein!« rief Fritz mit bebender Stimme.

Alle folgten ihm, stießen aber sofort einen Schrei aus... einen Schrei, da sie kein Wort hervorzubringen vermochten.

Das Mobiliar war hier durcheinander geschoben, Tische und Stühle umgestürzt, Kisten und Kasten erbrochen, der Inhalt an Wäsche lag auf der Erde [405] und die Werkzeuge waren in alle Winkel geschleudert. Man hätte sagen können, daß hier nur aus Lust am Plündern geplündert worden wäre. Von den Vorräthen an Nahrungsmitteln, die gewöhnlich in Falkenhorst gehalten wurden, war nichts mehr übrig, auf dem Futterboden kein Heu mehr, im Keller die Wein-, Bier- und Liqueurfäßchen leer. Nirgends eine Waffe, mit einziger Ausnahme einer geladenen Pistole, die der Obersteuermann aufhob und in seinen Gürtel steckte. Gewöhnlich waren doch für die Dauer der Jagdzeit Karabiner und Flinten immer in Falkenhorst zurückgelassen worden.

Fritz, Franz, Jenny und alle übrigen standen sprachlos vor diesem unerwarteten Anblick und fragten sich, ob es in Felsenheim, in Waldegg, Zuckertop und auf dem Prospect-Hill wohl ebenso traurig aussehen möge. Sollte von den verschiedenen Meiereien die der Einsiedelei von Eberfurt allein von den Plünderern verschont geblieben sein, und wer waren denn eigentlich diese Raubgesellen?

»Liebe Freunde, begann endlich der Kapitän Gould, hier hat sich ein Unglück ereignet, und doch ist es, vielleicht nicht so groß, wie Ihr es zu fürchten scheint.«

Niemand gab eine Antwort, und was hätte Fritz, Franz oder Jenny gegenüber dieser traurigen Verwüstung sagen sollen? Nachdem sie nun freudigen Herzens den Fuß auf das Gelobte Land gesetzt hatten, was fanden sie da in Falkenhorst?... Nichts als eine Ruine und die Verlassenheit!

Was mochte denn vorgefallen sein? War die Neue Schweiz etwa überfallen worden von einer Rotte jener frechen Seeräuber, die damals so zahlreich im Indischen Ocean hausten, wo die Andamaneninseln und die Nicobarengruppe ihnen sicheres Versteck boten? Hatten die Familien zur Zeit Felsenheim verlassen, sich nach einem anderen Theil des Gebietes zurückziehen oder gar von der Insel flüchten müssen? Waren sie jenen Piraten in die Hände gefallen oder bei dem Versuche, sich zu vertheidigen, gar umgekommen?

Daneben fragte es sich doch auch noch, ob die Vorgänge hier einige Monate, einige Wochen oder nur einige Tage zurücklägen, und ob es vielleicht möglich gewesen wäre, sie zu verhindern, wenn die »Licorne« in der verabredeten Zeit hier eingetroffen wäre.

Jenny hatte die größte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten, während Suzan und Doll leise schluchzten. Franz wollte schon hinausstürmen, seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder zu suchen, und Fritz mußte ihn mit Gewalt zurückhalten. Harry Gould und der Obersteuermann, die wiederholt hinausgingen, um die nächste [406] Umgebung der Palissaden zu besichtigen, waren wieder in das Zimmer gekommen, ohne etwas gesehen oder gehört zu haben, was zu weiterer Aufklärung hätte dienen können.

Ein Entschluß mußte jetzt aber unbedingt gefaßt und vor allem entschieden werden, ob man in Falkenhorst bleiben und hier die Entwicklung der Dinge abwarten, oder nach Felsenheim gehen sollte, ohne zu wissen, wie es dort aussah. Sollte vielleicht eine Recognoscirung ausgeführt werden, während Jenny, Doll und Suzan Wolston unter dem Schutze James Wolston's zurückblieben, indeß Fritz, Franz, Harry Gould und John Block, entweder längs der Küstenallee oder quer durch Wald und Feld, auf Auskundschaftung auszogen?

Jedenfalls mußte der jetzigen Ungewißheit ein Ende gemacht werden, selbst wenn die nackte Wahrheit jeden Schimmer von Hoffnung auslöschte.

Fritz glaubte bestimmt der allgemein herrschenden Empfindung Ausdruck zu geben, als er sagte:

»Wir wollen versuchen, nach Felsenheim vorzudringen...

– Und sofort aufbrechen, rief Franz.

– Ich begleite Sie beide, erklärte der Kapitän Gould.

– Und ich ebenfalls, setzte John Block hinzu.

– Gut, gut antwortete Fritz, James muß aber bei Jenny, Doll und Suzan zurückbleiben, die sich in Falkenhorst oben in Sicherheit bringen mögen...

– Zuerst wollen wir einmal alle hinausgehen, schlug John Block vor, von da oben aus ist vielleicht eher etwas zu sehen...«.

Dieser Versuch erschien wohl rathsam, ehe sich jemand als Kundschafter hinauswagte.

Von der Wohnung in den Aesten und vorzüglich vom Wipfel des Mangobaumes aus, mußte man einen Theil des Gelobten Landes, ferner im Osten das Meer und auf gut drei Lieues weit die Uferstrecke zwischen der Rettungsbucht und dem Cap der Getäuschten Hoffnung übersehen können.

»Hinauf, hinauf!« antwortete Fritz auf den Vorschlag des alten Seemanns. Im voraus ließ sich ja annehmen, daß die zwischen den Aesten des Baumes schwebende und von dem dichten Laube des Mangobaumes versteckte Wohnstätte von der Verwüstung verschont geblieben sei. Die Thür, die den Zugang nach der im Innern des Stammes hinausführenden Treppe vermittelte, zeigte keine Spuren äußerer Gewalt, vielleicht infolge ihrer etwas verborgenen Lage im letzten Zimmer.

[407] Franz versuchte die noch verschlossene Thür zu öffnen und sprengte das Schloß, dessen Riegel heraussprang.

In wenigen Augenblicken waren alle die durch einige Oeffnungen im Stamme erleuchtete Treppe hinausgeeilt und betraten den kreisförmigen Balcon, der hinter einem Laubvorhänge sehr gut verborgen lag.

Als Fritz und Franz die Plattform erreichten, drangen sie sofort in das nächste Zimmer ein.

Weder dieses noch eines der angrenzenden zeigte eine Spur von Unordnung, die Lagerstätten waren unberührt, die Möbel standen an ihrem Platze. Das bewies also, daß das alte »Nest des Falken« unversehrt geblieben war, und das lag offenbar daran, daß die Plünderer die untere Thür nicht entdeckt hatten. Was die, wie gesagt, zwischen den Aesten des Mangobaumes angelegte Wohnstätte betraf, war sie jetzt von dem, im Laufe von zwölf Jahren immer dichter gewordenen Laubwerk so vollständig umgeben, daß sie niemand weder vom Hofe darunter noch vom Saume des benachbarten Waldes aus wahrnehmen konnte.

Binnen einer Minute hatte Jenny, der sich Doll und Suzan anschlossen, alle Räumlichkeiten besichtigt, die ihr ja so wohlbekannt waren, da sie hier mit der übrigen Familie oft genug geweilt hatte..

Alles machte wirklich den Eindruck, als hätten Frau Zermatt und Frau Wolston hier noch gestern ihres Amtes gewaltet. Da fanden sich an gedörrtem Fleisch, an Mehl, Reis, Conserven und Getränken Vorräthe für eine volle Woche, wie solche gewöhnlich in Falkenhorst, doch ebenso in den anderen Meiereien, denen von Waldegg, der Einsiedelei von Eberfurt, des Prospect-Hill und von Zuckertop, zurückgelassen wurden.

Sobald sie nach dem Balcon wieder zurückgekommen waren, erkletterten Fritz und der Obersteuermann die oberen Aeste des Mangobaumes, um einen erweiterten Ausblick zu gewinnen.

Augenblicklich dachte natürlich niemand aus Essen oder Trinken. Alle beschäftigte, alle bekümmerte die Verlassenheit, die – jetzt in der Sommerzeit – in Falkenhorst herrschte, und die greuliche Verwüstung, wofür die Anlagen unten im Hofe so unwidersprechlich zeugten.

Nach Norden hin erstreckte sich die Küstenlinie, die das Cap der Getäuschten Hoffnung an dem Hügel, wo sich der Prospect-Hill erhob, abschloß. Nach dieser Richtung hin wurde der Ausblick aber durch Waldmassen beschränkt und reichte [408] [412]Niemand wagte dem Kapitän Gould eine Antwort zu geben. Besonders schwerwiegend war der Umstand, daß Felsenheim jetzt unbewohnt zu sein schien, wenigstens sah man nirgends eine Rauchsäule über die Bäume des Gartens emporwirbeln.


»Den Beweis liefert der Umstand, daß die Flagge noch auf der Haifischinsel wacht!« (S. 413.)

Harry Gould äußerte noch den Gedanken, daß die beiden Familien die Neue Schweiz vielleicht freiwillig verlassen hätten, da die »Licorne« zur berechneten Zeit nicht wieder erschienen war.

»Ja... aber wie denn? fragte Fritz, der sich gern an eine solche Hoffnung geklammert hätte.

– Nun, auf einem Schiffe, das hierher gekommen war, antwortete Harry Gould, entweder auf einem von denen, die aus England hierher gesendet waren, oder auf einem, das der Zufall nach den Gewässern der Insel geführt hatte.«

Eine solche Erklärung war ja einigermaßen annehmbar, trotz der sehr ernsten Gründe, die unter den vorliegenden Umständen gegen eine Räumung der Neuen Schweiz sprachen.

Darum sagte auch Fritz:

»Hier ist kein Zögern statthaft... vorwärts, wir müssen Klarheit haben!

– Vorwärts!« wiederholte Franz.

Doch als Fritz sich schon zum Hinuntergehen anschickte, hielt Jenny ihn plötzlich zurück.

»Da... eine Rauchwolke... ich glaube Rauch zu sehen, der über Felsenheim aufsteigt!«

Fritz ergriff das Fernrohr, richtete es nach Süden und hielt das Auge gut eine Minute lang an dessen Oculare.

Jenny hatte recht. Ein sich allmählich verdichtender Rauch, der jetzt deutlicher erkennbar wurde, entstieg dem Laubgewölbe der Steinwand, die Felsenheim an der Rückseite abschloß.

»Sie sind dort... sie sind dort... rief Franz, und wir, wir sollten schon seit einer Stunde bei ihnen sein!«

Die Behauptung des jungen Mannes wurde von niemand angezweifelt. Alle hatten ein so großes Bedürfniß, wieder einige Hoffnung zu schöpfen, daß sie alles andere vergaßen, ebenso die Verlassenheit hier um Falkenhorst, wie die Plünderung des Hofes, das Fehlen der Hausthiere, die Leere der Stallungen und die Verwüstung der Zimmer am Fuße des Mangobaumes. Wenigstens der Kapitän Gould und John Block gewannen jedoch bald die nüchterne Ueberlegung

Niemand wagte dem Kapitän Gould eine Antwort zu geben. Besonders schwerwiegend war der Umstand, daß Felsenheim jetzt unbewohnt zu sein schien, wenigstens sah man nirgends eine Rauchsäule über die Bäume des Gartens emporwirbeln.

Harry Gould äußerte noch den Gedanken, daß die beiden Familien die Neue Schweiz vielleicht freiwillig verlassen hätten, da die »Licorne« zur berechneten Zeit nicht wieder erschienen war.

»Ja... aber wie denn? fragte Fritz, der sich gern an eine solche Hoffnung geklammert hätte.

– Nun, auf einem Schiffe, das hierher gekommen war, antwortete Harry Gould, entweder auf einem von denen, die aus England hierher gesendet waren, oder auf einem, das der Zufall nach den Gewässern der Insel geführt hatte.«

Eine solche Erklärung war ja einigermaßen annehmbar, trotz der sehr ernsten Gründe, die unter den vorliegenden Umständen gegen eine Räumung der Neuen Schweiz sprachen.

Darum sagte auch Fritz:

»Hier ist kein Zögern statthaft... vorwärts, wir müssen Klarheit haben!

– Vorwärts!« wiederholte Franz.

Doch als Fritz sich schon zum Hinuntergehen anschickte, hielt Jenny ihn plötzlich zurück.

»Da... eine Rauchwolke... ich glaube Rauch zu sehen, der über Felsenheim aufsteigt!«

Fritz ergriff das Fernrohr, richtete es nach Süden und hielt das Auge gut eine Minute lang an dessen Oculare.

Jenny hatte recht. Ein sich allmählich verdichtender Rauch, der jetzt deutlicher erkennbar wurde, entstieg dem Laubgewölbe der Steinwand, die Felsenheim an der Rückseite abschloß.

»Sie sind dort... sie sind dort... rief Franz, und wir, wir sollten schon seit einer Stunde bei ihnen sein!«

Die Behauptung des jungen Mannes wurde von niemand angezweifelt. Alle hatten ein so großes Bedürfniß, wieder einige Hoffnung zu schöpfen, daß sie alles andere vergaßen, ebenso die Verlassenheit hier um Falkenhorst, wie die Plünderung des Hofes, das Fehlen der Hausthiere, die Leere der Stallungen und die Verwüstung der Zimmer am Fuße des Mangobaumes. Wenigstens der Kapitän Gould und John Block gewannen jedoch bald die nüchterne Ueberlegung[412] wieder. Offenbar – der Rauch lieferte dafür den Beweis – war Felsenheim augenblicklich bewohnt... doch ob nicht von den Räubern? Wer konnte das entscheiden? Jedenfalls war bei einer Annäherung die größte Vorsicht geboten. Vielleicht war es deshalb besser, nicht der nach dem Schakalbache führenden Allee zu folgen. Ging man über die Felder und so viel wie möglich von einem Gehölze zum anderen, so durfte man hoffen, ungesehen bis nach der Drehbrücke zu gelangen.

Schon bereiteten sich alle, die Wohnung in der Höhe zu verlassen, als Jenny das Fernrohr senkte, durch das sie die Küste der Bucht besichtigt hatte, und in den Ruf ausbrach:

»Den Beweis, daß unsere Angehörigen noch da sind, daß sie ihre Insel nicht verlassen haben, liefert der Umstand, daß die Flagge noch auf der Haifischinsel weht!«

Das war wohl richtig, es hatte bisher nur noch niemand auf die weiß und rothe Schweizer Flagge geachtet, die über dem Batterieschuppen flatterte. Doch gab das die Gewißheit, daß die Herren Zermatt und Wolston, ihre Frauen und ihre Kinder die Insel wirklich nicht geräumt hatten? Die Flagge wehte ja doch Tag für Tag an dieser Stelle.

Hierüber wollte sich aber niemand den Kopf zerbrechen. In Felsenheim müßte sich, noch vor Ablauf einer Stunde, ja alles aufklären.

»Vorwärts!... Nur vorwärts! wiederholte Franz, sich nach der Treppe wendend.

– Halt!... Halt!« gebot da plötzlich der Steuermann mit gedämpfter Stimme.

Der alte Seemann kroch mehr als er ging, auf den Balcon nach der Seite der Rettungsbucht zu hinaus. Hier schob er die Blätter etwas auseinander steckte den Kopf hindurch, zog ihn aber schleunigst wieder zurück.

»Was ist denn da draußen zu sehen? fragte Fritz.

– Eine Rotte von Wilden!« antwortete John Block.

[413]
29. Capitel
Neunundzwanzigstes Capitel.
Verschiedene Vermuthungen. – Was war zu beginnen? – Ein Kanonenschuß. – Die Haifischinsel. – Eine Recognoscirung bis zum Strande. – Ein verlassenes Canot. – Einschiffung. – »Schießt nicht!«

Es war jetzt halb drei Uhr Nachmittag. Der Mangobaum hatte ein so dichtes Blattwerk, daß es die fast senkrechten Sonnenstrahlen nicht zu durchdringen vermochten. Fritz und die anderen liefen also keine Gefahr, in der hochgelegenen Wohnstätte von Falkenhorst, die den an der Insel gelandeten Wilden jedenfalls noch unbekannt war, so leicht aufgespürt zu werden.

Fünf halbnackte Männer mit schwarzer Haut, gleich den Eingeborenen des westlichen Australiens, schritten, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, die Allee daher. Daß sie gesehen worden wären, und daß das Gelobte Land jetzt auch noch andere Insassen berge, als die Bewohner Felsenheims, konnten sie natürlich gar nicht ahnen. Doch was war aus dem älteren Zermatt und den Seinigen geworden? Hatten sie sich noch flüchten können, oder waren sie in einem ungleichen Kampfe umgekommen?

Es ließ sich doch, wie John Block bemerkte, kaum annehmen, daß sich die Zahl der auf der Insel eingedrungenen Eingeborenen auf dieses halbe Dutzend Männer beschränkte. Bei einer solchen Minderheit hätten sie den älteren Zermatt, dessen beide Söhne und Herrn Wolston, selbst bei einer Ueberrumpelung, wohl nicht überwältigen können. Jedenfalls war es eine ganze Bande auf einer Flottille von Piroguen, die die Neue Schweiz überfallen hatte. Die Flottille lag jetzt vermuthlich in der kleinen Bucht mit der Schaluppe und der Pinasse. Von der Höhe von Falkenhorst aus war das freilich nicht zu sehen, da die Spitze der Rettungsbucht nach dieser Seite hin die Aussicht beschränkte.

Doch wo befanden sich die Familien Zermatt und Wolston? Ließ sich aus dem Umstande, daß man sie weder in Falkenhorst noch in dessen Umgebung getroffen hatte, der Schluß ziehen, daß sie als Gefangene in Felsenheim wären, daß sie weder Zeit noch Gelegenheit gefunden hätten, nach einer der anderen Meiereien zu flüchten... oder daß sie gar niedergemetzelt wären?

Damit hätte sich freilich alles erklärt: die Verwüstung in Falkenhorst, die Verlassenheit in dem Theile des Gelobten Landes zwischen dem Canal des [414] Schwanensees und dem Küstenlande. Fritz, Franz und Jenny waren von dem schwersten Unglück betroffen, das ihnen je begegnen konnte; selbst James, seine Frau und seine Schwester fühlten das mit ihnen. Wie hätte man jetzt eine. wenn auch noch so schwache Hoffnung bewahren können? Und während Harry Gould und der Obersteuermann die Eingeborenen nicht aus den Augen verloren, ließen jene ihren Thränen, ihrer Verzweiflung freien Lauf.

Dennoch blieb noch eine weitere Vermuthung übrig: die beiden Familien hatten sich vielleicht nach Westen zu irgendwohin auf der Insel, etwa nach jenseit der Perlenbai, retten können. Denn hatten sie die Piroguen schon aus der Ferne über die Rettungsbucht herankommen sehen, so konnten sie wohl auch Zeit gefunden haben, im Wagen zu entfliehen und Mundvorräthe nebst Waffen mitzunehmen... Und doch wagte hier niemand an diese Möglichkeit zu glauben.

Harry Gould und John Block beobachteten unausgesetzt die Annäherung der Wilden.

Wollten diese nochmals in den Hof und dann in die schon geplünderte Wohnung eindringen? War da nicht zu befürchten, daß sie schließlich auch die Thüre zur Treppe entdeckten? In diesem Falle würde man sich, da es nur fünf bis sechs waren, ihrer wohl ohne große Anstrengung erwehren können. Wenn sie auf der Plattform immer nur einzeln – und anders war es nicht möglich – auftauchten, würden sie einer nach dem anderen gepackt und über das Geländer vierzig bis fünfzig Faß tief hinabgestürzt werden.

Und hatten sie, wie der Obersteuermann erklärte, dann noch Beine, um darauf nach Felsenheim zu laufen, so mußten die Burschen mehr dem Katzenals dem Affengeschlechte angehören.


Fritz und die anderen liefen keine Gefahr, aufgespürt zu werden. (S. 414.)

Als die fünf Männer das Ende der Allee erreicht hatten, blieben sie stehen Jetzt entging Fritz, Harry Gould und John Block keine ihrer Bewegungen mehr. Was hatten sie in Falkenhorst vor?... War die Wohnung in der Höhe ihren Blicken bisher entgangen, so konnten sie sie doch, und auch die, die sich daselbst aufhielten, jetzt vielleicht entdecken. Dann kamen sie wahrscheinlich in größerer Zahl hierher zurück, und einem Angriffe von hundert Eingeborenen Widerstand zu leisten...

Nach Ueberschreitung des offenen Vorplatzes gingen die Wilden zunächst auf die Palissade zu und um diese herum. Drei davon traten in den Hof ein und gingen in einen der Schuppen zur Linken, woraus sie gleich darauf mit einigen Fischereigeräthen, die hier aufbewahrt waren, wieder hervorkamen.

[415] »Sie geniren sich ganz und gar nicht, diese Spitzbuben! murmelte der Obersteuermann. Sie fragen hier nicht einmal um Erlaubniß...

– Ob sie wohl ein Boot am Ufer haben und längs der Küste fischen wollen? sagte Harry Gould.

– Das werden wir sehr bald erfahren, Herr Kapitän,« antwortete John Block.

Die drei Männer schlossen sich ihren Genossen wieder an und gingen mit diesen, einem kleinen, mit dichten Dornenhecken eingefaßten Pfad an der rechten [416] [419]Seite des Falkenhorster Rio folgend, nach dem Meere hinunter. Man verlor sie nur einen Augenblick aus dem Gesichte, als sie den Einschnitt erreichten, durch den der Bach bis zu seiner Mündung in der Flamingobucht verlief.


Er hatte einen aufblitzenden Feuerschein beobachtet. (S. 423.)

Da sie sich von hier aus aber nach links wendeten, blieben sie verschwunden und konnten erst wieder gesehen werden, wenn sie weiter draußen auf dem Wasser erschienen. Daß sich ein Boot am Ufer befände, war sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich auch, daß sie sich dessen gewöhnlich zum Fischfange in der Nähe von Falkenhorst bedienten.

Während Harry Gould und John Block ihre Beobachtungen fortsetzten und Doll und Suzan noch schluchzend und weinend dasaßen, sagte Jenny, ihren Schmerz niederkämpfend, zu Fritz:

»Was ist nun zu beginnen, mein Lieber?«

Fritz sah nur seine Gattin an; er war offenbar um eine Antwort verlegen.

»Was jetzt zu beginnen ist. fiel der Kapitän Gould ein, darüber müssen wir baldigst schlüssig werden. Zunächst ist es nutzlos, länger hier auf dem Balcon zu bleiben, wo wir Gefahr laufen, entdeckt zu werden.«

Als alle sich ins Zimmer zurückgezogen hatten, neben dem der von dem langen Wege ermüdete kleine Bob in einer Kammer schlummerte. begann Fritz als Antwort auf die Frage, die seine Gattin an ihn gerichtet hatte:

»Meine liebste Jenny nein... noch ist nicht alle Hoffnung aufzugeben, daß wir unsere Angehörigen und Freunde wiederfinden. Es ist ja möglich, recht gut möglich, daß sie sich nicht haben überraschen lassen. Mein Vater und Herr Wolston werden die Piroguen schon von weitem gesehen haben. Wahrscheinlich haben sie dann Zeit genug gehabt, sich nach einer der Meiereien, selbst in die Wälder hinter der Perlenbucht zurückzuziehen, wohin sich die Wilden kaum wagen dürften. Auf unserem Wege von der Einsiedelei bis über den Canal haben wir nirgends Spuren von ihrem Vorüberkommen gefunden. Meine Ueberzeugung geht dahin, daß sich die Eindringlinge vom Küstenlande nicht weit entfernt haben.

– Das glaub' ich auch, setzte Harry Gould hinzu, und meiner Ansicht nach werden die Herren Zermatt und Wolston mit ihren Angehörigen geflohen sein.

– Ja ja, so ist es sicherlich! rief Jenny. Meine beste Doll und Sie, Suzan, verzweifelt nur nicht, weint nicht mehr! Ihr werdet Eueren Vater, Euere Mutter ebenso wiedersehen, wie wir, Fritz, die Deinigen und, James, auch die Ihrigen!«

[419] Die junge Frau sprach sich so vertrauensvoll aus, daß bei ihren Worten in allen die Hoffnung wieder erwachte und Fritz, ihre Hand ergreifend, sagte:

»Durch Deinen Mund, meine Herzensjenny, hat der allgütige Gott gesprochen!«

Bei reiflicher Ueberlegung mußte man wohl auch, wie der Kapitän Gould betonte, zu der Anschauung kommen, daß an einen unerwarteten Ueberfall Felsenheims durch die Eingeborenen nicht recht zu glauben sei, da die Piroguen an dieser unbekannten Küste während der Nacht nicht hatten landen können. Jedenfalls mußten sie bei Tageslicht, von Osten oder Westen, in die Rettungsbucht eingefahren sein. Bei der Gestaltung dieses Meeresarmes zwischen dem Cap im Osten und dem der Getäuschten Hoffnung war es dann aber ausgeschlossen, daß der ältere Zermatt, Herr Wolston, Ernst oder Jack sie nicht schon weit draußen bemerkt und nicht Zeit gehabt hätten, nach einem anderen Theile der Insel zu flüchten.

»Und wenn die Landung dieser Eingeborenen, meinte Fritz, erst ganz neuerdings erfolgte, so weilten unsere Familien vielleicht gar nicht in Felsenheim. Jetzt ist ja gerade die Zeit, wo sie die Meiereien zu besuchen pflegten. Haben wir sie vergangene Nacht auch nicht in der Einsiedelei von Eberfurt angetroffen, so können sie doch recht wohl in Waldegg, auf dein Prospect-Hill oder in Zuckertop inmitten des dichten Waldes sein.

– So wollen wir uns erst nach Zuckertop begeben, schlug Franz vor.

– Das können wir thun, antwortete John Block, doch nicht vor der Nacht.

– Doch... sofort... augenblicklich! drängte Franz, der keinen Einwand gelten lassen wollte. Ich kann ja allein dahin gehen. Zweiundeinehalbe Lieue für den Hin- und ebensoviel für den Rückweg... da kann ich in drei Stunden wieder hier sein, und wir wissen dann bestimmt, woran wir sind.

– Nein, Franz, nein! sagte Fritz. Ich verlange, daß Du Dich nicht von uns trennst, das wäre unklug, und als der ältere von uns beiden befehle ich es Dir sogar!

– Fritz... Du wolltest mich abhalten...

– Ja, Dich abhalten, eine Unvorsichtigkeit zu begehen.

– Franz, Franz, ließ sich Doll mit bittendem Tone vernehmen, hören Sie auf Ihren Bruder!... Franz... ich bitte Sie darum!«

Franz hatte sich jenen Gedanken einmal in den Kopf gesetzt und er schickte sich an, hinunter zu gehen.

[420] »Na, er mag seinen Willen haben, meldete sich da der Obersteuermann der jetzt vermitteln zu sollen glaubte. Da einmal Erkundigungen eingezogen werden müssen, so mag es auch noch am Tage geschehen. Ich frage mich dann aber nur, warum wir nicht gleich alle nach Zuckertop aufbrechen sollten.

– Kommt mit! sagte Franz.

– Und doch, fuhr der Obersteuermann, an Fritz gewendet fort, ist es denn richtig, wenn wir gerade nach Zuckertop gehen?

– Wohin denn sonst? fragte Franz.

– Nun... gleich nach Felsenheim!« antwortete John Block.

Dieser so unversehens in das Gespräch geworfene Name gab diesem sofort eine andere Wendung. Nach Felsenheim?...

Freilich, wenn die Herren Zermatt und Wolston, ihre Frauen und Kinder, den Eingeborenen in die Hände gefallen und sie trotzdem am Leben geblieben waren, so mußten sie sich dort befinden, da der Rauch anzeigte, daß Felsenheim bewohnt war. Dort sollten sie die Rückkehr ihres Fritz und Franz, ihrer Jenny und Doll, und die Ankunft James Wolston's und Suzans erfahren.

»Nach Felsenheim gehen... ganz gut, bemerkte jetzt der Kapitän Gould, doch alle zusammen?...

– Alle?... Nein, entschied Fritz, nur zwei oder drei, und erst nach Einbruch der Nacht.

– Der Nacht? wiederholte Franz, der mehr als je an seinem Vorhaben festhielt. Ich gehe nach Felsenheim!

– Und glaubst Du, so lange es hell ist, den Wilden, die hier in der Nähe hausen, entgehen zu können? erwiderte Fritz. Und wenn Dir das gelänge, wie kämst Du nach Felsenheim hinein, wenn diese es jetzt in ihrer Gewalt haben?

– Ja, das weiß ich selbst nicht, Fritz, doch eines werde ich doch erreichen: zu erfahren, ob unsere Angehörigen dort sind... dann lauf' ich zurück.

– Mein lieber Franz, sagte da der Kapitän Gould, ich begreife Ihre Ungeduld und, wahrhaftig, ich theile sie auch. Und doch, fügen Sie sich unserem Rathe, der von der Klugheit eingegeben ist. Wenn jene Wilden aufmerksam würden und Sie absingen, wenn sie sich aufmachten, um uns zu erspähen, dann wären wir weder in Waldegg, noch sonstwo länger in Sicherheit.«

In der That wäre die Lage der Dinge damit aufs höchste gefährdet worden, und wohin sich Fritz und die anderen dann auch verbargen, die Eingeborenen würden sie schließlich doch aufgespürt haben.

[421] Fritz gelang es endlich, seinem Bruder Vernunft beizubringen, und Franz mußte sich der Autorität dessen beugen, der jetzt vielleicht schon das Haupt der Familie war.

Es sollte also der Eintritt der Dunkelheit abgewartet werden, und dann wollten Franz und der Obersteuermann Falkenhorst verlassen. Jedenfalls war es rathsamer, diese Auskundschaftung, die immerhin noch Gefahren genug bot, zu Zweien vorzunehmen. Längs der die Allee säumenden Hecke hinunterschleichend, sollten beide versuchen, nach dem Schakalbache zu gelangen. War dann die Brücke nach dem anderen Ufer gedreht, so wollten sie durch den Bach schwimmen und durch den Obstgarten in die Umfriedigung von Felsenheim einzudringen versuchen. Von da aus konnten sie durch eines der Fenster sich leicht überzeugen, ob die Ihrigen darin eingesperrt wären. War das nicht der Fall, so wollten Franz und John Block unverzüglich nach Falkenhorst zurückkehren, und dann konnte man sich noch entscheiden, Zuckertop vor Tagesanbruch zu erreichen.

Jetzt hieß es also: warten, doch wie langsam schlichen die Stunden dahin! Noch nie hatten sich der Kapitän Gould und alle anderen so niedergeschlagen gefühlt, selbst damals nicht, als die Schaluppe auf unbekanntem Meere ausgesetzt worden war, auch nicht, als ihr Fahrzeug an den Klippen der Schildkrötenbucht zerschellte und als die Schiffbrüchigen, und darunter drei Frauen und ein Kind, sich bedroht sahen, auf jener öden Küste, in einem Gefängniß, aus dem sie nicht entweichen konnten, unter den schwierigsten Umständen überwintern zu müssen.

Doch bei jenen schweren Prüfungen hatten sie wenigstens noch den Trost gehabt, ohne Angst um die zu sein, die in der Neuen Schweiz waren. Jetzt aber, wo sie hierher gekommen waren, fanden sie die Insel in der Gewalt einer Rotte von Eingeborenen und wußten nicht, was aus ihren Eltern, ihren Freunden geworden war, ja sie mußten eher befürchten, daß diese bei einem Gemetzel umgekommen seien.

Inzwischen verlief der Tag weiter. Von Zeit zu Zeit erklomm der eine oder der andere, meist Fritz oder der Obersteuermann, die höheren Aeste des Mangobaumes, um das Land und das Meer zu überblicken. Sie wollten sich vorzüglich darüber unterrichten, ob die Wilden noch in der Umgebung von Falkenhorst umherschwärmten oder ob sie wieder den Weg nach Felsenheim eingeschlagen hätten. Da war nichts zu sehen, außer draußen im Süden, nach der Mündung des Schakalbaches zu, die kleine Rauchsäule, die über der Felswand schwebte.

[422] Bis Nachmittag vier Uhr hatte sich die Sachlage in keiner Hinsicht verändert, und nun wurde aus den Vorräthen der Wohnstätte eine Mahlzeit bereitet.

Nach Franzens und John Block's Rückkehr konnte es ja nöthig werden, sogleich nach Zuckertop aufzubrechen, und bis dahin war es ein weiter Weg.

Da ertönte plötzlich ein dumpfes Krachen.

»Was war denn das? fragte Jenny, die Fritz zurückhielt, da er sah, daß sie sich nach einem der Fenster begeben wollte.

– Sollte es ein Kanonenschuß gewesen sein? antwortete Franz.

– Hurrah... ein Kanonenschuß! rief der Obersteuermann.

– Wer könnte ihn aber abgefeuert haben? sagte Fritz.

– Etwa ein Schiff, das in Sicht der Insel liegt? fragte James.

– Vielleicht gar die »Licorne«! rief Jenny.

– Dann müßte diese der Insel sehr nahe sein, bemerkte John Block, denn von sehr weit her kam jener Schuß nicht.

– Auf die Plattform!... Hinaus! Hinaus! drängte Franz, der schon nach dem Balcon eilte.

– Vorsicht, damit wir nicht bemerkt werden, denn die Bande muß jetzt aufmerksam und mißtrauisch sein!« empfahl der Kapitän Gould.

Alle Blicke richteten sich dem Meere zu.

Hier war aber kein Schiff zu entdecken, das, nach der Nähe jenes Schusses zu urtheilen, hätte in der Nähe der Walfischinsel liegen müssen. Auf der Wasserfläche bemerkte der Obersteuermann nur ein von zwei Wilden besetztes Canot, das eiligst das Ufer bei Falkenhorst zu gewinnen sachte.

»Wenn das Ernst und Jack wären! flüsterte Jenny.

– Nein, nein, antwortete Fritz, jene zwei Männer sind Eingeborene und das Canot ist eine Pirogue.

– Doch warum scheinen sie zu entfliehen? fragte Franz. Sollten sie von anderen verfolgt werden?«

Da stieß Fritz einen Schrei aus... einen Schrei der Freude und der Ueberraschung. Er hatte einen aufblitzenden Feuerschein zwischen einer weißen Rauchwolke beobachtet, und gleich darauf schallte eine zweite Detonation herüber, die das Echo am Ufer mehrfach wiedergab.

Gleichzeitig zischte ein Geschoß nahe über dem Wasser daher und warf zwei Faden von dem Boote, das so schnell wie möglich nach Falkenhorst zu flüchtete. eine schäumende Wassergarbe in die Höhe.

[423] »Dort... dort! rief Fritz. Mein Vater, Herr Wolston, alle die Unsrigen sind da drüben!

– Auf der Haifischinsel? fragte Jenny.

– Ja, auf der Haifischinsel!«

In der That war der erste Kanonendonner ebenso von diesem Eiland ausgegangen, wie der zweite mit dem nach der Pirogue geschleuderten Geschosse. Ohne allen Zweifel hatten der ältere Zermatt, Herr Wolston und ihre Familien sich in den Schutzbereich der dortigen Batterie zurückziehen können, an die die Wilden sich nicht heranwagten. Darüber flatterte die weiß und rothe Fahne der Neuen Schweiz, während die britische Flagge auf dem höchsten Gipfel der Insel wehte.

Nichts vermöchte die Freude – ja mehr als Freude – den hellen Jubel zu schildern, dem sich Fritz, Franz, Jenny, Doll, James und Suzan jetzt überließen. Da ihre Angehörigen hatten nach der Haifischinsel gelangen können, brauchten diese nun weder in Zuckertop, noch in einer anderen Meierei des Gelobten Landes gesucht zu werden.

Ihre Empfindungen wurden selbstverständlich von dem Kapitän Gould und dem Obersteuermann getheilt, die ja mit den ehemaligen Passagieren der »Flag« eine so innige Freundschaft vereinte.

Jetzt war keine Rede mehr davon, nach Felsenheim zu gehen; sie wollten Falkenhorst nur verlassen, um sich – wie, das wußte noch niemand – nach der Haifischinsel zu begeben. Ach, wenn es jetzt möglich gewesen wäre, vom Gipfel des Mangobaumes Zeichen zu geben, etwa eine Flagge aufzupflanzen, um der von der Batterie zu antworten!

Klug wäre das freilich ebensowenig gewesen, wie etwa mit der Pistole Schüsse abzugeben, die, so gut wie der ältere Zermatt sie vernahm, doch auch von den Wilden gehört werden mußten, wenn ein Theil von diesen noch in der Umgebung von Falkenhorst hauste.

Das wichtigste blieb es doch immer, daß die Anwesenheit des Kapitän Gould und der übrigen von den Burschen nicht entdeckt wurde, denn einem Angriffe von diesen, woran sich voraussichtlich die ganze Rotte betheiligte, die sich doch schon Felsenheims bemächtigt hatte, wären die fünf Männer auf dem Baum nicht gewachsen gewesen.

»Unsere Lage ist jetzt ziemlich gut, bemerkte Fritz, also unterlassen wir alles, was sie zum Schlimmen wenden könnte.

[424] – Gewiß, bestätigte Harry Gould, da wir bisher noch nicht bemerkt wurden, wollen wir nichts unternehmen, was dazu führen könnte. Ehe wir etwas thun, muß unbedingt die Nacht abgewartet werden.

– Wie soll es aber möglich sein nach der Haifischinsel zu kommen? fragte Jenny.

– O, sehr einfach: schwimmend, erklärte Fritz. Ich verpflichte mich, hinüber zu schwimmen, und da mein Vater sich hat mit der Schaluppe flüchten können, bringe ich dann das Fahrzeug hierher, um Euch alle abzuholen.


»Schießt nicht!... Schießt nicht!...« (S. 429.)

– Fritz... bester Fritz, konnte sich Jenny zu erwidern nicht enthalten, durch diesen Meeresarm zu schwimmen...

– Ist nur ein Spiel für mich, liebe Frau, nur ein [425] Spiel! versicherte der kühne, junge Mann.

– Ganz gut und schön, wendete John Block ein, doch wer weiß, vielleicht liegt gar das Canot jener Spitzbuben jetzt am Strande.«

Der Abend kam endlich heran. Gegen sieben Uhr war es schon dunkel, da die Nacht in diesen Breiten dem Tage fast ohne Dämmerung folgt.

Gegen acht Uhr war die Zeit zur Entscheidung gekommen, und Fritz, Franz und der Obersteuermann sollten nach dem Hofe hinabsteigen, um sich zunächst zu versichern, daß keine Eingeborenen mehr in der Nähe wären. In diesem Falle sollten sie sich bis zur Küste hinunterschleichen. Der Kapitän Gould, James Wolston, Jenny, Doll und Suzan wollten unten am Baume warten, bis ein Signal sie riefe, sich auch ans Ufer zu wagen.

Die drei genannten tasteten sich die Treppe hinunter, denn sie wollten kein Licht anzünden, das sie ja hätte verrathen können.

In der unteren Wohnung befand sich niemand, auch nicht in den Schuppen des Hofes. So galt es denn auszukundschaften, ob die am Morgen hierher gekommenen Männer den Weg nach Felsenheim wieder eingeschlagen hätten oder ob sie sich noch am Ufer befänden, an dem sie mit der Pirogue doch wohl gelandet waren.

Die bisher beobachtete Vorsicht durfte natürlich vor allem nicht außer acht gelassen werden. Deshalb beschlossen Fritz und John Block, zunächst allein nach dem Ufer vorzudringen, während Franz gleichsam als Beobachtungsposten am Hofeingange warten und sogleich wieder hinausgehen sollte, wenn Falkenhorst irgendwie bedroht erschiene.

Fritz und der Obersteuermann traten also durch die Palissade hinaus und eilten über den freien Platz, auf dem die Allee von Felsenheim mündete. Darauf glitten sie etwa zweihundert Schritte weit von Baum zu Baum hin, lauschten und spähten ringsumher und gelangten glücklich an die enge Felsenspalte, in der sich die Wellen brachen.

Der Strand war verlassen, wie das Meer bis hinaus zu dem Cap, dessen Profil im Osten kaum noch zu erkennen war. Ein Lichtschein zeigte sich weder in der Richtung nach Felsenheim, noch auf der ganzen Rettungsbucht. Nur ein Gehölz war etwa dreiviertel Lieues vor ihnen undeutlich zu sehen.

[426] Das war die Haifischinsel.

»Nun denn, vorwärts! sagte Fritz.

– Vorwärts!« wiederholte John Block.

Beide schritten dem sandigen Ufergebiete zu, das jetzt bei sinkender Ebbe ein Stück hinaus wasserfrei dalag.

Wie freudig hätten sie da aufgejauchzt, wenn sie nicht ihrer selbst Herr geblieben wären! Hier fand sich ein Canot. das auf die Seite gesunken war.

Jene Pirogue war es, die die Batterie mit zwei Kanonenschüssen begrüßt hatte.

»Ein wahres Glück, daß die Kugeln sie gefehlt haben, rief John Block, sonst läge sie jetzt wohl auf dem Grunde. Wenn es der Herr Jack oder Herr Ernst gewesen ist, der sich als so schlechter Schütze erwiesen hat, werden wir dem betreffenden unsere dankbare Anerkennung nicht vorenthalten.«

Das kleine, mittels Pagaien zu bewegende Fahrzeug von australischer Bauart konnte eigentlich nur fünf bis sechs Personen aufnehmen. Der Kapitän Gould und seine Gefährten waren aber ihrer acht – ohne das Kind – die nach der Haifischinsel übergeführt werden sollten. Das Eiland lag freilich nur dreiviertel Lieues von hier entfernt.

»Nun denn, so heißt es: sich zusammenpferchen, sagte John Block, zwei Fahrten dürfen nicht gemacht werden.

– Ueberdies, setzte Fritz hinzu, tritt in einer Stunde schon die Fluth wieder ein, und da sie sich nach der Rettungsbucht hin bewegt, ohne sich zu weit von der Haifischinsel zu entfernen, wird es uns nicht zu viele Anstrengung kosten, diese zu erreichen.

– Alles gestaltet sich zum besten, antwortete der Obersteuermann, nun wird gar bald die Lösung da sein!«

Das Fahrzeug ins Meer zu schieben, machte sich nicht nöthig, bei der steigenden Fluth mußte es sich ja allein aufrichten und flott werden. John Block überzeugte sich nur noch, daß es fest genug angebunden war, so daß es nicht vorzeitig hinweggeführt werden könnte.

Beide kehrten nun wieder um, schritten auf die Allee zu und kamen zu Franz, der sie im Hofe erwartete.

Mit großer Freude hörte dieser, was die beiden Kundschafter zu berichten hatten. Da jetzt aber noch bis zum Eintritte der Fluth gewartet werden mußte, verließ Fritz seinen Bruder und den Obersteuermann mit dem Auftrage, die [427] Umgebung des Hofes noch weiter zu überwachen. Mit welcher Befriedigung die Nachrichten, die er den oben harrenden brachte, aufgenommen wurden, kann man sich wohl leicht genug vorstellen.

Gegen neuneinhalb Uhr waren alle am Fuße des Baumes versammelt.

Franz und John Block hatten nichts verdächtiges bemerken können. In den Umgebungen von Falkenhorst herrschte tiefe Stille, denn man hätte, da auch nicht der schwächste Wind wehte, schon das leiseste Geräusch wahrnehmen müssen.

Nach Ueberschreitung des Hofes und des freien Platzes davor, schlichen sich alle, Fritz, Franz und Harry Gould voran, unter den Bäumen der Allee hin und erreichten unbehelligt das Ufer.

Dieses war noch ebenso verlassen, wie zwei Stunden vorher.

Schon hatte die Fluth das Boot, das nun an seiner Leine schaukelte, aufgerichtet. Es galt nur noch einzusteigen, es loszubinden und dann in die Strömung zu treiben.

Sofort nahmen Jenny, Doll, Suzan und das Kind im Hintertheile der Pirogue Platz. Die anderen drängten sich auf den Bänken zusammen und Fritz und Franz ergriffen die Pagaien.

Es war jetzt gegen zehn Uhr, und bei der mondlosen Nacht zu erwarten, daß die Ueberfahrt unbemerkt verlaufen werde. Trotz der tiefen Finsterniß, konnte es natürlich nicht schwer fallen, nach der Insel zu steuern.

Sobald die Pirogue in die Strömung gekommen war, wurde sie schon nach der richtigen Seite hingezogen.

Alle verhielten sich still. Kein Wort wurde, nicht einmal flüsternd, gewechselt. Alle standen unter dem Drucke einer außerordentlichen Erregung. Daß die Familien Zermatt und Wolston sich auf dem Eilande befanden, unterlag ja keinem Zweifel; doch wenn nun einer gefangen genommen worden oder bei seiner Vertheidigung gar umgekommen war...

Auf den Fluthstrom allein war nun nicht zu rechnen, um geraden Weges nach der Haifischinsel zu gelangen. Eine halbe Lieue von deren Ufer wendete dieser sich nach der Mündung des Schakalbaches zu und verlief von hier nach dem Hintergrunde der Rettungsbucht.

Fritz und Franz ruderten also mit allen Kräften auf das dunkle Gehölz zu, aus dem kein Laut, kein Lichtschimmer hervordrang.

Jedenfalls befand sich aber der ältere Zermatt oder Herr Wolston, Jack oder Ernst auf Wache bei der Batterie, und wenn die Pirogue von da aus [428] bemerkt wurde, lief sie Gefahr, eine Kugel zu bekommen, denn der oder die Wachthabenden mußten annehmen, es handle sich um einen Versuch der Wilden, die Insel unter dem Schutze der Nacht zu überfallen.

Wirklich flammte, als das Fahrzeug nur noch fünf bis sechs Kabellängen vom Ufer entfernt war, ein Licht an der Stelle auf, wo sich die Batterie unter ihrem Schutzdache befand. Wurde damit ein Zünder in Brand gesetzt und sollte die Luft wieder durch den Donner eines Geschützes erschüttert werden?

Da sprang der Bootsmann, überzeugt, sich vernehmbar machen zu können, in die Höhe und rief mit Stentorstimme:

»Schießt nicht!... Schießt nicht!...

– Es kommen Freunde! setzte der Kapitän Harry Gould hinzu.

– Wir sind es... wir... wir!« wiederholten Fritz und Franz.

Und als sie den Fuß auf die ersten Felsen setzten, empfingen der Vater Zermatt, Herr Wolston, Ernst und Jack die Langersehnten in ihren Armen.

30. Capitel
Dreißigstes Capitel.
Endlich vereint! – Ein gedrängter Bericht über alle Ereignisse seit der Abfahrt der »Licorne«. – Die Familien in ihrem Kummer. – Keine Hoffnung mehr. – Das Auftauchen der Piroguen.

Nach wenigen Minuten waren – jetzt vollzählig – die beiden Familien. der Kapitän Harry Gould und John Block in dem Vorrathshause in der Mitte des Eilandes versammelt... hundert Schritte von dem kleinen Batteriehügel, über dem die Flagge der Neuen Schweiz wehte.

Eine Schilderung der Scene des Wiedersehens zu geben, zu beschreiben, wie das Zermatt'sche Elternpaar Fritz, Franz und Jenny stürmisch ans Herz drückte, wie James, Doll, Suzan und Bob sich den Umarmungen des Herrn und der Frau Wolston kaum zu entwinden vermochten, und wie diese alle dem wackeren Kapitän Gould und dem Obersteuermanne die Hände drückten – das mit Worten auszudrücken, was nur ein Gemisch von Jubelrufen, Thränen und Liebkosungen war, wäre doch unmöglich, und deshalb wollen wir es lieber gar nicht erst versuchen.

[429] Als sich dann die erste Aufregung etwas beruhigt hatte, ging es kurze Zeit an ein eifriges Erzählen der Geschichte der fünfzehn Monate seit dem Tage, wo die »Licorne«, die Jenny Montrose, Fritz, Franz und Doll hinwegführte, hinter den letzten Anhöhen des Caps der Getäuschten Hoffnung verschwunden war.

Doch bevor man auf die Ereignisse der Vergangenheit eingehender zurückkommen konnte, mußte man der Gegenwart gerecht werden.

Obwohl die beiden Familien jetzt wieder vollzählig beisammen waren, befanden sie sich doch in einer recht ernsten, recht bedrohten Lage. Die Wilden mußten sich dieses Eilandes schließlich doch bemächtigen, wenn es an Munition oder an Mundvorrath zu mangeln begann. Auf irgend eine Hilfe von außen war ja nicht zu rechnen.

Mit kurzen Worten berichtete Fritz über die »Licorne«, und wie diese am Cap habe zurückbleiben müssen, von der Meuterei an Bord der »Flag«, der Aussetzung der Schaluppe ins offene Meer, von der Ankunft an dem öden und unfruchtbaren Theile einer unbekannten Insel, wie von den Umständen, unter denen der Kapitän Gould und seine Gefährten erkannt hatten, daß diese Insel die Neue Schweiz sei, ferner von der Wanderung der kleinen Gesellschaft bis zum Gebiete des Gelobten Landes, ihrem Aufenthalte in Falkenhorst und von dem Erscheinen der Eingeborenen...

»Und wo sind diese? fragte Fritz schließlich.

– In Felsenheim, antwortete sein Vater.

– In großer Zahl?

– Nun, mindestens hundert, denn sie kamen, wahrscheinlich von der Küste Australiens her, in fünfzehn Piroguen hier an.

– Und dem Himmel sei Dank, daß Ihr vor ihnen habt fliehen können! rief Jenny.

– Ja, mein liebes Kind, antwortete der ältere Zermatt, sobald wir der Piroguen ansichtig geworden waren, die nach Umsschiffung des Caps im Osten in die Rettungsbucht einliefen, haben wir uns nach der Haifischinsel in der Hoffnung zurückgezogen, hier einen Angriff besser abwehren zu können.

– Die Wilden wissen also, fiel Fritz ein, daß Ihr Euch jetzt auf diesem Eilande befindet?

– Das wissen sie zwar, antwortete sein Vater, doch, Gott sei Dank, haben sie hier bisher nicht landen können, und noch weht über uns die alte, theuere Flagge!«

[430] Hier folge nun in kurzem Auszuge, was sich seit dem Zeitpunkte. mit dem der erste Theil dieser Erzählung abschloß, in der Neuen Schweiz ereignet hatte.

Bei dem Wiedereintritte der schönen Jahreszeit und nach den Ausflügen, die zur Entdeckung des Montrose-Flusses führten, wurde ein Aufklärungszug bis zu der früher erwähnten Bergkette unternommen, wobei Herr Wolston, Ernst und Jack auf dem Gipfel des Pic Zermatt die britische Flagge hißten. Das war etwa zwölf Tage vor der Landung der Schaluppe an der Südküste der Insel geschehen, und wenn dieser Zug bis jenseit der Bergkette ausgedehnt worden wäre, hätte nicht viel daran gefehlt, dem Kapitän Gould an der Schildkrötenbucht zu begegnen. Und wenn dieser Fall eintrat, wieviel Kummer, wieviel Sorge und Qual wäre beiden Theilen erspart geblieben! Wie der Leser weiß, überschritten Herr Wolston und die beiden Brüder aber nicht die dürre, sich nach Süden zu ausdehnende Hochebene, sondern schlugen sofort wieder den Weg nach dem Grünthale ein.

Wir wissen ebenfalls, daß Jack, von seinem heißen Wunsche, einen jungen Elephanten zu fangen, verführt, mitten in ein Lager von Wilden gerathen war, die ihn gefangen nahmen. Nachdem er deren Händen entronnen war, hatte er die ernste Nachricht mit heimgebracht, daß eine Rotte Eingeborener an der Ostküste der Insel gelandet war.

Welche Besorgniß das allen einflößte, welche Entschließung man angesichts der Möglichkeit eines Angriffes auf Felsenheim faßte und wie eine Tag und Nacht andauernde Bewachung der Wohnstätte eingeführt wurde, darauf brauchen wir hier nicht näher zurückzukommen.

Drei volle Monate gingen indeß ohne Störung vorüber; die Wilden erschienen weder von der Seite des Caps im Osten, noch von dem Hinterlande des Gelobten Landes her; es sah aus, als hätten sie die Insel endgiltig verlassen.

Sehr beunruhigend blieb es jedoch, daß die »Licorne«, die im September oder October hätte zurückkommen sollen, auf dem Gewässer der Neuen Schweiz nicht eintraf. Vergeblich begab sich Jack wiederholt nach der Anhöhe auf dein Prospect-Hill, um nach der Corvette auszulugen... immer kam er nach Felsenheim zurück, ohne etwas von dieser entdeckt zu haben.

Hier sei auch – um nicht wieder darauf zurückzukommen – erwähnt, daß das Schiff, das Herr Wolston, Jack und Ernst gesehen hatten, als sie auf dem Pic Jean Zermatt standen, die »Flag« gewesen war, was man aus der [431] Uebereinstimmung der Daten feststellen konnte. Ja, es war jener, in die Gewalt Robert Borupt's gefallene Dreimaster, der nach einer anfänglichen Annäherung an die Insel durch die Gegend der Sundainseln nach dem Großen Ocean zu gesteuert war und von dem man später nie wieder etwas gehört hat.

Die letzten Wochen des Jahres verliefen endlich allen in einer Traurigkeit, die bald zur Verzweiflung ausartete. Nach fünfzehn Monaten hegten die Herren Zermatt und Wolston, ebenso wie Ernst und Jack, keine Hoffnung mehr, die »Licorne« je wiederzusehen. Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah hörten gar nicht mehr auf, die Abwesenden – die Verschollenen – zu beweinen. Keine von ihnen hatte noch Muth zu irgend etwas.

»Was nützt es – so war ihr Gedankengang – für das weitere Gedeihen unserer Insel zu arbeiten? Warum sollen wir noch weitere Farmen anlegen, noch andere Felder besäen, warum ein Gebiet noch weiter verbessern, das für uns schon zu groß, für unsere Bedürfnisse zu ergiebig ist? Unsere Kinder, unsere Brüder und Schwestern werden ja doch nicht wieder zurückkehren nach diesem zweiten Vaterlande, wo ihnen die Zukunft so verlockend winkte, wo sie so glücklich waren und wir es so lange Zeit noch hätten sein können!«

Nach einem so überaus langen Ausbleiben setzten sie keinen Zweifel mehr darein, daß die »Licorne« Schiffbruch gelitten habe, daß sie mit allem, was sie trug, untergegangen sei, und daß man von ihr weder in England noch im Gelobten Lande je wieder etwas hören werde.

Hatte die Corvette nämlich ihre Fahrt nach Europa ohne Unfall vollendet, so mußte sie nach einem Aufenthalte von wenigen Tagen am Cap der Guten Hoffnung binnen drei Monaten in Portsmouth, ihrem Heimatschafen, eingetroffen sein. Von dort wäre sie einige Monate später mit der Bestimmung nach der Neuen Schweiz wieder abgesegelt und bald wären ihr dann mehrere Auswandererschiffe nach der neuen englischen Colonie gefolgt. Da nun aber kein Schiff diesen Theil des Indischen Oceans besucht hatte, mußte die »Licorne« jedenfalls in den gefährlichen Meeren zwischen Australien und Afrika verunglückt sein, ohne nur ihre erste Landungsstelle in Capetown erreicht zu haben. Dann wußte aber noch niemand von dem Vorhandensein der Insel und diese blieb auch in Zukunft unbekannt, wenn nicht der Zufall ein Fahrzeug in diese fernen Gewässer verschlug, durch die jener Zeit noch keine Schiffahrtsstraße führte.

Diese Verkettung der Thatsachen war nur zu richtig, und nur zu logisch die Folgerungen, die sich daraus ergaben, und deren letzte darauf hinauskam, daß[432] [435] die Neue Schweiz bis jetzt noch nicht dem Colonialreiche Großbritanniens einverleibt sei.

In der ersten Hälfte der besseren Jahreszeit hatten der ältere Zermatt und Herr Wolston nicht daran gedacht, Felsenheim zu verlassen. Sonst verlebten sie gewöhnlich die schönste Zeit des Sommers in Falkenhorst und widmeten je eine Woche den Meiereien von Waldegg. Zuckertop, des Prospect-Hill und der Einsiedelei Eberfurt. Diesmal beschränkten sie sich auf ganz kurze Besuche, soweit die Sorge für die Thiere daselbst solche nothwendig machte. Die übrigen Theile der Insel, außerhalb des Gebietes des Gelobten Landes, ließen sie jetzt ganz unbeachtet. Weder die Pinasse, noch die Schaluppe glitten um das Cap im Osten oder um das der Getäuschten Hoffnung, um weitere Untersuchungen vorzunehmen, weder die Nautilusbai, noch die Perlenbucht wurde bis zu ihrem Ende besichtigt.


Der ältere Zermatt entdeckte eine Flotille. (S. 436.)

Kaum unternahm Jack mit dem Kajak einige Fahrten über die Rettungsbucht, er begnügte sich vielmehr mit der Jagd in der Nähe von Felsenheim und ließ Brausewind, Sturm und Brummer gemächlich ausruhen. Manche von Wolston geplante Arbeiten, zu denen sein Instinct als Ingenieur ihn antrieb, wurden jetzt nicht unternommen. Wozu auch... ja, wozu denn? Mit diesen drei Worten kam die traurige Entmuthigung der beiden, hart geprüften Familien zum Ausdruck.

Auch am 25. December, als sie sich zum Weihnachtsabend versammelten, zu dem Feste, das in den früheren Jahren stets mit heller Freude gefeiert worden war, entströmten nur Thränen ihren Augen und beteten sie für die, die jetzt nicht hier waren.

So begann das Jahr 18!7. Noch niemals hatte in dem herrlichen Sommer desselben die Natur ein so reiches Füllhorn ihrer Gaben über sie ausgeschüttet. Ihre Freigebigkeit ging aber über die Bedürfnisse dieses häuslichen Herdes hinaus, um den sich jetzt nur sieben Personen scharten. Die große Wohnung erschien fast leer und todt gegenüber der schönen Zeit, wo hier ein so reges Leben geherrscht hatte.

Wie mußten jetzt das Zermatt'sche und das Wolston'sche Ehepaar es bereuen, daß sie der Abreise ihrer Kinder zugestimmt, ja diese dazu fast noch ermuthigt hatten, wo sich doch schon alle eines so andauernden, ungetrübten Glückes erfreuten. War es denn klug und weise von ihnen, das noch vermehren zu wollen? Zeigten sie sich nicht vielmehr undankbar gegen den Himmel, der die Ueberlebenden vom »Landlord« schon viele Jahre so sichtlich gesegnet hatte?

[435] Und doch, was Herr und Frau Zermatt für ihre zwei Söhne gethan hatten, das mußte ja geschehen, und Jenny hatte ja die Verpflichtung, ihren Vater aufzusuchen; Fritz aber mußte wiederum die begleiten, die seine Gattin werden und deren Hand er vom Oberst Montrose erbitten sollte. Franz endlich lag es ob, Doll nach dem Cap der Guten Hoffnung zu begleiten, sie James Wolston zu übergeben und bei der Rückkehr der »Licorne« beide, nebst Suzan und deren Kinde, ihren Eltern zuzuführen. Der ältere Zermatt hielt sich übrigens auch für verpflichtet, so viele Colonisten hierherzuziehen, als die Ertragsfähigkeit der Neuen Schweiz aufzunehmen gestattete.

Ja... alle hatten klug und weise gehandelt. Wer hätte denn voraussehen können, daß die Corvette von dieser Fahrt nicht zurückkehren sollte, und daß man darauf verzichten müßte, sie jemals wieder erscheinen zu sehen?

Und dennoch konnte man wohl fragen, ob denn wirklich alles unrettbar verloren sei. Die Verzögerung der »Licorne« konnte ja auch durch andere Ursachen als durch einen totalen Schiffbruch veranlaßt sein; vielleicht hatte sie schon länger in Europa liegen bleiben müssen und konnte man ihrem Erscheinen jenseit des Caps im Osten oder des Caps der Getäuschten Hoffnung doch noch entgegensehen; vielleicht tauchten ihre hohen Segel recht bald am Horizonte auf und flatterte ihr langer Wimpel grüßend am Top des Großmastes.

In der zweiten Januarwoche dieses traurigen Jahres war es gewesen, als der ältere Zermatt eine Flottille von Piroguen in dem Augenblick entdeckte, als sie die Spitze des Caps im Osten umschiffte und der Rettungsbucht zusteuerte. Ueber die Thatsache selbst brauchte man nicht zu staunen, denn nachdem Jack vorher in die Hände von Wilden gefallen war, mußten diese wissen, daß die Insel selbst bewohnt war.

Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls mußten die von der Fluth getragenen Piroguen vor Ablauf von zwei Stunden die Mündung des Schakalbaches erreicht haben. Wahrscheinlich brachten die Boote gegen hundert Mann, denn jedenfalls hatte sich die ganze, an der Insel gelandete Bande an dieser Fahrt betheiligt, und wie hätte man einer so großen Zahl einen ernsthaften Widerstand leisten können? Was war nun zu thun? Sollten die Insassen Felsenheims nach Falkenhorst, dem Prospect-Hill, nach Zuckertop oder gar nach der Einsiedelei Eberfurt fliehen? Würden die beiden Familien dann mehr in Sicherheit sein? Hatten die Eindringlinge überhaupt erst auf die reichen Gefilde des Gelobten Landes den Fuß gesetzt, so durchstreiften sie diese gewiß auch bald [436] in ihrem ganzen Umfange. Sollten die Bewohner von Felsenheim also vielleicht eine mehr verborgene Zufluchtstätte in den unbekannten Theilen der Insel suchen, und gab ihnen das die Gewißheit, dort nicht entdeckt zu werden?

Nach reiflicher Ueberlegung trat da Herr Wolston mit dem Vorschlage hervor, Felsenheim zu verlassen und nach der Haifischinsel überzusetzen. Schifften sich alle hinter der Landspitze der Rettungsbucht schleunigst auf der Schaluppe ein und steuerte diese nahe dem Ufer nach Falkenhorst zu dahin, so konnten die Flüchtlinge das Eiland vielleicht noch vor dem Eintreffen der Piroguen erreichen. Dort lag, unter dem Schutze der beiden Caronnaden der Batterie, wenigstens die Möglichkeit vor, sich wirksamer zu vertheidigen, wenn die Eingeborenen eine Landung an der kleinen Insel versuchen sollten.

Mangelte auch die Zeit, allerlei Geräthe und den nöthigen Proviant für einen längeren Aufenthalt hinüber zu schaffen, so konnte doch das auch Lagerstätten enthaltende Vorrathshaus des Eilandes die beiden Familien aufnehmen. Uebrigens wollte der ältere Zermatt wenigstens auf der Schaluppe verladen, was die ersten Bedürfnisse zu decken versprach. Außerdem diente bekanntlich die mit Mango-, Cocos- und anderen Bäumen bestandene Insel als Park für eine Antilopenherde, und eine klare Quelle lieferte, selbst in der heißesten Jahreszeit, gutes Wasser in Ueberfluß.

Wegen der nöthigen Nahrung für einige Monate brauchte man sich also keine Sorge zu machen. Ob die beiden Vierpfünder freilich genügen würden, die Flottille abzuwehren, wenn sie in voller Stärke gegen die Haifischinsel heranrückte, das konnte vorläufig niemand sagen. Jedenfalls war aber den Eingeborenen die Macht der Feuerwaffen unbekannt, und schon der Geschätzdonner mußte den Schrecken in ihre Reihen tragen ohne von den Geschossen und den Kugeln zu reden, womit die beiden Geschütze und die Carabiner sie gewiß nicht verschonen sollten. Gelang es etwa fünfzig der Wilden aber dennoch Faß zu fassen, was... ja, was dann?...

Herrn Wolston's Vorschlag warde angenommen, und jetzt war kein Augenblick mehr zu verlieren. Jack und Ernst lotsten die Schaluppe nach der Mündung des Schakalbaches. Mit größter Eile wurden Conserven von Cassave, nebst Reis und Mehl, auch Waffen und Schießbedarf darin verladen. Die beiden Zermatts, das Wolston'sche Ehepaar, sowie Ernst und Annah stiegen ein, während Jack in seinem Kajak Platz nahm, der im Nothfalle eine Verbindung zwischen der Küste und dem Eiland unterhalten konnte. Die Thiere in Felsenheim – mit [437] Ausnahme der beiden Hunde, die ihre Herren begleiten sollten – mußten sich selbst überlassen bleiben. Der Schakal, der Strauß und der Adler würden sich ihr Futter schon zu beschaffen wissen.

Die Schaluppe stieß von der Mündung des Baches ab, als die Piroguen bereits gegenüber der Walfischinsel sichtbar wurden, sie lief aber nicht Gefahr, in dem Theile des Meeres zwischen Felsenheim und der Haifischinsel entdeckt zu werden.

Herr Wolston und Ernst hatten sich an die Ruder gesetzt und der ältere Zermatt steuerte in der Weise, daß er wiederholt Wasserwirbel benützte, die das Fahrzeug ohne zu große Mühe gegen die steigende Fluth aufkommen ließen. Eine Seemeile weit erforderte es dennoch eine tüchtige Anstrengung, nicht nach der Rettungsbucht hin zurückgetragen zu werden, und dreiviertel Stunden nach der Abfahrt lag das zwischen den Felsen hingesteuerte Boot glücklich am Fuße des Batteriehügels. Sofort wurden nun die von Felsenheim mitgenommenen Kisten, Waffen und sonstigen Gegenstände ausgeladen und in dem Vorrathshause untergebracht. Herr Wolston und Jack stiegen jedoch gleich nach dem Batterieschuppen hinauf und stellten sich dort so auf, daß sie die Umgebung des Eilandes übersehen konnten.

Natürlich wurde die noch am Signalmast wehende Flagge sogleich eingezogen. Immerhin war zu befürchten, daß die Wilden, deren Piroguen sich nur noch in der Entfernung von einer Seemeile befanden, sie bereits bemerkt hätten. Jetzt galt es also, sich in Voraussicht eines unmittelbar drohenden Angriffes für die Vertheidigung bereit zu halten.

Dieser Angriff erfolgte indeß nicht. Auf der Höhe des Eilandes angelangt, wendeten die Piroguen sich nach Süden und die Strömung trug sie nach der Mündung des Schakalbaches. Nach der Landung brachten die Eingeborenen sie in der kleinen Einbuchtung in Sicherheit, wo die Pinasse verankert lag.

Das war also die Lage der Dinge. Seit vierzehn Tagen bereits hatten die Wilden Felsenheim besetzt, ohne die Wohnstätte – dem Anscheine nach – verwüstet zu haben. Dagegen war es Falkenhorst schlimmer ergangen, denn von dem Hügel aus hatte der ältere Zermatt beobachten können, wie die Thiere herausgetrieben wurden, nachdem dort die Zimmer und die Baulichkeiten im Hofe offenbar geplündert und zerstört worden waren.

Daß die wilden Eindringlinge entdeckt hätten, daß die Haifischinsel den Bewohnern der großen Insel jetzt als Zufluchtsstätte diente, das war bald nicht[438] mehr zu bezweifeln. Wiederholt glitten ein halbes Dutzend Piroguen über die Rettungsbucht und steuerten auf das Eiland zu. Mehrere von Ernst und Jack abgefeuerte Geschosse bohrten eine oder zwei davon in Grund und trieben die anderen in die Flucht. Von diesem Zeitpunkte an wurde es aber nöthig, Tag und Nacht aufmerksam zu wachen. Am meisten zu fürchten und am schwierigsten abzuweisen war ja offenbar ein Angriff, der im Dunkel der Nacht erfolgte.

Aus diesem Grunde hatte der ältere Zermatt, nachdem der Zufluchtsort hier einmal bekannt geworden war, auch die Flagge auf dem Batteriehügel wieder aufgezogen für den – freilich höchst unwahrscheinlichen – Fall, daß ein Schiff in Sicht der Neuen Schweiz vorübersegelte.

31. Capitel
Einunddreißigstes Capitel.
Der neue Morgen. – Einrichtung in dem in der Mitte gelegenen Vorrathshause. – Die vier nächsten Tage. – Das Erscheinen der Piroguen. – Getäuschte Hoffnung. – Nächtlicher Ueberfall. – Die letzten Patronen. – Ein Kanonenschuß vom Meere her.

Die letzten Stunden der Nacht vom 24. zum 25. Januar verliefen unter lebhaften Gesprächen. Wieviel hatten alle auch einander mitzutheilen, wie viele Erinnerungen wachzurufen, wie viele Sorgen um die Zukunft auszumalen! Niemand dachte daran, zu schlafen, und keiner schlief auch, mit Ausnahme des kleinen Bob. Selbstverständlich versäumten es der ältere Zermatt und seine Gefährten auch nicht, bis mm Morgenrothe wie bisher scharf zu wachen, und hielten sich unter gegenseitiger Ablösung neben den beiden Caronnaden auf, wovon die eine mit einer Kugel, die andere mit Kartätschen geladen war.

Wie erwähnt, wäre das gefährlichste ein Ueberfall während der Nacht gewesen, wenn es den Wilden gelang, aus Land zu kommen, ehe sie bemerkt wurden.

Die Haifischinsel, die etwas größer war als die eine Lieue weit im Norden am Eingange zur Flamingobai gelegene Walfischinsel, bildete ein Oval von zweitausendsechshundert Fuß Länge bei siebenhundert Fuß Breite, sie hatte also einen Umfang von etwa dreiviertel Lieues. Am hellen Tage war ihre Ueberwachung[439] ziemlich leicht, da diese aber zwischen Untergang und Aufgang der Sonne ebenso zuverlässig sein mußte, entschied man sich nach einem Vorschlage des Kapitäns Gould dafür, längs des Ufers Patrouillengänge vorzunehmen.

Als der Tag graute, war die Ruhe durch nichts gestört worden. Wußten die Wilden auch. daß das Eiland eine kleine Besatzung hatte, so konnten sie doch gar nicht ahnen, daß diese ihnen mit Hilfe der in der Nacht eingetroffenen Verstärkung einen ernsten Widerstand entgegensetzen könnte. Jedenfalls aber mußten sie bald bemerkt haben, daß eine von ihren Piroguen fehlte... die eine, die den Kapitän Gould und seine Gefährten vom Ufer bei Falkenhorst nach der Haifischinsel hinübergetragen hatte.

»Vielleicht, meinte Fritz, glauben sie, daß das Canot von der Ebbe mit hinausgeführt worden sei.

– Auf jeden Fall, liebe Freunde, antwortete der ältere Zermatt, wollen wir sorgsam auf unserer Hut bleiben. So lange das Eiland nicht überrascht wird, haben wir nicht viel zu fürchten. Obwohl jetzt unserer fünfzehn, ist unsere Ernährung, von der Antilopenherde ganz zu schweigen, durch den Inhalt des Vorrathshauses allein für lange Zeit gesichert. Der Süßwasserquell ist unerschöpflich, und mit Munition sind wir, wenn nicht oft wiederholte Angriffe erfolgen, reichlich genug versehen...

– Was zum Teufel, rief John Block, jene Affen ohne Schwanz werden sich doch nicht ewig auf der Insel umhertreiben!

– Wer kann das wissen? erwiderte der ältere Zermatt. Haben sie sich in Felsenheim häuslich eingerichtet, so werden sie schwerlich wieder daraus abziehen. Ach, daß unsere schöne Wohnstätte, die schon vorbereitet war, Euch, meine Kinder, alle aufzunehmen, jetzt in der Gewalt jener Burschen sein muß!

– Liebe Mutter, bemerkte Jenny, ich glaube nicht, daß sie in Felsenheim etwas zerstört haben, denn sie haben ja kein Interesse daran, das zu thun. Wir werden unsere Wohnung schon noch in gutem Zustande wiederfinden und dort das gemeinschaftliche Leben mit Gottes Hilfe wieder aufnehmen...

– Ja, mit der Hilfe Gottes, setzte Franz hinzu, der uns nicht verlassen wird, nachdem er uns wie durch ein Wunder erst wieder zusammengeführt hat...

– O, wenn ich im stande wäre, ein Wunder zu thun! rief Jack.

– Nun, welches würde das denn sein, Herr Jack? sagte der Obersteuermann.

[440] – Zunächst, antwortete der junge Mann, würde ich die Spitzbuben veranlassen, Fersengeld zu geben, ehe sie einen Versuch, an der Insel zu landen, unternähmen, denn so viele ihrer auch sind...


Die Männer traten ihre Rundgänge längs des Ufers an. (S 446.)

– Und dann? fragte Harry Gould weiter.

– Dann, Herr Kapitän, würde ich, wenn sie doch darauf beharren sollten, unsere Insel besetzt zu halten, im richtigen Augenblick die »Licorne« oder die anderen Schiffe eintreffen lassen, die doch bald ihre Flaggen vor der Rettungsbucht zeigen müssen.

[441] – Das, lieber Jack, fiel Jenny ein, wäre aber kein Wunder mehr, da es sich doch auf ganz natürlichem Wege erfüllen wird. Binnen wenigen Tagen werden wir so wie so die Kanonen ihren Gruß der neuen englischen Colonie entbieten hören.

– Es ist sogar merkwürdig genug, daß uns noch kein Fahrzeug zu Gesicht gekommen ist, sagte Herr Wolston.

– Geduld, nur Geduld, antwortete John Block, lassen wir den Dingen ihren Lauf. Es trifft ja alles eines Tages ein...

– Gott gebe es!« sagte seufzend Frau Zermatt, deren Vertrauen durch diese harten Prüfungen stark erschüttert war.

Nachdem die beiden Familien also ihre Existenz in der Neuen Schweiz gesichert, nachdem sie deren natürliche Hilfsquellen in so hohem Grade erschlossen und durch ihre Arbeit und Intelligenz noch weiter vermehrt hatten, sahen sie sich jetzt gezwungen, auf einem zu jener gehörigen Eilande sozusagen von vorn anzufangen. Denn wer konnte sagen, wie lange sie hier wohl gefangen blieben oder ob sie nicht gar noch in die Hände der Feinde fielen, wenn ihnen nicht von außen Hilfe kam?

Sie begannen also, sich für mehrere Wochen, viel leicht für mehrere Monate, so gut es anging, einzurichten, und da das Vorrathshaus geräumig genug war, fünfzehn Personen Unterkommen zu gewähren, sollten Frau Zermatt, Frau Wolston, Jenny, Suzan und ihr Kind, Annah und Doll die Schlafstätten in dessen zweiter Abtheilung zugewiesen bekommen, während die Männer sich in der ersten einrichteten.

Jetzt in der schönen Jahreszeit waren die Nächte nach den sehr warmen Tagen ausnehmend mild. Einige Armvoll an der Sonne getrocknetes Gras, mehr bedurfte es als Lager nicht für den Kapitän Gould und den Obersteuermann, für die Herren Zermatt und Wolston, für Fritz, seine Brüder und für James, die einander vom Abend bis zum Morgen in der Ueberwachung der Umgebung des Eilandes ablösen sollten.

Wegen der nöthigen Nahrung brauchte sich, wie der ältere Zermatt versichert hatte, niemand Sorge zu machen. Die Vorräthe an Reis, Maniok, Mehl, geräuchertem Fleisch, getrockneten Fischen, Lachsen und Heringen, ohne von den frischen Fischen zu reden, die am Fuße der Uferfelsen gefangen werden konnten... diese Vorräthe genügten bestimmt, die täglichen Bedürfnisse sechs Monate lang zu decken. Die Mango-und die Cocosbäume des Eilandes lieferten überdies[442] Früchte in Ueberfluß. Zwei Tönnchen mit Brandy gestatteten, dem frischen und klaren Quellwasser einige Tropfen davon zuzusetzen.

Woran am ersten Mangel eintreten konnte – und das war gerade von besonderer Wichtigkeit – das war an dem Vorrath von Schießbedarf, obwohl man auf der Schaluppe nicht zu wenig davon mitgebracht hatte. Gingen infolge wiederholter Angriffe das Pulver, die Geschosse und die Gewehrkugeln zu Ende, so war an eine wirksame Vertheidigung nicht mehr zu denken.

Während der nothdürftigen Einrichtung des Vorrathshauses, mit der sich der ältere Zermatt. Ernst und Herr Wolston beschäftigten, durchstreiften Harry Gould. John Block. Fritz. Franz und Jack das Gebiet der Haifischinsel. Fast an allen Seiten gestattete diese, infolge der Strandbildung, die sich von einem Felsenvorsprunge zum anderen hinzog, eine ziemlich leichte Landung. Der am besten vertheidigte Theil war der, über dem der Batteriehügel aufstieg, der das südwestliche Ende des Landes bildete und der Rettungsbucht gegenüberlag. An dessen Fuße waren mächtige Steinblöcke übereinander gethürmt, auf die vom Meere aus kaum jemand gelangen konnte. Ueberall sonst freilich fanden leichte Fahrzeuge, wie die Piroguen, genügende Wassertiefe bis dicht ans Ufer. Das zwang also unbedingt zu einer scharfen Ueberwachung der Nachbarschaft der Küste.

Bei ihrem Wege durch das Eiland konnten Fritz und Franz sich von dem vortrefflichen Gedeihen der Anpflanzungen überzeugen. Die Mango- und Cocosbäume, ebenso wie die Pinien, zeigten das beste Aussehen. Ein dichtes Gras bedeckte die Weidestrecken, wo sich die Antilopenherde in munteren Sprüngen tummelte. Zahlreiche, von Baum zu Baum flatternde Vögel ließen ihre Stimmen erschallen. Ein wolkenloser Himmel strahlte Licht und Wärme über Land und Meer. Wie wohlthätig hätte man da die Schattenkuhle von Falkenhorst oder Felsenheim empfunden!

Am Tage, nachdem die Familien auf dem Eiland Zuflucht gesucht hatten, stellte sich bei ihnen ein Vogel ein, der mit großer Freude begrüßt wurde: der Albatros vom Rauchenden Felsen, den Jenny an der Schildkrötenbucht wieder angetroffen hatte und der vom Gipfel des Pic Zermatt nach dem Gelobten Lande zu davongeflogen war. Als er sich zeigte, hatte das an einem seiner Füße noch hängende Fadenendchen die Aufmerksamkeit Jacks erregt, dem es leicht gelang, das Thier einzufangen – leider brachte es diesmal keinerlei Benachrichtigung mit.

Fritz, Franz, der Kapitän Gould, Herr Wolston und der Obersteuermann begaben sich nach der Batterie. Von deren Hügel aus reichte der durch kein [443] Hinderniß gehemmte Blick im Norden bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung, im Osten bis zum Cap im Osten und im Westen über die ganze Rettungsbucht hinaus. Nach Westen hin erhob sich, in der Entfernung von dreiviertel Lieues, die sich langhin erstreckende Baumreihe, die das Ufer zwischen der Mündung des Schakalbaches und dem Falkenhorster Walde begleitete. Ueber dieser hinaus wäre es schwer zu erkennen gewesen, ob die Eingeborenen noch immer im Gebiete des Gelobten Landes umherschweiften oder nicht.

Eben jetzt zeigten sich einige, von Pagaien bewegte Piroguen am Eingange der Rettungsbucht, hielten sich dann aber vorsichtig genug in genügender Entfernung, um nicht in den Schußbereich der Batterie zu gerathen. Die Eingeborenen wußten offenbar recht gut, welcher Gefahr sie sich bei einer Annäherung an die Haifischinsel aussetzten, und wenn sie an dieser wirklich noch eine Landung versuchten, so wagten sie es sicherlich nur unter dem Schutze der Nacht.

Blickte man im Norden nach der offenen See hinaus, so sah man nichts, als die ungeheuere Wasserwüste, und von dieser Seite her hätte doch die »Licorne« oder jedes andere, von England ausgegangene Schiff auftauchen müssen.

Nachdem sich Fritz, Franz, Harry Gould und John Block bei der Batterie überzeugt hatten, daß die beiden Caronnaden schußfertig waren, wollten sie eben wieder den Hügel verlassen, als der Kapitän Gould fragte:

»Hatten Sie denn nicht einigen Vorrath von Pulver drüben in Felsenheim?

– Ja, gewiß, antwortete Jack. Ach, wenn dieser doch lieber hier als noch da draußen wäre! In Felsenheim liegen noch die drei Fäßchen, die uns die »Licorne« überlassen hatte.

– Und wo lagern sie?

– In einer Felsenhöhlung, die uns als Pulverkammer diente, ganz am Ende des Küchengartens.

– Und wahrscheinlich, bemerkte der Obersteuermann, der die Gedanken seines Kapitäns errieth, werden die Schurken diese Pulverkammer entdeckt haben.

– Das ist leider zu befürchten, antwortete Herr Wolston.

– Vor allem, erklärte der Kapitän Gould, ist zu befürchten, daß sie in ihrer Unkenntniß eine Dummheit begehen und die ganze Wohnstätte in die Luft sprengen...

– Und sich selbst mit! rief Jack. Nun, müßte Felsenheim durch eine Explosion zu Grunde gehen, so wäre das doch eine Lösung, und was von den [444] Spitzbuben dann noch auf unserer Insel am Leben wäre, das würde jedenfalls entfliehen, ohne Lust zur Wiederkehr zu verspüren!«

Das ließ sich ja annehmen; doch war es wirklich wünschenswerth, daß dieser Fall eintrat, selbst wenn die Neue Schweiz dadurch von den Eindringlingen befreit würde?

Während der Obersteuermann bei der Batterie zurückblieb, kehrten die übrigen nach dem Vorrathshause zurück. Die erste Mahlzeit wurde gemeinschaftlich verzehrt, und welche Freude hätte dabei geherrscht, wenn die daran theilnehmenden jetzt im Speisezimmer von Felsenheim gesessen hätten.

Wir brauchen hier nicht die Einförmigkeit der nächstfolgenden Tage. des 25., 26., 27. und 28. Januar, zu schildern. Sie brachten keinerlei Veränderung der Sachlage Abgesehen von dem ununterbrochenen Wachdienst, wußte man kaum die langen Stunden hinzubringen. Ach, welcher Unterschied, und wie glücklich und zufrieden hätte diese ganze kleine Welt gelebt, wenn die »Licorne« nicht gezwungen gewesen wäre, wegen unaufschiebbarer Ausbesserungen in Capetown zurückzubleiben, was die Einschiffung ihrer Passagiere auf der »Flag« zur Folge gehabt hatte. Schon seit zwei Monaten wären dann alle in Felsenheim vereinigt gewesen. Und nachdem jetzt Fritzens und Jennys Vermählung schon zur Thatsache geworden war, wer weiß, ob nicht bereits eine zweite nahe daran gewesen wäre, gefeiert zu werden: die Ernsts und Annahs, die der Geistliche der Corvette in der Kapelle von Felsenheim vollzogen hätte. Und wahrscheinlich wäre sogar von einer dritten Ceremonie derselben Art die Rede gewesen... die freilich erst später stattfinden sollte, wenn Doll ihr achtzehntes Jahr vollendet hätte... eine Ceremonie, bei der Franz – zur großen Befriedigung der beiden Familien, die damit gänzlich zu einer verschmolzen – die Hauptrolle gespielt hätte.

An die Verwirklichung dieser so heiß ersehnten Bündnisse war unter den obwaltenden Umständen freilich nicht zu denken. Jetzt drohte ja noch ernstlich genug die schlimmste Gefahr von der Anwesenheit der Wilden auf der Insel, und waren alle auf das unzulängliche Eiland beschränkt, dessen sich vielleicht jene doch noch bemächtigten.

Immerhin kämpften alle mannhaft gegen jede Entmuthigung. John Block hatte nichts von seiner angeborenen guten Laune verloren. Zuweilen unternahm die kleine Gesellschaft Spaziergänge durch die Anpflanzungen und immer überwachte man die weite Rettungsbucht, obwohl kaum ein Angriff mittels der Piroguen zu erwarten war, so lange die Sonne ihren Tagesbogen beschrieb.

[445] Während der Nacht freilich herrschte mehr Beunruhigung wegen eines Ueberfalles, der die große Mehrheit der Angreifer für sich gehabt hätte.

Sobald die Frauen sich also nach der zweiten Abtheilung des Vorrathshauses zurückgezogen hatten, traten die Männer ihre Rundgänge längs des Ufers an, wobei verabredet war, am Fuße des Batteriehügels zusammenzutreffen, sobald sich die Feinde dem Eilande näherten.

Am 29. Januar war im Laufe des Vormittags auch noch nichts auffälliges zu bemerken Die Sonne schwebte am völlig dunstfreien Himmel. Der Tag versprach sehr warm zu werden, und selbst am Abend würde die Seebrise die Luft wohl kaum merkbar abkühlen.

Nach dem Mittagsessen verließen Harry Gould und Jack das Vorrathshaus, um Ernst und Herrn Wolston, die bei der Batterie Wache standen, abzulösen.

Diese beiden wollten eben hinunter gehen, als der Kapitän Gould sie aufhielt.

»Dort... dort draußen, sagte er,... mehrere Piroguen, die von der Mündung des Schakalbaches abstoßen...

– Sie fahren wohl, wie alle Tage, zum Fischfange aus, antwortete Ernst, und werden sich hüten, in den Schußbereich unserer Caronnaden zu kommen.

– Oho, rief Jack, der jene Seite der Bucht mit dem Fernrohre musterte, diesmal sind es aber mehr Piroguen als gewöhnlich... Richtig... fünf... sechs... neun... da kommen noch zwei aus der Einbuchtung hervor... elf... zwölf... Sollte denn die ganze Flottille nur zum Fischen auslaufen?

– Oder rüsten sich die Burschen, uns anzugreifen? sagte Herr Wolston.

– Vielleicht... ja... antwortete Ernst.

– Seien wir auf der Hut, empfahl Harry Gould, und wir wollen auch die anderen gleich benachrichtigen.

– Wir wollen doch zunächst erst beobachten, wohin sich die Piroguen wenden, bemerkte Herr Wolston.

– Auf jeden Fall sind wir bereit, mit unserer gesammten Artillerie Feuer zu geben,« setzte Jack hinzu.

In den wenigen Stunden, die Jack nahe der Elephantenbai in den Händen der Eingeborenen gewesen war, hatte er gesehen, daß die Zahl der Piroguen sich auf etwa fünfzehn belief und daß jede sieben bis acht Mann aufnehmen konnte.

[446] Jetzt gewahrte man, daß ein Dutzend dieser Fahrzeuge um die Spitze der kleinen Einbuchtung herumsteuerte. Mit Hilfe des Fernrohres war auch zu erkennen, daß die Fahrzeuge wohl die ganze Bande an Bord genommen hatten, daß also augenblicklich kein einziger Eingeborener mehr in Felsenheim sein werde.

»Sollten sie sich endlich davontrollen? rief Jack.

– Wahrscheinlich nicht, antwortete Ernst, sie scheinen mir eher einen Besuch der Haifischinsel vorzuhaben...

– Um welche Zeit beginnt die Ebbe? fragte der Kapitän Gould.

– Gegen halb zwei, antwortete Herr Wolston.

– Dann muß sie also bald eintreten, und da sie die Fahrt der Piroguen begünstigt, wird es ja bald klar sein, woran wir sind.«

Ernst war inzwischen fortgegangen, um seinem Vater, seinen Brüdern und dem Obersteuermann mitzutheilen, was jetzt vorging, und alle beeilten sich, nach dem Schuppen der Batterie zu kommen.

Es war jetzt etwas über ein Uhr, und bei Eintreten der Ebbe fuhren die Piroguen erst nur langsam längs der östlichen Küste hin. Damit blieben sie möglichst weit von dem Eilande entfernt und hielten sich außerhalb der Tragweite der Geschosse, deren verderbliche Wirkung sie schon genügend kennen gelernt hatten.

»Wenn es nun doch auf eine endgiltige Abfahrt hinauskäme? sagte Franz.

– Dann: glückliche Reise! rief Jack.

– Und auf das Vergnügen, die Kerle niemals wiederzusehen!« setzte John Block hinzu.

Immerhin wagte sich noch niemand hierüber mit Bestimmtheit auszusprechen oder eine so glückliche Entwickelung der Dinge anzunehmen. Die Piroguen warteten ja vielleicht nur auf die stärkere Ebbeströmung, um dann auf das Eiland zuzusteuern.

Fritz und Jenny standen, ohne ein Wort zu sprechen, beieinander, sie glaubten noch nicht, daß die Sachlage eine so nahe Lösung erfahren werde.

Frau Zermatt und Frau Wolston, Suzan, Annah und Doll flüsterten ein stilles Gebet.

Bald zeigte es sich, daß der Ebbestrom seine Wirkung auf die Piroguen äußerte.

Ihre Geschwindigkeit nahm zu, doch hielten sie sich noch immer nahe der Küste, als ob sie das Cap im Osten umschiffen wollten.

[447] Halb vier Uhr befand sich die Flottille in der Mitte zwischen der Rettungsbucht und dem Cap im Osten. Um sechs Uhr war kein Zweifel mehr möglich. Nach Umschiffung des Caps verschwand bald die letzte Pirogue hinter dieser Landspitze.

Weder der ältere Zermatt, noch einer der übrigen hatte den Hügel auch nur einen Augenblick verlassen.

O, welche Erleichterung, als keine Pirogue mehr zu sehen war! Die Insel war endlich von den gefährlichen Feinden befreit. Die Familien konnten bald nach Felsenheim zurückkehren, wo vielleicht nur unbedeutende Beschädigungen auszubessern waren. Dann hatte man nur noch auf das Erscheinen der »Licorne« zu warten. Die letzten Besorgnisse waren zerstreut... alle, alle sahen sich nach so vielen Schicksalsschlägen wieder glücklich vereinigt.

»Gehen wir nun gleich nach Felsenheim? fragte Jack in seiner Ungeduld, das Eiland zu verlassen.

– Ja... ach ja... rief die nicht minder ungeduldige Doll, der sich auch Franz anschloß.

– Wäre es nicht besser, bis morgen zu warten? bemerkte Jenny. Was denkst du wohl darüber, Fritz?

– Dasselbe wie Herr Wolston, der Kapitän Gould und mein Vater, antwortete Fritz, das heißt, die nächste Nacht noch auf dem Eiland zuzubringen.

– Ganz recht, ließ sich der ältere Zermatt vernehmen, ehe wir wieder in Felsenheim einziehen, muß doch erst entschieden sein, ob die Wilden nicht an eine Rückkehr dahin denken.

– O, die sind ja schon zum Teufel, rief Jack, und der Teufel läßt nie aus den Krallen, wen er einmal gepackt hat. Nicht wahr, wackerer John Block?

– Na... zuweilen doch,« antwortete der Obersteuermann.

Trotz des Drängens Jacks entschied man sich doch dafür, die Abfahrt bis zum nächsten Morgen zu verschieben, und die letzte Mahlzeit, die auf dem Eiland eingenommen werden sollte, sah alle noch einmal beisammen.

Es ging dabei recht fröhlich zu, und als es dunkel wurde, dachten wohl alle daran, der oft entbehrten Ruhe zu pflegen.

Alle Umstände ließen vermuthen, daß diese Nacht vom 29. zum 30. Januar ebenso ruhig verlaufen werde, wie die vielen friedlich stillen Nächte, die die Bewohner der Neuen Schweiz schon in Felsenheim oder Falkenhorst verbracht hatten.

[448] Weder die Herren Zermatt und Wolston, noch die anderen wollten jedoch die bisher beobachteten Vorsichtsmaßregeln gänzlich ausgesetzt wissen, obgleich seit dem Verschwinden der Piroguen jede unmittelbare Gefahr beseitigt schien. Man beschloß also, daß die einen die nächtlichen Rundgänge fortsetzen sollten, während die anderen bei der Batterie auf Wache bleiben wollten.


Offenbar ging der Kampf seinem Ende entgegen. (S. 453.)

Sobald Frau Zermatt und Frau Wolston, Jenny, Doll, Annah und Suzan sich im Vorrathshause zurückgezogen hatten, begaben sich Jack, Ernst, Franz und John Block, das Gewehr im Arme, nach dem nördlichen Ende des Eilandes; [449] Fritz und der Kapitän Gould erstiegen wieder den Hügel und machten sich einen Platz unter dem Schutzdache zurecht, wo sie bis zum Sonnenaufgang Wache halten sollten.

Herr Wolston, der ältere Zermatt und James blieben im Vorrathshause zurück, wo es ihnen gestattet wurde, bis zum Tagesanbruch zu schlummern.

Die Nacht war dunkel, der Mond nicht am Himmel. In den oberen Luftschichten sammelten sich Dunstmassen, die von dem stark erwärmten Erdboden aufstiegen. Der Wind hatte sich gegen Abend fast ganz gelegt. Ueberall herrschte tiefes Schweigen. Man hörte nichts als den Wellenschlag der ansteigenden Fluth, die seit acht Uhr eingetreten war.

Harry Gould und Fritz tauschten, nebeneinander sitzend, ihre Erinnerungen an alle die glücklichen und unglücklichen Ereignisse aus, die sie seit der Aussetzung der Schaluppe von der »Flag« erlebt hatten. Von Zeit zu Zeit trat einer hinaus und richtete bei einem Gange um die Batterie die Blicke vorzüglich nach dem dunklen Meeresarme zwischen den zwei Caps.

Nichts hat die Stille der Einsamkeit bis zwei Uhr Nachts unterbrochen, als der Kapitän und Fritz durch einen Knall aus ihrem Gespräche aufgeschreckt wurden.

»Ein Flintenschuß!« sagte Harry Gould.

– Ja, und der wurde von jener Seite her abgefeuert, antwortete Fritz, indem er nach dem Nordosten des Eilands hinwies.

– Was geht denn da vor?« rief der Kapitän Gould.

Unter dem Schutzdache hervorstürmend, suchten beide in der tiefen Finsterniß einen Lichtschein zu entdecken.

Da krachten schon zwei weitere Schüsse, und diesmal aus geringerer Entfernung.

»Die Piroguen sind zurückgekommen!« sagte Fritz.

Harry Gould bei der Batterie zurücklassend, eilte er hastig nach dem Vorrathshause.

Hier standen der ältere Zermatt und Wolston, die die Schüsse gehört hatten, bereits auf der Schwelle.

– »Was giebt es denn? fragte der ältere Zermatt.

– Ich fürchte, Vater, antwortete Fritz, daß die Wilden eine Landung versucht haben...

– Und daß diese den Schurken gelungen ist, rief Fritz, der mit dem Obersteuermann eben am Platze erschien.

[450] – Sie wären auf dem Eilande? wiederholte Herr Wolston.

– Ihre Piroguen sind an der nordöstlichen Spitze gerade in dem Augenblicke aus Ufer gestoßen, wo wir uns jener Stelle näherten, und mit unseren Schüssen haben wir sie nicht zu vertreiben vermocht. Jetzt bleibt nichts übrig...

– Als sich mannhaft zu vertheidigen!« fiel der Kapitän Gould ein.

Jenny, Doll, Annah, Suzan und die Frauen Zermatt und Wolston hatten ihren Schlafraum verlassen. In Voraussicht eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs mußte jetzt von Waffen, Munition und allerlei Vertheidigungsmitteln so viel wie möglich nach der Batterie geschafft werden.

Die Abfahrt der Piroguen war also nur eine Kriegslist gewesen; die Eingeborenen hatten den Glauben erregen wollen, daß sie die Insel endgiltig verlassen hätten; darauf waren sie unter Benützung des Fluthstromes nach der Haifischinsel, die sie zu überrumpeln hofften, zurückgekehrt. Bisher war ihnen der Erfolg treu geblieben. Obwohl ihre Anwesenheit gleich erkannt und sie mit Gewehrschüssen begrüßt worden waren, hatten sie doch auf der Landspitze Faß gefaßt, von wo aus es ihnen leicht werden mußte, nach dem Vorrathshause in der Mitte des Eilands vorzudringen.

Die Sachlage war also jetzt für die Vertheidiger arg verschlimmert, ja fast verzweifelt, da die Piroguen die ganze Rotte hatten landen können. Daß Zermatt und seine Gefährten imstande wären, ihnen erfolgreich entgegenzutreten, daß sie eine so große Zahl von Angreifern abwehren könnten, erschien ja fast unmöglich; daß sie aber unterliegen mußten, wenn ihnen die Munition ausgegangen war, das erschien nur zu gewiß, und sie gaben sich darüber auch keiner Täuschung hin. Auf jeden Fall blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich nach dem Hügel mit der Batterie zurückzuziehen, wo sie sich wenigstens eine Zeit lang vertheidigen konnten.

Frau Zermatt, Frau Wolston, Jenny, Annah, Doll, Suzan und ihr Kind mußten sich unter dem offenen Schuppen verbergen, der die beiden Geschütze überdachte. Sie ließen keinen Klagelaut hören, sondern bemühten sich vielmehr, ihre Angst zu bekämpfen.

Einen Augenblick kam dem älteren Zermatt der Gedanke, die Frauen mit der Schaluppe nach Falkenhorst überzusetzen. Was wäre aber aus den Aermsten geworden, wenn die Männer, nachdem das Eiland in die Gewalt der Feinde gefallen war, nicht wieder zu ihnen stoßen könnten? Uebrigens hätten sie niemals zugestimmt, sich von diesen zu trennen.

[451] Es mochte wenig über vier Uhr sein, als ein dumpfer Lärm von Tritten verrieth, daß die Wilden kaum noch hundert Toisen entfernt waren. Der Kapitän Gould, der ältere Zermatt und Wolston, Ernst, Franz, James und der Obersteuermann hielten die Gewehre fertig, sofort Feuer zu geben. Franz und Jack, die glimmende Lunte nahe dem Zündloche der Caronnaden, warteten nur darauf das Vorland des Hügels mit einem Kartätschenhagel zu überschütten.

Als die schwarzen Schatten beim ersten schwachen Tagesgrauen sichtbar wurden, gab der Kapitän Gould mit leiser Stimme Befehl, nach dieser Richtung hin zu feuern.

Sofort krachten sieben bis acht Schüsse, denen ein schrecklicher Aufschrei folgte, als Beweis, daß mehr als eine Kugel die Anstürmenden getroffen hatte. Es war ungewiß, ob die Angreifer nach diesem Empfange, der wohl geeignet war, sie aufzuhalten, die Flucht ergreifen oder ob sie sich nun auf den Hügel stürzen würden. Jedenfalls sollten die wieder schußfertig gemachten Gewehre ihnen weitere Kugeln entgegensenden, zu denen noch die Kartätschen der beiden Geschütze kämen, wenn sie den offenen Platz betraten, der sie jetzt noch von dem Hügel trennte.

Bis zum Anbruche des Tages mußten drei Angriffe zurückgeschlagen werden. Bei dem letzten gelang es aber doch etwa zwanzig der Eingeborenen, fast die Höhe des Hügels zu erreichen. Obwohl ziemlich viele von ihnen tödtlich getroffen waren, reichten die Gewehre leider nicht aus, sie zurückzuhalten, und ohne eine doppelte Entladung der Kanonen wäre die Batterie bei dem letzten Angriffe doch wahrscheinlich erobert worden.

Mit dem Anbruche des Tages hatte sich die Bande aber unter die Bäume in der Nähe des Vorrathshauses zurückgezogen, wo sie vielleicht die nächste Nacht zu einem wiederholten Sturme abwarten wollte.

Leider hatten der ältere Zermatt und die Seinigen schon einen großen Theil ihrer Patronen verschossen. Wenn man auf die Geschosse der Kanonen beschränkt war, die nicht so tief hinunter gerichtet werden konnten, um den Fuß des Hügels zu bestreichen, wie hätte man damit dessen Gipfel selbst vertheidigen sollen?.

Sofort wurde eine Berathung gepflogen, um sich über die Lage allseitig aufzuklären. Wenn es sich als unmöglich erwies, den Widerstand unter den jetzigen Verhältnissen lange fortzusetzen, war es dann nicht vielleicht ausführbar, die Haifischinsel zu verlassen, am Ufer bei Falkenhorst zu landen und im Innern des Gelobten Landes oder in einem anderen Theile der Insel Zuflucht zu suchen [452] und zwar alle, diesmal alle? Oder war es empfehlenswerther, sich rücksichtslos auf die Wilden zu stürzen und die Ueberlegenheit der Feuerwaffen gegenüber den Bogen und Pfeilen auszunützen, um die Wilden wieder zur Abfahrt zu zwingen? Der ältere Zermatt und seine Gefährten waren freilich nur ihrer neun gegen hundert Feinde, die den Hügel belagerten.

In diesem Augenblicke ertönte, gleich einer Antwort auf den letzten Plan, das Schwirren von Pfeilen in der Luft, von denen einige im Dache des offenen Schuppens stecken blieben, zum Glücke aber niemand verwundet wurde.

»Der Angriff beginnt von neuem, sagte John Block.

– Also Achtung... alle Achtung!« rief Fritz.

Wüthender als vorher stürmten die Eingeborenen heran, die vor den Kugeln und Kartätschen alle Scheu verloren zu haben schienen. Dazu begann die Munition knapp zu werden und das Feuer wurde mäßiger. Einzelne tollkühne Burschen krochen den Hügelabhang hinauf und erreichten wirklich dessen Höhe. Eine Entladung der beiden Geschütze aus nächster Nähe säuberte den Platz wieder von einigen Feinden, während Fritz, Jack, Franz, James und John Block mit den übrigen handgemein wurden. Da stürmten alle heran, hinweg über die Gefallenen, die am Fuße des Hügels lagen. Sie benützten jetzt nicht ihre Bogen, sondern eine andere Waffe, die zum Theile Axt, zum Theile Keule war, und in ihrer Hand zum furchtbaren Angriffsmittel wurde.

Offenbar ging der Kampf seinem Ende entgegen. Die letzten Kugeln waren verschossen, die Ueberzahl mußte siegen. Der ältere Zermatt und seine Gefährten versuchten sich noch rings um den Schuppen zu halten, der jetzt doch bald erstürmt werden mußte. Im Handgemenge mit mehreren Eingeborenen waren Fritz. Franz, Jack und Harry Gould nahe daran, nach dem Fuße des Hügels hinabgedrängt zu werden. Der Kampf mußte in wenigen Augenblicken zu Ende sein und der Sieg der Wilden war gleichbedeutend mit der Niedermetzelung aller, denn von diesen unmenschlichen Feinden war keine Schonung zu erwarten.

Da – es war genau acht Uhr fünfundzwanzig Minuten – ertönte, von dem wieder auffrischenden Nordwinde hierhergetragen, ein donnernder Schuß vom Meere vor der Insel.

Die Angreifer mußten ihn gehört haben, denn die vordersten wichen plötzlich zurück.

Fritz, Jack und die anderen drangen, einige nur leicht verwundet, wieder nach dem Schuppen zu vor.

[453] »Ein Kanonenschuß... rief Franz.

– Und zwar aus einem Schiffsgeschütze... darauf verstehe ich mich! erklärte der Obersteuermann.

– Da ist also ein Schiff in der Nähe, sagte der ältere Zermatt.

– Das ist die »Licorne«, antwortete Jenny.

– Und Gott ist es, der sie uns sendet!« murmelte Franz.

Eben hallte das Echo von Falkenhorst eine zweite und nähere Detonation zurück, und diesmal flüchteten die Wilden eiligst bis unter den Schutz der Bäume.

Sofort eilte Jack nach dem Flaggenmaste und erkletterte, gewandt wie ein Marsgast, dessen Spitze.

»Ein Schiff!... Ein Schiff!« rief er.

Alle Augen richteten sich nach Norden.

Jenseit des Caps der Getäuschten Hoffnung und dicht hinter seiner Spitze zeigten sich die vom Morgenwinde geschwellten oberen Segel eines Fahrzeuges.

Ein Dreimaster mit Backbordhalsen war im Begriff, das Cap zu umschiffen, das von dieser Stunde an das »Cap der Erlösung« genannt wurde.

Am Top des Besanmastes dieses Schiffes wehte die Flagge Großbritanniens.

Frau Zermatt, Frau Wolston, Jenny, Annah, Doll und Suzan traten aus dem Schuppen hervor und erhoben in freudiger Dankbarkeit die Hände gen Himmel.

»Und jene Räuber? fragte Fritz.

– In voller Flucht! antwortete Jack, der sich eben am Flaggenmast heruntergleiten ließ.

– Nun ja, in voller Flucht, setzte John Block hinzu, und wenn sie nicht schnell genug ausreißen, wollen wir ihnen doch mit unseren letzten Vierpfündigen auf die Beine helfen!«

Wirklich hatten die Eingeborenen, überrascht durch den von Norden her tönenden Geschützdonner und aufs höchste erschreckt durch das Erscheinen eines Schiffes, das um die Landspitze einbog, sich nach dem Meere hin geflüchtet, wo sie Hals über Kopf in ihre Piroguen sprangen. Sofort ruderten sie aus Leibeskräften mit den Pagaien davon und auf das Cap im Osten zu.

Der Obersteuermann und Jack, die sich wieder unter den Schuppen begeben hatten, richteten die bei den Geschütze auf die Fliehenden, und drei zerschmetterte Piroguen versanken auf der Stelle ins Meer.

[454] In dem Augenblicke, wo das Schiff, das mit vollen Segeln in den Meeresarm einlief, nach der Haifischinsel zu wendete, gab es aus seinen schweren Geschützen auch noch mehrere Schüsse ab. Die meisten Piroguen suchten vergeblich, zu entkommen, und nur zweien gelang es, hinter dem Cap zu verschwinden, um... nie wieder zurückzukehren.

32. Capitel
Zweiunddreißigstes Capitel.
Die »Licorne«. – Besitzergreifung im Namen Englands. – Keine Nachrichten von der »Flag«. – Heimkehr nach Felsenheim. – Eine Trauung in der Kapelle. – Mehrere Jahre. – Das Aufblühen der Neuen Schweiz.

Die »Licorne« war es in der That, die im Eingange der Rettungsbucht Anker geworfen hatte. Nach Ausbesserung der Havarien hatte der Kapitän Littlestone nach mehrmonatigem Aufenthalte Capetown verlassen und war nun endlich an der Neuen Schweiz eingetroffen, von der er officiell im Namen Englands Besitz ergreifen sollte.

Hier erfuhr nun der Kapitän Littlestone aus dem Munde Harry Gould's die Ereignisse, deren Schauplatz die »Flag« gewesen war.

Was aus diesem Schiffe geworden war, ob Robert Borupt in den berüchtigten Meerestheilen des Indischen Oceans Seeräuberei trieb oder ob seine Spießgesellen und er selbst in einem der furchtbaren Tornados jener Gegend umgekommen waren. davon sollte, wie bereits erwähnt, niemals etwas verlauten, und wir brauchen uns nicht weiter dabei aufzuhalten.

Welche Freude für die beiden Familien, als sie sich überzeugten, daß die Wohnung in Felsenheim nicht verwüstet worden war. Wahrscheinlich hatten die Eingeborenen die Absicht gehabt, für immer auf der Insel zu bleiben und sich die schöne Wohnung selbst zu nutze zu machen.


Die »Licorne« war es in der That. (S. 455.)

So fand sich denn keine Beschädigung in den Schlafräumen, keine Spur von Plünderung in den Nebenbauten und Scheunen, keine Verwüstung des Küchengartens oder der benachbarten Felder vor.

Sobald die Insassen Felsenheims dieses wieder bezogen hatten, kamen die Hunde, Türk, Braun und Falb, herbeigesprungen und gaben ihrer Freude durch[455] lautes Bellen Ausdruck. Später fand man auch die anderen Hausthiere wieder, die in der Nähe der Einfriedigung umhergeirrt waren, die Büffel Sturm und Brummer, den Strauß Brausewind, den Affen Knips, den Onagre Leichtfuß, die Kuh Blaß und ihre Weidegenossen, den Stier Brüll und seine Stallgefährten, die Esel Rasch, Pfeil und Flink, den Schakal und den Albatros Jennys, der über den Meeresarm zwischen der Haifischinsel und Felsenheim geflogen war.

Da nun bald mehrere von England ausgegangene Schiffe neue Colonisten mit all ihrer Habe bringen mußten, machte es sich nöthig, geeignete Plätze für[456] neue Bauten auszusuchen. Man entschied sich dafür, daß diese zunächst längs des Schakalbaches nach dessen Cascade zu errichtet werden sollten. Felsenheim würde damit zum ersten Dorfe der Colonie werden und später voraussichtlich zur Stadt anwachsen. Die Zukunft sicherte ihm ohne Zweifel den Rang der Hauptstadt der Neuen Schweiz, denn es würde jedenfalls das größte Gemeinwesen von allen bilden, die im Innern wie an der Küste des Gelobten Landes entstanden.

Die »Licorne« sollte ihren Aufenthalt in der Rettungsbucht übrigens bis zur Ankunft der erwarteten Einwanderer ausdehnen.


Das war die erste Trauung, die auf der Insel der Neuen Schweiz stattfand. (S. 458.)

Da herrschte denn jetzt reges [457] Leben an dem fruchtbaren Ufer bis Falkenhorst hinaus. Noch waren keine drei Wochen verstrichen, als eine Feierlichkeit, der man den höchsten Glanz zu verleihen wünschte, den Commandanten Littlestone, seine Officiere und die Mannschaft der Corvette, ferner den Kapitän Gould und den Obersteuermann mit den Familien Zermatt und Wolston vereinte, die sich mit noch engeren Banden als bisher miteinander verbinden sollten.

An diesem Tage vollzog der Geistliche der »Licorne« nämlich in der Kapelle von Felsenheim die Trauung Ernst Zermatt's mit Annah Wolston. Das war die erste, die auf der Insel der Neuen Schweiz stattfand, der aber später zahlreiche andere folgen sollten.

Zwei Jahre darauf schon wurde Franz der Gatte Doll Wolston's. Diesmal war es nicht in der bescheidenen Kapelle, wo der Pfarrer den längst erwünschten Ehebund einsegnete, die Feierlichkeit fand vielmehr in einer wirklichen Kirche statt, die sich auf halbem Wege an der Allee zwischen Felsenheim und Falkenhorst erhob und deren über die Bäume aufragender Glockenthurm von der Seeseite her drei englische Meilen weit sichtbar war.

Es wäre müßig, sich hier eingehender über die weitere Entwickelung der Neuen Schweiz zu verbreiten. Die vom Glücke begünstigte Insel sah ihre Einwohnerzahl von Jahr zu Jahr anschwellen. Die gegen Stürme wie gegen den Wogenschlag vom Meere geschützte Rettungsbucht bot den Schiffen, unter denen die Pinasse »Elisabeth« keine schlechte Rolle spielte, einen vortrefflichen Ankerplatz.

Selbstverständlich waren die Verkehrsverhältnisse mit der Reichshauptstadt bestens geregelt worden. Das gab dann Veranlassung zu einer einträglichen Ausfuhr der Erzeugnisse der Insel, ebenso der aus dem Gelobten Lande, wie aus den an die Bergkette im Süden grenzenden Gebieten von der Mündung des Montrose-Flusses an der Westküste aus. Nun gab es schon vier bedeutende Ortschaften: Waldegg, Prospect-Hill, Zuckertop und die Einsiedelei Eberfurt. An der Mündung des Montrose-Flusses war ein Hafen entstanden, ein anderer an der »Licorne«-Bai, beide durch fahrbare Straßen mit dem Inneren des Landes und mit der Rettungsbucht verbunden.

Jener Zeit, das heißt drei Jahre nach der Besitznahme durch England, überschritt die Zahl der Bewohner bereits das zweite Tausend. Die britische Regierung hatte der Neuen Schweiz Selbstverwaltung zugestanden, und der ältere Zermatt war zum Range eines Gouverneurs der Colonie erhoben worden. Gebe der Himmel, daß seine Nachfolger alle sich dieses vortrefflichen Mannes würdig erweisen!

[458] Hier sei auch erwähnt, daß eine Abtheilung indischer Truppen die Insel als Standort angewiesen bekam, nachdem die Befestigungen am Cap im Osten und am Cap der Erlösung (dem früheren Cap der Getäuschten Hoffnung) errichtet worden waren, zwei Anlagen, die nun den Meeresarm, der nach der Rettungsbucht führte, vollständig beherrschten.

Wilde Eingeborene waren hier zwar nicht mehr zu fürchten, weder solche von den Andamanen oder den Nicobareninseln, noch solche von der australischen Küste. Die Lage der Neuen Schweiz in dieser Gegend aber hatte, außer daß sie einen Erholungs- und Anlaufplatz für Seeschiffe bildete, vom militärischen Gesichtspunkte aus eine hervorragende Bedeutung, indem sie den Zugang zu dem Meere der Sundainseln und zu dem Indischen Oceane deckte. Das allein erklärte es schon, daß sie nicht ohne Festungswerke gelassen werden durfte.

Das wäre denn die vollständige Geschichte dieser Insel seit dem Tage, wo ein Vater, eine Mutter und vier Kinder durch ein Schiffsunglück hierher verschlagen worden waren. Zwölf Jahre hindurch hatte diese intelligente und fleißige Familie ohne Unterlaß gearbeitet und hatte alle Kräfte eines jungfräulichen Bodens, dessen Fruchtbarkeit ein subtropisches Klima begünstigte, reichlich zu entwickeln verstanden. Dabei hatte sich denn auch die Ertragsfähigkeit der Insel immer weiter gesteigert und ihr Wohlstand hatte zugenommen bis zu dem Tage, wo das Eintreffen der »Licorne« es ihr ermöglichte, Verbindungen mit der übrigen Welt anzuknüpfen.

Eine zweite Familie hatte sich, wie der Leser weiß, der ersten freiwillig angeschlossen, und nirgends hatte es wohl, leiblich und geistig, ein glücklicheres Zusammenleben gegeben, als das der wenigen Bewohner des fruchtbaren Gebietes des Gelobten Landes.

Später waren ihnen freilich schwere Prüfungen auferlegt worden, das Unglück hatte sich sozusagen gegen die wackeren Leute verschworen. Wie lange lebten sie in der Angst, die, die sie erwarteten, niemals wiederzusehen, und dazu kam obendrein das Unheil, von einer Bande Wilder überfallen zu werden.

Wir dürfen aber nicht verschweigen, daß sie, selbst in den traurigsten Stunden dieses Zeitraumes, aufrecht erhalten durch eine fromme Zuversicht, de nichts zu erschüttern vermochte, niemals an der Vorsehung verzweifelt hatten.

Endlich kamen auch die guten Tage wieder, und schlechte sind für dieses zweite Vaterland für die beiden Familien nicht mehr zu befürchten. Zur Zeit steht die Neue Schweiz in vollster Blüthe, höchstens wird sie nach und nach zu [459] klein, um alle, die sich nach ihr hingezogen fühlen, aufzunehmen. Ihr Handel findet bequemen Absatz in Europa wie in Asien, dank der Nähe Australiens, Indiens und der niederländischen Besitzungen. Glücklicherweise waren die Pepiten (Goldquarzstücke), die sich in der Thalmulde des Montrose-Flusses vorgefunden hatten, nur wenig zahlreich, und der Colonie blieb es darum erspart, von Goldsuchern überschwemmt zu werden, die doch überall nur Elend und Unordnung zurücklassen.

Die Ehen, die die Familien Zermatt und Wolston verbunden hatten, wurden vom Himmel reichlich gesegnet. Die Großväter und die Großmütter lebten in ihren Enkelkindern ordentlich wieder auf. Nur Jack hatte sich damit begnügt, Neffen und Nichten zu haben, die sich oft auf seinen Knien schaukelten. Er hatte einmal, wie er sagte, die Bestimmung, nur Onkel zu sein, und dieser gesellschaftlichen Aufgabe widmete er sich auch mit vollem Erfolge.

Auch für später ist das Gedeihen der Insel gesichert, und obgleich sie in den Colonialbesitz Großbritanniens übergegangen war, hat ihr England, ähnlich wie es Neuholland gegenüber geschehen ist, den Namen »Die Neue Schweiz« gelassen zur Ehre und zur Erinnerung an die Familie Zermatt.

Ende.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Das zweite Vaterland. Das zweite Vaterland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7577-9