Jules Verne
Clovis Dardentor


1. Capitel

[5] Erstes Capitel.
In dem die Hauptperson dieser Geschichte dem Leser nicht vorgestellt wird.

Als Beide den Bahnhof von Cette – nach Ankunft mit einem Zuge Paris-Mittelländisches Meer – verließen, wendete sich Marcel Lornans an Jean Taconnat mit den Worten:

[5] »Was beginnen wir nun hier bis zur Abfahrt des Dampfers?

– Nichts, antwortete Jean Taconnat.

– Wenn man sich aber auf den »Reiseführer« verlassen kann, ist Cette eine merkwürdige Stadt, zwar nicht von hohem Alter, denn sie wurde erst nach Erbauung ihres Hafens, des Auslaufs vom Canal von Languedoc, den man Ludwig XIV. verdankt, gegründet...

– Und das war vielleicht das Allerklügste, was Ludwig XIV. während seiner ganzen Regierungszeit gethan hat! fiel Jean Taconnat ein. Der Große König hat jedenfalls geahnt, daß wir uns hier am 27. April 1885 einschiffen würden.

– Sei doch einmal ernsthaft, Jean, und vergiß nicht, daß Südfrankreich uns hören kann! Mir erscheint es am gerathensten, Cette zu besuchen, da wir einmal in Cette sind, seine Canäle, seine Bucht mit den zwölf Kilometer messenden Hafendämmen, seine vom klaren Wasser eines Aquäducts berieselte Promenade zu besichtigen...

– Bist Du nun fertig, Marcel, mir nach Joanne zu recitieren?...

– Eine Stadt, fuhr Marcel Lornans unbeirrt fort, aus der ein Venedig hätte werden können...

– Und die sich damit begnügte, ein kleines Marseille zu bleiben! bemerkte Jean Taconnat.

– Wie Du sagst, mein lieber Jean, die Nebenbuhlerin der stolzen provençalischen Stadt und nach dieser der erste Freihafen am Mittelmeere, der Wein, Salz, Branntwein, Oele, chemische Erzeugnisse ausführt...

– Und der, versetzte Jean Taconnat, den Kopf abwendend, Schwätzer von Deinem Schlage dafür einführt!

– Doch auch Häute, La Plata-Wolle, Mehl, Südfrüchte, Stockfische, Böttcherholz, Metalle...

– Genug... genug! rief der junge Mann, den es drängte, sich dem Schwalle von Belehrungen, der über seines Freundes Lippen strömte, zu entziehen.

– Zweihundertdreiundsiebzigtausend Tonnen im Eingang und zweihundert fünfunddreißigtausend im Ausgang, fuhr der herzlose Marcel Lornans fort, noch zu schweigen von den Anstalten zum Einmachen von Anchovis und Sardinen, von den Salzwerken, die jährlich zwölf- bis vierzehntausend Tonnen liefern, von der so bedeutenden Küferei mit zweitausend Arbeitern, die zweimalhunderttausend Fässer herstellen...

[6] – Worin ich Dich zweihunderttausendmal eingeschlossen wünschte, mein redseliger Freund! Doch, die Hand aufs Herz, Marcel, was kann die hochentwickelte Gewerbs- und Handelsthätigkeit zwei tüchtige junge Leute interessieren, die sich mit der Absicht, beim 7. Regiment der Afrikanischen Jäger einzutreten, nach Oran begeben wollen?

– Auf der Reise ist alles interessant, selbst das Uninteressante, versicherte Marcel Lornans.

– Giebt's denn in Cette genug Baumwolle, um sich damit die Ohren zustopfen zu können?

– Unterwegs werden wir danach fragen.

– Der »Argeles« fährt in zwei Stunden ab, und meiner Ansicht nach ist es das beste, sofort an Bord des Dampfers zu gehen!« bemerkte Jean Taconnat.

Vielleicht hatte er damit nicht unrecht. Was wäre – und vorzüglich mit welchem Nutzen – in zwei Stunden von der sich täglich vergrößernden Stadt zu sehen gewesen? Die jungen Leute hätten sich nach dem Strandsee Thau neben die Mündung des Canals begeben müssen, von der aus jener anfängt, oder sie mußten den zwischen Strandsee und Meer vereinzelt aufragenden Kalksteinberg besteigen, den »Pfeiler von Saint-Clair«, dessen Seiten sich die Stadt amphitheatralisch anschmiegt und der in nächster Zukunft mit Fichtenanpflanzungen geschmückt sein wird. Gewiß lohnen sich dem Touristen einige Tage Aufenthalt an dem Hauptseehandelsplatze des südwestlichen Frankreich, der mit dem Meere durch den Canal du Midi, mit dem Landesinnern durch den Canal von Beaucaire in Verbindung steht und den zwei Bahnlinien, die eine über Bordeaux, die andre mitten durchs Land, mit dem Herzen Frankreichs verknüpfen.

Marcel Lornans bestand jedoch nicht länger auf seinen Vorschlägen und folgte gelehrig Jean Taconnat, der dem Dienstmann mit dem Gepäckkarren vorausschritt.

Das alte Bassin wurde nach kurzem Wege erreicht.

Die Reisenden vom Zuge, die dasselbe Ziel wie die beiden jungen Leute hatten, waren hier schon versammelt.

Eine Menge Neugieriger, wie solche ein in der Abfahrt begriffenes Schiff immer heranlockt, stand auf dem Kai, und es wäre wohl nicht übertrieben gewesen. deren Anzahl – bei einer Bevölkerung von sechsunddreißigtausend Seelen – auf hundert abzuschätzen.

[7] Cette hat regelmäßigen Dampferverkehr nach Algier, Oran, Marseille, Nizza, Genua und Barcelona. Reisende scheinen da am besten zu thun, wenn sie zur Ueberfahrt eine Linie wählen, die im westlichen Mittelmeer durch die Küste Spaniens und die Gruppe der Balearischen Inseln mehr geschützt ist. Heute wollten sich etwa fünfzig auf dem »Argeles«, einem Dampfer von mäßiger Größe – höchstens von acht- bis neunhundert Tonnen – einschiffen, der unter Führung des Kapitän Bugarach alle wünschenswerthe Sicherheit bot.

Der »Argeles« lag, schon mit angezündeten Feuern und schwarze Rauchwirbel aus dem Schornsteine blasend, im alten Hafenbassin am Molo von Frontignan im Osten. Nördlich davon erkennt man an seiner dreieckigen Gestalt das neue Bassin, in das der Seecanal mündet. Gegenüber liegt die kreisförmige Batterie, die den Hafen und den Molo von Saint-Louis vertheidigt. Zwischen diesem Molo und dem von Frontignan gewährt eine leicht zugängige Durchfahrt Zutritt in das alte Bassin.

Von letzterem Molo aus begaben sich die Passagiere auf den »Argeles«, während der Kapitän Bugarach die Unterbringung des Gepäcks und verschiedner Frachtstücke auf dem Verdeck persönlich überwachte. Der schon fast überfüllte Laderaum bot keinen leeren Platz mehr; überall waren darin Steinkohle, Böttcherholz, Oel, Eingesalznes und viel von den Verschnittweinen untergebracht, die Cette fabriciert und die einen wichtigen Bestandtheil seiner Ausfuhr bilden.

Ein paar alte Theerjacken – mit verwettertem Gesicht, unter dichten, buschigen Augenbrauen hervorglänzenden Augen, mit Ohren mit großem gerötheten Ohrläppchen und in den Hüften wiegendem Gange, als unterläge das Schiff einem ewigen Schwanken – plauderten, während sie gemüthlich ihr Pfeifchen schmauchten. Was sie sagten, konnte den Passagieren, die eine Ueberfahrt von dreißig bis sechsunddreißig Stunden schon vorher beunruhigt, nur angenehm zu hören sein.

»Prächtiges Wetter! meinte der Eine.

– Eine Nordostbrise, die allem Anscheine nach anhalten wird, setzte der Andre hinzu.

– Da muß es bei den Balearen hübsch kühl sein, bemerkte ein Dritter, der eben die letzte Asche aus der Thonpfeife klopfte.


Der Hafen von Cette und der Berg Saint-Clair.

– Mit Rückenwind würde der »Argeles« leicht seine neun Knoten in der Stunde machen können, mischte sich der Lootse ein, der seinen Posten auf dem Dampfer schon eingenommen hatte. Unter dem Commando des Kapitän [8] [11]Bugarach ist überhaupt nichts zu fürchten. Der hat den günstigen Wind unter der Mütze und er braucht sie nur abzunehmen, da bläst er ihm schon von der besten Seite in die Segel!«

Die alten Seebären waren ja recht guter Zuversicht. Doch giebt es nicht das Sprichwort: »Wer lügen will, braucht nur vom Wetter zu sprechen?«

Wenn die beiden jungen Leute jenen Vorhersagungen nur eine mittelmäßige Beachtung schenkten und sie sich obendrein in keiner Hinsicht wegen des Zustandes des Meeres noch wegen sonstiger Zwischenfälle auf der Ueberfahrt beunruhigten, zeigten sich die meisten Passagiere darin weniger gleichgiltig oder weniger philosophisch. Manche durchrieselte die Angst von oben bis unten, ehe sie noch einen Fuß an Bord gesetzt hatten.

Unter den letzteren machte Jean Taconnat seinen Freund Marcel auf eine Familie aufmerksam, die ohne Zweifel ihre erste Vorstellung auf der etwas unsichern Bühne des Mittelmeertheaters gab... eine metaphorische Phrase des lustigsten der zwei Freunde.

Diese Familie bestand aus der dreieinigen Gruppe des Vaters, der Mutter und des Sohnes. Der Vater war ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, mit Beamtengesicht, obwohl er weder dem sitzenden noch dem wandelnden Beamtenthum angehörte, mit graumeliertem Cotelettenbarte, einer wenig entwickelten Stirn, starkem Leibesumfang und – Dank seinen Schuhen mit hohen Absätzen – fünf Fuß zwei Zoll groß – kurz, eines jener dicken Männchen, die man allgemein als »Tabaksbeutel« bezeichnet. Bekleidet mit einem Sackpaletot aus starkem Diagonalstoffe, die Mütze über den ergrauten Schädel bis an die Ohren heruntergezogen, hielt er in der einen Hand einen Regenschirm in glänzendem Ueberzuge und in der andern eine Reisedecke mit Tigermuster, die eingerollt und mit einem Doppelriemen umschnürt war.

Die Mutter erfreute sich des Vorzugs, ihren Gatten um verschiedene Centimeter zu überragen. Es war eine trockne, magre, stocksteife Frau mit gelblichem Teint, hochmüthigem Ausdruck – jedenfalls infolge ihrer Körperlänge – mit einer Stirnbinde um das Haar, dessen Schwarz, wenn man sich den Fünfzigern nähert, immer etwas Verdächtiges hat, einem festgeschlossnen Munde und mit Wangen, die stellenweise von leichten Bläschen besetzt waren. Die ganze Persönlichkeit war in einen braunwollnen, mit hellgrauem Pelzwerk besetzten Radmantel gehüllt. Eine Tasche mit Stahlbügel hing an ihrem rechten Arme und am linken ein Muff aus falschem Marder herab.

[11] Der Sohn war so ein Bursche von vielleicht einundzwanzig Jahren, mit nichtssagendem Ausdruck und langem Halse, der, im Vereine mit andern Eigenschaften, oft das Kennzeichen angeborner Beschränktheit ist, mit blondem, eben aufkeimendem Schnurrbart, blöden Augen mit Lorgnon für Kurzsichtige, einer schlottrigen Haltung und mit dem Aussehen eines Wiederkäuers, der nicht wußte, was er mit seinen Armen und Beinen anfangen sollte, obwohl er Tanz-und Anstandsunterricht genossen hatte – mit einem Wort, einer jener Erzschwachköpfe, die zu nichts nütze sind und die, um einen Ausdruck aus der Algebra zu gebrauchen, am treffendsten mit einem »Minus«-Zeichen zu versehen wären.

Das war diese kleinbürgerliche Familie. Die Leute lebten von einer zwölftausend Francs betragenden Rente, die von zwei Erbschaften herrührte, und hatten niemals etwas gethan, sie zu vergrößern oder zu verkleinern. Aus Perpignan gebürtig, bewohnten sie dort ein altes Haus auf der Popinière, die sich am Têteflusse hinzieht. Wenn man sie in den Räumen der Präfectur oder der Steuereinnahme aufrief, wurden sie Herr und Frau Désirandelle und Herr Agathokles Désirandelle genannt.

Am Kai und vor der Landungsbrücke, über die man nach dem »Argeles« ging, angelangt, blieben sie stehen. Sollten sie sofort aufs Schiff gehen, oder bis zum letzten Augenblick vor der Abfahrt warten?... Wirklich, eine ernste Frage.

»Wir sind viel zu zeitig gekommen, Herr Désirandelle, murrte die Dame, das ist bei Dir aber immer so...

– Und Du, Frau Désirandelle, hast an all und jedem etwas auszusetzen,« antwortete der Mann in demselben Tone.

Das Pärchen nannte sich nie anders, als »Herr« und »Frau« Soundso – öffentlich, wie unter vier Augen, was sie für besonders vornehm hielten.

»Vorwärts, wir wollen an Bord gehen, schlug Herr Désirandelle vor.

– Eine Stunde vorher, rief Frau Désirandelle, wo wir nachher noch dreißig Stunden lang auf dem Schiffe bleiben müssen, das schon jetzt wie eine Korkscheibe schaukelt!«

Obgleich das Meer ruhig war, bewegte sich der »Argeles« in der That ein wenig, und zwar infolge einer leichten Dünung, die von dem alten Bassin trotz eines fünfhundert Meter langen, einige Kabellängen von der Durchfahrt errichteten Wellenbrechers nicht ganz fern gehalten wurde.

[12] »Wenn uns schon im Hafen die Furcht vor der Seekrankheit plagt, nahm Herr Désirandelle wieder das Wort, dann wär's besser gewesen, diese Reise gänzlich zu unterlassen.

– Glaubst Du, ich hätte ihr jemals zugestimmt, Herr Désirandelle, wenn es sich dabei nicht um Agathokles handelte...

– Nun gut, da sie einmal beschlossen ist...

– Hat man doch gar keine Ursache, sich früher als nöthig einzuschiffen.

– Wir müssen aber unser Gepäck unterbringen, unsre Cabine einnehmen, unsre Plätze im Speisesalon wählen, wie mir Dardentor angerathen hat...

– Du siehst ja aber, erwiderte die Dame trocknen Tones, daß Dein Dardentor selbst noch nicht eingetroffen ist.«

Sie erhob sich, um ihr Gesichtsfeld zu erweitern und ließ die Blicke über den Molo von Frontignan schweifen. Die mit dem glänzenden Namen Dardentor bezeichnete Persönlichkeit war jedoch nicht zu sehen.

»Ach, rief Herr Désirandelle, Du weißt ja, das ist so seine Mode! – Er wird erst im letzten Augenblicke erscheinen! Unser Freund Dardentor setzt sich immer der Gefahr aus, daß man ohne ihn abfährt.

– Nun, ich dächte, rief Frau Désirandelle, wenn das jetzt zuträfe...

– So würde es nicht das erste Mal sein.

– Warum hat er das Hôtel dann schon vor uns verlassen?

– Er wollte noch Pigorin, einen ihm befreundeten Böttcher besuchen, und hat versprochen, mit uns auf dem Dampfer zusammenzutreffen. Sobald er kommt. wird er an Bord gehen, und ich möchte wetten, daß er nicht auf dem Molo bleibt, um die Zeit zu vertrödeln.

– Er ist aber noch gar nicht da...

– Das wird nicht lange dauern, erwiderte Herr Désirandelle, der sich festen Schrittes dem Landgange näherte.

– Was denkst Du darüber, Agathokles?« fragte Frau Désirandelle, indem sie sich an ihren Sohn wendete.

Agathokles dachte gar nichts, einfach weil er überhaupt niemals über etwas nachdachte. Warum hätte der Tropf sich für dieses See- und Handelsleben, für den Transport von Waaren, die Einschiffung von Reisenden, für den Lärm an Bord, der der Abfahrt eines Dampfers immer vorausgeht, auch interessieren sollen? Eine Seereise zu unternehmen, um ein ihm bisher unbekanntes Land kennen zu lernen, erweckte in ihm nicht die freudige Neugier, die natürliche [13] Erregung, die bei Leuten seines Alters sonst zutage zu treten pflegt. Allem gleichgiltig, ja fremd gegenüberstehend, apathisch, ohne Phantasie oder Geist, ließ er den Dingen einfach ihren Lauf. Als sein Vater ihm gesagt hatte: »Wir werden nach Oran reisen,« hatte er mit einem »Ah« geantwortet; auf dieselbe Mittheilung seiner Mutter stieß er das nämliche »Ah!« hervor, und als Beide ihm sagten: »Wir werden dort einige Wochen bei Madame Elissane und ihrer Tochter wohnen, die Du bei ihrem letzten Aufenthalt in Perpignan kennen gelernt hast,« antwortete er wiederum: »Ah!« – Dieses Ausrufswort dient gewöhnlich als Ausdruck der Freude oder des Schmerzes, der Bewunderung oder des Mitleids. Was es im Munde des Agathokles bedeutete, ist schwer zu sagen, wenn nicht etwa ein Nichts in der Dummheit oder eine Dummheit im Nichts.

Als seine Mutter ihn aber fragte, was er darüber denke, so zeitig an Bord zu gehen, oder noch auf dem Kai zu bleiben, folgte er seinem Vater, als er diesen den Landgang betreten sah, einfach nach, und Frau Désirandelle mußte sich Beiden wohl oder übel anschließen.

Die beiden jungen Leute hatten auf dem Oberdeck des Dampfers bereits Platz genommen. Die lebhafte Bewegung ringsumher amüsierte sie. Das Erscheinen des einen oder andern Passagiers regte sie, je nach dem Typus des Individuums, zu dem oder jenem Gedanken an. Die Zeit der Abfahrt kam heran. Die Dampfpfeife zerriß die Luft. Dichter wirbelte der Rauch aus dem dicken Schornsteine nahe am Großmast, dessen Segelwerk von seinen gelblichen Hüllen bedeckt war.

Die Passagiere des »Argeles« waren zum größten Theile Franzosen, die sich nach Algerien begaben, Soldaten auf dem Rückwege zu ihren Regimentern oder Bataillonen, einige Araber und auch einzelne Marokkaner mit Oran als Ziel ihrer Reise. Die letzteren wendeten sich gleich nach dem Betreten des Decks dem für die zweite Classe bestimmten Theile des Schiffes zu. Auf dem Hintertheile vereinigten sich die Passagiere erster Classe, denen das Oberdeck, der allgemeine und der Speisesalon darunter, letztere mit Deckfenstern, die ihnen genügendes Licht zuführten, allein zugänglich waren. Die an den Seiten gelegnen Cabinen wurden durch Lichtpforten mit Linsengläsern erhellt. Auf dem »Argeles« herrschte offenbar weder der Luxus, noch die Bequemlichkeit, wie auf den Fahrzeugen der Transatlantischen Gesellschaft oder der Messageries maritimes. Die zwischen Marseille und Algerien verkehrenden Dampfer haben größern Tonnengehalt, schnelleren Gang und im allgemeinen bessre Einrichtung. Bei einer so [14] kurzen Ueberfahrt wie hier, braucht man aber nicht zu wählerisch zu sein. Den Schiffen zwischen Cette und Oran, die geringere Fahr- und Frachtpreise fordern, fehlte es denn auch niemals weder an Passagieren noch an Frachtgütern.

Wenn sich heute gegen sechzig Passagiere auf dem Vordertheile befanden, schien es, daß die des Hintertheils die Zahl von zwanzig bis dreißig nicht überstiegen. Einer der Matrosen läutete jetzt um zwei Uhr dreißig Minuten. In einer halben Stunde sollte der »Argeles« seine Sorrtaue einziehen, und bei der Abfahrt von Dampfern giebt es meist nicht viele Nachzügler.

Von ihrer Einschiffung an hatte sich die Familie Désirandelle einen Platz nahe der doppelflügligen Thür gesucht, die nach dem Speisesalon führte.

»Ach, wie das Schiff schon schaukelt!« hatte sich des Agathokles Mutter auszurufen nicht enthalten können.

Der Vater hütete sich, ihr zu antworten. Er beschäftigte sich ausschließlich mit der Auswahl einer Cabine für drei Personen und mit dem Belegen von drei Plätzen im Speisesalon nahe der Offiz. Hier kamen die Speisen zuerst auf die Tafel und man hatte die Auswahl unter den besten Stücken und war nicht auf das angewiesen, was die Andern übrig gelassen hatten.

Die Cabine, der er den Vorzug gab, trug die Nummer 19. An Steuerbord gelegen, befand sie sich ziemlich mittschiffs, wo das Stampfen des Fahrzeugs am geringsten ist. Vor dem Rollen und Schlingern konnte man sich freilich nirgends schützen. Am Vordertheile, wie am Hintertheile sind diese Bewegungen dieselben und gleichmäßig unangenehm für die Passagiere, die den Reiz einer wiegenden Bewegung nicht zu schätzen wissen.

Nach Besitznahme der Cabine und Ablegung des Handgepäcks, begab sich Herr Désirandelle, der die Verpackung ihrer Colli seiner Gattin überließ, mit Agathokles nach dem Speisesalon. Da sich die Offiz an der Backbordseite befand, wendete er sich ebendahin, um sich am Ende der Tafel drei Plätze, die er beanspruchte, durch Belegung mit seiner Karte zu sichern.

Ein Reisender saß schon an diesem Ende, während sich der Restaurateur nebst seinen Leuten damit beschäftigte, die einzelnen Couverts für die Mittagstafel um fünf Uhr in Ordnung zu bringen.

Der erwähnte Reisende hatte also schon von einem solchen Platze Besitz genommen und seine Karte zwischen die Falten der Serviette gesteckt, die auf einem mit dem Monogramme des »Argeles« geschmückten Teller stand. Ohne Zweifel wollte er, in der Befürchtung, daß ihm ein Eindringling diesen Platz [15] abwendig machen könnte, bis zur Abfahrt des Dampfers vor seinem Couvert gleich sitzen bleiben.

Herr Désirandelle warf ihm einen flüchtigen Blick zu und erhielt einen solchen zurück. Dabei hatte er aber die beiden Namen »Eustache Oriental« auf der Karte des Tischgenossen lesen können; dann belegte er dem Manne gegenüber seine drei Plätze und verließ den Speisesalon, um nach dem Oberdeck zurückzukehren.

An der Abfahrtszeit fehlten jetzt nur noch zwölf Minuten, und die auf dem Kai von Frontignan etwa verspäteten Passagiere mußten nun bald das letzte Signal der Dampfpfeife zu hören bekommen. Der Kapitän Bugarach überschritt den Landgang. Vom Vorderkastell aus überwachte der Obersteuermann des »Argeles« die Lösung der Haltetaue.

Herr Désirandelle wurde immer unruhiger und rief wiederholt mit ungeduldiger Stimme:

»Wenn er nun gar nicht käme!... Wo mag er stecken?... Was macht er denn?... Er muß doch wissen, daß es jetzt drei Uhr ist!... Er wird den Dampfer verfehlen!... Agathokles?...

– Was denn? fragte näselnd der jüngere Désirandelle, ohne daß er zu begreifen schien, was seinen Vater in so außergewöhnliche Aufregung versetzte.

– Du siehst Herrn Dardentor nicht?

– Ist er denn nicht gekommen?

– Nein, bis jetzt noch nicht.... Woran denkst Du denn?«

Agathokles dachte an nichts.

Herr Désirandelle lief auf dem Oberdeck von einem Ende zum andern, richtete einmal den Blick nach dem Kai von Frontignan und dann wieder nach der gegenüberliegenden Hafenmauer des alten Bassins. Der Ausgebliebne konnte nämlich auch auf dieser Seite auftauchen und ein Boot hätte ihn mit wenigen Ruderschlägen an die Seite des Dampfers befördert.

Kein Mensch war da zu sehen.

»Was wird Frau Désirandelle sagen! rief Herr Désirandelle in heller Verzweiflung. Sie sorgt sich so um ihn ab!... Ich kann es ihr doch nicht verhehlen! Wenn dieser Teufel von Dardentor nicht binnen fünf Minuten hier ist, was soll denn dann werden?«


»Was wünschen Sie?« (S. 18.)

Marcel Lornans und Jean Taconnat belustigten sich über die Verlegenheit des Männchens. Jedenfalls wurden die Sorrtaue des »Argeles« nun sehr bald [16] losgeworfen, wenn der Kapitän nicht näher unterrichtet wurde und wenn man annahm, daß dieser keine hergebrachte Gnadenviertelstunde bewilligte – was übrigens kaum geschieht, wenn es sich um Personenschiffe handelt – so würde man ohne Herrn Dardentor abfahren.

Jetzt zitterten und dröhnten die Kessel schon unter dem Hochdruck des Dampfes und aus dem Abblaserohre schossen weiße Wolken hervor; der Dampfer stieß sich an der Mauer gegen seine aus Stricken geflochtnen Schutzballons, während der Maschinist die Kolben langsam in Gang setzte und die Schraube sich etwas einlaufen ließ.

[17] In diesem Augenblicke erschien Frau Désirandelle auf dem Oberdeck. Trockner als sonst und blasser als gewöhnlich, wäre sie wohl in ihrer Cabine geblieben und hätte diese während der ganzen Fahrt nicht verlassen, wenn nicht auch sie eine wirkliche Unruhe hinausgetrieben hätte. Im Vorgefühl, daß Herr Dardentor doch nicht an Bord wäre, wollte sie trotz ihrer Schwäche den Kapitän Bugarach ersucht sehen, auf den noch ausgebliebnen Passagier zu warten.

»Nun...? redete sie ihren Gatten an.

– Er ist nicht eingetroffen! lautete die Antwort.

– Ohne Dardentor können wir aber unmöglich abreisen...

– Ja, wenn er jedoch...

– So sprich doch mit dem Kapitän, Herr Désirandelle!... Du siehst ja, daß mir die Kraft fehlt, zu ihm hinauf zu klettern!«

Der Kapitän Bugarach, der ein Auge auf alles hatte und der jetzt einen Befehl nach dem Vorderdeck und dann einen nach Hinterdeck ertheilte, schien nicht leicht zugänglicher Natur zu sein. An seiner Seite auf der Commandobrücke und die Hände auf dem Rade stand der Steuermann und wartete nur auf den Befehl, die Ketten des Steuerruders in Bewegung zu setzen. Jetzt war's der unpassendste Augenblick, ein Anliegen an ihn vorzubringen; auf Betrieb der ungeduldigen Frau Désirandelle kletterte der gehorsame Gatte aber doch die eiserne Leiter hinauf und hielt sich dann an den mit weißer Leinwand überzognen Leitstangen fest.

»Herr Kapitän?... begann er.

– Was wünschen Sie? antwortete ziemlich barsch »der Herr nächst Gott« mit einer Stimme, die durch seine Zähne rollte wie der Donner durch eine Wetterwolke.

– Sie denken abzufahren?

– Genau um drei Uhr... und daran fehlt nur noch eine Minute...

– Doch einer unsrer Reisegenossen hat sich verspätet...

– Desto schlimmer für ihn.

– Könnten Sie denn nicht etwas warten?

– Nicht eine Secunde!

– Es handelt sich aber um Herrn Dardentor!...«

Herr Désirandelle nahm mit Sicherheit an, daß die Nennung dieses Namens genügen würde, den Kapitän zu veranlassen, daß er die Mütze ziehend sich verneigte.

[18] »Wer ist das?... Dardentor?... Kenne ich nicht!

– Herr Clovis Dardentor... aus Perpignan...

– Schön! Wenn Herr Clovis Dardentor aus Perpignan nicht binnen vierzig Secunden an Bord ist, so wird der »Argeles« ohne Herrn Dardentor abfahren... Die Taue vorn losmachen!«

Herr Désirandelle kam mehr purzelnd als gehend die Leiter hinunter und auf dem Deck an.

»Es soll also fortgehen?.. rief Frau Désirandelle, der der Zorn die schon erbleichenden Wangen für eine Secunde mit Purpur übergoß.

– Der Kapitän ist der reine Unhold!... Er hört auf keine Bitte und will abfahren!

– So steigen wir augenblicklich wieder aus!...

– Frau Désirandelle, das geht nicht an!... Unser größres Gepäck ist mit in den Frachtraum hinunter geschafft...

– Wir steigen aus, sag ich Dir!

– Unsre Plätze sind schon bezahlt...«

Bei dem Gedanken an den dreifachen Verlust des Fahrpreises von Cette nach Oran wurde Frau Désirandelle wieder leichenblaß.

»Die gute Frau streicht die Flagge! sagte Jean Taconnat.

– Sie wird sich also ergeben!« setzte Marcel Lornans hinzu.

Und sie ergab sich wirklich, doch nicht ohne einen Schwall nutzloser Vorwürfe loszulassen.

»Ach, dieser Dardentor... er ist doch unverbesserlich!... Niemals da, wo er sein sollte!... Statt graden Wegs nach dem Schiffe zu gehen, nein, da muß er noch einmal zu jenem Pigorin laufen!... Und was werden wir... da draußen... in Oran... ohne ihn anfangen?

– O, wir erwarten ihn einfach bei Madame Elissane, antwortete Herr Désirandelle tröstend, er wird uns mit dem nächsten Dampfer nachkommen, und sollt' er auch einen von Marseille aus benützen.

– Nein, dieser Dardentor!... dieser Dardentor!... wiederholte die Dame, deren Blässe bei den ersten leisen Bewegungen des »Argeles« noch zunahm. Ach, wenn es nicht um unsers Sohnes willen wäre... wenn sich's nicht um das Glück und die Zukunft meines Agathokles handelte!«

Ob seine Zukunft und sein Glück dem unbedeutenden Burschen, dieser negativen Größe, wirklich so besonders am Herzen lagen, das hätte man, wenn man[19] ihn bei der leiblichen und geistigen Unruhe seiner Eltern so gleichgiltig sah, gewiß verneinen mögen.

Frau Désirandelle war am Ende ihrer Kräfte und sie konnte unter schwerem Aufseufzen nur die Worte rufen:

»Meine Cabine!... Meine Cabine!«

Der Landgang des Dampfers war eben von einigen Leuten nach dem Kai zurückgezogen worden. Nachdem der Dampfer sich am Vordertheile ein wenig von der Mauer entfernt hatte, machte er eine Wendung, um in die Richtung nach der Durchfahrt zu liegen zu kommen. Die Schraube arbeitete erst langsam rückwärts und erzeugte auf der Oberfläche des alten Bassins einen weißlichen Wasserwirbel. Die Dampfpfeife ließ ihren ohrzerreißenden Ton vernehmen, um in der Durchfahrt freies Fahrwasser für den Fall zu finden, daß noch ein Schiff hätte von außen da einlaufen wollen.

Herr Désirandelle warf noch einen letzten, verzweifelten Blick auf die Menschen, die der Abfahrt des Dampfers beiwohnten, und dann längs des Kais von Perpignan bis zu dessen Ende hin, wo der Nachzügler hätte auftauchen können... Mit einem Boote wär' es ihm ja auch jetzt noch möglich gewesen, den »Argeles« zu erreichen.

»Meine Cabine... meine Cabine!« murmelte Frau Désirandelle mit fast ersterbender Stimme.

Aergerlich über den widrigen Zufall und erbost über das Jammern seiner Frau hätte er diese sammt Herrn Dardentor am liebsten zum Henker gejagt. Das Dringlichste war es jedoch, Frau Désirandelle wieder in ihre Cabine zu schaffen, die sie gar nicht hätte verlassen sollen. Er bemühte sich also, sie auf der Bank, auf der sie halb ohnmächtig lag, emporzurichten. Dann faßte er sie um die Taille und trug sie mit Hilfe einiger Stewardesses vom Oberdeck nach dem Verdeck hinab. Nachdem sie so durch den Speisesalon und bis in ihre Cabine geschleppt worden war, wurde sie zum Theil entkleidet, niedergelegt und in Decken gewickelt, um ihre halb entschwundene Körperwärme wieder herzustellen.

Nach Vollendung dieser beschwerlichen Operation stieg Herr Désirandelle wieder zum Oberdeck hinauf, von wo aus seine wüthenden und drohenden Blicke die Hafendämme des alten Bassins überflogen.

Der Nachzügler war nicht da, und wäre er dagewesen, was hätte er anders thun können, als seine Schuld eingestehend sich an die Brust zu schlagen?

[20] Nachdem der »Argeles« sich gewendet, dampfte er mitten in die Durchfahrt ein, wobei ihm eine Menge Leute, die sich theils auf dem Hafendamme, theils um den Molo Saint-Louis drängten, noch Abschiedsgrüße zuwinkten. Dann fiel er leicht nach Backbord hin ab, um einer Goelette auszuweichen, die eben ins Bassin eingelaufen war. Nach Passierung der Durchfahrt endlich ließ der Kapitän Bugarach so steuern, daß er im Norden vom Wellenbrecher vorüberfuhr und das Cap von Cette mit halber Dampfkraft umschiffte.

2. Capitel

Zweites Capitel.
Worin dem Leser die Hauptperson dieser Erzählung wirklich vorgestellt wird.

»Da wären wir nun unterwegs, sagte Marcel Lornans, unterwegs nach...

– Dem Unbekannten, ergänzte Jean Taconnat die Worte des Freundes, nach dem Unbekannten, das man durchstöbern muß, um etwas Neues zu finden, hat Beaudelair gesagt.

– Nach dem Unbekannten, Jean?... Hoffst Du dem bei einer einfachen Fahrt von Frankreich nach Afrika, auf einer Reise von Cette nach Oran zu begegnen?

– Handelte es sich nur um eine Seefahrt von dreißig bis sechsunddreißig Stunden, Marcel, um eine einfache Reise, deren erstes und vielleicht einziges Ziel Oran wäre, dann möchte ich das nicht behaupten. Doch weiß man denn, wenn man abreist, wohin man kommt?...

– Gewiß, Jean, mindestens wenn ein Dampfer Dich dahin befördert, wohin Du Dich begeben sollst, soweit nicht Unfälle auf dem Meere....

– O, wer spricht denn davon, Marcel? unterbrach ihn Jean Taconnat wegwerfenden Tones. Seeunfälle, ein Zusammenstoß, ein Schiffbruch, eine Kesselexplosion und so eine zwanzigjährige Robinsonade auf wüster Insel... ich danke bestens!.. Nein, das Unbekannte – was mir übrigens wenig Kopfschmerzen macht – das ist das X des Lebens, das Geheimniß unsrer Bestimmung, das die Menschen in alten Zeiten auf das Fell der Ziege des Amalthäos gravierten, [21] das im großen Buche von Oben geschrieben steht, welches wir trotz der besten Brillen nicht lesen können; das ist die Urne, worin die Lose des Lebens liegen, die die Hand des Zufalls zieht....

– Halt! Einen Damm vor diese Hochfluth von Metaphern, Jean, rief Marcel Lornans, oder Du machst mich noch seekrank!

– Es ist die geheimnißvolle Decoration, vor der der Vorhang allmählich in die Höhe geht....

– Genug... genug!... Geh' nur nicht gleich von vornherein so ins Zeug!... Galoppiere nicht auf dem Steckenpferde der Chimären!... Reite nicht gleich mit verhängtem Zügel davon!

– Ah... sieh einmal an!... Jetzt scheint's mir, verirrst Du Dich ins Reich der Metaphern!

– Ja, Du hast recht, Jean! Nein, wir wollen nüchtern sprechen und die suchen ansehen, wie sie sind. Was wir vorhaben, liegt ja ziemlich klar vor Augen. Wir fahren, jeder mit tausend Francs in der Tasche, jetzt von Cette nach Oran, um dort bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten. Das ist sehr klug und weise, sehr einfach, und von dem Unbekannten mit seinen phantastischen Perspectiven ist darin keine Spur.

– Ja, wer weiß?« antwortete Jean Taconnat, indem er mit dem Zeigefinger ein Fragezeichen in die Luft schrieb.

Dieses Zwiegespräch, das an gewissen unterscheidenden Zügen den Charakter der zwei jungen Leute erkennen läßt, wurde auf dem hintern Theile des Oberdecks geführt. Von der Bank an dem mit Netzwerk ausgefüllten Geländer wurde der Ausblick nach vorn nur durch die Commandobrücke unterbrochen. die zwischen Groß- und Fockmast des Dampfers emporragte. Etwa zwanzig Passagiere saßen auf den Seitenbänken oder auf Klappstühlen, die ein an spinnewebförmig verzweigtem Hißtau hängendes Zeltdach vor den Strahlen der Sonne schützte.

Zu diesen Passagieren gehörten auch Désirandelle und sein Sohn. Der erstere lief fieberhaft auf dem Deck hin und her und hielt die Arme einmal auf dem Rücken und dann wieder zum Himmel empor. Hierauf lehnte er sich über das Geländer und starrte in das Kielwasser des »Argeles«, als ob der zur Robbe verwandelte Herr Dardentor mitten in dem dahinwirbelnden Schaumstrome auftauchen sollte.

Agathokles beharrte bei der Bewahrung vollständigster Gleichgiltigkeit gegenüber der Fehlrechnung, die seinen Eltern so viele Unruhe und Aerger bereitete.

[22] Von den übrigen Passagieren lustwandelten die einen, die gegen die, übrigens nur schwachen Bewegungen des Schiffes unempfindlicher waren, hin und her, plauderten, rauchten und ließen ein Fernrohr vom Dampfer von Hand zu Hand gehen, um die zurückweichende Küste zu betrachten, an der nach Westen hin schon einzelne stolze Berghäupter der Pyrenäen auftauchten; die andern, die von dem Schwanken des »Argeles« mehr belästigt wurden, saßen still auf den Rohrlehnstühlen in der Ecke, der sie für die ganze Ueberfahrtszeit den Vorzug gaben. Einzelne in Decken eingehüllte Damen, die der unvermeidlichen Unbehaglichkeit der Fahrt ergeben, wenn auch mit dem Ausdruck völliger Niedergeschlagenheit entgegensahen, hatten sich unter dem Schutz der Deckbauten mehr nach der Mitte zu niedergelassen, wo man das Stampfen und Rollen des Schiffes am wenigsten spürt... Gruppen von Müttern mit ihren Kindern, die ein recht hübsches Bild abgaben, doch gewiß bedauerten, nicht schon um fünfzig Stunden älter zu sein. Zwischen den weiblichen Reisenden bewegten sich die Stewardesses des Dampfers hin und her; zwischen den Herren mehrere Schiffsjungen, jedes Winks gewärtig, um herbeizueilen und ihre unentbehrlichen und oft erwünschten Dienste anzubieten.

Der Schiffsarzt des »Argeles« legte sich schon immer die gewohnte Frage vor, wie viele von den Passagieren wohl an der Tafel im Speisesalon Platz nehmen würden, wenn nach etwa zwei Stunden die Glocke zum Essen rief. Er täuschte sich auch nicht in der Annahme, daß wie gewöhnlich sechzig bis siebzig Procent davon bei der ersten Mahlzeit fehlen würden.

Es war das ein kugelrundes, lustiges, schwatzhaftes Männchen von unerschütterlicher guter Laune und trotz seiner fünfzig Jahre von überraschender Lebhaftigkeit. Er aß und trank tüchtig und besaß eine unglaubliche Sammlung von Recepten und Verordnungen gegen die Seekrankheit, an die er selbst nicht im geringsten glaubte. Er hatte aber so viele tröstende Worte zur Hand und redete seiner Passagier-Kundschaft so überzeugend zu, daß die unglücklichen Opfer Neptuns zwischen allem Jammer lächeln lernten.

»O, es wird nicht so schlimm werden, pflegte er zu sagen. Achten Sie nur hübsch darauf, beim Aufsteigen des Schiffes aus- und beim Senken desselben einzuathmen. Sobald Sie den Fuß wieder auf festen Boden setzen, ist die Sache gänzlich vorbei, dann fühlen Sie sich erst recht gesund!... Das verhütet viele spätre Krankheiten!... Ich sage Ihnen, so eine Ueberfahrt ist mindestens so viel werth, wie ein Saisonaufenthalt in Vichy oder in Uriage!«


[23]
Der »Argeles« dampfte mitten in die Durchfahrt ein. (S. 21.)

Die beiden jungen Leute hatten das lebhafte, muntre Männchen gleich anfangs gesehen, er nannte sich Doctor Bruno, und Marcel Lornans sagte zu Jean Taconnat:

»Das ist ja ein drolliger Doctor, der die Bezeichnung eines heimlichen Mörders nicht verdient...

– Doch nur, weil er eine einzige Krankheit behandelt, an der man überhaupt nicht zugrundegeht!«


»Ja, wer weiß?« antwortete Jean Tacounat. (S. 22.)

Und Herr Eustache Oriental, der nicht auf dem Verdeck erschienen war, unterlag dessen Magen schon bedauerlichen Umwälzungen oder – um einen[24] Ausdruck aus dem Seemannsjargon zu gebrauchen – »zählte er seine Hemden?« Man trifft Unglückliche, die solche dutzendweise haben – doch nicht in ihrer Reisetasche.

Nein! Der Träger jenes poetischen Namens war nicht krank. Er war es auf See niemals gewesen und würde es nie werden. Wer sich über die Treppe vom Oberdeck nach dem Speisesalon begab, der hätte ihn da »am guten Ende« der Tafel, an dem Platze sitzen sehen, den er erwählt hatte und vor dem Nachtische jedenfalls nicht verlassen wollte. Wer hätte ihm auch das Recht des ersten [25] Tischgastes streitig machen können? Uebrigens hätte die Gegenwart des Doctor Bruno genügt, um für Lebhaftigkeit auf dem Oberdeck zu sorgen. Mit allen Passagieren Bekanntschaft zu machen, war ja sein Vergnügen und seine Pflicht. Begierig zu hören, woher sie kamen und wohin sie gingen, neugierig wie eine richtige Evatochter, geschwätzig wie ein Paar Elstern oder Amseln, ein wahres Frettchen in einem Fuchsbau, ging er vom Einen zum Andern, beglückwünschte Alle, den »Argeles«, den besten, am vortheilhaftesten eingerichteten und deshalb bequemsten Dampfer der algerischen Linien zur Reise gewählt zu haben, einen Dampfer, den der Kapitän Bugarach führte und der – er sprach das nicht aus, doch er ließ es durchschimmern – einen Arzt wie den Doctor Bruno besaß u. s. w. u. s. w. Der »Argeles« werde schon mit jedem Sturme fertig, er durchpflüge das Mittelmeer, ohne sich nur die Nase seines Vorderstevens naß zu machen, u. s. w. u. s. w. Den Kindern bot der gute Doctor Zuckerplätzchen an... Die kleinen Engel könnten herzhaft zufallen... Da unten im Schiffsraume gäb' es davon noch Vorrath genug u. s. w. u. s. w.

Marcel Lornans und Jean Taconnat lächelten bei allen den Mätzchen des guten Mannes. Sie kannten schon diesen Schlag von Aerzten, der unter dem Personal der Ueberseedampfer nicht selten ist... die reine See- und Colonialzeitung!

»Ach, meine Herren, begann er, neben den beiden Freunden Platz nehmend, der Schiffsarzt hat die Pflicht, sich mit allen Passagieren bekannt zu machen... Sie werden mir also gestatten...

– Herzlich gern, Herr Doctor, versicherte Jean Taconnat. Da wir in die Lage kommen könnten, in Ihre Hände zu fallen – natürlich um auch daraus wieder aufzuerstehen – ist es angebracht, daß wir sie Ihnen drücken...«

Ein warmer Händedruck wurde gegenseitig ausgetauscht.

»Wenn mein Spürsinn mich nicht täuscht, fuhr der Doctor Bruno fort, hab' ich das Vergnügen, mit Parisern zu sprechen...

– Ganz recht, erklärte Marcel Lornans, mit Parisern, die auch aus Paris sind...

– Aus Paris... herrlich... rief der Doctor... aus Paris selbst... nicht aus der Bannmeile... vielleicht aus dem Centrum der Stadt?...

– Aus dem Viertel der Bank, antwortete Jean Taconnat, und wenn Ihnen daran liegt, daß ich das ganz genau angebe, aus der Montmartrestraße Nummer hundertdreiunddreißig, eine Treppe, Thüre links...

[26] – O, meine Herren, entschuldigte sich der Doctor Bruno, meine Fragen mögen wohl indiscret erscheinen. Doch das beruht auf meiner Thätigkeit... ein Arzt muß alles wissen, selbst das, was ihn gar nichts angeht. Sie verzeihen also...

– Bitte, bitte, das war schon vorher geschehen,« erklärte Marcel Lornans.

Nun ließ aber der Doctor Bruno die Flügel seiner Wörtermühle laufen. Seine Zunge arbeitete wie eine Klapper. Und mit welchen Ausrufen und Gesten begleitete er die Wiedergabe dessen, was er schon von dem und jenem in Erfahrung gebracht hatte; wie lachte er über die Familie Désirandelle, über den Herrn Dardentor, der ihr nicht Wort gehalten hatte, wie rühmte er im voraus das Diner, das vorzüglich sein werde, versicherte, daß der »Argeles« morgen früh in Sicht der Balearen schwimmen werde, wo er dann einen mehrstündigen, für alle Touristen höchst reizvollen Aufenthalt nehme... kurz, er ließ seiner Schwatzhaftigkeit, oder um ein Wort zu gebrauchen, das seinen Redeschwall noch besser kennzeichnet, seiner chronischen Logorrhoe völlig die Zügel schießen.

»Und bevor Sie sich einschifften, meine Herren, fragte er aufstehend, haben Sie wohl Zeit gefunden, Cette in Augenschein zu nehmen?

– Nein, Herr Doctor, zu unserm Bedauern nicht, antwortete Marcel Lornans.

– O, das ist schade!.. Die Stadt lohnt sich der Mühe!... Und haben Sie Oran schon einmal besucht?

– Noch nicht einmal im Traume!« erwiderte Jean Taconnat.

Jetzt kam ein Schiffsjunge, der den Doctor Bruno zum Kapitän Bugarach bestellte. Der Schiffsarzt verließ die beiden Freunde, doch nicht ohne sie noch mit neuen Höflichkeiten zu überschütten und mit der Absicht, ein Gespräch wieder anzuknüpfen, aus dem er noch so vieles erfahren konnte.

Es erscheint hier am Platze, das, was er über die Vergangenheit und die Gegenwart der beiden jungen Leute nicht gehört hatte, kurz zusammen zu fassen.

Marcel Lornans und Jean Taconnat waren Geschwisterkinder durch ihre Mütter, zwei Schwestern und geborne Pariserinnen. Beide verloren ihren Vater sehr frühzeitig und wuchsen unter mäßigen Vermögensverhältnissen auf. Erst Zöglinge derselben Schule, wandte sich Jean Taconnat nach Absolvierung derselben der höhern Handelswissenschaft zu, während Marcel Lornans sich dem [27] Studium der Rechte widmete. Sie gehörten von zu Hause den kleinbürgerlichen Handelskreisen von Paris an und hatten keinen hohen Ehrgeiz. Eng verbunden, gleich zwei Brüdern im nämlichen Hause, empfanden sie für einander die wärmste Zuneigung, eine Freundschaft, deren Band nichts würde zerreißen können, obwohl ihre Charaktere starke Unterschiede zeigten.

Der nachdenkende, aufmerksame und ordnungsliebende Marcel Lornans hatte das Leben frühzeitig von seiner ernsten Seite aufgefaßt.

Jean Taconnat dagegen war der richtige Gassenbube, ein entsprungenes Fohlen von permanentem Uebermuth. Er liebte das Vergnügen vielleicht etwas mehr als die Arbeit und war der, der das Haus immer in Bewegung und in lustiger Stimmung erhielt. Zog er sich durch seine ungestüme Lebhaftigkeit auch zuweilen Vorwürfe zu, so verstand er es doch aus dem Grunde, sich dafür Verzeihung zu erwirken. Im übrigen aber besaß er, ganz wie sein Vetter, Eigenschaften, die seine Fehler reichlich aufwogen.

Beide besaßen ein gutes, ehrliches und edles Herz. Einer wie der Andre verehrte seine Mutter aufrichtig, und man wird es Frau Lornans und Frau Taconnat verzeihen dürfen, ihre Kinder bis zur Schwäche geliebt zu haben, da diese das wenigstens nicht mißbraucht hatten.

Mit zwanzig Jahren traten sie als »Dispensierte« (etwa »Freiwillige«) ins Heer ein, wo sie nur ein Jahr unter der Fahne zu verbringen hatten. Ihre Zeit dienten sie in einem Jägerregiment ab, das nicht weit von Paris in Garnison lag. Auch hier wollte es das Glück, daß sie dieselbe Compagnie wie dasselbe Zimmer theilten. Das Leben im Quartier war ihnen keineswegs unangenehm. Sie verrichteten ihren Dienst mit Eifer und gutem Humor, waren vortreffliche Soldaten, die von ihren Vorgesetzten belobt, von ihren Kameraden geliebt wurden, und wären sie von Kindheit auf mehr darauf hingewiesen worden, hätten sie sich wohl nicht ungern dem Kriegshandwerk gänzlich gewidmet. Während ihres Urlaubs hatten sie zwar noch einige Stubenarreste abzumachen – und wer sich solche nicht zuzieht, scheint bei den Soldaten nicht gut angeschrieben zu stehen – dennoch verließen sie schließlich das Regiment mit dem Zeugniß »Gut« in der Tasche.

Ins mütterliche Haus zurückgekehrt, sahen Marcel Lornans und Jean Taconnat, die jetzt einundzwanzig Jahre zählten, wohl ein, daß die Stunde gekommen sei, an ernsthafte Arbeit zu gehen. In Uebereinstimmung mit ihren Müttern entschieden sich beide für den Eintritt in ein hochgeachtetes Handelshaus.

[28] Hier sollten sie sich zuerst über den ganzen Geschäftsgang unterrichten und sich dann selbst mit einem kleinen Capitale betheiligen.

Frau Lornans und Frau Taconnat redeten ihren Kindern zu, dem Glück auf diesem Wege die Hand zu bieten. Ihnen schien damit die Zukunft der geliebten Söhne gesichert. Sie schwelgten schon in dem Gedanken, daß jene in einigen Jahren etabliert sein, eine passende Ehe eingehen würden, daß sie aus einfachen Angestellten Associés, später, wenn auch noch jung an Jahren, Alleineigenthümer wären, daß ihre Geschäfte blühten, der hochachtbare Name der Großväter in den Enkeln fortleben werde u. s. w. u. s. w. – kurz, sie hegten allerlei Träume, wie alle Mütter, denen solche ja tief aus dem Herzen kommen.

Diese schönen Träume sollten leider nicht in Erfüllung gehen. Einige Monate nach ihrer Heimkehr vom Regiment und noch vor dem Eintritt in das Handelshaus, in dem sie sich die ersten Sporen verdienen sollten, traf die beiden Vettern ein doppelter, sie schmerzlichst verwundender Schicksalsschlag.

Eine epidemische Krankheit, die die mittleren Viertel von Paris schwer heimsuchte, raffte Frau Lornans und Frau Taconnat binnen wenigen Wochen hinweg.

Welcher Schmerz für die jungen Leute, die nun, von demselben Blitzstrahl getroffen, ihre Familie auf ihre Personen zusammengeschmolzen sahen. Sie waren wirklich wie vom Donner gerührt und konnten an ein solches Unglück gar nicht glauben lernen.

Jetzt mußten sie indeß nothwendig an die Zukunft denken. Sie erbten jeder etwa hunderttausend Francs, d. h. bei dem jetzt so sehr zurückgegangnen Zinsfuß eine Rente von drei- bis dreiundeinhalbtausend Francs. Bei so beschränktem Einkommen darf einer freilich kein Taugenichts oder Müßiggänger bleiben. Das wollten sie übrigens auch gar nicht. Doch war es rathsam, ihr kleines Vermögen in die zur Zeit recht schwierigen Geschäfte zu stecken, es den Wechselfällen der Industrie oder des Handels auszusetzen? Kurz, sollten sie den von ihren Müttern entworfnen Zukunftsplänen Folge geben?... Frau Lornans und Frau Taconnat waren ja nicht mehr da, sie dazu anzufeuern.

Nun gab es einen alten Freund der Familie, einen pensionierten Officier und früheren Rittmeister der Afrikanischen Jäger, der sich jetzt einmischte und dessen Einfluß sie unterlagen. Der Rittmeister Beauregard sagte ihnen grade heraus seine Meinung, die dahinging, daß sie ihr Erbtheil nicht aufs Spiel setzen. sondern es in guten französischen Eisenbahn-Obligationen anlegen sollten, [29] sie selbst aber möchten, da sie sich ihrer Dienstzeit ja mit Vergnügen erinnerten, wieder ins Heer eintreten... da würden sie bald zu Unterofficieren avancieren... nach abgelegtem Examen in die Kriegsschule von Saumur eintreten... darauf Unterlieutenants werden... damit würde sich ihnen eine schöne, interessante und hochgeachtete Carrière eröffnen... ein Officier mit dreitausend Francs Rente, ohne seinen Sold zu rechnen, befand sich, wenn man dem Rittmeister Beauregard glauben durfte, in der beneidenswerthesten Lage von der Welt.... Dann das weitere Avancement... später das Kreuz der Ehrenlegion... endlich der Ruhm... kurz, alles, was ein alter Kriegsmann von den Truppen in Afrika nur sagen konnte....

Es mag dahingestellt bleiben, ob Marcel Lornans und Jean Taconnat die Ueberzeugung theilten, daß der Soldatenberuf vor allem geeignet sei, Kopf und Herz jede Befriedigung zu gewähren, und auch, ob sie sich ebenso »gradeheraus« auf das Antwort gaben, was der Rittmeister Beauregard ihnen vorgeschlagen hatte. Sprachen sie unter vier Augen darüber, so erörterten sie wenigstens mehr als einmal die Frage, ob das für sie der einzige empfehlenswerthe Weg sei und ob sie, dem Pfade der Kriegerehre folgend, auch ihrem Glück entgegengehen würden..

»Was wagen wir bei einem Versuche? sagte Jean Taconnat. Vielleicht hat unser graubärtiger Eisenfresser doch recht. Er bietet uns Empfehlungen an den Oberst der Siebenten Jäger in Oran an.... Fahren wir also nach Oran... unterwegs können wir uns die Sache ja noch überlegen. Sind wir dann auf algerischem Boden, so unterzeichnen wir den Dienstcontract oder lassen es bleiben.

– Dann hat es uns aber die Ueberfahrt dahin gekostet.. bedenk es wohl, eine ganz nutzlose Ausgabe, wendete der weise Marcel Lornans ein.

– Sapperment, Du bist doch die Vernunft selbst! antwortete Jean Taconnat. Mit dem Aufwande von ein paar hundert Francs haben wir dann aber den Boden des zweiten Frankreich betreten! Sieh, diese schöne Phrase allein ist schon das Geld werth, Marcel.... Und dann... wer weiß?...

– Was willst Du damit sagen, Jean?

– Was man gewöhnlich damit sagt, nichts weiter...«

Nun, Marcel Lornans ergab sich ohne langes Zureden. Es wurde beschlossen, daß die beiden Vettern mit dem Empfehlungsschreiben des alten Schwadronsführers an seinen Freund den Oberst der 7. Jäger in der Tasche, nach Oran reisen wollten. Dort angelangt, wollten sie sich die Sache aus der Nähe ansehen, [30] und der Rittmeister Beauregard zweifelte gar nicht, daß ihre Entscheidung sich mit seinen Rathschlägen decken würde. Aenderten sie, wenn die Stunde zur Unterzeichnung des Dienstvertrages herangekommen war, ihre Entschließung, so stand es ihnen ja frei, nach Paris zurückzukehren und sich einer andern Laufbahn zuzuwenden. Aber selbst in dem Falle, daß ihre Reise nutzlos wäre, meinte Jean Taconnat doch, daß sie eine »circuläre« werden müsse. Was er unter diesem Worte verstand, war Marcel Lornans freilich nicht sofort klar.

»Ich verstehe darunter, fuhr jener deshalb fort, daß wir gut daran thun würden, uns bei dieser Gelegenheit das Land anzusehen.

– Und wie?

– Indem wir für Hin- und Rückreise verschiedne Wege wählen, das wird nicht viel mehr kosten, aber sehr viel angenehmer sein. Wenn wir uns zum Beispiel von Cette nach Oran einschifften und von da nach Algier gingen, um dann einen Dampfer nach Marseille zu benützen....

– Das wäre ein Gedanke!

– Ein vortrefflicher, sag ich Dir, Marcel! Ja, es sind die sieben Weisen Griechenlands, die durch meinen Mund sprechen!«

Marcel Lornans konnte einem Entschlusse, der so unzweideutig durch die größten Geister des Alterthums gutgeheißen war, nicht entgegentreten, und so kam es denn, daß sich die beiden Vettern heute, am 27. April, am Bord des »Argeles« befanden.

Marcel Lornans zählte jetzt zweiundzwanzig Jahre, Jean Taconnat nur einige Monate weniger. Der erstere, von übermittlerm Wuchs, war größer als der zweite – der Unterschied betrug jedoch nur zwei bis drei Centimeter – doch von eleganter Haltung und recht angenehmen Gesichtszügen. Dazu hatte er etwas verschleierte, ungemein sanft blickende Augen und blonden Bart, den er aber ohne Widerspruch den dienstlichen Vorschriften zu opfern bereit war.

Wenn Jean Taconnat die äußern Eigenschaften seines Vetters nicht besaß und nicht als das erschien, was man im Mittelstande einen »schönen Cavalier« zu nennen liebt, so darf man nicht glauben, daß er einen unangenehmen Eindruck gemacht hätte. Er war ziemlich stark gebräunt, hatte einen tüchtigen Schnurrbart, sprechenden Ausdruck, Augen von großer Lebhaftigkeit, graziöse Haltung und im Ganzen das Aussehen eines guten Jungen.

Der Leser kennt nun die beiden jungen Leute körperlich und geistig. Jetzt haben sie sich auf eine Reise begeben, die an sich nicht außergewöhnlich ist. Sie[31] sind einfach Passagiere der ersten Cajüte auf einem nach Oran bestimmten Dampfboote. Sollten sie sich nach der Ankunft in Cavaliere zweiter Classe bei den 7. Afrikanischen Jägern verwandeln?

»Wer weiß?« hatte Jean Taconnat als weltkluger Mann gesagt, der da weiß, daß der Zufall im menschlichen Schicksal eine hervorragende Rolle spielt.

Der seit fünfundzwanzig Minuten in Fahrt befindliche »Argeles« hatte seine volle Geschwindigkeit noch nicht entwickelt. Der Wellenbrecher lag bereits eine Seemeile hinter ihm und er war schon im Begriff, nach Südwesten hin zu wenden.

Der Doctor Bruno befand sich eben wieder auf dem Deck, hatte das Fernrohr in der Hand und richtete es nach dem Hafen zu auf einen sich bewegenden Gegenstand, der schwarze Rauch- und weiße Dampfwolken ausstieß.

Diesen Gegenstand einige Secunden zu beobachten, einen Schrei der Ueberraschung auszustoßen, die Leiter nach der Commandobrücke, wo sich der Kapitän Bugarach befand, hinauszukriechen, diesen mit halb erstickter, aber drängender Stimme anzurufen und ihm das Fernrohr in die Hand zu drücken, das war für den Doctor Bruno das Werk einer Minute.

»Kapitän, sehen Sie dort!« rief er und zeigte nach dem Gegenstand, der näher herankommend immer größer wurde.

Der Führer des Dampfers blickte hinaus.

»Nun ja, das ist eine Dampfbarcasse, antwortete er.

– Mir scheint es aber, als ob diese Schaluppe uns einzuholen suchte, setzte der Doctor Bruno hinzu.

– Ja freilich, Doctor, denn von ihrem Vordertheile aus giebt man Signale...

– Werden Sie stoppen lassen?...

– Ich weiß nicht, ob ich das thun soll. Was könnte die Schaluppe auch von uns wollen?

– Das würden wir ja erfahren, wenn sie herangekommen ist.

– Pah!« stieß der Kapitän Bugarach hervor, der nicht gewillt schien, seine Schraube noch einmal still stehen zu lassen.

Der Doctor Bruno gab seine Sache aber nicht sofort auf.

»Da fällt mir ein, fuhr er fort,... wenn das nun der verspätete Passagier wäre, der den »Argeles« noch zu erreichen suchte...


Dardentor schwang sich über die Schanzkleidung. (S. 35.)

– Jener Herr Dardentor... der die Abfahrt versäumt hatte?

[32] – Und der sich in eine Schaluppe geworfen haben wird, um uns noch einzuholen!«

Das konnte ja recht wohl zutreffen, denn offenbar fuhr die Schaluppe mit größtmöglicher Geschwindigkeit und versuchte an den Dampfer heranzukommen, als dieser aufs offne Meer abschwenkte.

Und ebenso lag die Annahme nahe, daß es sich dabei um den Nachzügler handelte, dessen Nichterscheinen die Familie Désirandelle so bitter beklagte.

[33] Der Kapitän Bugarach war nun doch nicht der Mann, den Fahrpreis für einen Platz der ersten Cajüte der kleinen Beschwerde eines Aufenthalts von wenigen Minuten zum Opfer zu bringen. Er fluchte zwar ein paar Mal recht lästerlich, ertheilte nach dem Maschinenraume aber doch den Befehl zum Stoppen.

Der Dampfer glitt noch eine Kabellänge weiter, lief dann langsamer und stand endlich still. Da ihn der Seegang aber von seitwärts her traf, begann er, zum großen Leidwesen der männlichen und weiblichen Passagiere, die schon die Vorboten der Seekrankheit spürten, etwas stärker zu rollen.

Die Schaluppe schoß inzwischen mit solcher Schnelligkeit heran, daß ihr Vordersteven oft ganz über das schäumende Wasser aufragte. Schon konnte man einen auf ihrem Vordertheile stehenden Mann er kennen, der seinen Hut schwenkte.

In diesem Augenblicke wagte sich Herr Désirandelle noch einmal auf die Eisenleiter der Commandobrücke und fragte den Doctor Bruno, der noch beim Kapitän stand:

»Worauf warten Sie denn?

– Dort auf jene Schaluppe, erklärte ihm der Doctor.

– Und was will sie wohl von uns?

– Sie wird uns jedenfalls noch einen Passagier bescheeren, wahrscheinlich den, der sich verspätet hatte.

– Herrn Dardentor?...

– Ja, Herrn Dardentor, wenn er so heißt.«

Herr Désirandelle ergriff das Fernrohr, das ihm der Doctor reichte, und nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, die Schaluppe in das gar zu schwankende Gesichtsfeld des Instruments zu bringen.

»Ja... wahrhaftig... er ist es!« rief er erfreut.

Dann beeilte er sich, der Mutter des Agathokles die frohe Botschaft zu überbringen.

Die Schaluppe war nur noch wenige Kabellängen vom »Argeles« entfernt, der von dem Uebelkeit erregenden Seegange geschaukelt wurde, während der überschüssige Dampf mit ohrzerreißendem Prasseln aus den Sicherheitsventilen abblies.

Die Schaluppe legte eben an der Schiffswand an, als Herr Désirandelle. der nach dem Besuche bei seiner Gattin noch etwas bleicher aussah, auf dem Verdeck erschien.

[34] Sofort wurde eine Strickleiter mit hölzernen Sprossen über die Reling des Dampfers hinabgelassen und legte sich an dessen Seite an.

Der Passagier entlohnte noch den Schaluppenführer und mußte dies wahrscheinlich in königlicher Weise gethan haben, denn er wurde mit einem »Schönen Dank, Euer Gnaden!« belohnt, von dem die Lazzaroni allein das Geheimniß zu besitzen scheinen.

Einige Secunden darauf schwang sich der Nachkömmling, dem sein Diener mit einer großen Reisetasche folgte, über die Schanzkleidung, sprang auf das Verdeck und grüßte lächelnd und sich gewandt verbeugend nach allen Seiten.

Dann trat er auf Herrn Désirandelle zu, der schon im Begriff war, ihm Vorwürfe zu machen.

»Na... da wären wir ja, dickes Papachen!« rief er und klatschte dem Männchen freundschaftlich auf den wohlgenährten Leib.

3. Capitel

Drittes Capitel.
Worin der liebenswürdige Held der Geschichte anfängt, sich in den Vordergrund zu stellen.

Herr Dardentor – mit dem Vornamen Clovis – erblickte das Licht der Welt fünfundvierzig Jahre vor Anfang dieser Erzählung am Loge-Platz Nr. 4 im alten Ruscino, das früher die Hauptstadt von Roussillon war und heute der Hauptort der Ostpyrenäen ist, in dem berühmten und hochpatriotischen Perpignan.

Der Typus Clovis Dardentor's ist in dieser guten Provinzialstadt nicht grade selten. Stelle man sich in ihm einen Mann von Mittelgröße mit breiten Schultern vor, der einen so kräftigen Körperbau aufwies, daß das Muskelsystem das Nervensystem beherrschte. Letzteres befand sich übrigens im Zustande vollkommner Eusthenie – d. h. für Die, die ihr Griechisch vergessen haben, im vollständigen Gleichgewicht der Kräfte. Außerdem hatte er einen runden Kopf, kurzes graumeliertes Haar, braunen, fächerförmigen Bart, lebhaften Blick, einen großen Mund mit prächtigen Zähnen, sichern Tritt und geschickte Hand, war moralisch [35] und physisch gut abgehärtet, ein guter Junge trotz etwas befehlerischen Wesens, von guter Laune, unversieglicher Redseligkeit, sehr entschlossen und schnell im Handeln, kurz, ein Südländer, soweit ein Individuum es sein kann, dessen Wiege nicht in der Provence selbst stand, in der Provinz, worin der ganze Süden Frankreichs sich concentriert und völlig aufgeht.

Dieser Dardentor war Junggeselle, und in der That hätte man sich einen Mann wie ihn auch gar nicht als vom Ehejoch gefesselt vorstellen können, ebenso wenig wie es jemand in den Sinn kam, daß ihm je ein Honigmond geschienen hätte. Nicht, daß er sich misogyn gezeigt hätte – er befand sich sogar sehr gern in Gesellschaft von Frauen – doch misogam war er im höchsten Grade. Dieser Ehefeind begriff nicht, daß ein an Leib und Seele gesunder und ernstlich beschäftigter Mann Zeit finden könne, an dergleichen zu denken. Die Ehe! Er wollte von einer solchen nichts wissen, ob sie nun aus Neigung, gesellschaftlichen oder pecuniären Rücksichten, aus Vernunft, ob sie mit oder ohne Gütergemeinschaft oder aus sonst welchen hienieden geltend gemachten Gründen geschlossen würde.

Deshalb, weil Einer Junggesell geblieben war, darf man nicht schließen, daß er in Müßiggang dahin gelebt hätte. Das wäre wenigstens Clovis Dardentor gegenüber ein Fehlschluß gewesen. Wenn er seine schönen zwei Millionen besaß, so verdankte er sie weder einer Mitgift, noch etwaigen Erbschaften. Nein, er hatte sie rein durch seine Arbeit erworben. Als Theilnehmer an verschiednen Handels- und Gewerbsgesellschaften, wie Gerbereien, Marmorschleifereien, Korkstöpselfabriken und an den Weinculturen von Rivesaltes, hatte er von jeher beträchtliche Einkünfte bezogen. Den größten Theil seiner Zeit und Intelligenz hatte er aber der in der Umgebung so mächtig entwickelten Küferei gewidmet.

Nach Anhäufung eines hübschen Vermögens und Sichrung einer guten Rente zog er sich zwar schon mit vierzig Jahren von den Geschäften zurück, verschmähte es nachher aber, nur der filzige Hüter todter Schätze zu sein. Ins Privatleben zurückgekehrt, lebte er seinem Vermögen entsprechend und machte gern Reisen, vorzüglich nach Paris, wo er sich oft aufhielt. Mit strotzender Gesundheit begnadigt, erfreute er sich eines Magens, um den ihn der Stelzvogel des südlichen Afrika, der wegen des seinen so berühmt ist, noch hätte beneiden können.

Die Familie unsers Perpignanesers beschränkte sich auf ihn allein. Die lange Reihe seiner Ahnen sollte mit ihm endigen. Er hatte keine Verwandten in aufsteigender oder in absteigender Linie, auch keinen Seitenverwandten – oder [36] höchstens solche in sechsundzwanzigstem oder siebenundzwanzigstem Gliede, weil alle Franzosen, wie die Statistiker behaupten, in diesem Grade mit einander verwandt sind, wenn man dafür nur bis zur Zeit Franz I. zurückgreift. Um solche Seitenverwandte brauchte er sich natürlich nicht zu bekümmern. Uebrigens hat ja jeder Mensch, wenn man bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung zurückgeht, hundertneununddreißig Quadrillonen Ahnen... keinen mehr oder weniger.

Clovis Dardentor bildete sich darauf übrigens gar nichts ein. Wenn er sich auch so ohne Familie sah, wie nur sonst Einer dastehen kann, so sah er darin doch gar nichts Ungehöriges, da er nie daran gedacht hatte, sich eine solche auf irgend einem der aller Welt zugängigen Wege zu begründen. Kurz, er war jetzt nach Oran eingeschifft, und wir wollen ihm wünschen, daß er in dem Hauptorte der großen algerischen Provinz auch heil und gesund eintreffen möge.

Einen der Hauptgründe, daß dem »Argeles« eine günstige Fahrt beschieden sein mußte, bildete der Umstand, daß der Perpignaneser an Bord desselben weilte. Bisher hatte er, wenn er nach Algerien ging – das Land gefiel ihm ausnehmend – stets den Weg über Marseille gewählt; heute war es das erste Mal, daß er der Linie von Cette aus den Vorzug gab. Da er nun einem dieser Dampfer die Ehre erwiesen hatte, ihm den Transport seiner werthen Person anzuvertrauen, war es geradezu nothwendig, daß diese Seefahrt seine Erwartungen befriedigte, mit andern Worten, ihn nach kurzer und glücklicher Reise heil und gesund im Bestimmungshafen absetzte.

Kaum mit einem Fuße auf dem Verdeck, drehte sich Clovis Dardentor nach seinem Diener um.

»Patrice, sieh zu, daß mir Cabine 13 gesichert bleibt!

– Sie wissen ja, Herr Dardentor, daß diese telegraphisch bestellt war; darum brauchen Sie sich also keine Sorge zu machen.

– Nun, so schaffe meine Reisetasche hinunter und belege mir auch einen möglichst guten Platz bei Tische... nicht zu weit vom Kapitän. Ich habe schon Hunger in den Klauen!«

Dieser Ausdruck erschien Patrice offenbar nicht wohlanständig genug und er hätte es vielleicht vorgezogen, von seinem Herrn dafür etwa »in den Fersen« zu hören, denn er verzog recht mißbilligend die Lippen. Jedenfalls trottete er dem Befehle entsprechend davon.

[37] Im nämlichen Augenblicke gewahrte Clovis Dardentor den Befehlshaber des »Argeles«, der eben die Commandobrücke verlassen hatte, und er trat ohne Umstände auf ihn zu.

»He, he, Kapitän, rief er ungeniert, wie kam es, daß Sie nicht Geduld genug hatten, auf einen verspäteten Passagier zu warten? Ihrem Dampfer juckte es wohl in den Gliedern, sich mit seiner Schraube zu kratzen?«

Diese Metapher war nicht gerade seemännischer Art, Clovis Dardentor war aber auch kein Seemann, und in seiner bildlichen Ausdrucksweise sagte er seine Ansicht so, wie es ihm in den Mund kam, manchmal in abscheulich pomphafter und manchmal in bedauerlich vulgärer Redeweise.

»Mein Herr, erwiderte der Kapitän Bugarach, wir fahren genau zur bestimmten Zeit ab und die Vorschriften der Gesellschaft gestatten uns nicht, zu warten...

– O, ich bin Ihnen darum auch gar nicht böse! antwortete Clovis Dardentor, indem er dem Kapitän die Hand bot.

– Ich Ihnen auch nicht, obwohl Sie mich zwangen zu stoppen...

– Nun gut, so stoppen wir hiermit!« unterbrach ihn der Perpignaneser.

Dabei schüttelte er dem Kapitän die Hand so kräftig wie ein alter Faßbinder, der Reifenzieher und Schneideisen gehandhabt hat.

»Wissen Sie übrigens, setzte er hinzu, wenn meine Schaluppe Ihr Schiff nicht hätte einholen können, wär' ich damit bis Algerien gefahren... na, und wenn ich diese Schaluppe nicht hätte austreiben können, wär' ich einfach ins Wasser gesprungen und Ihnen nachgeschwommen! Ja, das ist so einmal meine Art, bester Kapitän Bugarach!«

In der That, so war Clovis Dardentor, und die bei den jungen Leute, die diesem Original mit Vergnügen zuhörten, wurden jetzt von ihm mit einem Gruße beehrt, den sie lächelnd erwiderten.

»Ein nettes Kerlchen!« murmelte Jean Taconnat.

In diesem Augenblicke drehte der »Argeles« um ein Viertel und stellte sich in die Richtung nach dem Cap Agde ein.

»Ach, Kapitän Bugarach, eine Frage von höchster Bedeutung! nahm Clovis Dardentor noch einmal das Wort.

– Bitte, sprechen Sie.

– Um wieviel Uhr wird hier gespeist?

– Um fünf Uhr.

[38] – Also in fünfundvierzig Minuten. Eher nicht... aber ja nicht später!«

Clovis Dardentor machte eine Pirouette nach einem Blicke auf seine kostbare Repetieruhr, die an schwerer Goldkette im Knopfloche seiner Weste aus gutem Diagonal mit großen Metallknöpfen befestigt war.

Entschieden hatte dieser Perpignaneser, um einen durch sein ganzes Auftreten gerechtfertigten Ausdruck anzuwenden, »viel Chic«, wie er so mit dem weichen Filzhute mehr nach dem rechten Ohre, mit seinem karrierten Mac-Farlane, dem Feldstecher am Riemen, mit der Reisedecke, die über die Schulter bis zur Taille hinunter hing, den Pluderkniehosen, den Gamaschen mit kupfernen Schnallen und mit den doppelsohligen Jagdstiefeletten dastand.

Und wiederum erschallte seine scharfe, durchdringende Stimme.

»Wenn ich die Abfahrt versäumt hatte, die Mittagstafel verfehle ich nicht, lieber Kapitän, und wenn Ihr Schiffskoch seine Sache gut gemacht hat, werden Sie mich nach Gebühr kauen sehen...«

Plötzlich wendete sich sein Redefluß, den bisherigen Curs aufgebend, einer andern Person zu.

Herr Désirandelle, der seine Gattin von dem endlichen Eintreffen des so unselig verspäteten Reisegefährten unterrichtet hatte, war eben wieder erschienen.

»Ach, liebster Freund, guten Tag! rief Clovis Dardentor. Nun, und Frau Désirandelle?... Wo ist denn die vortreffliche Dame?... Und der schönste aller Agathoklesse?...

– Keine Angst, Dardentor, antwortete Herr Désirandelle, wir hatten uns nicht verspätet und der »Argeles« brauchte nicht ohne uns abzufahren!

– Was... Vorwürfe, mein Bester?...

– Verdient hätten Sie sie gewiß!... Welche Unruhe haben Sie uns bereitet!... Wenn wir nun in Oran bei Frau Elissane ohne Sie eintrafen?...

– O, ich hab' auch genug gewettert, Désirandelle... Da war nur der Kerl, der Pigorin, daran schuld!... Er hat mich mit seinen Proben von alten Rivesaltesweinen aufgehalten. Ich mußte kosten und immer wieder kosten... und als ich auf dem Kai des alten Bassins ankam, da kam der »Argeles« gerade aus der Durchfahrt gedampft. Doch, hier bin ich ja, es ist also unnütz, über die Sache ein weiteres Wort zu verlieren oder die Augen zu rollen wie ein absterbender Lachs...


Ihrem Dampfer juckte es wohl in den Gliedern. (S. 38.)

Das könnte das Schiff nur in stärkeres Rollen bringen. – Nun aber, Ihre Frau?...

– Liegt auf Ihrer Schlafstätte... ein wenig...

[39] – Schon jetzt?...

– Leider schon jetzt, seufzte Herr Désirandelle, dessen Lider zitterten, und auch ich selbst...

– Lieber, alter Freund, nehmen Sie einen Rath an, sagte Clovis Dardentor darauf. Oeffnen Sie den Mund nicht wie jetzt... Halten Sie ihn möglichst geschlossen, sonst hieße das den Teufel herausfordern...

– Du lieber Himmel, stammelte Herr Désirandelle, Sie haben gut reden! Ach, diese Ueberfahrt nach Oran!... Weder Frau Désirandelle noch ich selbst[40] hätte sie gewagt, wenn dabei nicht die Zukunft unsers Agathokles im Spiele war!«

Es handelte sich in der That um die Zukunft des einzigen Erben der Désirandelle's. Jeden Abend kam Clovis Dardentor, ein alter Freund der Familie, nach dem Hause in der Popinièrestraße, um da eine Partie Besique oder Piquet zu spielen. Er hatte dort jenes Kind fast geboren werden, hatte es wachsen sehen... wenigstens körperlich, denn die Intelligenz war bei ihm hinter dem Wachsthum weit zurückgeblieben. Agathokles besuchte später ein Lyceum [41] ebenso erfolglos, wie die meisten trägen und geistig beschränkten Zöglinge. Von einer besondern Anlage für das oder jenes zeigte er keine Spur. Im Leben gar nichts zu thun, erschien ihm als das Ideal für den Menschen. Mit dem, was er später von seinen Eltern zu erwarten hatte, sah er sich einst im Genuß von zwölftausend Francs Rente. Das ist ja schon etwas; Herr und Frau Désirandelle hatten aber von einer weit rentenreicheren Zukunft ihres Sohnes geträumt. Sie kannten nämlich jene Familie Elissane, die vor ihrer Uebersiedlung nach Algerien in Perpignan gewohnt hatte. Frau Elissane, die Witwe eines frühern Kaufmanns und jetzt fünfzig Jahre alt, erfreute sich einer hübschen Wohlhabenheit, Dank dem von ihrem Gatten hinterlassenen Vermögen, der sich nach Zurückziehung von allen seinen Geschäften in Algerien niedergelassen hatte. Die Witwe besaß nur eine Tochter von zwanzig Jahren. Eine gute Partie, das Fräulein Elissane! sagte man bis zum Süden von Oran hier ebenso wie in den Ostpyrenäen oder wenigstens in einem gewissen Hause der Popinièrestraße. Was konnte da passender erscheinen, als eine Heirat zwischen Agathokles Désirandelle und Louise Elissane?

Ehe man sich jedoch heiratet, muß man sich kennen, und wenn sich Agathokles und Louise auch als Kinder gesehen hatten, bewahrten sie von einander doch keine Erinnerung mehr. Da nun Oran nicht nach Perpignan kam, weil Frau Elissane nicht leicht von der Scholle wegzubringen war, so mußte Perpignan wohl oder übel nach Oran gehen.


Agathokles kam auch heran. (S. 43.)

Das war die Veranlassung zu dieser Reise, obwohl Frau Désirandelle alle Zeichen der Seekrankheit schon verspürte, wenn sie nur Wellen auf einen Strand laufen sah, und auch Herr Désirandelle, trotz seiner Versicherungen, etwas furchtsamer Natur war. Da dachten die Leutchen an Clovis Dardentor. Dieser Perpignaneser war ein reiseerfahrener Mann, der es nicht abschlagen würde, seine Freunde zu begleiten. Vielleicht schätzte er den Werth des zu verheiratenden jungen Mannes recht niedrig; seiner Ansicht nach waren aber alle, die sich zu Ehemännern verwandeln wollten, einer so viel werth wie der andre. Gefiel der Agathokles der jungen Erbin, so machte sich die Sache ganz allein. Freilich, Louise Elissane war ein reizendes Mädchen... kurz, wenn die Désirandelle's erst in Oran angelangt waren, wird es Zeit sein, sie dem geneigten Leser vor- und ihm freizustellen, Agathokles auszustechen.

Wir wissen also nun, zu welchem Zwecke sich die kleine perpignanesische Gesellschaft auf dem »Argeles« eingeschifft hatte und weshalb sie selbst eine Fahrt über das Mittelmeer wagte. In Erwartung der Stunde zum Essen begab sich Clovis Dardentor nach dem Oberdeck, wo sich diejenigen Passagiere der erster [42] Cajüte befanden, die das Schwanken des Schiffs noch nicht in ihre Cabinen verscheucht hatte. Herr Désirandelle, dessen Blässe fortwährend zunahm, folgte ihm und machte sich's auf einer Bank bequem.

Agathokles kam auch heran.

»He, mein Junge, Du bist besser construiert, als Dein Vater! begann Dardentor. Bei dem knarrt es schon an allen Ecken...«

Agathokles begnügte sich zu antworten, daß »es bei ihm nicht knarrte«.

»Desto besser für Dich, und suche nur bis zum Ende auszuhalten. Geh' nicht da hinunter, um eine Physiognomie aus Papiermaché oder eine Miene wie ein Kürbis in Marmelade aufzustecken!«

Nein, das war nicht zu fürchten. Das Meer that dem jungen Manne nichts an.

Clovis Dardentor hatte es nicht für angezeigt gehalten, nach der Cabine der Frau Désirandelle hinunter zu gehen. Die gute Dame wußte ja, daß er an Bord war, und das genügte. Trostworte von ihm hätten auf sie auch keinen heilsamen Einfluß ausgeübt. Und dazu gehörte Herr Dardentor zu der Kategorie von abscheulichen Menschen, die immer bereit sind, über die Opfer der Seekrankheit zu spotten. Unter dem Vorwande, daß sie nicht davon leiden, wollen sie nicht zugestehen, daß man sie überhaupt bekommen könnte. Man sollte sie einfach an der Raa des Großsegels aufhängen!

Der »Argeles« befand sich auf der Höhe des Cap Agde, als auf dem Vordertheile ein Glockenschlag erklang. Es war fünf Uhr... die Stunde zum Essen.

Bisher hatte sich das Stampfen und Schlingern des Dampfers noch nicht besonders bemerkbar gemacht. Der, wenn auch etwas kurze, Wellenschlag erschien der größten Zahl der Passagiere recht erträglich. Der »Argeles« erhielt die Wellen von rückwärts und lief mit ihnen. Es war also zu hoffen, daß es dem Mittags essen nicht an Theilnehmern fehlen werde. Die männlichen und sogar fünf bis sechs weibliche Passagiere stiegen die Doppeltreppe vom Oberdeck hinab und nahmen ihre an der Tafel für sie belegten Plätze ein.

Herr Eustache Oriental saß auf dem seinigen, sichtlich schon mit großer Ungeduld. Seit zwei Stunden war er hier schon angenagelt. Alles ließ jedoch hoffen, daß dieser Jäger auf gute Plätze nach dem Essen nach dem Deck hinauf gehen und nicht bis zum Eintreffen im Hafen an denselben Stuhl gefesselt bleiben werde.

[43] Der Kapitän Bugarach und Doctor Bruno hielten sich hinten im Salon auf. Sie überhoben sich nie der Verpflichtung, die Honneurs an der Tafel zu machen. Clovis Dardentor und die Herren Désirandelle, Vater und Sohn, begaben sich nach dem obern Ende der Tafel. In dem Verlangen, diese verschiednen Typen von Perpignanefern zu studieren, nahmen Marcel Lornans und Jean Taconnat neben Herrn Dardentor Platz. Die Uebrigen – zusammen etwa zwanzig – setzten sich beliebig nieder, die einen in die Nachbarschaft Oriental's ganz in der Nähe der Offiz, von der aus die Schüsseln unter Leitung des Restaurateurs ausgegeben wurden.

Herr Clovis Dardentor machte sofort Bekanntschaft mit dem Doctor, und bei zwei so redelustigen Leuten konnte die Unterhaltung in der Umgebung des Kapitän Bugarach nicht wohl ins Stocken kommen.

»Herr Doctor, begann Dardentor, ich fühle mich glücklich... sehr glücklich, Ihnen die Hand drücken zu können, und wäre sie mit Mikroben gespickt, wie die aller Ihrer Collegen...

– Keine Furcht, Herr Dardentor, antwortete der Doctor Bruno in demselben launigen Tone, ich habe mich eben mit Borwasser gewaschen.

– Pah, was scheeren mich die Mikroben und die Mikrobentödter! rief Herr Dardentor. Ich bin niemals krank gewesen, keinen Tag, keine Stunde, mein lieber Aesculap!... Keine fünf Minuten lang hab' ich je auch nur einen Schnupfen gehabt... niemals eine Pille oder eine Tisane eingenommen!... Sie werden mir gestatten zu glauben, daß ich selbst auf Ihre Verordnung hin mich jedes Medicinierens enthalte. O, ich gehe sehr gerne mit Aerzten um!... Das sind ganz brave Herren, die nur den einen Fehler haben, den Leuten schon die Gesundheit zu verderben, wenn sie ihnen nur nach dem Puls fühlen oder ihre Zunge ansehen!... Im übrigen aber bin ich entzückt, mich an Ihre Seite setzen zu können, und wenn das Essen gut ist, werd' ich ihm alle Ehre anthun!«

Der Doctor Bruno hielt sich noch nicht für geschlagen, obgleich er erkannt hatte, daß sein Nachbar ihn in der Geschwätzigkeit übertraf. Er gab seine Antworten, ohne die Aerzte gegen einen so wohl ausgerüsteten Gegner besonders in Schutz zu nehmen. Da überdies die Suppe aufgetragen war, dachte jeder nur noch daran, seinen durch die Seeluft erhöhten Appetit zu befriedigen.

Anfangs blieben die Schwankungen des Dampfers so schwach, daß sie die Tischgäste nicht belästigten, mit Ausnahme des Herrn Désirandelle, der wie eine Serviette weiß geworden war. Man fühlte nichts von dem Schaukeln, das [44] die Horizontale compromittiert, noch von dem Heben und Senken, das die Verticalität stört. Aenderte sich dieser Sachverhalt während der Mahlzeit nicht, so konnten die verschiednen Gerichte ohne Schaden bis zum Dessert einander ablösen.

Plötzlich begann jedoch das Tafelgeschirr zu klappern. Die Hängelampen des Speisesalons wiegten sich über den Köpfen der Tischgäste hin und her. Ein Rollen und Stampfen verband sich, um eine allgemeine Verwirrung unter den Passagieren hervorzurufen, deren Sitze sich zuweilen beunruhigend neigten. Arme und Hände verloren die Sicherheit ihrer Bewegung. Gläser waren nur schwierig an den Mund zu setzen und die Gabeln stachen den Leuten meist in die Wangen oder ins Kinn.

Die meisten Tischgäste konnten das nicht ertragen. Herr Désirandelle war einer der ersten, der die Tafel mit verrätherischer Eile verließ. So und so viele andre folgten ihm, um draußen frische Luft zu schöpfen, trotz dem Zureden des Kapitän Bugarach, der wiederholt erklärte:

»Das hat nichts zu bedeuten, meine Herrn... dieser Seitensprung des »Argeles« wird nicht lange anhalten!«

Und Clovis Dardentor rief dazwischen:

»Da wackeln sie nun im reinen Gänsemarsch hinaus!

– Ja, so ist es immer! erwiderte der Kapitän, mit den Augen zwinkernd.

– Nein! versetzte unser Perpignaneser, ich begreife nicht, daß Einer das Herz nicht im Leibe behält!«

Angenommen, daß dieser Ausdruck den Gesetzen des menschlichen Organismus nicht widerspricht, und wenn das Herz wirklich seine Ortslage verändern kann, wie es jene volksthümliche Redeweise andeutet, so strebte das Herz jener guten Leute doch keineswegs danach, hinab-, sondern vielmehr zu ihren Lippen emporzusteigen. Kurz, als der Restaurateur die Zwischengerichte herumreichen ließ, zählte man an der Tafel nicht mehr als etwa zehn unerschrockne Gäste. Zu ihnen gehörten außer den an solche rutschende Teller und Schüsseln der Dining-rooms gewöhnten Kapitän Bugarach und Doctor Bruno zunächst Clovis Dardentor, der treu auf Posten blieb, Agathokles, den die Flucht seines Vaters sehr gleichgiltig ließ, die beiden Vettern Marcel Lornans und Jean Taconnat, deren Verdauung in keiner Weise gestört war, und der unermüdliche Eustache Oriental, der auf die weiteren Gänge spannte, die bedienenden Burschen ausfragte und gar nicht daran dachte, sich über die unzeitgemäßen Stöße des [45] »Argeles« zu beklagen, da er ja die Auswahl unter den dargebotenen Gerichten hatte.

Nach dem Auszuge der schon zu Anfang der Tafel außer Rand und Band gerathnen Tischgäste aber warf der Kapitän Bugarach dem Doctor Bruno einen eigenthümlichen Blick zu, und dieser antwortete darauf mit ebenso seltsamem Lächeln. Dieses Lächeln und jener Blick schienen verständlich genug gewesen zu sein, denn wie auf einem Spiegel glänzten sie von dem sonst unbeweglichen Gesicht des Restaurateurs wieder zurück.

Da stieß Jean Taconnat seinen Vetter mit dem Ellbogen und sagte leise:

»Das war der gewöhnliche »Kniff«!

– Der mir sehr gleichgiltig ist, Jean!

– Und mir erst recht!« versicherte Jean Taconnat, der auf seinen Teller eine saftige Schnitte von zart rosafarbnem Lachs gleiten ließ, welche Herr Oriental wohl übersehen hatte.

Der angedeutete »Kniff« aber besteht einfach in Folgendem:

Es giebt Kapitäne – bei Leibe nicht alle, doch es scheint welche zu geben – die zu sehr durchsichtigem Zwecke die Richtung ihres Schiffes grade beim Beginn der Tafel etwas ändern lassen... oh, nur durch ein leichtes Umlegen des Steuers, etwas andern bedarf es nicht. Kann man ihnen deshalb wirklich einen Vorwurf machen? Ist es denn verboten, ein Fahrzeug grade gegen den Seegang einzustellen und obendrein nur für eine Viertelstunde? Ist es ein Verbrechen, mit dem Rollen und Stampfen unter einer Decke zu spielen, um eine Ersparniß an den Kosten der Tafel zu erreichen?

Uebrigens dauerte die Unruhe der Teller und Schüsseln nicht über Gebühr lange an. Die Hinausgemaßregelten fühlten sich aber nicht versucht, ihre Plätze am gemeinsamen Tische wieder einzunehmen, obgleich der Dampfer wieder einen ruhigeren und, sagen wir, ehrbareren Gang angenommen hatte.

Das bis auf einige ausgewählte Tischgäste reducierte Diner konnte also unter den günstigsten Verhältnissen fortgesetzt werden, ohne daß sich jemand um die Unglücklichen bekümmerte, die aus dem Speisesalon vertrieben waren und jetzt auf dem Verdeck ebenso verschiedne, wie beklagenswerthe Stellungen und Lagen einnahmen.

[46]

4. Capitel

Viertes Capitel.
Worin Clovis Dardentor Dinge ausspricht, die sich Jean Taconnat zunutze zu machen gedenkt.

»Welche Lücken an unserm Tische, lieber Kapitän, rief Clovis Dardentor, während der Restaurateur das Herumgehen der Schüsseln überwachte, ohne dabei seine gewohnte Würde abzulegen.

– Vielleicht ist zu erwarten, daß die Lücken sich noch vermehren, wenn wir noch gröbere See bekommen, bemerkte Marcel Lornans.

– Gröbere?... Ein Meer aus Oel! entgegnete der Kapitän Bugarach. Der »Argeles« war nur in eine Gegenströmung gerathen, wo etwas stärkere Wellen standen. Das kommt zuweilen vor. –

– Meist zur Zeit des Frühstücks und des Mittagessens, bemerkte Jean Taconnat mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt.

– In der That, setzte Clovis Dardentor so hingeworfen hinzu, das hab' ich auch schon bemerkt. und wenn die verteufelten Seefahrtsgesellschaften dabei ihr Pfeifchen schneiden...

– Könnten Sie so etwas glauben? rief der Doctor Bruno.

– Ich glaube nur Eines, erwiderte ihm Clovis Dardentor, daß ich mir deshalb noch keinen Bissen habe entgehen lassen, und wenn auch kein Mensch mehr an der Tafel bleibt...


So und so viele andre folgten ihm. (S. 45.)

– Sie halten daran aus! vervollständigte Jean Taconnat seine Worte.

– Wie Sie sagen, Herr Taconnat.«

Unser Perpignaneser nannte ihn schon beim Namen, als wären sie bereits seit achtundvierzig Stunden mit einander bekannt.

»Es wäre indeß möglich, nahm jetzt Marcel Lornans das Wort, daß sich einzelne unsrer Tischgenossen wieder hier einfänden.... Das Schiff rollt jetzt bedeutend weniger...

– Das sagte ich ja vorher, bestätigte der Kapitän Bugarach, es war nur vorübergehend... wohl nur die Folge einer Nachlässigkeit des Steuermanns... Herr Restaurateur, sehen Sie doch nach, ob unter den andern Herrschaften..

[47] – Unter andern Dein armes Väterchen, Agathokles!« bemerkte Clovis Dardentor.

Der jüngere Désirandelle schüttelte jedoch den Kopf; er wußte recht wohl, daß der Urheber seiner Tage in den Speisesalon nicht zurückzurufen sein werde, und so verlor er darüber keine Worte.

Der Restaurateur wendete sich, von der Nutzlosigkeit des Versuchs im voraus überzeugt, der Thür zu. Hat ein Passagier die Tafel erst einmal verlassen, so ist es, selbst wenn die Ursache davon weggefallen war, sehr selten, [48] [51]daß er sich entschließt, wieder daran zu erscheinen. Auch hier füllten sich die Lücken am Tische nicht wieder, worüber sich der würdige Kapitän und der vortreffliche Doctor sehr betrübt zu erscheinen bemühten.

Eine leichte Ruderwendung hatte den Dampfer wieder in den richtigen Curs gebracht; der Seegang traf ihn nicht mehr von vorn und das schwache Dutzend von Tischgästen, die nicht davon gelaufen waren, hatte nun Ruhe.


»Ihr Wohlsein, meine Herrn!« (S. 54.)

Es ist übrigens besser, wenn nicht zu viele bei Tische sitzen, wie Clovis Dardentor behauptete. Die Bedienung gewinnt dadurch ebenso, wie die Vertraulichkeit und die Unterhaltung wird mehr allgemein.

Das traf denn auch hier ein. Der Held unsrer Geschichte führte dabei natürlich das große Wort.

Der Doctor Bruno fand, so flüssig es ihm sonst vom Munde ging, nur mit Mühe Gelegenheit, eine Bemerkung einzuflechten, Jean Taconnat ging es nicht besser, doch letztrer amüsierte sich weidlich, dem Redeschwalle zu lauschen. Marcel Lornans begnügte sich zu lächeln, und Agathokles damit, daß er immer aß, ohne auf etwas zu hören. Herr Eustache Oriental schnalzte vergnüglich bei den besten Stücken, die er mit einer Flasche Pommard begoß, welche ihm der Restaurateur in einem breiten und sicher stehenden Weinkübel vorgesetzt hatte. Die noch übrigen Tischgäste können wir hier außer Betracht lassen.

Da schwirrte es nun durcheinander, von den Vorzügen des Südens gegenüber dem Norden, den unbestreitbaren Verdiensten der Stadt Perpignan, von der Stellung, die eines seiner – hier handgreiflichen – Kinder einnehme, von Clovis Dardentor in höchsteigner Person, von der Beachtung, die ihm sein ehrlich erworbnes Vermögen zulenkte, den Reisen, die er schon gemacht oder noch geplant hatte, von seiner Absicht, Oran zu besuchen, das die Désirandelle's vor ihm stets im Munde führten, von seiner Absicht, die schöne algerische Provinz zu bereisen... kurz, er war nun abgefahren und kümmerte sich gar nicht darum, wann er heimkehren würde.

Man würde stark irren in dem Glauben, daß dieses Gedräng von Sätzen, das von den Lippen Clovis Dardentor's floß, es verhindert hätte, daß der Inhalt seines Tellers nach seinem Munde gelangte. Nein, das ging alles gleichmäßig bequem hinein und heraus. Der merkwürdige Mann sprach und aß zu derselben Zeit und vergaß auch nicht, sein Glas zu leeren, um diese doppelte Operation zu erleichtern.

[51] »Das ist aber eine menschliche Maschine, sagte sich Jean Taconnat, die fungiert ausgezeichnet! Dieser Dardentor ist eins der vollendetsten Muster von Südländern, dem ich je begegnet bin!«

Der Doctor Bruno bewunderte ihn nicht minder. Genanntes Muster hätte gewiß ein herrliches Sectionsobject abgegeben, und wie würde die Physiologie sich durch Ergründung der Geheimnisse eines solchen Organismus bereichert haben! Da jener es sich jetzt aber doch verbeten haben würde, ihm den Leib aufzuschlitzen, begnügte sich der Doctor Herrn Dardentor zu fragen, ob er denn mit seiner Gesundheit stets gut hausgehalten habe.

»Mit der Gesundheit, lieber Doctor?... Ja, was verstehen Sie denn unter diesem Worte?

– Nun, dasselbe, was die ganze Welt darunter versteht, erwiderte der Doctor, nach der allgemein angenommenen Definition, den dauernden und leichten Verlauf aller Functionen der Körperökonomie...

– Und indem wir uns dieser Definition anschließen, ließ Jean Taconnat sich vernehmen, möchten wir wissen, ob bei Ihnen, Herr Dardentor, diese Functionen so leicht...

– Und so ungestört verlaufen, setzte Marcel Lornans hinzu.

– Ganz ungestört, denn ich bin niemals krank gewesen, erklärte unser Perpignaneser, indem er kräftig auf seinen Brustkasten loshämmerte, und leicht, weil sie von statten gehen, ohne daß ich etwas davon bemerke.

– Nun, mein lieber Herr, fragte der Kapitän Bugarach, sind Sie jetzt darüber, was man unter dem Worte Gesundheit versteht, soweit aufgeklärt, daß es uns gestattet ist, auf die Ihrige zu trinken?

– Wenn das dazu nöthig ist, so gesteh' ich ein, darüber völlig aufgeklärt zu sein, und wirklich scheint es mir nun an der Zeit, in Erwartung des Desserts eingen »Weißköpfen den Hals zu brechen«!«

Im Süden ist dieser Ausdruck für »Champagnertrinken« allgemein gebräuchlich, und von Clovis Dardentor ausgesprochen, erhielt er gewiß die richtige südländische Klangfarbe.

Der Röderer wurde also aufgetischt, die Kelchgläser füllten sich, mit weißer Schaumkrone bedeckt, und die Unterhaltung ertrank darin keineswegs... im Gegentheil!

Der Doctor Bruno war es, der das Feuer mit folgenden Worten wieder eröffnete:

[52] »Nun, Herr Dardentor, möchte ich Sie um Beantwortung einer zweiten Frage bitten: Haben Sie sich zur Bewahrung dieses ungetrübten Gesundheitszustandes von jedem Exceß ferngehalten?

– Was verstehen Sie unter dem Worte Exceß?

– Alle Kuckuck! fiel Marcel Lornans lachend ein, das Wort Exceß ist in den Ostpyrenäen also ebenso unbekannt, wie das Wort Gesundheit?

– Unbekannt... nein, Herr Lornans, doch offen gestanden, weiß ich nicht recht, was es bedeuten soll.

– Herr Dardentor, nahm Doctor Bruno wieder das Wort, einen Exceß begehen, das bedeutet, seinen Leib wie seinen Geist unbedacht mißbrauchen, indem man unmäßig, ungestüm, achtlos dahinlebt und sich vorzüglich den Tafelfreuden zu viel hingiebt... einer bedauerlichen Leidenschaft, die den Magen über kurz oder lang ruiniert...

– Was haben sie wieder... den Magen?... fragte Clovis Dardentor im ernsthaftesten Tone.

– Sie wissen nicht, was das ist? rief Doctor Bruno. Sapperment, ein Organ, das dazu dient, die Gastratgien, Gastriten, Gastrocellen, Gastroenteriten, die Endogastriten und die Exogastriten zu fabricieren!«

Während er so diesen Rosenkranz von Ausdrücken abbetete, die alle das (griechische) Wort »Gaster« zum Stamme haben, schien er ganz glücklich zu sein, daß der Magen zu so vielen Specialkrankheiten Veranlassung gebe.

Kurz, Clovis Dardentor blieb bei der Behauptung, daß ihm alles, was eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes bedeutete, ganz unbekannt sei, und da er sich weigerte zuzugestehen, daß jene Worte überhaupt eine Bedeutung hätten, richtete Jean Taconnat, dem die Sache viel Spaß machte, an den Starrkopf noch die Frage:

»Sie hätten also niemals eine flotte Zecherei 1 mitgemacht?

– Nein... weil ich mich niemals verheiratet 2 habe!«

Die Trompetenstimme dieses Originals ging dabei in ein so lautes Lachen über, daß die Gläser auf dem Tische erklangen, als würden sie von einer Schlingerbewegung des Schiffes gerüttelt.

Es schien also unmöglich zu erfahren, ob dieser unfaßbare Dardentor das Prototyp der Nüchternheit gewesen sei oder nicht, ob er die unerschütterte [53] Gesundheit, deren er sich erfreute, seiner gewohnten Mäßigkeit oder einer eisernen Constitution, die kein Mißbrauch zu zerstören vermochte, zu verdanken habe.

»Aha, mein Herr Dardentor, bekannte der Kapitän Bugarach, ich sehe, daß die Natur Sie aufgebaut hat, um einen unsrer zukünftigen Hundertjährigen zu schaffen!

– Und warum denn nicht, Herr Kapitän?

– Ja, warum das nicht? wiederholte Marcel Lornans.

– Wenn eine Maschine solid construiert, gut ausbalanciert ist, reichlich geölt und nach Gebühr in Stand gehalten wird, fuhr Clovis Dardentor fort, begreif' ich nicht, warum sie nicht für immer aushalten sollte.

– Gewiß, erklärte Jean Taconnat zustimmend, und wenn es Einem nie an dem nöthigen Heizmaterial fehlt...

– Daran wird mir's niemals fehlen!« rief Clovis Dardentor, indem er an seiner Hosentasche schüttelte, die einen metallnen Klang von sich gab. Und nun, meine Herren, sind Sie damit fertig, mir blauen Dunst vorzumachen?

– Nein!« erklärte der Doctor Bruno.

Er versteifte sich darauf, den Perpignaneser an die Wand zu drücken.

»Weit gefehlt, lieber Herr, weit gefehlt! Es giebt keine Maschine, die sich nicht abnützte, und keinen so guten Mechanismus, daß er nicht zuletzt einmal entzwei ginge...

– Das hängt vom Maschinisten ab! entgegnete Clovis Dardentor, der sein Glas wieder bis zum Rande füllte.

– Am letzten Ende, fuhr der Doctor fort, mein' ich, Sie werden doch einmal sterben.

– Warum soll ich denn sterben, da ich doch niemals einen Arzt consultiert habe?... Ihr Wohlsein, meine Herrn!«

Und in der allgemeinen Heiterkeit stieß er, sein Glas erhebend, lustig mit den Tischgenossen an und leerte es auf einen Zug. Die laute, erhitzte, betäubende Unterhaltung zog sich so bis zum Nachtisch hin, dessen Vielgestaltigkeit an Stelle der frühern Zwischenspeisen trat.

Der lustige Lärm von der Tafel mochte wohl die unglücklichen Passagiere nicht wenig belästigen, die in den Cabinen neben dem Salon ausgestreckt lagen und deren Beschwerden jene übermüthige Nachbarschaft gewiß nicht zu lindern geeignet war. Wiederholt hatte sich Herr Désirandelle auf der Schwelle des Speisesalons gezeigt. Da das Essen für ihn und seine Gattin im Fahrpreise [54] inbegriffen war, kam es ihm schwer an, seinen Theil davon nicht verzehren zu können. Kaum hatte er aber die Thür geöffnet, da überfiel ihn vom Magen aus wieder der Schwindel und er eilte über Hals über Kopf nach dem Verdeck zurück.

Sein einziger Trost bestand darin, daß er sich sagte:

»Na, zum Glück ist unser Agathokles dabei, für drei Mann zu essen!«

Der junge Mann that wirklich sein möglichstes, die Ausgaben des Vaters wenigstens einseitig wieder hereinzubringen.

Nach Clovis Dardentor's letzter Antwort schweifte das Gespräch nun nach andern Gebieten ab. Sollte man denn die Achillesferse des Bonvivants, des guten Essers und tüchtigen Trinkers nicht treffen können? Daß seine Gesundheit ausgezeichnet, seine Constitution vortrefflich, sein Organismus von erster Güte wären, das unterlag keinem Zweifel. Trotzalledem mußte er doch einmal aus dieser Welt scheiden, wie alle Sterblichen... sagen wir, wie fast alle, um ängstliche Gemüther nicht zu erregen. Und wenn nun diese Schicksalsstunde schlug, wem würde sein großes Vermögen zufallen? Wer würde Besitz nehmen von seinen Häusern, von den Mobilien des alten Küfermeisters von Perpignan, da ihm die Natur keinen directen, ja nicht einmal einen seitlichen Nachkommen, der erbberechtigt gewesen wäre, geschenkt hatte?

Auf diese Andeutung hin begann Marcel Lornans:

»Warum haben Sie nicht daran gedacht. sich Erben zu sichern?

– Ja... wie denn?

– Wie man das gewöhnlich macht, Sapperment! rief Jean Taconnat, indem Sie der Mann einer jungen, hübschen, gesunden, Ihrer würdigen Frau wurden.

– Ich?... Mich verheiraten?...

– Natürlich!

– Wahrlich, auf einen solchen Gedanken bin ich noch nie verfallen!

– Das wäre aber Ihre moralische Pflicht gewesen, Herr Dardentor, meinte der Kapitän Bugarach, and da es noch Zeit ist...

– Sind Sie denn verheiratet, lieber Kapitän?

– Nein.

– Und Sie, Doctor?

– Auch nicht!

– Aber Sie, meine Herrn?

[55] – Keineswegs, antwortete Marcel Lornans, doch in unserm Alter ist das nicht zu verwundern.

– Schön, und wenn Sie Alle nicht verheiratet sind, warum wollen Sie denn, daß ich es wäre?

– Einfach, damit Sie eine Familie hätten, belehrte ihn Jean Taconnat.

– Und mit der Familie die davon unzertrennlichen Sorgen...

– Damit Sie Kinder... später Enkelchen hätten...

– Mit allen den Belästigungen, die sie verursachen.

– Kurz, um Nachkommen zu haben, die einst Ihr Ableben betrauern....

– Oder sich darüber freuen!

– Glauben Sie denn, fuhr Marcel Lornans fort, daß der Staat sich nicht freuen werde, wenn er Sie einmal beerbt?

– Der Staat... mein Vermögen erben... das er als Verschwender doch nur bald durchbrächte?...

– Das ist keine Antwort, Herr Dardentor, sagte Marcel Lornans; der Mensch hat einmal die Bestimmung, sich eine Familie zu gründen, in seinen Kindern und Kindeskindern fortzuleben...

– Zugegeben; die kann der Mensch aber haben, ohne sich zu verehelichen.

– Wie verstehen Sie das? fragte jetzt der Doctor.

– So wie es zu verstehen ist, meine Herren, und ich für meinen Theil würde die vorziehen, die schon da sind.

– Adoptivkinder?... warf Jean Taconnat ein.

– Natürlich! Ist das nicht hundertmal besser? Ist das nicht weit klüger? Da hat man doch die Wahl! Man kann Kinder nehmen, die an Leib und Seele gesund und über das Alter hinaus sind, wo sie noch von Keuchhusten, Scharlach und Masern bedroht werden; kann solche haben, die blond oder braun, dumm oder gescheidt sind. Man kann sich, je nach dem Geschlecht, das man wünscht, Knaben oder Mädchen zulegen, kann eines, zwei, drei, vier oder ein Dutzend davon bekommen, je nachdem man Sinn für Adoptivvaterschaft hat. Kurz, man ist völlig frei, sich eine Familie von Erben unter den besten Bedingungen für körperliches und geistiges Gedeihen zuzulegen, ohne darauf warten zu müssen, daß der Himmel seine Ehe segnete. Man segnet sich einfach selbst, wann und wie es Einem beliebt.


Man athmete die reine, sanft bewegte Seeluft. (S. 62.)

– Bravo, Herr Dardentor, bravo! rief Jean Taconnet. Auf das Wohlergehen Ihrer Adoptivengel!«

[56] Und noch einmal erklangen die Gläser aneinander. Wieviel die Tischgenossen im Speisesalon des »Argeles« verloren hätten, wenn ihnen die letzten Phrasen der Tirade des mittheilsamen Perpignanesers entgangen wären, kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Er war in seiner Art prächtig gewesen!

»Ihre Methode, verehrter Herr, glaubte der Kapitän Bugarach jedoch hinzufügen zu müssen, mag an sich ja ganz gut sein. Wenn aber alle Welt ebenso dächte, wenn es nur noch Adoptiveltern gäbe, so vergessen Sie nicht, daß sich dann bald keine zu adoptierenden Kinder mehr finden würden.

[57] – O nein, lieber Kapitän, so schlimm ist's nicht, entgegnete Clovis Dardentor. Es wird nie an braven Leuten mangeln, die sich heiraten... Tausende... Millionen...

– Und das ist ein wahres Gluck, schloß Doctor Bruno, denn sonst würde es mit der Herrlichkeit der Welt bald zu Ende sein.«

Das Gespräch ging lebhaft noch weiter fort, ohne daß es weder Herrn Eustache Oriental störte, der jetzt am andern Ende der Tafel seinen Kaffee schlürfte, noch Agathokles Désirandelle abhielt, vollends die Dessertschüsseln zu plündern.

Da leitete Marcel Lornans, der sich eines gewissen Titels VIII vom Civilgesetzbuch erinnerte, die Frage auf das Gebiet des Rechts hinüber.

»Wenn jemand adoptieren will, Herr Dardentor, sagte er, so ist es unumgänglich, gewissen Bedingungen zu entsprechen.

– Das weiß ich wohl, Herr Lornans, und ich glaube, schon einige erfüllt zu haben.

– Mag sein, fuhr Marcel Lornans fort. Die erste lautet, daß Sie Franzose des einen oder andern Geschlechts sein müssen...

– Und ich speciell gehöre mit Ihrer Erlaubniß zum männlichen Geschlecht, meine Herrn!

– Ja, ja, das wollen wir Ihnen aufs Wort glauben, versicherte Jean Taconnat, und das setzt uns auch nicht in besondres Erstaunen.

– Des weitern verlangt das Gesetz, fuhr Marcel Lornans fort, von der Person, die adoptieren will, daß sie selbst weder Kinder noch legitime Descendenten habe...

– Ganz mein Fall, Herr Rechtsanwalt, und ich füge noch hinzu, daß mir auch Ascendenten abgehen...

– Ascendenten sind doch nicht verboten.

– Na, ich habe aber auch solche nicht.

– Eine nothwendige Eigenschaft, Herr Dardentor, fehlt Ihnen aber dennoch...

– Welche denn?

– Das Alter von fünfzig Jahren. Man muß wenigstens fünfzig Jahre zählen, um einen andern adoptieren zu dürfen.

– Das werd' ich in fünf Jahren erreicht haben, wenn Gott mir das Leben läßt, und warum sollte er es nicht thun?...

[58] – Ja, das wäre unrecht, fiel Taconnat ein; besser könnte er ein solches Geschenk gar nicht anlegen.

– Das mein' ich auch, Herr Taconnat. Ich werde also die Vollendung meines fünfzigsten Lebensjahres abwarten und dann zu einer Adoption schreiten, wenn sich Gelegenheit, eine gute Gelegenheit, wie man im Geschäftsleben sagt, dazu bietet....

– Unter der Bedingung, docierte Marcel Lornans weiter, daß das männliche oder weibliche Individuum, das Sie dafür im Auge haben, nicht älter als fünfunddreißig Jahre ist, denn das Gesetz verlangt, daß der Adoptant mindestens fünfzehn Jahre älter ist, als der Adoptierte.

– Aber glauben Sie denn, rief Herr Dardentor, ich würde mir einen alten Knaben oder eine alte Jungfer aufhalsen wollen? – Behüte der Himmel! Ich werde weder fünfunddreißig- noch dreißigjährige, sondern Personen wählen, die eben mündig geworden sind, weil das Civilgesetzbuch das vorschreibt.

– Das ist alles recht schön, Herr Dardentor, antwortete Marcel Lornans. Ich gebe zu, daß Sie alle bisher genannten Bedingungen erfüllen, indeß – es thut mir wegen Ihrer geplanten Adoptivvaterschaft sehr leid – einer, ich möchte darauf wetten, entsprechen Sie doch nicht....

– Ich will hoffen, sie geht nicht darauf hinaus, daß ich mich keines guten Leumunds erfreute! Sollte es jemand wagen, die Ehre Clovis Dardentor's aus Perpignan, Ostpyrenäen, irgendwie anzutasten?...

– O, niemand! rief Kapitän Bugarach.

– Kein Mensch, setzte der Doctor Bruno hinzu.

– Nein... keine Seele! versicherte Jean Taconnat.

– Unbedingt niemand! erklärte Marcel Lornans noch obendrein. Von so etwas hab' ich auch gar nicht sprechen wollen.

– Und wovon denn? fragte Clovis Dardentor.

– Von einer gewissen, im Civilgesetzbuch ausdrücklich festgelegten Bedingung, die Sie bisher jedenfalls unbeachtet gelassen haben....

– Nun, und die wäre?...

– Die, die da vorschreibt, daß der Adoptant für den Adoptierten, so lange dieser noch unmündig war, ununterbrochen schon sechs Jahre lang gesorgt habe.

– Das schriebe das Gesetz vor?...

– Ganz ausdrücklich!

[59] – Und wer ist das Schaf gewesen, das eine solche Bedingung in das Gesetzbuch eingeflickt hat?...

– Auf das betreffende »Schaf« kommt ja nichts an.

– Nun also, Herr Dardentor, fragte der Doctor Bruno dringlicher, haben Sie in dieser Weise für einen Unmündigen aus Ihrer Bekanntschaft Sorge getragen?

– Daß ich nicht wüßte!

– Dann, erklärte Jean Taconnat, bleibt Ihnen nichts anders übrig, als Ihr Vermögen zur Gründung einer, Ihren Namen führenden Wohlthätigkeitsanstalt zu verwenden.

– Das verlangte das Gesetz? fragte der Perpignaneser etwas kleinlauter.

– Ja, ganz unzweideutig,« versicherte Marcel Lornans.

Clovis Dardentor hatte die Enttäuschung, die ihm diese gesetzliche Forderung bereitete, gar nicht zu verhehlen gesucht. Es wäre ihm etwas so Leichtes gewesen, sechs Jahre lang für die Bedürfnisse und die Erziehung eines Minderjährigen einzutreten. Daß er sich darum nicht bekümmert hatte! Freilich, wie konnte er sich vergewissern, eine gute Wahl zu treffen, wenn er sich an junge Leute halten mußte, die für die Zukunft noch keine Garantie boten!... Kurz, er hatte mit keiner Silbe daran gedacht!... Doch war das unabweislich und führte ihn Marcel Lornans nicht etwa hinters Licht?...

»Sie versichern mir also, daß das Civilgesetzbuch...? fragte er noch einmal.

– Ich versichre es Ihnen, antwortete Marcel Lornans. Lesen Sie doch selbst nach... Titel von der Adoption, Artikel 345. Dort ist diese Bedingung als ausschlaggebend hingestellt, wenn das betreffende Individuum nicht etwa...

– Nicht etwa... was?« wiederholte Clovis Dardentor.

Sein Gesicht klärte sich etwas auf.

»Nun vorwärts... schnell! rief er. Sie quälen mich mit Ihren Hinterthüren, mit solchen »wenn nicht etwa's«...

– Nun, fuhr Marcel Lornans fort, wenn das Individuum, das adoptiert werden soll, nicht etwa das Leben des Adoptanten, sei es im Kampfe, sei es aus dem Wasser oder den Flammen, gerettet hatte, wie es im Gesetzbuche heißt.

– Ich bin aber noch nie ins Wasser gefallen und werde auch niemals hineinfallen, antwortete Clovis Dardentor.

[60] – Das kann Ihnen ebensogut wie jedem Andern widerfahren, erklärte Jean Taconnat.

– Ich hoffe, in meinem Hause bricht niemals Feuer aus!

– Ihr Haus kann ebensogut wie jedes andre abbrennen, und wenn nicht grade Ihr eignes Haus, so doch zum Beispiel ein Theater, worin Sie sich befänden, ja sogar dieser Dampfer, wenn an Bord Feuer ausbräche....

– Gut, meine Herrn, bezüglich des Feuers und des Wassers mögen Sie Recht haben; doch was einen Kampf betrifft, so würde es mich verwundern, dabei jemals Hilfe nöthig zu haben. Noch besitz' ich ein paar tüchtige Arme und Beine, die Hilfe und Unterstützung von niemand brauchen.

– Wer weiß?« antwortete Jean Taconnat.

Jedenfalls hatte Marcel Lornans im Laufe dieses Gesprächs die Vorschriften, die der Titel VIII des Civilgesetzbuchs enthält, klar dargelegt. Von einigen andern hatte er als zunächst nutzlos geschwiegen. So ließ erz. B. unerwähnt, daß in dem Falle, wo der Adoptant verheiratet ist, der andre Theil seine Zustimmung zur Adoption geben müsse – Clovis Dardentor war ja Junggeselle – ebenso. daß die Einwilligung der Eltern nachgewiesen sein müsse, wenn der zu Adoptierende noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt war.

Es erschien zur Zeit übrigens schwierig, daß Clovis Dardentor seinen Traum, sich eine Familie von Adoptivkindern zu gründen, verwirklichen könnte. Ohne Zweifel konnte er sich zwar einen älteren Knaben aussuchen, sechs Jahre lang für ihn sorgen und ihn sorgfältig erziehen lassen, um ihm schließlich seinen Namen und seine Berechtigung als legitimer Erbe zu verleihen. Doch wie vielerlei Gefahren setzte er sich dabei aus! Entschied er sich dafür aber nicht, so kamen nur die drei, vom Gesetze angeführten Fälle noch in Frage, er mußte aus einem Kampfe, aus dem Wasser oder den Flammen gerettet werden. Lag denn nun eine Wahrscheinlichkeit vor, daß dergleichen einem Mann wie Clovis Dardentor widerfahren könnte?... Er selbst glaubte es nicht, und kein Andrer hätte es geglaubt.

Die Tischgäste wechselten noch einige Worte, die reichlich mit Champagner begleitet wurden. Unser Perpignaneser war die Zielscheibe für manchen Witz, worüber er selbst am meisten lachte. Wollte er nicht, daß sein Vermögen verfiel, lehnte er es ab, den Staat zum einzigen Erben desselben zu machen, so mußte er wohl oder übel dem Rathe Taconnat's folgen und sein Hab und Gut einer milden Stiftung überweisen. Uebrigens stand es ihm ja frei, seine Hinterlassenschaft [61] noch bei Lebzeiten dem ersten Besten schenkungsweise zuzusichern. Doch nein... er bestand auf seinen Ideen!... Kurz, nach Beendigung dieses denkwürdigen Mahles begaben sich die Tafelgenossen nach dem Oberdeck.

Es war kurz vor sieben Uhr, denn das Essen hatte sich über Gebühr ausgedehnt. Ein schöner Abend, der eine schöne Nacht versprach. Das Zeltdach war eingezogen worden. Man athmete die reine, sanft bewegte Seeluft. Das von der Dämmerung umhüllte Land hob sich nur als ungewisser Schatten vom westlichen Horizonte ab.

Plaudernd lustwandelten Clovis Dardentor und seine neuen Bekannten hin und her und rauchten köstliche Cigarren dazu, womit der Perpignaneser reichlich versehen war und die er mit liebenswürdiger Freigebigkeit anbot.

Um halb zehn Uhr trennte sich die Gesellschaft mit dem Versprechen, sich morgen wieder zusammenzufinden.

Nachdem Clovis Dardentor Herrn Désirandelle noch unterstützt hatte, nach der Cabine der Frau Désirandelle zu gelangen, begab er sich nach der seinigen, wo kein Lärm und keine Bewegung auf dem Schiffe seinen Schlummer stören sollte.

Da sagte Jean Taconnat zu seinem Vetter:

»Marcel, ich habe eine Idee!

– Und die wäre?...

– Wenn wir uns nun von dem guten Manne adoptieren ließen!...

– Wir?...

– Du und ich... oder auch Du oder ich.

– Du bist toll, Jean!

– Ueber Nacht kommt Rath, Marcel, und den Rath, der mir da zu Theil geworden sein wird, den sollst Du morgen erfahren!«

[62]

Fußnoten

1 Im Original ein im Deutschen nicht wieder zu gebendes Wortspiel, da »la noce« »ein lustiges Zechgelage«, doch auch »die Hochzeit« bedeutet.

Der Uebers.

2 Im Original ein im Deutschen nicht wieder zu gebendes Wortspiel, da »la noce« »ein lustiges Zechgelage«, doch auch »die Hochzeit« bedeutet.

Der Uebers.

5. Capitel

Fünftes Capitel.
Worin Patrice wiederholt findet, daß seinem Herrn zuweilen das vornehme Auftreten abgeht.

Am nächsten Morgen um acht Uhr war noch niemand auf dem Oberdeck sichtbar. Der Zustand des Meeres verschuldete es jedoch keineswegs, daß die Passagiere so lange in ihren Cabinen blieben. Die kurze Dünung des Mittelmeers brachte kaum ein schwaches Schwanken des »Argeles« hervor. Der friedlichen Nacht sollte ein herrlicher Tag folgen. Hatten die Passagiere ihre Lagerstätten mit Sonnenaufgang nicht verlassen, so hielt sie nur die Trägheit noch darauf zurück. Die Einen mochten noch ein Morgenchläschen machen, die Andern träumten wohl wachend, und Alle vergnügten sich gewiß, als ob sie in einer Kinderwiege lägen.

Hier sprechen wir natürlich nur von den Bevorzugten, die niemals, selbst bei schlechtem Wetter nicht, seekrank werden, und nicht von den Unglücklichen, die es stets, selbst bei schönem Wetter, sind. Zur letzteren Kategorie gehörten die Désirandelle's und manche Andre, die ihr moralisches Gleichgewicht erst wieder erlangen sollten, wenn der Dampfer im Hafen verankert lag.

Die sehr klare und reine Atmosphäre erwärmte sich unter den Strahlen der Sonne, die sich auf den leichten Meereswellen glitzernd widerspiegelten. Der »Argeles« entwickelte jetzt eine Schnelligkeit von zehn Seemeilen in der Stunde und steuerte nach Südsüdost in der Richtung auf die Gruppe der Balearen zu. Einige Fahrzeuge zogen in der Ferne an ihm vorüber, entweder mit einer langen Rauchsäule hinter sich oder mit vollem weißen Segelwerk, das sich von dem etwas dunstigen Horizont leuchtend abhob.

Der Kapitän schritt allein auf dem Verdeck hin und her, um sich zu überzeugen, daß alles auf dem Schiffe in Ordnung war.

Da erschienen Marcel Lornans und Jean Taconnat am Aufgange nach dem Oberdeck. Sofort ging der Kapitän auf sie zu und sagte nach Auswechslung eines freundschaftlichen Händedrucks:

»Sie haben hoffentlich eine gute Nacht gehabt, meine Herren?

[63] – O, eine mehr als gute, Herr Kapitän, antwortete Marcel Lornans, ja es möchte schwierig sein, sich eine noch bessre auszumalen. Ich kenne kein Hôtelzimmer, das sich mit einer Cabine des »Argeles« messen könnte.

– Ganz meine Ansicht, Herr Lornans, antwortete der Kapitän Bugarach, und ich begreife kaum, wie man anderswo als an Bord eines Schiffes wohnen kann.

– Ei, das sagen Sie nur einmal dem Herrn Désirandelle, und wenn er Ihre Ansicht theilt...

– O, dieser Landratte ebensowenig wie ihresgleichen, die ganz unfähig sind, die Reize einer Seefahrt zu würdigen! rief der Kapitän. Das sind einfache Frachtstücke, die in den Laderaum gehörten, sie machen unsern Dampfern nur Schande. Da sie jedoch die Fahrt bezahlen...

– Aha!« schnitt ihm Marcel Lornans die weitre Rede ab.

Jean Taconnat, der doch sonst so redselig und mittheilsam war, hatte sich begnügt, dem Kapitän die Hand zu drücken, an dem Gespräche aber nicht theilgenommen. Er schien mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein.

Marcel Lornans dagegen richtete noch einige Fragen an den Kapitän.

»Wann dürften wir in Sicht von Majorca sein?

– In Sicht von Majorca?... Ungefähr um ein Uhr Nachmittag. Die ersten Anhöhen der Balearen werden wir aber sehr bald sehen können.

– Und wir bleiben in Palma eine Zeit lang liegen?

– Bis acht Uhr abends, so viel Zeit beansprucht die Verladung der nach Oran bestimmten Waaren.

– Da können wir wohl die Insel besichtigen?

– Die Insel... nein, das nicht, wohl aber die Stadt Palma, was sich, wie man sagt, der Mühe lohnen soll.

– Wie?... Wie man sagt, Herr Kapitän, sind Sie denn noch nie nach Majorca gekommen?

– O, mindestens dreißig- bis vierzigmal.

– Und Sie haben sich da noch niemals etwas umgesehen?


Der Diener stand unbeweglich neben dem Ueberbau der Maschine. (S. 68.)

– Ja, die Zeit dazu haben, Herr Lornans, die Zeit haben!... Wo hätte ich sie hernehmen sollen?

– Die Zeit... und wohl auch die Lust dazu?...

– Offen gestanden, auch die Lust dazu. Ich werde sofort landkrank, wenn ich nicht auf dem Meere bin!«

[64] Hiermit verließ der Kapitän den jungen Mann, um die Leiter zur Commandobrücke hinaufzusteigen.

Marcel Lornans wendete sich nun seinem Vetter zu.

»He, Jean, begann er, Du bist ja heute Morgen stumm wie ein Harpokrates!

– Weil ich nachzudenken habe.

– Worüber denn?

– Ueber das, was ich Dir gestern sagte.

– Was hast Du mir gesagt?

[65] – Daß wir eine einzig dastehende Gelegenheit hätten, uns von dem Herrn aus Perpignan adoptieren zu lassen.

– Daran denkst Du noch immer?

– Ja... nachdem ich die ganze Nacht darüber gegrübelt habe.

– Ist das Dein Ernst?...

– Mein voller Ernst!... Er wünscht sich Adoptivkinder. Gut, er mag uns nehmen... bessre findet er doch nicht!

– Wahrlich, ebenso bescheiden, wie phantastisch!

– Siehst Du, Marcel, Soldat zu werden, das ist ja recht schön. Bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten, ist höchst ehrenwerth. Und doch fürcht' ich, daß das Waffenhandwerk nicht mehr so wie früher ist. In der guten alten Zeit, ja, da hatte man aller drei bis vier Jahre seinen frischen, fröhlichen Krieg; da gab es noch Avancement und regnete es Kreuze. Jetzt ist ein Krieg – ich meine, ein europäischer – so gut wie unmöglich geworden, einfach infolge der ungeheuern Heeresmassen, die nach Millionen zu bewaffnender, zu führender und zu ernährender Soldaten zählen. Unsre jungen Officiere haben jetzt keine andre Aussicht, als – wenigstens die allermeisten – pensionierte Hauptleute zu werden. Die militärische Laufbahn wird, selbst unter glücklichen Umständen, das nicht mehr bieten, was sie einstmals darbot. Man hat die großen Kriege durch die großen Manöver ersetzt. Das ist, vom socialen Gesichtspunkte aus betrachtet, gewiß ein Fortschritt, doch...

– Jean, unterbrach ihn Marcel Lornans, das hätten wir uns vor der Abreise nach Algerien überlegen sollen....

– Verstehen wir uns recht, Marcel. Ich bin noch ebenso bereit wie Du, in Dienst zu treten. Sollte die Göttin mit den vollen Händen aber geruhen, sie noch unterwegs über uns zu öffnen....

– Ach, Du bist ja toll!

– Sapperment!

– Du erblickst in jenem Herrn Dardentor schon...

– Einen zweiten Vater!

– Und vergißt gänzlich, daß er, um Dich adoptieren zu können, während Deiner Minorennität schon sechs Jahre für Dich gesorgt haben müßte. Wäre das etwa zufällig der Fall gewesen?

– Daß ich nicht wüßte, antwortete Jean Taconnat; mindestens hab' ich nichts davon bemerkt.

[66] – Ich sehe, daß Du wieder verständig wirst, lieber Jean, da Du wieder scherzen kannst.

– Na, ich scherze und scherze auch nicht.

– Nun, solltest Du den braven Mann vielleicht dem Feuer oder Wasser entrissen, oder ihn in einem Kampfe gerettet haben?

– Nein... doch ich werde ihn noch retten... oder vielmehr Du und ich, wir werden ihn retten.

– Wie denn?

– Davon hab' ich nicht einmal eine Ahnung.

– Soll es auf dem Lande, auf dem Meere oder in der Luft geschehen?

– Das wird von der sich bietenden Gelegenheit abhängen, und es ist gar nicht unmöglich, daß sich eine solche findet....

– Und wenn Du sie auch selbst herbeiführen solltest, nicht wahr?

– Ja, warum denn nicht?... Sieh, wir sind an Bord des »Argeles«; nimm einmal an, Herr Dardentor fiele ins Wasser...

– O, Du wirst ihn doch nicht über Bord werfen wollen...

– Nun, nehmen wir an, er fiele hinein!... Du und ich, wir springen ihm nach wie ein heroischer Neufundländer, er wird durch besagten Neufundländer gerettet und er macht aus besagtem Neufundländer einen Hund... nein... ein Adoptivkind...

– Du hast gut reden, Jean, Du kannst schwimmen, ich kann es nicht, und wenn ich nur diese Gelegenheit finde, den vortrefflichen Herrn zu retten...

– Ganz richtig, Marcel. Ich werde meine Sache auf dem Meere machen, Du die Deine auf dem Lande. Ueber Eines wollen wir uns aber im voraus verständigen: wenn Du Marcel Dardentor wirst, werde ich nicht eifersüchtig sein; fiele mir aber dieser prächtige Name zu... wenn nicht uns Beiden...

– Darauf mag ich Dir gar nicht antworten, mein armer Jean!

– Ich erlasse Dir's auch unter der Bedingung, daß Du mich schalten und walten läßt, mir keine Hindernisse bereitest...

– Was mich beunruhigt, Jean, unterbrach ihn Marcel Lornans, ist allein, daß Du diesen Zwiebelzopf von Thorheiten mit einem, an Dir ganz ungewöhnlichen Ernst abhaspelst....

– Weil die Sache höchst ernsthaft ist. Uebrigens beruhige Dich nur, ich werde die Geschichte von der lustigen Seite her anfassen, und wenn ich scheitre... na. da blas' ich mir das Gehirn auch noch nicht aus dem Schädel.

[67] – Hast Du denn noch welches darin?

– O... noch ein paar Gramm!

– Ich wiederhole Dir, Du bist toll!

– Sapperment!«

In dieser Weise setzten die Beiden noch eine Zeit lang ihr Gespräch fort, dem Marcel Lornans im Grunde gar keine Bedeutung zumessen wollte, rauchten dabei ihre Cigarren und wanderten auf dem Deck hin und her.

Als sie sich dabei einmal dem Vordertheile näherten, erblickten sie den Diener Clovis Dardentor's, der unbeweglich in seiner einwurfsfrei correcten Reiselivrée neben dem Ueberbau der Maschine stand.

Was machte er da und worauf wartete er, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld? Er wartete auf das Erwachen seines Herrn. So war dieses Original im Dienste des Herrn Clovis Dardentor... ein Original, nicht weniger als dieser selbst. Doch welcher Unterschied des Temperaments und Charakters zwischen den beiden Persönlichkeiten!

Patrice... so lautete sein Name, obwohl er nicht schottischer Herkunft war, und er verdiente diesen Namen, der von den Patriciern des alten Rom abgeleitet ist.

Es war ein Mann von vierzig Jahren und so »comme il faut« wie nur möglich. Seine vornehmen Manieren contrastierten stark gegen das Sichgehenlassen des Perpignanesers, dem zu dienen er das Glück und das Unglück hatte. Die Züge seines glatten, stets frisch rasierten Gesichts, die etwas abfallende Stirn, sein Blick, worin sich ein gewisser Stolz ausdrückte, sein Mund mit halbgeschlossnen Lippen, die zwei Reihen schöner Zähne sehen ließen, sein blondes, sorgfältig geordnetes Haar, seine gemessne Stimme und sein ganzes vornehmes Aeußre gestatteten, ihn dem Typus zuzuzählen, der nach den Physiologen die »länglich runden Köpfe« umfaßt. Er glich fast einem Mitgliede des englischen Oberhauses. Jetzt seit fünfzehn Jahren in seiner Stellung, hatte er diese schon viele Male aufgeben wollen. Umgekehrt hatte Clovis Dardentor nicht minder häufig Lust gehabt, ihm die Thür zu weisen. In Wahrheit konnten sie einander aber nicht entrathen, obgleich man sich kaum zwei noch verschiednere Naturen vorstellen kann. Was Patrice an das Haus in Perpignan fesselte, das war nicht sein übrigens recht hoher Lohn, sondern die Gewißheit, daß er sich des unbedingten und auch wohlverdienten Vertrauens seines Herrn erfreute. Wie schwer fühlte sich Patrice aber in seiner Eigenliebe verletzt, wenn [68] er die Vertraulichkeit, die Redseligkeit, die südländische Ueberschwenglichkeit seines Herrn mit ansehen mußte! In seinen Augen fehlte es Herrn Dardentor an Anstand. Er verleugnete die Würde, deren Bewahrung seine sociale Stellung ihm auferlegte. In seiner Art des Grüßens, des sich Vorstellens und des Ausdrucks schlug ihn immer wieder der alte Tonnenbinder in den Nacken. Kurz, es fehlten ihm alle guten Manieren, die er sich freilich beim Zusammenzimmern und Bereisen Tausender von Fässern nicht hatte aneignen können. Patrice nahm sich auch gar kein Blatt vor den Mund, das gelegentlich gegen ihn auszusprechen.

Zuweilen war Clovis Dardentor, der – wie der Leser schon weiß – die Manie hatte, »Phrasen zu drechseln«, in der Laune, die Bemerkungen seines Dieners gutmüthig hinzunehmen. Er lachte darüber, spöttelte über den Mentor in Livrée und machte sich's zum Spaß, diesen noch mehr in die Wolle zu bringen.

Manchmal aber, bei schlechter Laune, wurde er böse, schickte den unglückseligen Berather zum Kuckuck und kündigte ihm für die nächsten acht Tage... acht Tage, die niemals kamen.

Wenn Patrice einerseits nämlich ärgerlich war, im Dienste eines Herrn, der sich wenig gentlemanlike benahm, zu stehen, so war Clovis Dardentor andrerseits stolz auf einen so vornehmen Diener.

Gestern hatte sich Patrice auch weidlich geärgert. Er beklagte sich dem Restaurateur gegenüber, daß Herr Clovis Dardentor bei Tafel seiner Zunge gar so ungezügelten Lauf gelassen und dummes Zeug geschwätzt. in den andern Herren aber eine so klägliche Vorstellung von einem Eingebornen der Ostpyrenäen erweckt habe.

Nein, Patrice war unzufrieden und bemühte sich auch gar nicht, das zu verhehlen. Eben deshalb hatte er auch, ohne gerufen worden zu sein, schon zu früher Morgenstunde an die Thür der Cabine Nr. 13 geklopft.

Das erste Mal erfolgte darauf keine Anwort; jetzt klopfte er stärker.

»Wer da?... grollte eine schlaftrunkne Stimme.

– Patrice...

– Ach was, geh' zum Teufel!«

Ohne diesem liebenswürdigen Rathe zu folgen, hatte Patrice sich zurückgezogen; ihn durchfröstelte aber jene unparlamentarische Antwort, obwohl er an deren Art gewöhnt sein mußte.

»Mit diesem Menschen ist doch nichts Gescheidtes anzufangen!« brummte er vor sich hin.

[69] Voller Würde und Vornehmheit des »englischen Lords« wie immer, war er nach dem Verdeck hinausgegangen und wartete hier geduldig auf das Erscheinen seines Herrn.

Die Wartezeit zog sich recht lange hin, denn Herr Dardentor spürte gar keinen Drang, sein Lager so schnell zu verlassen. Endlich knarrte die Thür der Cabine, nachher die zum Oberdeck und die Hauptperson dieser Geschichte trat daraus hervor.

Jean Taconnat und Marcel Lornans, die am Vordercastell lehnten, wurden seiner sofort gewahr.

»Achtung!... Unser Vater!« rief Jean Taconnat leise.

Der ebenso ungereimten wie vorzeitigen Bezeichnung gegenüber konnte sich Marcel Lornans des lauten Auflachens nicht enthalten.

Inzwischen ging Patrice gemessnen Schrittes und strengen Gesichts mit mißbilligendem Ausdruck auf Herrn Dardentor zu, um, wenn auch mit Widerwillen, die Befehle seines Herrn entgegenzunehmen.

»Aha, da bist Du ja, Patrice... Du, der mich aus dem besten Schlafe geweckt hat, als ich mich noch in den rosigsten Träumen wiegte....

– Der Herr werden zugestehen, daß meine Pflicht...

– Deine Pflicht war es, zu warten, bis ich nach Dir klingelte.

– Der Herr glaubt wohl in Perpignan zu sein, in seinem Hause am Logeplatze....

– Ich weiß recht gut, wo ich bin, versetzte Herr Dardentor, und wenn ich Dich brauchte, hätte ich Dich holen lassen... unseliger Schlummerstörenfried!«

In Patrice's Gesicht zuckte es leicht und er sagte in ernstem Tone:

»Ich ziehe es vor, den Herrn nicht zu verstehen, wenn der Herr seinen unfreundlichen Gedanken in solchen Worten Ausdruck giebt. Uebrigens möcht' ich den Herrn darauf hinweisen, daß die niedrige runde Mütze, womit er sich zu bedecken beliebte, mir für einen Passagier erster Cajüte nicht passend erscheint.«

In der That sah die, Clovis Dardentor im Nacken sitzende, baskische Kappe nicht grade vornehm aus.

»Meine Mütze gefällt Dir also nicht, Patrice?...

– So wenig, wie die wollne Joppe, in die sich der Herr wohl in der Vorstellung gesteckt hat, daß man auf einer Seereise auch wie ein Seemann aussehen müsse.

– Da hast Du völlig recht!

[70] – Wäre ich von dem Herrn eingelassen worden, so würd' ich ihn gewiß gehindert haben, sich in dieser Weise zu kleiden!

– Du würdest mich gehindert haben, Patrice?...

– Ich bin nicht gewöhnt, dem Herrn meine Meinung vorzuenthalten, auch wenn ihn das erzürnen sollte, und was ich in Perpignan, im Hause des Herrn thue, das kann ich hier an Bord eines Dampfers auch nicht lassen.

– Beliebt es Ihnen, nun fertig zu sein, Herr Patrice?...

– Trotz der Höflichkeit dieses Ausdrucks muß ich gestehen, fuhr Patrice fort, noch nicht alles gesagt zu haben, was mir auf dem Herzen liegt, und zwar in erster Linie, daß der Herr gestern bei Tafel hätte mehr auf sich achten sollen....

– Auf mich achten... bezüglich des Essens?...

– Und bezüglich des Poculierens, das etwas übers Maß hinausging.... Nach dem, was mir der Restaurateur, ein Mann comme il faut, erzählt hat....

– Was hat Ihnen denn dieser Mann comme il faut hinterbracht? fragte Clovis Dardentor, der Patrice nicht mehr duzte, wenn es in ihm bald zum Ueberkochen kam.

– Daß der Herrsuchen...suchen gesprochen hat, über die man meiner Meinung nach besser schweigt, wenn einem die Personen, mit denen man spricht, unbekannt sind. Das ist nicht nur eine Regel der Klugheit, sondern auch des Selbstgefühls....

– Herr Patrice?...

– Was wünscht der Herr?...

– Sind Sie dahin gegangen. wohin ich Sie schickte, als Sie heute früh so voreilig tölpelhaft an meine Thüre donnerten?...

– Ich erinnere mich dessen nicht....

– So will ich Ihr Gedächtniß auffrischen!... Zum Teufel... zum Teufel habe ich Sie, mit aller Rücksicht, die Ihnen zukam, gehen heißen. Ich erlaube mir auch, Sie noch einmal dahin zu schicken, und da bleiben Sie gefälligst, bis ich nach Ihnen klingle!«

Patrice kniff halb die Augen zu und spitzte den Mund; dann machte er auf der Stelle Kehrt und begab sich nach dem Vorderdeck, als Herr Désirandelle grade auf dem Oberdeck erschien.

»Ah, mein vortrefflicher Freund!« rief Clovis Dardentor, als er diesen bemerkte.

[71] Herr Désirandelle hatte sich hier hinauf gewagt, um etwas sauerstoffreichere Luft als die der Cabinen zu athmen.

»Nun, mein lieber Désirandelle, nahm der Perpignaneser das Wort, wie ist's Ihnen denn seit gestern gegangen?

– Eigentlich gar nicht.

– Nur Muth, alter Freund, nur Muth! Sie sehen zwar noch so bleich aus, wie ein frisch gewaschnes Oberhemd. das Auge ist gläsern. die Lippen sind bläulich... doch das thut nichts... die Ueberfahrt wird schon...

– Schlecht ablaufen, Dardentor!

– Sie sind ein Schwarzseher erster Sorte!... Den Kopf hoch! Sursum corda, wie man an den hohen katholischen Festtagen singt!«

Wahrlich, ein glückliches Citat angesichts eines Mannes, dem sich, wie man sagt, das Herz im Leibe umdreht!

»Binnen wenigen Stunden, fuhr Clovis Dardentor fort, können Sie den Fuß übrigens auf festes Land setzen, denn der »Argeles« wird in Palma für längere Zeit anlegen...

– Und doch nur einen halben Tag liegen bleiben, seufzte Herr Désirandelle. Wenn dann der Abend kommt, muß man sich immer wieder auf diese abscheuliche Schaukel setzen!... Ach, wenn sich's nicht um Agathokles' Zukunft handelte!...

– Gewiß, Désirandelle, das verdiente schon diese kleine Unbequemlichkeit. O, mein alter Freund, mir ist's, als seh' ich da unten schon das reizende Kind am algerischen Ufer mit der Lampe in der Hand wie Hero auf Leander, ich wollte sagen, auf Agathokles wartend. Doch nein, das Gleichniß hinkt, da der unglückliche Leander der Sage nach unterwegs ertrank. Werden Sie denn heute mit uns frühstücken?...

– Ach, Dardentor, bei meinem traurigen Zustande...

– Bedauerlich... höchst bedauerlich! Das gestrige Diner verlief so heiter und das Essen war so vorzüglich!... Die Speisen zeigten sich der Tischgäste würdig! Der Doctor Bruno!... Dem braven Manne hab' ich auf echt provençalische Art zugesetzt!... Und die beiden jungen Leute!... Welch liebenswürdige Reisegesellschaft!... Und wie rühmenswerth hat sich Ihr Agathokles verhalten!... Wenn er den Mund auch zum Sprechen nicht aufthat, so desto fleißiger zum Essen!... Er hat sich bis zur Zungenwurzel vollgestopft!


Herr Désirandelle streckte sich auf den Polsterbänken des Salons aus. (S. 74.)

– Und daran sehr recht gethan.

– Gewiß!... Ah, da denk' ich an Frau Désirandelle. [72] Werden wir sie denn heute Morgen zu sehen bekommen?

– Ich glaube kaum; weder heute Morgen, noch später...

– Was, nicht einmal in Palma?

– Sie ist nicht im Stande aufzustehen.

– Die arme Frau!... Wie ich sie bedaure und doch bewundre! All' diese Noth und Plage für ihren Agathokles! Sie ist eine Mutter nach Vorschrift [73] und mit einem Herzen!... Doch sprechen wir nicht vom Herzen. Kommen Sie mit nach dem Oberdeck?

– Nein, Herr Dardentor, das könnt' ich nicht; ich bleibe lieber im Salon. Das ist sichrer. Ach, wann wird man einmal Schiffe bauen, die nicht so tanzen, und warum versteift man sich darauf, mit solchen Maschinen zu fahren!

– Natürlich, Désirandelle, auf dem Lande würden sich die Schiffe um kein Rollen und Stampfen scheeren. Wir sind nur noch nicht so weit! Das wird aber noch kommen!«

In Erwartung der Einführung dieses Fortschritts mußte Herr Désirandelle vorläufig damit fürlieb nehmen, daß er sich auf den Polsterbänken des Salons ausstreckte, die er vor dem Eintreffen an den Balearen nicht wieder verlassen sollte. Clovis Dardentor, der ihn dahin begleitet hatte, drückte ihm noch die Hände, ging wieder nach dem Verdeck hinaus und mit der weit zurückgeschobnen Mütze auf dem Kopfe, mit strahlendem Gesicht wie ein ergrauter Seebär nach dem Oberdeck hinauf, wo seine Joppe wie die Flagge eines Admirals im Winde flatterte.

Die beiden Vettern traten auf ihn zu. Erst wurden freundschaftliche Begrüßungen untereinander gewechselt, dann fragte man sich gegenseitig nach dem Befinden... ob Herr Clovis Dardentor nach den hübschen, bei Tafel verbrachten Stunden auch gut geschlafen habe... Vorzüglich... ein ununterbrochener, stärkender Schlummer in Morpheus' Armen... was man so sagt, wie ein Murmelthier im Winter!

O, wenn Patrice wieder solche Worte aus dem Munde seines Herrn mit angehört hätte!...

»Und Sie, meine Herren; auch gut geschlafen?...

– In einemweg, mit fest zugekleisterten Augen!« antwortete Jean Taconnat, der in der vulgären Sprechweise Clovis Dardentor's bleiben zu sollen glaubte.

Zum Glück war Patrice nicht gegenwärtig. Er erging sich eben seinem neuen Freunde, dem Restaurateur gegenüber in sein gedrechselten Redewendungen. Eine gute Meinung von dem jungen Pariser, der sich in solchem Gassenjargon ausdrückte, hätte er gewiß nicht bekommen.

Das Gespräch spann sich nun in vertraulicher Tonart weiter. Clovis Dardentor konnte sich wegen seiner Beziehungen zu den jungen Leuten nur beglückwünschen. Und diese wieder... wie gütig hatte es der Zufall gefügt, der sie einen so angenehmen Reisegenossen finden ließ. Das gab ja Hoffnung, zu [74] Herrn Dardentor auch noch in intimere Verhältnisse zu treten. In Oran würde man sich wiedertreffen... Sollten die Herren dort längre Zeit verweilen?...

»Jedenfalls, erklärte Marcel Lornans, denn wir beabsichtigen dort ein Engagement...

– Ein Engagement... beim Theater?...

– Nein, Herr Dardentor, bei den Siebenten Afrikanischen Jägern.

– Ah, ein schönes Regiment, meine Herren, ein vortreffliches Regiment, da werden Sie schon vorwärts kommen!... Das ist also beschlossne Sache...

– Wenigstens dann, glaubte Jean Taconnat hier erläuternd einfügen zu sollen, wenn nicht etwas Besondres dazwischenkommt...

– Meine Herren, antwortete Clovis Dardentor, welcher Laufbahn Sie sich auch widmen mögen, ich bin überzeugt, daß Sie dabei Ehre einlegen werden!«

O, wenn diese Worte hätten bis zu Patrice's Ohren dringen können! Dieser war aber in Begleitung des Restaurateurs nach der Offiz hinunter gegangen. wo der Kaffee mit Sahne aus den großen Schiffslassen duftete.

Jedenfalls stand es fest, daß die Herren Clovis Dardentor, Jean Taconnat und Marcel Lornans über ihr Zusammentreffen sehr erfreut waren; sie hofften sogar, daß die Ausschiffung in Oran keine plötzliche Trennung herbeiführen werde, wie das unter Reisegenossen sonst der Fall zu sein pflegt.

»Wenn es Ihnen genehm ist, sagte Clovis Dardentor, können wir ja in dem nämlichen Hôtel Wohnung nehmen.

– Höchst angenehm, beeilte sich Jean Taconnat zu antworten, das bietet sogar unbestreitbare Vortheile.

– Also abgemacht, meine Herren!«

Ein neuer Austausch von Händedrücken, worin Jean Taconnat etwas Väterliches und Kindliches zu fühlen meinte.

»Und. dachte er dabei, wenn in dem Hôtel zufällig Feuer ausbräche. welch herrliche Gelegenheit, diesen ausgezeichneten Herrn aus den Flammen zu retten!«

Gegen elf Uhr wurden die noch entfernten Umrisse des Archipels der Balearen im Südosten gemeldet. In weniger als drei Stunden sollte der Dampfer in Sicht von Majorca sein. Bei dem günstigen Seegange, der ihn von rückwärts traf, würde er keine Verzögerung erleiden und mit der Pünktlichkeit [75] eines Schnellzugs in Palma eintreffen. Dieselben Passagiere, die gestern an der Tafel theilgenommen hatten, begaben sich jetzt nach dem Speisesalon hinunter.

Der Erste, den sie bemerkten, war Herr Eustache Oriental, welcher wieder »am guten Ende« des Tisches saß.

Wer war nun eigentlich diese so zähe und wenig gesellige Persönlichkeit, dieser Chronometer aus Fleisch und Bein, dessen Zeiger nur die Stunden der Mahlzeiten angaben?

»Ob er wohl die ganze Nacht auf seinem Platze zugebracht hat? fragte Marcel Lornans.

– Wahrscheinlich, meinte Jean Taconnat.

– Man wird vergessen haben, ihn vom Stuhle loszuschrauben!« setzte unser Perpignaneser hinzu.

Der Kapitän Bugarach, der die Gäste erwartete, wünschte ihnen Guten Tag und gab der Hoffnung Ausdruck, daß das Frühstück ihr Lob verdienen werde.

Dann begrüßte der Doctor Bruno die Tafelrunde. Er hatte einen Bären– natürlich Seebären– hunger, und das dreimal des Tages. Er erkundigte sich auch ganz besonders nach der außergewöhnlichen Gesundheit des Herrn Clovis Dardentor.

Herr Clovis Dardentor hatte sich niemals besser befunden... zum Leidwesen des Doctors, wie er sagte, dessen kostbare Dienste er nicht in Anspruch nehmen würde.

»Man soll nie auf etwas schwören, Herr Dardentor, erwiderte der Doctor Bruno. Gar manche Leute, die die ganze Ueberfahrt gut ausgehalten hatten, sind noch angesichts des Hafens zusammengeknickt!

– Aber ich bitte Sie, Doctor, das klingt ja so, als wenn Sie einer Robbe empfehlen wollten, sich vor der Seekrankheit in Acht zu nehmen...

– Ich habe schon Robben gesehen, die daran litten, erwiderte der Doctor, wenn man sie mittels einer Harpune aus dem Wasser zog!«

Agathokles nahm seinen gestrigen Platz wieder ein. Drei oder vier neue Gäste setzten sich ebenfalls an die Tafel. Der Kapitän Bugarach mochte darüber das Gesicht verziehen. Die seit gestern zum Hungern verurtheilten Magen zeigten gewiß eine entsetzliche Leere und dann könnte in das Frühstück eine schreckliche Bresche gelegt werden!

[76] Trotz der Bemerkungen, die sich Patrice über seinen Herrn erlaubt hatte, führte dieser doch auch heute wieder das große Wort. Diesmal sprach unser Perpignaneser weniger von seiner Vergangenheit, sondern mehr von seiner Zukunft, und unter dieser Zukunft verstand er den Aufenthalt in Oran. Er wollte die ganze Provinz, vielleicht ganz Algerien besuchen, wenn es anging, bis zur Wüste vordringen. Warum auch nicht? Bei dieser Gelegenheit erkundigte er sich, ob es in Algerien auch noch Araber gebe.

»O ja, einzelne, antwortete Marcel Lornans. Man bewahrt sie wegen der Localfärbung.

– Und Löwen?...

– Freilich, ein reichliches halbes Dutzend, erwiderte Jean Taconnat, sie sind aber in Schaffelle gekleidet und haben Rollen an den Tatzen.

– Verlassen Sie sich darauf nicht zu sehr, meine Herren!« glaubte der Kapitän Bugarach warnen zu müssen.

Man aß gut und trank noch besser. Die neuen Theilnehmer hielten sich schadlos. Man hätte sie Danaïdenfässer nennen mögen. Ach, wenn Herr Désirandelle mit dagewesen wäre! Doch besser, daß er fehlte, denn zuweilen klirrten Gläser aneinander und die Teller gaben den scharfen Ton bewegten Tischgeschirrs von sich.

Die Mittagsstunde war bereits vorüber, als sich die Tafelrunde nach eingenommenem Kaffee und einigen nachgesendeten Likören endlich erhob, den Speisesaal räumte und Schutz unter dem Zelte des Oberdecks sachte.

Nur Herr Eustache Oriental blieb auf seinem Platze, was Clovis Dardentor zu der Frage veranlaßte, wer denn dieser zur Essenszeit so pünktliche und sich sonst so abseits haltende Passagier sei.

»Ich weiß nichts weiter, antwortete der Kapitän Bugarach, als daß er sich Herr Eustache Oriental nennt.

– Und wohin geht er? Woher kommt er?... Was ist sein Beruf?

– Ich glaube, das weiß niemand.«

Patrice trat heran, seine Dienste anzubieten, wenn sie nöthig wären. Da er die von seinem Herrn gestellten Fragen gehört hatte, glaubte er sich zu den Worten ermächtigt:

»Wenn der Herr mir erlaubt, bin ich in der Lage, über den betreffenden Passagier Auskunft geben zu können.

– Du kennst ihn also?

[77] – Nein; doch ich habe vom Restaurateur gehört, daß er von dem Commissionär des Hôtels in Cette gehört hat...

– Setze einen Sperrhaken an den Dudelsack, Patrice, und sage in drei Worten, wer der merkwürdige Mann ist.

– Der Präsident der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar,« antwortete Patrice trocken.

Ein Astronom... Herr Eustache Oriental war ein Astronom. Das stimmte zusammen mit dem Fernrohr, das er an einem Riemen trug und mit dem er den Horizont an allen Seiten durchmusterte, wenn er sich entschloß, auf dem Oberdeck zu erscheinen. Jedenfalls schien er keine Neigung zu spüren, sich an jemand anzuschließen.

»Er wird gewiß von seiner Astronomie völlig in Anspruch genommen!« begnügte sich Clovis Dardentor zu antworten.

Gegen ein Uhr zeigte Majorca die Wellenlinien sei nes Uferlandes und die malerischen Höhen, die es beherrschen.

Der »Argeles« machte eine Schwenkung, um die Insel zu umschiffen, und fand unter dem Schutz des Landes ruhigeres Wasser, was eine Anzahl Passagiere aus ihren Cabinen hervorlockte.

Der Dampfer glitt bald an dem gefährlichen Felsen von Dragonera vorüber, auf dem ein Leuchtthurm steht, und lief dann in die enge Wasserstraße von Friou mit ihren steinichten, schroffen Uferwänden ein. Hierauf wurde das Cap Calanguera an Backbord passiert und der »Argeles« dampfte in den Eingang zur Bai von Palma ein, wo er an deren Molo vorbeifahrend sich an dem von Neugierigen besetzten Kai festlegte.

6. Capitel

Sechstes Capitel.
Worin die vielfachen Vorkommnisse dieser Erzählung in der Stadt Palma ihre Fortsetzung finden.

Wenn es ein Stück Erde giebt, das man gründlich kennen kann, ohne es je besucht zu haben, so ist es die herrliche Gruppe der Balearen. Gewiß verdient sie es, die Touristen anzulocken, die es nicht zu bedauern haben, von einer [78] Insel zur andern gefahren zu sein, selbst wenn die blauen Wellen des Mittelmeeres sich im Zorn auch einmal mit weißem Schaum bekränzen. Nach Majorca–Minorca, nach Minorca – das wilde Eiland Cabrera, die kleine Ziegeninsel. Und nach den Balearen, die die Hauptgruppe bilden, noch die unter dem Namen Pityusen bekannten Inseln Ivitza, Formentera und Conigliera mit ihren dunkeln Pinienwäldern.

Wirklich, nach dem, was über diese Oasen des Mittelmeers, wie für kein andres Land der Erde, geschrieben und gedruckt worden ist, hat man es gar nicht nöthig, sich außer Ordnung zu bringen, sein Haus zu verlassen und sich auf Reisen zu begeben, ist es unnütz, hinzugehen, um die den Touristen gerühmten Naturwunder aus eigner Anschauung kennen zu lernen. Man braucht nur eine Bibliothek aufzusuchen, vorausgesetzt, daß diese Bibliothek das Werk seiner Kaiserl. Hoheit des Erzherzogs Ludwig Salvator 1 von Oesterreich über die Balearen besitzt. Es genügt, dessen eingehenden und verläßlichen Text zu durchlesen, die farbigen Stiche, Ansichten, Skizzen, Pläne und Karten desselben anzusehen, die diese Veröffentlichung zu einem Werke ohne Gleichen machen.

Es ist in der That eine unvergleichliche Arbeit in Hinblick auf die Schönheit der Ausführung, des geographischen, ethnographischen, statistischen und künstlerischen Werthes... leider ist das Meisterwerk aber nicht im Buchhandel.

Clovis Dardentor kannte es ebenso wenig, wie Marcel Lornans und Jean Taconnat. Da sie infolge des Aufenthalts des »Argeles« an der Hauptinsel der Gruppe gelandet waren, konnten sie wenigstens deren Hauptstadt besuchen, ins Herz des reizenden Palma eindringen und schöne Erinnerungen davon mit hinwegnehmen. Vielleicht würden sie freilich, wenn sie tief im Hafen die Dampfjacht »Nixe« des Erzherzogs Ludwig Salvator antrafen, diesen darum beneiden lernen, daß er seine Residenz auf der wunderbaren Insel aufgeschlagen hatte.

Eine Anzahl Passagiere ging sofort ans Land, als der Dampfer seine Haltetaue am Kai im künstlichen Hafen von Palma festgelegt hatte. Die Einen noch ganz erschöpft von dem Schwanken bei der, übrigens so ruhigen, Ueberfahrt – vorzüglich die Damen – sahen darin nur die Befriedigung, für einige Stunden festen Boden unter den Füßen zu fühlen.


Der Dampfer lief in die enge Wasserstraße von Friou ein. (S. 78.)

Die Andern, die nicht krank geworden waren, gedachten sich den Aufenthalt zunutze zu machen, um die [79] Hauptstadt der Insel nebst deren Umgebung zu besuchen, wenn die Zeit zwischen zwei Uhr und acht Uhr abends das zuließ. Der »Argeles« sollte ja mit anbrechender Nacht wieder in See gehen, und im Interesse der Ausflügler war das Diner bis nach der Abfahrt verschoben worden.


»Wir machen unsern Ausflug mit Ihnen.« (S. 82)

Daß sich unter diesen Clovis Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat befanden, ist wohl selbstverständlich. Ans Land gingen ebenfalls Herr [80] Oriental mit dem Fernrohr am Riemen und die Herren Désirandelle Vater und Sohn, die Frau Désirandelle in ihrer Cabine zurückließen, wo diese in erquickendem Schlummer lag.

»Ein guter Gedanke, alter Freund, sagte Clovis Dardentor zu Herrn Désirandelle. Einige Stunden in Palma werden Ihrer etwas mitgenommenen Maschine sehr wohl thun.... Welch schöne Gelegenheit, sich den Rost abzuputzen, wenn man so pedibus cum jambis durch die Stadt schlendert!... Sie schließen sich doch an uns an?

[81] – Ich danke, Dardentor, antwortete Herr Désirandelle, dessen Gesicht allmählich wieder etwas Farbe bekam. Es wäre mir unmöglich, Ihnen zu folgen, deshalb setz' ich mich lieber in ein Café, um Ihre Rückkehr abzuwarten.«

Das that er denn auch, wobei Agathokles an seiner linken und Herr Eustache Oriental nahe seiner rechten Seite dahingingen. Weder der Eine noch der Andre schien zum flotten Touristen geschaffen zu sein.

Patrice, der den Dampfer seinem Herrn auf dem Fuße verlassen hatte, fragte ihn mit ernster Stimme nach seinen Befehlen.

»Soll ich den Herrn begleiten?...

– Lieber zweimal als einmal, antwortete Clovis Dardentor. Möglicherweise sind' ich etwas nach meinem Geschmack, irgend eine Landeseigenthümlichkeit, und ich habe keine Lust, mich dann damit zu schleppen.«

Es kann in der That kein Fremder durch die Straßen von Palma wandern, ohne daß ihm irgend eine Thonwaare majorcanischen Ursprungs angeboten würde, eine der lebhaft gefärbten Fayencen, die den Vergleich mit chinesischem Porzellan aushalten, der merkwürdigen Majolicawaaren, die nach dem Namen der dadurch berühmt gewordnen Insel benannt werden.

»Wenn Sie gestatten, Herr Dardentor, ließ sich Jean Taconnat vernehmen, so machen wir unsern Ausflug mit Ihnen...

– Aber, Herr Taconnat, ich wollte Sie schon darum ersuchen, oder vielmehr bitten, daß Sie mich für die wenigen Stunden als Begleiter annehmen.«

Patrice fand diese Antwort passend stilisiert und billigte sie durch leises Nicken mit dem Kopfe. Er bezweifelte nicht, daß sein Herr in der Gesellschaft der beiden Pariser, die seiner Ansicht nach den besten Kreisen angehörten, nun gewinnen könne.

Während Clovis Dardentor und Jean Taconnat aber so einige Höflichkeiten austauschten, konnte sich Marcel Lornans, der ja errieth, welche Absichter sein einbildungsreicher Freund dabei verfolgte, eines Lächelns nicht enthalten.

»Nun ja! gestand dieser ein. Warum sollte sich nicht die ersehnte Gelegenheit bieten können?

– Richtig, richtig, Jean, die berühmte, vom Civilgesetzbuch vorgeschrieben Gelegenheit... Kampf, Feuer, Wasser...

– Wer weiß?...«

In die Fluthen zu gerathen oder von Flammen umzingelt zu werden davon war bei dem Spaziergange des Herrn Dardentor durch die Straße [82] der Stadt freilich nichts zu fürchten, so wenig wie ein Ueberfall bei ihrem Weg in der Umgebung, denn zum Unglück für Jean Taconnat gab es weder wilde Thiere noch Uebelthäter irgendwelcher Art auf den glücklichen Inseln der Balearen.

Jetzt war nun keine Zeit zu verlieren, wenn man die Stunden des Aufenthalts hier ausnützen wollte.

Bei der Einfahrt des »Argeles« in die Bai von Palma hätten die Passagiere drei Bauwerke sehen können, die die Häuser am Hafen überragten. Das waren die Kathedrale, ein dazu gehöriger Palast und zur Linken ein Gebäude von beträchtlicher Breite, dessen Thürmchen sich in den Wellen spiegelten. Ueber die weiße Fläche der bastionartigen Umfassungsmauer ragten mehrere Kirchthürme empor und bewegten sich die Flügel mehrerer Mühlen im Seewinde.

Wenn man ein Land nicht kennt, thut man am besten, seinen Baedeker zu Rathe zu ziehen, oder, im Fall, daß man dieses treffliche Büchlein nicht zur H and hat, sich einen lebenden Führer zu nehmen. Ein solcher war es, dem der Perpignaneser und seine Begleiter begegneten, und zwar einem etwa dreißigjährigen Manne von hohem Wuchs, anziehendem Benehmen und sanfter Physiognomie. Eine Art braunes Mäntelchen über der Schulter, an den Knien ausgebauschte Beinkleider und ein einfaches rothes Taschentuch, das um den Kopf und die Stirn geschlungen war, gaben ihm ein recht gutes Aussehen.

Um den Preis einiger Douros wurde zwischen dem Perpignaneser und diesem Majorcaner abgemacht, die Stadt zu Fuß zu durchwandern, die hervorragendsten Gebäude aufzusuchen und schließlich den Ausflug durch eine Wagenfahrt in der Umgebung zu vervollständigen.

Was Clovis Dardentor gleich von vornherein bestach, war der Umstand, daß dieser Führer recht gut französisch mit dem südländischen Accent sprach, der die Eingebornen der Umgebungen von Montpellier kennzeichnet. Zwischen Montpellier und Perpignan ist die Entfernung bekanntlich keine große.

Jetzt sind unsre drei Touristen also unterwegs und lauschen auf die Mittheilungen des auch zum Cicerone gewordenen Führers, der gern ebenso pomphafte, wie treffend schildernde Phrasen gebrauchte.

Der Archipel der Balearen ist es übrigens werth, daß man seine Geschichte kennt, die durch die Stimme seiner Bauwerke und Legenden so eindringlich erzählt wird. Was der Archipel jetzt ist, das deutet nicht an, was er einstmals war. In hoher Blüthe bis zum sechzehnten Jahrhundert, wenn auch nicht in [83] industrieller, so doch in commercieller Hinsicht. machten ihn die Leichtigkeit seiner Verbindungen mit den drei großen europäischen Ländern, Frankreich, Italien und Spanien, sowie die Nähe der afrikanischen Küste zum Hauptankerplatze der gesammten Handelsmarine. Unter der Regierung des Königs Don Jayme I., des Conquistador, gesegneten Andenkens, erreichte er seinen höchsten Glanz, Dank dem Genie seiner unternehmenden Rheder, zu denen die befähigtesten Mitglieder der vornehmen Welt von Majorca gehörten.

Jetzt beschränkt sich der Handel auf die Ausfuhr von Bodenerzeugnissen, wie Oele, Mandeln, Kapern, Citronen und Gemüse; die Industrie dagegen auf die Aufzucht von Schweinen, die nach Barcelona verschifft werden. Was die Orangen betrifft, so würde deren Erntebetrag, der geringer ist, als man meist annimmt, den Namen des Gartens der Hesperiden kaum rechtfertigen, den man den Balearischen Inseln noch immer zuzulegen liebt.

Was der Archipel aber nicht verloren hat, was Majorca, die größte Insel der Gruppe mit einer Oberfläche von dreitausendvierhundert Quadratkilometern und einer Bevölkerung von mehr als zweimalhunderttausend Seelen, nicht verlieren konnte, das war das herrliche Klima von unvergleichlicher Mildheit, die reine, heilsame, belebende Luft, die leuchtende Farbe des Himmels, die vielen Naturwunder und die prächtigen Landschaften, die einen andern, ihren mythologischen Namen, den der »Insel des Guten Geistes«, völlig rechtfertigen.

Während sie so um den Hafen hingingen, um nach dem Bauwerke zu gelangen, das gleich zuerst die Aufmerksamkeit der Passagiere erregt hatte, machte der Führer seinem Beruf als Cicerone alle Ehre, d. h. er entpuppte sich als ein wandelnder Geograph, als geschwätziger Papagei, der die Redewendungen seines Repertoires zum hundertsten Male wiederholte. Er erzählte, daß die bis auf ein Jahrhundert vor der christlichen Aera zurückreichende Gründung von Palma aus der Zeit datierte, wo die alten Römer die Insel nach langen Kämpfen mit den, wegen ihrer Gewandtheit in der Handhabung der Schleuder schon berühmten Einwohnern in Besitz genommen hatten.

Clovis Dardentor gab willig zu, daß der Name der Balearen von dieser Waffenübung, in der sich schon David ausgezeichnet hatte, herrühren möge, und auch daß den Kindern hier Speise und Trank verwehrt worden wäre, so lange sie nicht jeden Tag das Ziel mit einem Wurfe der Schleuder getroffen hatten. Als der Führer aber versicherte, daß die durch diesen primitiver Apparat geschleuderten Geschosse infolge ihrer ungeheuern Geschwindigkeit durch [84] die Reibung an der Luft geschmolzen wären, da warf er den beiden jungen Leuten einen vielsagenden Blick zu.

»Alle Wetter, murmelte er, dieser balearische Insulaner wagt es auch noch, uns foppen zu wollen!

– O... hier und anderwärts im Süden...!« antwortete Marcel Lornans.

Als authentisch nahmen sie dagegen die geschichtliche Ueberlieferung hin, daß der Karthager Hamilkar bei seiner Fahrt von Afrika nach Catalonien hier vor Anker ging und daß sein weltbekannter Sohn Hannibal hier das Licht der Welt erblickte.

Es als erwiesen hinzunehmen, daß auch die Familie Bonaparte von der Insel Majorca herstamme und hier seit dem fünfzehnten Jahrhundert ansässig gewesen sei, dessen weigerte sich Clovis Dartentor beharrlich. Von Corsica.. ja!... Von den Balearen?... Nimmermehr!

Wenn Palma, der Schauplatz zahlreicher Kämpfe war, zuerst, als es sich gegen die Schaaren Don Jayme's vertheidigte, dann in der Zeit, wo sich die bäuerlichen Besitzer gegen den sie durch Steuern aussaugenden Adel auflehnten, und endlich. als es sich der Corsaren aus den Barbareskenstaaten erwehren mußte, so sind diese Tage jetzt längst vorüber. Die Stadt erfreute sich gegenwärtig einer Ruhe, die Jean Taconnat jeder Hoffnung beraubte, seinem Vater in spe bei einem etwaigen Ueberfalle zu Hilfe zu springen.

Bei dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts verweilend, erzählte der Führer noch, daß der Bergbach Riena, durch einen außergewöhnlichen Wasserzufluß angeschwellt, den Tod von sechzehnhundertdreiunddreißig Personen herbeigeführt habe. Das veranlaßte Jean Taconnat zu der Frage:

»Wo fließt denn dieser Bergbach?

– Mitten durch die Stadt.

– Werden wir darüber hinweg gehen?

– Ja gewiß.

– Und führt er viel Wasser?...

– Nicht genug, um eine Maus darin zu ersäufen.

– Na, der ist ja wie für mich geschaffen!« raunte der arme junge Mann seinem Vetter ins Ohr.

Harmlos plaudernd besichtigten die drei Touristen die untere Stadt, indem sie den Kais, oder vielmehr den Terrassen nachgingen, die sich auf der bastionierten Umfassungsmauer längs des Meeres hinziehen.

[85] Einige Häuser hier zeigten die malerischen Formen der maurischen Architektur, was sich daraus erklärte, daß Mauren vierhundert Jahre lang auf der Insel wohnten. Durch die halboffnen Thüren erblickte man die innern Höfe, die Spatios mit den leichten Colonnaden, den traditionellen Ziehbrunnen mit seiner eleganten Eisenarmatur, die Treppe mit graziöser Windung, den mit blühenden Schlingpflanzen geschmückten Säulengang und die Fenster mit ihren steinernen Kreuzen von unnachahmlicher Zartheit.

Endlich kamen Clovis Dardentor und seine Begleiter vor einem, von vier achteckigen Thürmen flankierten Gebäude an, das zwischen dem Stile der Frührenaissance auch Spuren gothischer Baukunst aufwies.

»Was stellt denn dieser alte Steinklumpen vor?« fragte Herr Dardentor.

Wenn er nicht Patrice hätte ein wenig ärgern wollen, konnte er wohl einen etwas gewählteren Ausdruck anwenden.

Die »Fonda« war es, die alte Börse, ein prächtiges Bauwerk mit sauber verzierten Fenstern und künstlerisch ausgearbeitetem Karnieß, dessen Auszahnung dem Werkmeister jener Zeit alle Ehre machte.

»Wir wollen hier hineingehen,« schlug Marcel Lornans vor, der sich für alle archäologischen Curiositäten interessierte.

Sie durchschritten darauf eine Bogenwölbung, die ein mächtiger Mittelpfeiler theilte. Im Innern befand sich ein, wohl tausend Personen fassender Saal, dessen Decken von gewundnen, schwachen Säulen getragen wurde. Hier fehlte nur das Getöse des Verkehrs, der Lärm der Kaufleute, wovon er in glücklicheren Zeiten widerhallen mochte.

Unser Perpignaneser ließ diese Bemerkung fallen. Die Fonda selbst hätte er gern nach seiner Heimatstadt versetzt gesehen, wo er schon allein dafür gesorgt hätte, ihr das einstige Leben wieder zuzuführen.

Selbstverständlich bewunderte Patrice all die schönen Dinge mit dem Phlegma des reisenden Engländers, der auf den Führer den Eindruck eines gesetzten und zugeknöpften Gentleman machte.

Was Jean Taconnat betrifft, müssen wir zugestehen, daß ihm die abgeleierten Standreden des Cicerone nur ein sehr mittelmäßiges Interesse einflößten. Er war für die Schönheiten der edlen Kunst der Architektur zwar nicht unempfänglich, von einer fixen Idee erfüllt folgten seine Gedanken jedoch einer ganz andern Richtung und er bedauerte nur, daß in dieser Fonda nichts zu machen sei.

[86] Nach einem gezwungenermaßen kurzen Besuch wendete sich der Führer nach der Riena-Straße. Hier herrschte reges Leben. Die Männer, ausgezeichnet durch schönen Typus und elegante Haltung, trugen weite Beinkleider, einen Gürtel um die Taille und eine Weste aus Ziegenfell mit der Haarseite nach außen. Die sehr hübschen Frauen mit warmem Teint, tiefen schwarzen Augen und ausdrucksvollen Gesichtszügen erschienen in hellfarbigen Röcken mit kurzer Schürze und ausgeschnittnem Leibchen und mit entblößten Armen, während einzelne junge schlanke Mädchen auf dem Kopfe den »Rebosillo« trugen, der trotz seines nonnenhaften Zuschnitts doch den Reiz des Gesichts und die Lebhaftigkeit des Blicks nicht beeinträchtigt.

Jetzt war aber keine Zeit, Artigkeiten und Grüße auszutauschen, obwohl die Sprache der jungen Majorcanerinnen recht sanft, frisch und melodisch ist. Unsre Touristen eilten vielmehr an der Mauer des in der Nähe der Kathedrale errichteten Palacio Real hin, der von einer gewissen Seite, z. B. von der Bucht her, gesehen, mit dieser zu verschmelzen scheint.

Das Gebäude bildet eine sehr weitläufige Residenz mit viereckigen Thürmen und einem weiten, auf Wandpfeilern ruhenden Portal mit einem Engel aus der gothischen Epoche darüber, obgleich es in seiner übrigen hybridischen Ausführung jene Mischung von romanischem und maurischem Stil aufweist, der in der balearischen Baukunst so allgemein hervortritt. Einige hundert Schritte weiterhin erreichten die Ausflügler einen ziemlich geräumigen Platz von unregelmäßiger Grundform, auf den mehrere nach der Stadt hinausführende Straßen einmünden.

»Welcher Platz ist das? erkundigte sich Marcel Lornans.

– Der Platz Isabellas II., antwortete der Führer.

– Und jene breite Straße mit den schönen Häusern?

– Der Paseo del Borne.«

Es war das eine Straße von malerischem Aussehen infolge der verschiednen Façaden der Gebäude mit grün umrankten Fenstern, und der vielfarbigen Marquisen zum Schutz der vorspringenden Balcone, der Miradors mit bunten Scheiben, und da und dort verstreuten Bäume. Dieser Paseo del Borne führt nach dem länglichrunden Constitucion-Platze, an dem sich das Gebäude der Hacienda publica befindet.

»Gehen wir den Paseo del Borne hinauf? fragte Clovis Dardentor.

– Nein, doch auf dem Rückwege hinunter, antwortete der Führer. Jetzt begeben wir uns besser nach der Kathedrale, die von hier nicht weit entfernt ist.

[87] – Also nach der Kathedrale, entschied der Perpignaneser, und ich hätte heute nicht übel Lust, einen ihrer Thürme zu ersteigen, um einen Gesammtüberblick zu gewinnen.

– Da würde ich Ihnen, entgegnete der Führer, lieber anrathen, das Schloß von Bellver zu besuchen, das außerhalb der Stadt gelegen die ganze Umgebung überragt.

– Werden wir dazu Zeit genug haben? bemerkte Marcel Lornans.


Eine Art braunes Mäntelchen gab ihm ein recht gutes Aussehen. (S. 83.)

Der »Argeles« fährt um acht Uhr ab...«

[88] [91]Jean Taconnat hegte eine unbestimmte Hoffnung. Vielleicht bot eine Fahrt über Land die Gelegenheit, auf die er in den Straßen der Stadt vergeblich wartete.


Clovis Dardentor konnte hier einige Einkäufe machen (S. 93.)

»O, Sie haben übrig Zeit dazu, meine Herren, versicherte der Führer. Das Schloß von Bellver ist nicht weit und kein Reisender würde es sich verzeihen, aus Palma fortzugehen, ohne es besucht zu haben....

– Wie gelangen wir aber dorthin?...

– Mittels Wagen vom Jesusthore aus.

– Nun gut; zunächst also nach der Kathedrale,« sagte Marcel Lornans.

Der Führer schwenkte nach links ab und durch eine enge Straße, die Calle de la Seo, nach dem gleichnamigen Platze, auf dem sich die Kathedrale erhebt, die mit ihrer nördlichen Façade die Umfassungsmauer über der Calle de Mirador mächtig überragt.

Der Führer geleitete die Touristen zuerst nach dem »Portal des Meeres«.

Dieses Portal stammt aus der herrlichen Epoche, wo die gefällige Anordnung der Fenster und der Einsatzrosen schon auf die herannahenden Phantasien der Renaissance hindeutet. Statuen beleben die Seitennischen und das Giebelfeld zeigt zwischen Steinguirlanden sein gezeichnete biblische Scenen von köstlicher, naiver Composition.

Befindet man sich vor diesem Portale des Bauwerks, so glaubt man zuerst hindurch- und in dasselbe eintreten zu können. Clovis Dardentor wollte auch schon den einen Flügel öffnen, als der Führer ihn zurückhielt.

»Das Portal ist zugemauert, sagte er.

– Warum denn das?...

– Weil der Seewind hier oft mit solcher Gewalt eindrang, daß die Gläubigen sich schon unter dem Sturmeswüthen des Jüngsten Gerichtes im Thale Josaphat glauben konnten.«

Das war ein Satz, den er unabgeändert vor jedem Fremden wiederholte, ein Satz, auf den er sehr stolz war und der Patrice's Beifall fand.

Bei einem Rundgange um das 1601 vollendete Bauwerk konnte man dessen Aeußres, die beiden reich verzierten Thurmspitzen und die vielen ziemlich verwitterten Pinakeln bewundern, die sich auf jedem Strebepfeiler erhoben. Die Kathedrale kann im Ganzen getrost den Vergleich mit den schönsten andern der iberischen Halbinsel aushalten.

Die kleine Gesellschaft trat nun durch das Mittelportal an der Hauptfront ein.

[91] Die Kirche ist – wie alle in Spanien – im Innern sehr düster. Weder im Mittel- noch in den Nebenschiffen fand sich ein Stuhl vor, nur vereinzelte hölzerne Bänke standen umher. Nichts als die kalten Steinplatten, worauf die Gläubigen niederknien, was den kirchlichen Ceremonien einen eigenartigen Charakter verleiht.

Clovis Dardentor und die beiden jungen Leute durchschritten das Schiff zwischen der Doppelreihe von Säulen, deren prismatische Gräten nach dem Anfang der Deckenwölbung übergriffen. An dessen Ende blieben sie vor der königlichen Kapelle stehen, bewunderten ein prächtiges Altarblatt und erstiegen das Chor, das hier, abweichend vom Gebrauch, in der Mitte des Gebäudes angebracht ist.

Leider fehlte es ihnen an Zeit, die reichen Schätze der Kathedrale eingehender zu besichtigen, wie deren künstlerische Wunderdinge und die in Majorca gläubig verehrten heiligen Reliquien, vorzüglich das Skelett des Königs Don Jayme von Arragonien, das seit drei Jahrhunderten in seinem schwarzen Marmorsarkophage ruht.

Bei ihrer kurzen Anwesenheit hatten die Besucher kaum Zeit, ein stilles Gebet zu verrichten. Wenn Jean Taconnat aber für Clovis Dardentor gebetet hätte, wäre es jedenfalls nur unter der Bedingung geschehen, für diese Welt, in Erwartung der andern, der einzige Urheber seines Heils zu sein.

»Wohin gehen wir nun? fragte Marcel Lornans.

– Nach dem Ayuntamiento, antwortete der Führer.

– Durch welche Straße?

– Durch die Calle de Palacio«

Die Gesellschaft stieg hierauf die genannte Straße hinauf, die eine Länge von etwa dreihundert Metern – oder sechzehnhundert Palmos hat, um nach majorcanischem Maße zu rechnen. Die Straße mündet auf einen kleinern und weniger unregelmäßigen Platz als die Plaza Isabellas II. aus. Uebrigens findet man auf den Balearen überhaupt keine Städte, wo Winkelmaß und Richtschnur wie in den amerikanischen Städten regelmäßige Schachbrettfelder ausgeschnitten hätten.

Ob sich's wohl der Mühe lohnte, den Ayuntamiento, auch die Casa Consistorial genannt, zu besuchen? Gewiß; und kein Fremder würde in Palma verweilen, ohne ein Bauwerk bewundern zu wollen, das sein Urheber mit einer so hervorragenden Façade zu schmücken verstand. Diese zeigt nämlich zwei Thüren [92] zwischen je zwei Fenstern, durch die man nach dem Innern, nach der Tribüne, der reizvollen, in der Mitte angebrachten »Loggia« gelangt. Das erste Stockwerk zeigt sieben, nach einem Balcon zu gelegne Fenster. Der Balcon selbst zieht sich längs des ganzen Gebäudes hin. Das zweite Stockwerk ist durch eine Art vorspringendes Sennhüttendach geschützt und hat mit Rosetten geschmückte Steinwürfel, von denen jeder eine Karyatide trägt. Die Casa Consistorial wird übrigens für ein Meisterwerk italienischer Renaissance gehalten.

In der »Sala« mit den Bildern der einheimischen Notabilitäten – ohne eines vorzüglichen Heiligen Sebastians von Van Dyck zu erwähnen – hat die Regierung des Archipels ihren Sitz. Hier schreiten ernsten Gesichts und gemessnen Ganges die Stabträger in langen Talaren auf und ab. Hier werden die Beschlüsse gefaßt, die der Stadt durch die stolzen Tamboreros des Ayuntamientos kundgemacht werden, also durch öffentliche Ausrufer in überlieferter Tracht, deren Nähte mit rothen Passementen verziert sind, während sich ihr Vorgesetzter der Tamborero mayor. durch entsprechende goldne Verzierungen auszeichnet.

Clovis Dardentor hätte gern einige Douros geopfert. um diese Persönlichkeit, von der der Führer mit echt balearischer Eitelkeit sprach, in vollem Glanze bewundern zu können; genannte Persönlichkeit blieb aber unsichtbar.

Schon war von den sechs Stunden Aufenthalts die erste verstrichen. Sollte das Schloß von Bellver noch aufgesucht werden, so galt es zu eilen.

Durch ein Gewirr von Gassen und Durchgängen, worin sich Dädalus selbst mit dem Faden der Ariadne nicht zurechtgefunden hätte, brachte der Führer die Touristen von dem Cortplatze nach dem Mercadoplatze, und hundertfünfzig Meter weiterhin erreichten sie den Theaterplatz.

Clovis Dardentor konnte hier einige Einkäufe machen, ein Paar Majolicaarbeiten, wofür er einen recht anständigen Preis bezahlen mußte. Patrice, der beauftragt worden war, die suchen nach dem Dampfboot zu besorgen und in der Cabine seines Herrn gegen jede Verletzung gesichert unterzubringen, ging wieder nach dem Hafen hinunter.

Jenseit des Theaters bogen die Besucher auf einen breiten Weg, den Paseo de la Rambla, ein, der sie in einer Länge von dreitausend Metern nach der Plaza de Jesus brachte. Der Paseo ist von Kirchen und Klöstern eingefaßt, unter andern dem Kloster der Schwestern der heiligen Madeleine, das der Kaserne der Infanterie gegenüberliegt.

[93] Am Ende des Jesusplatzes befindet sich das gleichnamige Thor, das den bastionierten Mittelwall durchbricht, über den sich Telegraphendrähte hinziehen. Auf allen Seiten des Platzes stehen Häuser mit Sonnenzelten über den Balcons und mit grünlichen Persiennes vor den Fenstern. Zur Linken stehen auch einige Bäume, die diese Ecke des von der Nachmittagssonne begossnen Platzes schmücken.

Durch die weite Thoröffnung erblickt man die grünende Landschaft, durchschnitten von einer Straße, die sich nach dem Terreno hin senkt und dann zum Schlosse von Bellver führt.

Fußnoten

1 Ludwig Salvator von Oesterreich, Neffe des Kaisers und letzter Bruder Ferdinands IV., Großherzogs von Toscana, dessen Bruder, als er sich unter dem Namen Johann Orth dem Seewesen widmete, von einer Fahrt nach den Meeren Südamerikas nicht wieder zurückgekehrt ist.

7. Capitel

Siebentes Capitel.
Worin Clovis Dardentor vom Schlosse Bellver schneller zurückkehrt, als er dahingekommen war.

Es war jetzt halb fünf Uhr, also noch genügend Zeit, den Ausflug bis zu jenem Castillo auszudehnen, dessen bevorzugte Lage der Führer gerühmt hatte, sein Innres zu besuchen und die Plattform seines Hauptthurms zu ersteigen, um einen Blick über das Küstenland der Bai von Palma zu genießen.

Zu Wagen kann man binnen vierzig Minuten dahin gelangen, wenn das Gespann auf den bergigen Wegen nicht gar zu langsam geht. Das war jedoch nur eine Geldfrage und diese wieder leicht zu lösen zu Gunsten der drei Ausflügler, die der Kapitän Bugarach nicht abwarten würde, wenn sie sich verspäteten. Der Perpignaneser wußte ja davon zu erzählen.

Dicht am Jesusthore hielten ein halbes Dutzend Galeras, die nur darauf warteten, im Galopp ihrer lebhaften Maulthiere nach der Straße vor der Stadt davon zu jagen. Es war das die Gewohnheit dieser leicht gebauten und beweglichen Gefährte, die über Stufen hinweg, auf abfallendem wie auf ansteigendem Wege eine andre Gangart als Galopp gar nicht zu kennen scheinen.

Der Führer winkte einen der Wagen heran, dessen Bespannung Clovis Dardentor – und der verstand sich darauf – für passend erklärte. Er war [94] ja früher oft durch die Straßen von Perpignan gefahren und es wäre für ihn nicht das erste Mal gewesen, wenn er selbst hätte den Kutscher spielen müssen.

Jetzt bot sich aber keine Gelegenheit, seine Talente als Sportsman leuchten zu lassen, denn der wirkliche Kutscher der Galera behielt die Zügel selbst in der Hand.

Unter solchen Umständen erschien es also so gut wie gewiß, daß die Fahrt ohne Unfall verlaufen würde, und Jean Taconnat sah seine Hoffnungen auf eine »traumatische Adoption«, wie Marcel Lornans sagte, wieder einmal verblassen.

»Nun, meine Herren, fragte der Führer, genügt Ihnen diese Galera?

– Vollständig, versicherte Marcel Lornans, und wenn Sie Platz nehmen wollen, Herr Dardentor...

– Sofort, meine jungen Freunde. Nach Ihnen, Herr Marcel.

– Nein, nach Ihnen, Herr Dardentor.

– Ich thu' es aber nicht anders!«

Um den Austausch höflicher Redensarten nicht noch auszudehnen, stieg Marcel Lornans zuerst ein.

»Nun, und Sie, Herr Taconnat, fuhr Clovis Dardentor fort, was fehlt Ihnen denn?... Sie machen ein so nachdenkliches Gesicht!... Wo ist Ihr gewohnter Humor denn hingekommen?...

– Ich... Herr Dardentor?... Mir fehlt nichts... ich versichre Ihnen... gar nichts.

– Sie befürchten doch nicht, daß uns mit diesem Gefährt ein Unfall zustoßen könnte?

– Ein Unfall, Herr Dardentor? erwiderte Jean Taconnat, die Achseln zuckend. Warum sollte uns denn ein Unfall zustoßen? Ich glaube an keine Unfälle!

– Ich auch nicht, junger Mann, und ich gebe Ihnen die Versicherung, daß unsre Galera nicht kentern wird...

– Und wenn sie dennoch kentern sollte, so müßte sie dabei in einen Fluß, einen See, einen Teich, wenigstens in einen Wassertrog fallen... sonst gält' es ja nicht!

– Was... es würde nicht gelten?... O, sie ist stark, unsre Galera!... rief Herr Dardentor, die Augen weit aufreißend.

– Ich wollte damit sagen, fuhr Jean Taconnat fort, daß der Text des Civilgesetzbuchs es ausdrücklich verlangt.. Nur wenn... Nun, ich weiß ja schon...«

[95] Marcel Lornans mußte über die verlegnen Winkelzüge seines um eine Adoptivvaterschaft werbenden Vetters laut auflachen.

»Das sollte nicht gelten!... Das sollte sonst nicht gelten! wiederholte der Perpignaneser. Wahrlich, das ist eine der besten Einreden, die ich je gehört habe!... Doch trotz alledem... vorwärts!«


Niemals mochte er so höckrige Olivenbäume gesehen haben. (S. 98)

Jean Taconnat stieg nun ein und setzte sich neben seinen Vetter auf die zweite Bank. Clovis Dardentor nahm auf der ersten, neben dem Kutscher Platz und der Führer stellte sich auf den Tritt hinter dem Wagen.


Die Maulthiere bäumen sich auf. (S. 103.)

Schnell ging es nun durch das Jesusthor und gleich vor diesem erblickten die Touristen schon das massige Schloß Bellver, das aus üppigem Grün hervorragte.

[96]

Als die Galera durch die Stadtmauer rollte, gelangte sie nicht sofort ins offne Land. Erst führte der Weg noch durch Terreno, eine Art Vorort der balearischen Hauptstadt hin. Dieser Vorort wird mit Recht als ein Heilbadeort in nächster Nähe von Palma betrachtet. Seine eleganten Landhäuser und hübschen Atquerias liegen geschützt unter dem erquickenden Schatten von Bäumen, besonders von alten Feigenbäumen, die eine seltsame knorrige Gestalt haben.

[97] Die nicht geringe Anzahl weißer Häuser thront übrigens auf einer Anhöhe, deren felsiger Fuß vom Schaume der Brandung benetzt wird. Nachdem sie das reizende Terreno hinter sich gelassen hatten, konnten Clovis Dardentor und die beiden Pariser, wenn sie sich umdrehten, mit einem Blicke die ganze Stadt Palma, ihre azurblaue Bucht bis zur Grenze des hohen Meeres und die gewundnen Linien ihres Ufers umfassen.

Die Galera rollte jetzt einen aufsteigenden Weg hinan, der sich unter einer Waldung von Aleppopinien verlor, die das Dorf umkränzt und den von den Mauern des Castillo de Bellver gekrönten Hügel bekleidet.

Welch' herrliche Durchblicke über die Landschaft boten sich aber erst von etwas erhöhtem Standpunkte aus, wie reizend hoben sich die zerstreuten Häuser ab von der Farbe der Palmen, Orangen-, Granat- und Feigenbäume, von dem dunkeln Kaperngesträuch und dem Laube der Olivenbäume! Clovis Dardentor, dem das Herz immer auf der Zunge lag, verlieh auch seiner Bewundrung den beredtesten Ausdruck, obwohl ihm ähnliche Landschaftsbilder aus dem südlichen Frankreich bekannt sein mußten. Freilich mochte er so verwachsne, knorrige, höckrige und bucklige Olivenbäume und diese obendrein von so riesiger Größe wohl noch niemals gesehen haben. Wie ergötzte sich das Auge auch an den Hütten der Landleute, die, von Gemüsegärten umgeben, sich aus Myrten- und Cytisengebüsch nebst Tausenden von Blumen erhoben, darunter jene »Lagrymos« mit dem poetischen und traurigen Namen, und deren Wetterdächer von Laub umrankt und mit Hunderten von Büscheln rothen spanischen Pfeffers geschmückt waren!

Bisher war die Fahrt ganz nach Wunsch verlaufen und die Insassen der Galera hatten keine Ursache zu dem Rufe:

»Was zum Teufel haben wir in dieser Galera zu thun!«

Nein, die Galera wurde ja von keiner Doppelreihe von Rudern auf dem unzuverlässigen Elemente fortbewegt. Hier auf dem Lande bedrohte sie kein Ueberfall durch Seeräuber aus den Barbareskenstaaten. Sie hatte die Straße, die sich weniger launisch als das Meer erwies, glücklich überschifft, und es war fünf Uhr, als sie im Hafen, oder richtiger vor dem Thore des Castillo de Bellver, eintraf.

Das feste Schloß wurde einst in dieser beherrschenden Lage erbaut. weil es bestimmt war, die Stadt Palma und ihre Bai zu vertheidigen. Mit seinen tiefen Wallgräben, dicken Steinmauern und dem aufragenden Thurme [98] bietet es auch ganz den, für mittelalterliche Festungen gewohnten Anblick. Vier kleinere Thürme schützen seine kreisförmige Außenmauer, innerhalb derer ein zweistöckiges Bauwerk in römischem und gothischem Stile errichtet ist. Davor erhebt sich der »Torre del Homenaje« (eigentlich der Huldigungs- oder Lehensthurm), dessen feudale Natur niemand verkennen kann.

Diesen Thurm wollten Clovis Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat bis zu seiner Plattform ersteigen, um einen Gesammtüberblick auf Stadt und Land zu gewinnen, da er sich dazu besser eignete, als eine der Thurmspitzen der Kathedrale.

Die Galera blieb vor der steinernen Grabenbrücke stehen und dem Kutscher wurde bedeutet, hier zu warten, während die Fahrgäste das Castillo mit dem Führer besuchten.

Das konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, denn es handelte sich ja nicht darum, alle Ecken und Winkel des alterthümlichen Bauwerks zu durchstöbern, sondern nur die Aussicht bis zum fernen Horizont zu genießen.

Nach flüchtiger Besichtigung einiger Zimmer im Erdgeschoß, fragte Clovis Dardentor:

»Nun, meine jungen Herren, wollen wir hinaufklettern?

– Ganz wie Sie wünschen, antwortete Marcel Lornans, nur kein zu langer Aufenthalt. Es wäre doch arg, wenn Herr Clovis Dardentor, nachdem er schon einmal die Abfahrt des »Argeles« verfehlt hatte...

– Jetzt zum zweiten Male zu spät käme! fiel der Perpignaneser lachend ein. Nein, das wäre um so unverzeihlicher, da ich in Palma keine Schaluppe fände, um dem Dampfer nachzueilen. O, was sollte dann aus dem armen Désirandelle werden?«

Die Gesellschaft begab sich also nach dem Huldigungsthurme, der durch zwei Zugbrücken mit dem Castillo in Verbindung stand.

Dieser runde und sehr massive, aus Backsteinen von warmer Färbung erbaute Thurm steht mit dem Fuße im Wallgraben. Seine südwestliche Seite ist in der Höhe der Grabenkante von einem röthlichen Thore durchbrochen. Darüber befindet sich ein Rundbogenfenster und über diesem wieder ein Paar drohende Schießscharten. Nachher folgen nach oben hin die Mauervorsprünge, die die Brustwehr der Plattform tragen.

Dem Führer nachgehend, erstiegen Clovis Dardentor und seine Begleiter eine in der Mauer ausgesparrte und durch die erwähnten Schießscharten spärlich [99] erleuchtete Wendeltreppe. Diese führte ziemlich steil hinauf und reichte bis zur Plattform selbst.

Der Führer hatte in der That nicht übertrieben. Von dieser Höhe aus bot sich eine überraschend prächtige Aussicht.

Vom Fuße des Castillo an fällt der, mit schwarzem Mantel von Aleppopinien bedeckte Hügel ab. Weiterhin taucht das Bild der reizenden Vorstadt Terreno auf. Tief unten glitzert die bläuliche Bai, da und dort von weißen Punkten unterbrochen, die man für Seevögel halten möchte, die aber nur die Segel flinker Tartanen sind. Noch weiter hin und zur Seite zeigt sich die amphitheatralisch gelegne Stadt mit ihrer Kathedrale und den übrigen Kirchen; ein glänzendes Gesammtbild, gebadet in der leuchtenden Atmosphäre, die die goldnen Strahlen der Sonne, wenn sie nach dem Horizont hinabsinkt, blendend durchflimmern. Ganz draußen lag endlich das unbegrenzte Meer, da und dort belebt von Fahrzeugen mit weißem Segelwerk oder von Dampfern, die ihre langen dunkeln Rauchsäulen am Himmel hin zogen. Von Minorca im Osten und von Ivitza im Südwesten war nichts zu sehen; im Süden dagegen erblickte man noch die steile Insel Cabrera, wo so viele Franzosen in den Kriegen des ersten Kaiserreichs gar elend umkamen.

Vom Thurme des Castillo de Bellver aus gesehen, gewinnt man durch einen Blick nach Norden eine Vorstellung davon, was Majorca ist, die einzige Insel des Archipels nämlich, die wirkliche Sierras (Höhenzüge) mit immergrünen Eichen und Nesselbäumen besitzt, zwischen denen Porphyr-, Grünschiefer- und Kalksteinnadeln emporragen. Auch die vorgelagerte Ebne zeigt viele Einzelhöhen, auf den Balearen »Puys« genannt, von denen fast jede mit einem Schloß, einer Kirche oder einer Eremitage besetzt ist. Hierzu kommen noch rauschende Bergbäche in vielfachen Windungen, wovon es nach Aussage des Führers auf der Insel über zweihundert geben soll.

»Für Herrn Dardentor zweihundert Gelegenheiten, hineinzufallen, dachte Jean Taconnat, wir werden aber sehen, daß er dieses Kunststück auch nicht ein einziges Mal fertig bringt!«

An die neueste Zeit erinnerte in dem Landschaftsbilde nur die Eisenbahn, die durch den innern Theil von Majorca führt. Sie verläuft von Palma nach Alcudia durch die Bezirke von Santa-Maria und Benisalem, und man spricht davon, ihr Zweigstrecken durch die malerischen Thäler der Bergkette anzugliedern, die ihre höchsten Spitzen bis zu tausend Metern über dem Meere emporsendet.

[100] Nach seiner Gewohnheit gerieth Clovis Dardentor bei Betrachtung des herrlichen Bildes geradezu in Begeisterung. Marcel Lornans und Jean Taconnat theilten übrigens diese ganz gerechtfertigte Bewunderung. Es war wirklich schade, daß der Aufenthalt im Schlosse Bellver nicht verlängert werden konnte und eine spätere Rückkehr hierher ausgeschlossen war, da der »Argeles« schon in wenigen Stunden weiterfahren sollte.

»Ja, wahrhaftig, erklärte der Perpignaneser, hier verlohnt sich ein Aufenthalt von Wochen... Monaten...

– O, meldete sich der Führer, dem es an Anekdoten nicht zu fehlen schien, das ist einem Ihrer Landsleute, meine Herren, freilich etwas gegen seinen Willen, widerfahren...

– So?... Und wie hieß er?

– François Arago.

– Arago!... Arago! rief Clovis Dardentor, eine der Leuchten des gelehrten Frankreich!«

Thatsächlich war der berühmte Astronom im Jahre 1808 nach den Balearen gekommen, um die Messung eines Meridianbogens zwischen Dünkirchen und Formentera zu vollenden. Von der majorcanischen Bevölkerung verdächtigt und sogar mit dem Tode bedroht, wurde er im Schlosse Bellver zwei Monate lang gefangen gehalten und diese Gefangenschaft hätte gewiß noch weit länger gedauert. wenn es ihm nicht gelungen wäre, durch ein Fenster des Castillo zu flüchten und eine Barke zu miethen, die ihn nach Algier überführte.

»Arago, wiederholte Clovis Dardentor, der weltberühmte Sohn von Estagel, das ruhmreiche Kind des Arrondissements meines Perpignan, meiner Ostpyrenäen!«

Inzwischen drängte die Zeit zum Verlassen der Plattform, von der aus man, wie vom Nachen eines Luftschiffs, das unvergleichlich schöne Land überblickte. Clovis Dardentor konnte sich von dem Bilde vor ihm kaum abwenden... noch immer lief er hin und her und beugte sich überall über die Brustwehr hinaus.

»Nehmen Sie sich in Acht, rief ihm Jean Taconnat zu und hielt ihn dabei am Kragen des Jackets zurück.

– In Acht nehmen?...

– Gewiß... etwas mehr... Sie wären bald hinuntergestürzt!... Warum wollen Sie uns einen solchen Schreck einjagen...«

[101] Ein sehr legitimer Schreck, denn wenn der ehrenwerthe Mann über die Brustwehr gepurzelt wäre, hätte Jean Taconnat dem Fall des Adoptivvaters in den Wallgraben hinunter nur beiwohnen, jenem aber doch keine Hilfe bringen können.

Höchst bedauernswerth blieb es immer, daß die so spärlich zugemessne Zeit einen eingehenden Besuch des herrlichen Majorca unmöglich machte. Es genügt hier ja nicht, die verschiednen Quartiere seiner Hauptstadt durchwandert zu haben, man muß auch dessen andre Städte besuchen, und würdigere, um Touristen anzulocken, als Soller, Ynca, Pollensa, Manacor und Valldmosa dürfte es nirgends wieder geben. Und dann die natürlichen Höhlen von Arta und von Drach, die für die schönsten der Erde gehalten werden, mit ihren sagenreichen Seen, ihren Stalaktitenkapellen, ihren Bädern mit klarem, frischem Wasser, mit ihrem Theater, ihrer Hölle u. s. w.... freilich lauter Phantasiebezeichnungen, die aber für die Wunder dieser großen unterirdischen Welt ganz passend erscheinen.

Und was soll man von Miramar sagen, von dem unvergleichlichen Besitzthum des Erzherzogs Ludwig Salvator, von den tausendjährigen Wäldern, deren alten Bestand der gelehrte und kunstliebende Fürst sorgsam erhalten läßt; von seinem Schlosse auf einer überhöhten Terrasse in reizender Lage an der Küste und von der »Hospederia«, dem auf Kosten Sr. kaiserl. Hoheit verwalteten Gasthause, das Allen, die dort vorsprechen, zwei Tage lang Unterkunft und Verpflegung unentgeltlich gewährt und wo selbst die, die es wünschten, es vergeblich versuchen, sich durch ein Geschenk an die Leute des Erzherzogs für die gastliche Aufnahme dankbar zu erweisen.

Einen Besuch verdient ferner die jetzt öde, stille verlassne Chartreuse de Valldmosa, wo Georges Sand und Chopin eine Saison verlebten, ein Aufenthalt, dem die Welt zwei weitbekannte Werke, »Ein Winter auf Majorca« und den merkwürdigen Roman »Spiridion« zu verdanken hat.

Das erzählte der Führer in seiner unversieglichen Redseligkeit und in den stereotypen Sätzen, die seinem Ciceronegehirn einmal fest eingeprägt waren. Kein Wunder also, daß Clovis Dardentor seinem Bedauern, diese Oase des Mittelmeeres verlassen zu müssen, den lebhaftesten Ausdruck gab, daß er sich vornahm, mit den beiden jungen Leuten und neugewonnenen Freunden hierher zurückzukehren, wenn sie jemals dazu Zeit hätten...

»Es ist bereits sechs Uhr, bemerkte Jean Taconnat.

[102] – Ja, es ist schon sechs Uhr, setzte Marcel Lornans hinzu, wir können die Rückkehr nicht länger aufschieben, da noch ein Theil von Palma übrig ist, den wir besuchen wollten....

– So brechen wir also auf!« antwortete Clovis Dardentor fast seufzend.

Die kleine Gesellschaft gönnte sich noch einen letzten Blick auf das wechselreiche Landschaftsbild im Westen, auf die Sonne, deren herabsinkende Scheibe über dem Horizonte schwebte und mit ihren schrägen Strahlen die weißen Villen von Terreno vergoldete.

Dann lenkten Alle nach dem engen Schraubengange ein, der sich innerhalb der Mauer hinabwand, überschritten die Brücke und den Hof und traten zum Thore hinaus.

Die Galera wartete an der Stelle, wo sie zurückgelassen worden war; der Kutscher schlenderte am Wallgraben hin.

Als der Führer ihn heranrief, wendete er sich mit jenem ruhigen, geometrisch gemessnen Schritte zurück, der den privilegierten Sterblichen eigen ist, die in keinem Falle Eile haben, vorzüglich nicht hier in dem glückseligen Lande, wo das Leben so gemächlich hinfließt.

Herr Dardentor stieg schon auf den Wagen, ehe der Kutscher auf der Vorderbank seinen Platz eingenommen hatte.

In dem Augenblicke aber, wo Marcel Lornans und Jean Taconnat den Fuß auf den Auftritt setzen wollten, jagte die Galera so schnell davon, daß sie zurückspringen mußten, um nicht bei Seite geschleudert zu werden.

Der Kutscher stürzte sich nun zwar auf sein Gespann, um die Thiere zurückzuhalten, doch vergebens. Die Maulthiere bäumen sich, werfen den Mann um, und es ist ein Wunder, daß er von den Rädern des Wagens, der hüpfend davonrollt, nicht überfahren wurde.

Der Kutscher und der Führer schreien gleichzeitig laut auf. Beide stürzen sich auf die Straße von Bellver, die die Galera in sausendem Galopp hinunterfliegt, jeden Augenblick in Gefahr, entweder die seitlichen Abhänge hinabzustürzen oder an den Tannen des düstern Hochwalds zu zerschellen.


Jetzt polterten die Räder schon auf der Treppe. (S. 107.)

»Herr Dardentor!... Herr Dardentor! rief Marcel Lornans mit aller Kraft seiner Lungen. Er wird sich umbringen!... Schnell, Jean, ihm nach!

– Ja wohl, antwortete Jean Taconnat, und doch... wenn dieser Zufall gelten sollte...«

[103] Wie es damit auch stand, jedenfalls galt es, die Gelegenheit am Schopfe zu erfassen, d. h. hier, die Maulthiere am Kopfe zu packen. Diese rasten aber so schnell davon, daß man kaum hoffen konnte, sie einzuholen.

Der Kutscher, der Cicerone und die beiden jungen Leute nebst einigen Bauern, die dazugekommen waren, nahmen nun, wie man sagt, die Beine unter den Arm.

Inzwischen hatte Clovis Dardentor, der seine Kaltblütigkeit unter keinen Umständen verlor, die Zügel mit kräftiger Hand ergriffen und versuchte die [104] Maulthiere, die er zurückzerrte, zum Stehen zu bringen. Das war aber dasselbe, als wenn er sich bemüht hätte, ein Geschoß in dem Momente aufzuhalten, wo es aus dem Feuerschlunde flog, und für Vorüberkommende, die es versuchten, dasselbe, als wenn sie es im Fluge hätten abfangen wollen.

Die Straße hinunter ging es in tollster Fahrt, in wüthenden Sätzen über den Bergbach hin. Clovis Dardentor, der den Kopf oben behielt und der seine Galera wenigstens mitten auf der Straße zu halten vermochte, sagte sich, daß diese Höllenfahrt jedenfalls erst vor der Stadtmauer ein Ende nehmen und [105] die erregten Thiere nicht durch das Thor derselben jagen würden.


»Amen!« antwortete eine helltönende Stimme. (S. 108.)

Wenn er die Zügel wegwarf und aus dem Gefährte zu springen versuchte, wußte er recht gut, welcher Gefahr er sich aussetzte und daß es gerathen wäre, in seiner Lage auszuharren, ob der Wagen nun um und um stürzte, so daß die Räder nach oben standen, oder ob er an irgend einem Hinderniß zertrümmert wurde.

Die verteufelten Maulthiere jagten aber mit einer Geschwindigkeit weiter, die auf Majorca und auf den andern Inseln des Archipels noch kein Menschenkind beobachtet hatte.

Hinter Terreno folgte die Galera der Außenmauer, oft im schrecklichen Zickzack hin- und hergeschleudert, hüpfend wie eine Ziege, springend wie ein Känguruh, an den ersten Thoren der Mauer vorüber, bis sie nach der Puerta Pintada an der Nordostecke der Stadt gelangte.

Die beiden Maulthiere mußten dieses Thor besonders gut kennen, denn sie stürmten ohne jedes Zaudern darunter weg. Jetzt gehorchten sie offenbar weder der Stimme noch den Händen Clovis Dardentor's. Sie allein gaben der Galera die Richtung, kamen in gestrecktem Laufe immer mehr ins Feuer, ohne auf Passanten zu achten, die entsetzt aufschrien, sich unter den Hausthüren verkrochen oder in die Seitengassen flüchteten. Die boshaften Thiere sahen aus, als sagten sie sich ins Ohr: Wir laufen, soweit es uns beliebt, und wenn sie nicht kentert, dran und drauf mit der Galera!

Und mitten durch die Irrgänge, die sich in diesem Winkel der Stadt – ein richtiges Labyrinth – durchkreuzten, flog das wilde Gespann mit verdoppelter Wuth.

Aus dem Innern der Häuser, aus den Läden heraus riefen die Leute aus vollem Halse um Hilfe. An den Fenstern erschienen entsetzte Gesichter. Das ganze Stadtviertel war in höchster Aufregung, wie einige Jahrhunderte früher, als der Schreckensruf »Die Mauren kommen!... Die Mauren kommen!« von Mund zu Mund flog. In den engen, gewundenen Straßen, die zum Theil nach der Calle des Capuchinos ausmünden, konnte die Sache nicht ohne furchtbares Unglück ausgehen.

Clovis Dardentor bemühte sich inzwischen unablässig, die tollen Maulthiere zu zügeln. Um den unsinnigen Galopp zu mäßigen, zerrte er an den Zügeln auf die Gefahr hin, sie zu zerreißen oder sich die Arme auszurenken. In der That war es aber mehr das Gespann, das an ihm zog und ihn unter unglücklichen Umständen aus dem Wagen zu schleudern drohte.

[106] »O, diese Spitzbuben, dieses Höllengespann! sagte er sich. Ich sehe keinen Grund dafür, daß sie anhalten sollten, so lange sie noch vier Beine am Leibe haben!... Und das geht immer bergab... immer steil hinunter!«

Thatsächlich führte der Weg immer abwärts, vom Castillo de Bellver an bis zum Hafen hinunter, und die Galera machte zuletzt vielleicht einen Kopfsprung ins Wasser der Bai, was wenigstens die Maulthiere abzukühlen versprach.

Kurz, sie flogen nach links, sie sausten nach rechts, sie rasten nach der Plaza de Olivar und um diesen Platz herum, wie dereinst die römischen Rennwagen auf der Fahrbahn des Colosseums, und doch war hier kein Wettbewerb zu schlagen, kein Preis einzuheimsen!

Vergebens versuchten auf diesem Platze drei Polizisten, sich auf die Maulthiere zu werfen, die dadurch nur noch rasender ausgriffen. Vergebens suchten sie einer unvermeidlichen Katastrophe zu steuern... ihre Aufopferung war fruchtlos. Der eine wurde umgestoßen und stand verletzt nur mühsam wieder auf, der andre mußte die Zügel fahren lassen. Kurz, die Galera stürmte nur mit immer zunehmender Schnelligkeit weiter, als wäre sie den Gesetzen des freien Falles unterthan.

Man hätte wenigstens glauben können, daß diese sinnlose Jagd ein – freilich unglückseliges – Ende nehmen müßte, als das Gespann der Calle de Olivar zusauste.

Diese sehr abhängige Straße wird nämlich von einer Treppe mit fünfzehn Stufen unterbrochen, und wenn die Straße überhaupt kaum befahrbar ist, so ist sie es an dieser Stelle erst recht nicht.

Die Rufe verdoppelten sich, von allen Seiten bellten die Hunde. Die Maulthiere kümmerten sich darum ebenso wenig, wie um die paar Treppenstufen. Jetzt polterten die Räder schon auf der Treppe und stießen den Wagenkasten auf und ab, als müsse er nun aus den Fugen gehen und das ganze Gefährt in Stücke zerfallen...

Doch nein, nichts von alledem! Das Vordergestell blieb trotz der heftigsten Stöße mit dem Hintergestell verbunden, der Wagenkasten hielt zusammen, die Gabeldeichseln widerstanden und auch die beiden Hände Clovis Dardentor's ließen bei dem entsetzlichen Hinunterpurzeln die Zügel nicht los.

Hinter der Galera her lief eine immer anwachsende Menschenmenge, unter der Marcel Lornans, Jean Taconnat, der Cicerone und der Kutscher sich noch nicht befanden.

[107] Nach der Calle de Olivar ging die Jagd weiter durch die Calle de San Miguel hierauf über die Plaza de Abastos, wo eines der Maulthiere zweimal stürzte, doch unverletzt sofort wieder aufsprang, nachher durch die Calle de la Plateria und endlich über die Plaza de Santa Eulalia.

»Offenbar, dachte Clovis Dardentor, wird die Galera soweit gehen, bis es ihr an Erdboden unter den Rädern fehlt, und das kann am letzten Ende doch nur in der Bai von Palma sein!«

Auf dem Platze der heiligen Eulalia erhebt sich die dieser Märtyrerin geweihte Kirche, die bei den Baleariern die höchste Verehrung genießt. Vor langer, langer Zeit diente genannte Kirche als Freistatt, und Verbrecher, denen es gelang, dahin zu flüchten, waren damit den Händen der Polizei entzogen.

Diesmal war es freilich kein Verbrecher, den ein glücklicher Stern dahinführte, sondern unser Clovis Dardentor, der noch unerschüttert auf der Vorderbank des Wagens saß.

Eben stand das prächtige Portal der Eulalienkirche weit offen. Im Innern betete eine gläubige Gemeinde. Der Gottesdienst nahte sich dem Ende und der der frommen Versammlung zugewendete Priester erhob grade die Arme, um jener den Segen zu ertheilen.

Doch welch' ein Lärm, welche Aufregung der Versammlung, welche Schreckensrufe, als die Galera plötzlich schaukelnd und hüpfend über die Steinplatten des Ganges im Mittelschiffe hereinpolterte. Doch welch' wunderbarer Effect auch, als das Gespann endlich vor den Stufen des Altarplatzes im letzten Augenblicke Halt machte.

»Et spiritu sancto! erklang es vom Munde des Geistlichen.

– Amen!« antwortete eine helltönende Stimme.

Es war die des Perpignanesers, der eben einen gewiß verdienten Segen empfangen hatte.

Nach dieser unerwarteten Lösung des Knotens wird es niemand verwundern, daß die Leute dieses tiefreligiösen Landes dabei an ein Wunder glaubten, und es wäre gar nichts Erstaunliches, wenn man zukünftig in der Kirche der heiligen Eulalia an jedem 28. April das Fest der »Santa Galera de Salud« feierte.

Eine Stunde später hatten Marcel Lornans und Jean Taconnat ihren Clovis Dardentor neben einer Fonda der Calle de Miramar wieder entdeckt, wo der außerordentliche Mann sich von seiner Aufregung und Anstrengung [108] erholte. Von Aufregung darf man übrigens kaum sprechen, wenn es sich um einen solch' stahlharten Charakter handelt.

»Herr Dardentor! rief Jean Taconnat.

– Ah, meine jungen Freunde, antwortete der Held des Tages, das war eine Fahrt, die mich bald ein bischen durchgerüttelt hätte.

– Sie sind ohne Schaden davongekommen? fragte Marcel Lornans.

– Ja... vollständig, ich glaube sogar, daß ich mich niemals wohler befunden habe!... Auf Ihre Gesundheit, meine Herren!«

Die beiden jungen Leute mußten ein paar Gläser des vortrefflichen Benisalemweines leeren, dessen Ruf weit über die Balearen hinausreicht.

Als Jean Taconnat seinen Vetter dann einmal bei Seite nehmen konnte, raunte er ihm zu:

»Eine verfehlte Gelegenheit!

– Doch nein, Jean!

– Doch ja, Marcel, denn selbst angenommen, ich hätte Herrn Dardentor durch das Aufhalten der Galera gerettet, so wirst Du doch, da ich ihn nicht dem Wasser, nicht den Flammen entrissen und auch aus keinem Kampfe herausgehauen habe, mir nicht wollen glauben machen, daß...

– Ein hübsches Thema, vor einem Civilgerichtshof zu verfechten!« begnügte sich Marcel Lornans zu antworten.

Um acht Uhr abends waren alle, die den »Argeles« verlassen hatten, wieder an Bord zurück.

Keiner hatte sich diesmal verspätet, weder die Herren Désirandelle Vater und Sohn, noch Herr Eustache Oriental.

Ob der Astronom seine Zeit wohl damit verbracht hatte, die Sonne über dem Horizonte der Balearen zu beobachten? Niemand hätte das sagen können. Jedenfalls brachte er aber mehrere Packete mit solchen Eßwaaren mit, die diesen Inseln eigenthümlich sind, z. B. »Encimados«, eine Art Kuchen aus Blätterteig, der statt mit Butter, mit Fett gebacken wird, doch deshalb nicht weniger schmackhaft ist, und auch ein halbes Dutzend »Lippfische«, denen die Fischer vom Cap Formentor mit Vorliebe nachstellen und die der Koch des Dampfers für ihn besonders sorgsam zubereiten mußte.

Der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar war offenbar mehr mit dem Munde als mit den Augen thätig... mindestens seit seiner Abfahrt von Frankreich.

[109] Gegen achteinhalb Uhr wurden die Haltetaue losgeworfen und der »Argeles« verließ den Hafen von Palma, ohne daß der Kapitän Bugarach seinen Passagieren gestattet hatte, sich den ganzen Abend in der majorcanischen Hauptstadt aufzuhalten. Deshalb war es Clovis Dardentor nicht vergönnt, die Stimmen der hiesigen »Serenos« und ihre Abendgesänge zu vernehmen, so wenig wie die Refrains der »Habaneras« und der nationalen »Jotas«, die mit den melodiösen Tönen von Guitarren begleitet werden und von denen die Patios (Höfe) der balearischen Häuser bis zum frühen Morgen widerklingen.

8. Capitel

Achtes Capitel.
Worin die Familie Désirandelle mit der Familie Elissane in Berührung kommt.

»Heute warten wir mit dem Essen bis acht Uhr, sagte Frau Elissane; Herr und Frau Désirandelle mit ihrem Sohne und wahrscheinlich jener Herr Dardentor, das macht vier Gedecke.

– Ganz recht, Madame, antwortete das Zimmermädchen.

– Unsre Freunde werden sehr der Erholung bedürfen, Manuela, und ich fürchte, die arme Frau Désirandelle wird von der anstrengenden Ueberfahrt arg zu leiden gehabt haben. Sieh' zu, daß ihr Zimmer vollständig in Ordnung ist, denn vielleicht zieht sie es vor, sich gleich nach der Ankunft niederzulegen.

– Natürlich, Madame, wird alles besorgt.

– Wo ist meine Tochter?

– In der Speisekammer, Madame, wo sie den Nachtisch zurecht macht.«

Manuela, die von Anfang an in Stellung bei Frau Elissane gewesen war, gehörte zu den Spanierinnen, aus denen man das Dienstpersonal der orancsischen Familien meist zu wählen pflegt.

Frau Elissane bewohnte ein hübsches Haus in der Alten Schloßstraße, wo sich die Gebäude einen halb spanischen, halb maurischen Charakter bewahrt haben. Ein kleiner Garten enthielt zwei Blumenkörbe mit Volubilis und zeigte [110] jetzt, zu Anfang der warmen Jahreszeit, noch saftgrüne Rasenflächen neben einigen Bäumen, darunter mehrere Exemplare von »Bella ombra« – ein Name von guter Vorbedeutung – von dem die Promenade de l'Etang sehr schöne Exemplare besitzt.

Das aus Erdgeschoß und einem Stockwerk bestehende Gebäude bot genug Raum, um der Familie Désirandelle bequeme Unterkunft zu gewähren. In Oran sollte es dieser also weder an Zimmern noch an zarter Rücksichtnahme fehlen.

Die Hauptstadt der Provinz hat sich schon zu einer recht hübschen Stadt entwickelt. Sie liegt sehr schön zwischen den Abhängen einer Thalsenkung, deren Grund das schnelle Wasser des Oued-Rehhi durchströmt, welchen die Fahrstraße des Boulevard Oudinot theilweise überdeckt. Durch die Festungswerke des neuen Schlosses getheilt, macht Oran, wie alle diese Städte, auf der einen Seite einen alterthümlichen, auf der andern einen modernen Eindruck. Der alte Theil, die spanische Stadthälfte, hat mit ihrer Kasbah, ihren vielstöckigen Häusern und dem im Osten derselben gelegenen Hafen auch noch die alten Stadtmauern bewahrt. Die neue, noch weiter östlich gebaute Hälfte mit ihren jüdischen und maurischen Gebäuden, wird vom Schlosse an bis zum Fort Saint-André von einer mit Zinnen bekrönten Mauer vertheidigt.

Dieser Theil, der Gouharan der Araber, den Mauren aus Andalusien im zehnten Jahrhundert erbauten, wird von einem hohen Berge beherrscht, dessen steiler Abhang das Fort la Moune trägt. Fünfmal so groß, wie zur Zeit ihrer Gründung, nimmt diese Hälfte jetzt zweiundsiebzig Hektar ein, und mehrere bis außerhalb ihrer Mauer reichende Straßen ziehen sich gegen zwei Kilometer lang bis zum Meere hin. Bei Fortsetzung seines Weges jenseit der Mauern der Forts, würde der Tourist dann nach den neuesten Anbauten, nach den Vorstädten Gambetta und Noiseux-Eckmühl gelangen.

Man wird schwerlich eine algerische Stadt finden können, die eine interessantere Mischung von Volkstypen aufwiese. Unter ihren siebenundvierzigtausend Einwohnern begegnet man nur siebzehntausend Franzosen neben achtzehntausend Fremden. vorzüglich Spaniern und Italienern, Engländern und Anglo-Maltesern. Füge man hierzu gegen viertausend Araber, die im Süden der Stadt, im Vororte Djalis, der auch das Negerdorf genannt wird, zusammen wohnen und woher man die Straßenfeger und Lastträger des Hafens nimmt; theile man diese Mischung von Rassen in siebenundzwanzigtausend Anhänger der katholischen Religion, siebenzehntausend Adepten des israelitischen und etwa tausend Gläubige [111] des muselmanischen Bekenntnisses, so hat man von diesem Gesichtspunkte aus ein ziemlich getreues Bild von der hybridischen Bevölkerung der oranischen Hauptstadt.

Das war die Stadt, wohin sich Herr Elissane einst zurückzog, nachdem er in Perpignan ein Handelsgeschäft fünfzehn Jahre lang und mit solchem Erfolge betrieben hatte, daß er sich zuletzt einer Rente von zwölftausend Francs erfreute, die sich unter der haushälterischen Verwaltung seiner Wittwe auch nicht vermindert hatte.

Die jetzt vierundvierzigjährige Frau Elissane war gewiß nie so hübsch, so graziös und anziehend wie ihre Tochter gewesen. Als eine Frau, die stets wußte, was sie wollte und ihre Worte wie früher ihren Zucker abwog, zeigte sie jenen wohlbekannten Typus des weiblichen Rechnungsführers, »bezifferte« sie sozusagen ihre Gefühle und befleißigte sich einer doppelten Buchführung bezüglich der ganzen Lebenshaltung mit der Vorsorge, daß ihr Contocorrent immer mit einem Plus auf der Creditseite abschloß. Man kennt ja diese Erscheinungen mit scharfgeschnittnen Gesichtszügen, vortretenden Stirnhöckern, durchdringendem Blicke und ernstem Munde – mit alledem, was bei dem sogenanntenschwachen Geschlecht ebenso bestimmt bewahrte Gewohnheiten, wie Hartnäckigkeit und Zähigkeit verräth. Frau Elissane hatte ihr Hauswesen nach wohlüberlegten Vorschriften organisiert und nirgends nutzlose Ausgaben gestattet. Sie machte noch Ersparnisse, die sie sicher und fruchttragend anzulegen verstand. Handelte es sich jedoch um ihre Tochter, der ihre ganze Liebe gewidmet war, so sah sie das Geld nicht so genau an. Ihre Wünsche galten nur dem Glück dieses einzigen Kindes, und sie bezweifelte gar nicht, daß dessen Glück durch die geplante Verbindung mit der Familie Désirandelle ausreichend gesichert sein werde.

Die zwölftausend Francs Rente, die Agathokles dereinst besitzen würde, und dazu das Vermögen, das Louise von ihrer Mutter zu erhoffen hatte, das ergab ja eine metallische Unterlage, die gewiß viele Leute für solid genug hielten, um eine sorgenlose Zukunft darauf zu begründen.

Louise selbst konnte sich des Agathokles kaum noch erinnern. Ihre Mutter hatte sie aber in dem Gedanken erzogen, daß sie eines Tags Frau Désirandelle jun. werden würde; das erschien dem jungen Mädchen auch ganz natürlich, vorausgesetzt, daß der ihr bestimmte Freier ihr auch gefiele, und warum sollte er nicht alle Eigenschaften haben, um zu gefallen?

[112] Nachdem Frau Elissane ihre letzten Befehle ertheilt hatte, begab sie sich in den Salon, wo ihre Tochter ebenfalls erschien.


Oran. - Der Hafen.

»Dein Dessert ist fertig, mein Kind? fragte sie.

– Ja, liebe Mutter.

– Es ist unangenehm, daß der Dampfer erst so spät, fast mit anbrechender Nacht ankommt!... Doch um sechs Uhr mußt Du mit der Toilette fertig sein, Louise; zieh' das kleincarrierte Kleid an, wir gehen dann nach dem Hafen hinunter, wo der »Agathokles« viel leicht schon als in Sicht gemeldet ist.«

[113] Frau Elissane, die den Namen verwechselte, betonte hier das e der Endsilbe, die doch in jenem Namen fast tonlos ist.

»Du meinst wohl den »Argeles«, antwortete Louise lachend. Und dann heißt mein Zukünftiger auch nicht Agathokles, sondern Agáthokles.

– Schon gut, erwiderte Frau Elissane, Argeles oder Agathokles, das hat ja nicht viel zu bedeuten! Du kannst Dich aber darauf verlassen, daß er keinen Fehler begehen wird, wenn er den Namen Louise ausspricht.

– Bist Du dessen so sicher? versetzte das junge Mädchen neckisch. Der Herr Agathokles kennt mich ja kaum und ich gestehe, daß ich ihn auch nicht genauer kenne.

– O, wir werden Euch schon Zeit geben, vor einer Entscheidung wieder nähere Bekanntschaft zu machen.

– Das ist wohl nicht mehr als billig!

– Uebrigens bin ich überzeugt, daß Du ihm gefallen wirst, mein Kind, und ihm muß doch erst recht daranliegen, daß er Dir zu gefallen sacht. Frau Désirandelle ist ja seines Lobes voll! Dann vereinbaren wir den Ehecontract....

– Und das Ergebniß der Aufstellung, Mutter...

– Wird natürlich zu Deinen Gunsten sein... Vergessen wir indeß nicht, daß ihr Freund, Herr Clovis Dardentor, die Désirandelle's begleitet... Du weißt doch, jener reiche Perpignaneser, auf den sie so stolz sind und der – ihrem Reden nach – der beste Mensch von der Welt sein soll. Da Herr und Frau Désirandelle nicht an Seefahrten gewöhnt sind, hat er sie nach Oran herüberlootsen wollen. Das ist ja recht hübsch von dem Manne, und wir werden ihn freundlichst empfangen, Louise...

– Ganz nach Verdienst, und selbst wenn's ihm einfiele, um meine Hand anzuhalten... doch nein, ich vergesse, daß ich Frau Agathokles werden soll und sein werde – Agathokles... ein hübscher Name, wenn auch von etwas gar zu altgriechischem Anklang.

– Sei doch einmal ernsthaft, Louise!«

Das junge Mädchen war auch ernsthaft, trotz ihres lustigen und bestechenden Naturells. Sie war das aber nicht, weil es die Eigenschaft jeder gewöhnlichen Romanheldin ist, sondern infolge ihrer Jugend, ihrer freimüthigen Natur, die sich in den lebhaften, beweglichen Zügen, in den »sammtnen« glänzenden Augen mit dunkler Pupille in azurblauer Iris, in dem reichen, dunkelblonden Haare und in ihrer graziösen Haltung aussprach.

[114] Diese flüchtigen Pinselstriche genügen zu dem Bilde Louise Elissane's, und der Leser erkennt wohl Schon daraus, daß sie sich nicht wenig von dem Tropfe unterschied, den man ihr mit den andern Frachtstücken des »Argeles« von Cette her zusendete.

Als die Stunde gekommen war und die Herrin des Hauses einen letzten Blick in die Zimmer der Familie Désirandelle geworfen hatte, rief Frau Elissane ihre Tochter und beide gingen nach dem Hafen hinunter. Sie wollten zuerst in dem amphitheatralischen Garten, der die ganze Rhede beherrscht, Halt machen. Von hier aus reicht der Blick bis zum hohen Meere hinaus. Der Himmel war herrlich, der Horizont vollkommen klar. Schon senkte sich die Sonne nach der Landspitze Mers-el-Kebir, dem Portus divinus der Alten, neben der Panzerschiffe und Kreuzer gegen die häufigen Weststürme vortrefflichen Schutz finden.

Im Norden leuchteten einige weiße Segel. Lange Rauchwolken bezeichneten die Dampfer der zahlreichen Schiffslinien des Mittelmeeres, die an der afrikanischen Küste münden. Zwei oder drei dieser Packetboote steuerten offenbar auf Oran zu, und eines davon konnte kaum noch drei Seemeilen vom Hafen sein. War das der »Argeles«, der von der Mutter, wenn auch nicht von der Tochter, so sehnsüchtig erwartet wurde? Louise kannte den Burschen ja gar nicht, den jede Schraubendrehung ihr näher brachte, und vielleicht wär' es besser gewesen, wenn der »Argeles« wieder nach rückwärts lief....

»Es ist schon um halb sieben, bemerkte Frau Elissane. Wir wollen vollends hinunter gehen.

– Ich folge Dir nach, Mutter,« antwortete Louise.

Durch die breite, am Kai ausmündende Straße erreichten Mutter und Tochter das Hafenbecken, worin die Dampfer gewöhnlich anlegen.

Frau Elissane fragte einen der Hafenbeamten, ob der »Argeles« schon gemeldet sei.

»Ja, Madame, antwortete der Beamte, er muß in einer halben Stunde einlaufen.«

Frau Elissane und ihre Tochter spazierten nun um den Hafen, an dessen Nordseite einige Anhöhen den Ausblick nach dem Meere verhindern.

Zwanzig Minuten später ertönte ein langgedehntes Pfeifen. Der Dampfer steuerte eben um die Spitze des einen Kilometer langen Hafendammes, der vom Fuße des Fort La Moune ausgeht, und nach einigen Wendungen legte das Schiff am Kai an.

[115] Gleich nach Herstellung der Verbindung mit dem Lande begaben sich Frau Elissane und Louise an Bord. Die erstere öffnete die Arme, um Frau Désirandelle, die sich seit dem Einlaufen in den Hafen endlich wieder wohler fühlte, an sich zu drücken und ebenso Herrn Désirandelle und Agathokles zu begrüßen, während Louise mehr Zurückhaltung bewahrte, was alle jungen Mädchen begreifen werden.

»Nun, und ich, meine vortreffliche, hochgeehrte Dame?... Haben wir uns denn in Perpignan nicht gekannt? Ich erinnere mich der Frau Elissane und des Fräulein Louise, die freilich inzwischen etwas gewachsen ist, sehr gut!... Sapperment, fällt denn kein Küßchen, oder lieber zwei, für den alten Freund Dardentor ab?«

Wenn Patrice etwa gehofft hatte, daß sein Herr bei diesem Wiedersehen sich als Mann von Welt zeigen würde, so mußte er durch solche Vertraulichkeiten sich freilich grausam enttäuscht sehen. Er zog sich also in gerechtem Unwillen in dem Augenblicke zurück, wo die Lippen Clovis Dardentor's auf die dürren Wangen der Frau Elissane, wie der Klöpfel auf das Trommelfell, klatschten.

Selbstverständlich hatte sich Louise der stürmischen Begrüßung des Désirandelle'schen Ehepaares nicht ganz entziehen können. So ungeniert aber Herr Dardentor auch sonst auftrat, ging er doch nicht so weit, auch das junge Mädchen mit einem väterlichen Kusse zu beglücken, obwohl dieses einen solchen vielleicht mit guter Miene hingenommen hätte.

Der junge Agathokles, der auf Louise zutrat, hatte sie nur mit einem mechanischen Gruße beehrt, an dem unter Mithilfe der Halsmuskeln sein Kopf allein theilnahm, dann wich er, ohne ein Wort zu sprechen, wieder zurück.

Das junge Mädchen konnte sich nicht enthalten, den Mund etwas verächtlich zu verziehen, was zwar Clovis Dardentor nicht bemerkte, was aber weder Marcel Lornans noch Jean Taconnat entging.

»Alle Wetter, sagte der Erstere leise, ich hätte nicht erwartet, ein so hübsches Kind zu sehen!

– Wahrhaftig, ein hübsches Mädchen, stimmte der Zweite ein.

– Und sie soll diesen Hohlkopf heiraten? setzte Marcel Lornans hinzu.

– Sie! rief Jean Taconnat. Gott verzeih' es mir, wenn ich, um das zu verhüten, meinem Schwur, niemals zu heiraten, selbst untreu würde!«

Ja, Jean Taconnat hatte sich das geschworen... er redete sich's wenigstens ein. Das war so ein leicht gethaner Jugendschwur – ebensoviel werth, wie [116] manche andre, die auch nicht gehalten werden. Wir bemerken hier übrigens, daß Marcel Lornans sich keinen solchen Eid geleistet hatte. Darauf kam indeß eigentlich nichts an. Beide waren ja nach Oran gereist, um bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten und nicht, um Fräulein Louise Elissane zu heiraten.

Wir fügen hier noch ein, um nicht wieder darauf zurückzukommen, daß die Fahrt des »Argeles« zwischen Palma und Oran unter den denkbar günstigsten Umständen von statten gegangen war. Ein Meer aus Oel, wie man sagt, so daß man glauben konnte, alles Oel der Provence wäre darauf ausgegossen worden, eine leichte Nordostbrise, die den Dampfer von der Backbordseite her traf, so daß man ihn mit den dreieckigen, den Klüversegeln und der Brigantine vor dem Schwanken bewahren konnte. Keine Welle war während der dreiundzwanzigstündigen Seefahrt auf das Deck geschlagen, und seit der Abfahrt von Palma hatten fast alle Passagiere ihre Plätze an der gemeinsamen Tafel eingenommen, so daß sich die Schiffsküche heimlich über die ungewöhnliche Zahl der Tischgäste beklagen mochte.

Herrn Oriental hatten die auf neapolitanische Art zubereiteten Forellen köstlich geschmeckt, und an den Encimadas hatte er sich mit dem Behagen des professionellen Gourmands aufs beste gelabt.

Alle Welt war in Oran also gesund eingetroffen, selbst Frau Désirandelle, die bis zu den Balearen so arg zu leiden gehabt hatte.

Obgleich nun Herr Désirandelle im zweiten Theile der Fahrt sein physisches und moralisches Gleichgewicht wieder erlangte, hatte er mit den beiden Parisern doch keine nähere Bekanntschaft gemacht. Die beiden jungen Leute ließen ihn gleichgiltig. Trotz ihrer geistigen Veranlagung, die ihm sozusagen von schlechtem Beigeschmack zu sein schien, standen sie seinem Urtheile nach entschieden unter seinem Agathokles. Dardentor mochte getrost den Verkehr mit ihnen angenehm und ihre Unterhaltung anregend finden... mit der Landung des »Argeles« würde das ja so wie so zu Ende sein.

Unter diesen Umständen kam es Herrn Désirandelle natürlich nicht in den Sinn, der Frau Elissane und deren Tochter die beiden Vettern vorzustellen. Mit der Ungeniertheit des Südländers und bei der Gewohnheit, seiner ersten Eingebung zu folgen, zögerte Clovis Dardentor dagegen nicht, das selbst zu thun.

»Herr Marcel Lornans und Herr Jean Taconnat, beide aus Paris, sagte er, zwei junge Freunde, für die ich eine lebhafte, von ihnen erwiderte Theilnahme[117] empfinde, während ich auch die Hoffnung hege, daß unsre Freundschaft diese kurze Ueberfahrt überdauern werde.«

Wie ganz anders zeigte sich dieser Perpignaneser doch zuweilen. Hier gab er seinen Gefühlen in wohlgesetzter Rede Ausdruck. Leider war Patrice nicht anwesend, um ihn zu hören.

Die beiden jungen Leute verneigten sich vor Frau Elissane, die mit einem gemessnen Gruße dankte.

»Madame, sagte Marcel Lornans, wir sind Herrn Dardentor für diese Aufmerksamkeit sehr verbunden. Wir hatten ja Gelegenheit, ihn nach Verdienst schätzen zu lernen. Auch wir glauben an die Fortdauer dieser...

– Väterlichen Freundschaft seinerseits und kindlichen Ergebenheit unsrerseits!« schloß Jean Taconnat die Worte seines Vetters.

Etwas verstimmt durch diese Höflichkeiten, blickte Frau Désirandelle nach ihrem Sohne, der den Mund noch nicht aufgethan hatte. Frau Elissane, die zu den jungen Parisern vielleicht hätte sagen können, daß sie sie bei deren Verweilen in Oran gern in ihrem Hause empfangen würde, that das doch nicht, eine Rücksichtnahme, wofür ihr die Mutter des Agathokles heimlich dankte. Die beiden Damen mochten sich mit mütterlichem Instinct wohl sagen, daß es rathsamer sei, gegenüber diesen Fremden einige Zurückhaltung zu bewahren.

Frau Elissane bemerkte dann gegen Herrn Dardentor, daß bei ihr für ihn mit gedeckt sei und sie sich glücklich schätzen werde, ihn an diesem ersten Tage mit der Familie Désirandelle als Tischgast zu sehen.

»Gönnen Sie mir nur die Zeit, nach dem Hôtel zu eilen, antwortete der Perpignaneser, ein wenig Toilette zu machen und meine Joppe gegen einen schicklichen Anzug zu vertauschen, so werde ich mich, geehrte Frau, mit Vergnügen bei Ihnen einfinden.«

Clovis Dardentor, Jean Taconnat und Marcel Lornans verabschiedeten sich hierauf vom Kapitän Bugarach und Doctor Bruno. Wenn sie sich je wieder auf dem »Argeles« einschiffen sollten, würde es ihnen die größte Befriedigung gewähren, dem liebenswürdigen Doctor und dem aufmerksamen Kapitän daselbst wieder zu begegnen. Die Beiden antworteten, daß sie nur sehr selten so angenehme Passagiere getroffen hätten, und so schieden alle vollbefriedigt von einander.

Herr Eustache Oriental hatte bereits, das Fernrohr im Lederetui auf dem Rücken und die Reisetasche in der Hand, den afrikanischen Boden betreten und folgte einem Manne, der sein schwereres Gepäck trug. Da er sich während [118] der Ueberfahrt stets abseits gehalten hatte, fiel es auch niemand ein, ihn bei seinem Weggange zu begrüßen.

Clovis Dardentor und die Pariser gingen ebenfalls ans Land und überließen es der Familie Désirandelle, sich um die Beförderung ihres Gepäcks nach dem Hause in der Alten Schloßstraße selbst zu bekümmern. Dann bestiegen sie zusammen einen mit ihren Reisetaschen beladenen Wagen und fuhren nach einem vortrefflichen Hôtel am Platze der Republik, das ihnen der Doctor Bruno angelegentlich empfohlen hatte. Hier wurde Clovis Dardentor ein Salon, ein Zimmer und ein Cabinet eingeräumt, während sich Marcel Lornans und Jean Taconnat nach zwei Zimmern des obern Stockwerks mit den Fenstern nach dem Platze zu begaben.

Da fand es sich, daß auch Herr Oriental in demselben Hôtel abgestiegen war. Als seine Reisegesellschafter nämlich hier eintrafen, sahen sie ihn schon im Speisesaale sitzen und die Karte prüfen, nach der er sich eine Mahlzeit bestellen wollte.

»Ein seltsamer Astronom! bemerkte Jean Taconnat. Mich wundert nur, daß er zum Diner nicht einen Eierkuchen mit Sternencompot oder eine Ente mit kleinen Planeten verlangt!«

Eine halbe Stunde später trat Clovis Dardentor aus seinem Zimmer, jetzt in gewählter Toilette, deren geringste Einzelheiten Patrice sorgsam überwacht hatte.

Sobald er die beiden Vettern am Hausthore traf, rief er:

»Na, meine jungen Freunde, da wären wir ja glücklich nach Oran geschafft!

– Geschafft, ja, das ist das richtige Wort, meinte Jean Taconnat.

– Ich hoffe doch, Sie denken nicht daran, sich gleich heute bei den Siebenten Jägern eintragen zu lassen...

– Nun, Herr Dardentor, lange wird das nicht dauern, antwortete Marcel Lornans.

– Haben Sie es denn so eilig, in die blaue Jacke und in die besetzte rothe Hofe zu kommen und die Dienstmütze auf den Kopf zu stülpen?...

– Ja, wenn man sich einmal etwas vorgenommen hat...

– Schon gut! Schon gut! Warten Sie wenigstens, bis wir die Stadt und ihre Umgebungen zusammen angesehen haben. Also auf morgen!

– Auf Wiedersehen morgen!« sagte Jean Taconnat.

[119] Clovis Dardentor ließ sich darauf zur Frau Elissane führen.

»Ja, wie der liebenswürdige Mann sagte, da sind wir nun in Oran! wiederholte Marcel Lornans.

– Und wenn man irgendwo einmal ist, fuhr Jean Taconnat fort, so entsteht die Frage, was man daselbst beginnt.

– Nun, ich dächte, Jean, diese Frage wäre schon längst gelöst. Wir haben unsern Dienstvertrag zu vollziehen...

– Gewiß, Marcel... aber...

– Wie, dächtest Du etwa gar noch an den Artikel dreihundertfünfundvierzig des Civilgesetzbuchs?

– Welcher Artikel ist das?

– Der, der von den Vorbedingungen einer Adoption handelt.

– Wenn das der Artikel dreihundertfünfundvierzig ist, antwortete Jean Taconnat, ja, dann denk' ich eben an diesen Artikel. Die Gelegenheit, die sich in Palma nicht bot, könnte sich doch in Oran bieten...

– Mit einer Aussicht weniger, fiel Marcel Lornans ein. Du hast hier kein Wasser mehr zur Verfügung, mein armer Jean, und mußt Dir's mit dem Feuer oder einem Kampfe genug sein lassen! Sieh, wenn heute Nacht das Hôtel in Brand gerathen sollte, verspreche ich Dir, daß ich zuerst Dich zu retten und dann mich in Sicherheit zu bringen suchen werde...

– Du bist doch ein wahrhafter Freund, Marcel.

– Herr Dardentor scheint mir der Mann dazu zu sein, sich schon selbst retten zu können. Er besitzt eine Kaltblütigkeit erster Sorte... davon wissen wir zu erzählen....


Agathokles wich, ohne ein Wort zu sprechen, wieder zurück. (S. 116.)

– Zugegeben, Marcel, das hat er bewiesen, als er in die Eulalienkirche hineinstürmte, um daselbst den Segen zu empfangen. Anders aber, wenn er sich einer Gefahr nicht versähe, wenn er vom Feuer überrascht würde und ihm nur von außen Hilfe gebracht werden könnte...

– Du giebst also den Gedanken nicht auf, Jean, daß Herr Dardentor unser Adoptivvater werden möchte?...

– Gewiß... unser Adoptivvater!

– Ja doch!... Du willst also nicht darauf verzichten?

– Nimmermehr!

– Nun, so will ich nicht länger darüber scherzen, Jean, doch unter einer Bedingung...

[120] – Und die wäre?...

– Daß Du endlich Dein griesgrämiges Gesicht ablegst, wieder den guten, schönen Humor von früher zeigst, und die suchen von der lustigen Seite nimmst.

– Zugestanden, Marcel... lachend, wenn es mir gelingt, Herrn Dardentor aus einer der vom Civilgesetzbuch vorgesehenen Gefahren zu retten... lachend. wenn sich die Gelegenheit dazu nicht böte... lachend, wenn ich Erfolg habe lachend wenn mir's mißglückt, lachend, immer und überall!

[121] – So lass' ich mir's gefallen, dann bist Du wieder der Alte. Was nun unsern Dienstantritt betrifft...

– O, damit hat es keine solche Eile, Marcel, und bevor ich nach dem Bureau des Unterintendanten gehe, beanspruche ich eine Gnadenfrist...

– Für wie lange?

– Für wenigstens vierzehn Tage. Was zum Kuckuck, wenn man sich für's ganze Leben eintragen läßt, kann man sich doch erst vierzehn Tage schöner Freiheit zusprechen...

– Meinetwegen, vierzehn Tage, Jean, und wenn Du bis dahin keinen Vater in der Person des Herrn Dardentor beschafft hast...

– Ich oder Du, Marcel...

– Oder ich... mag sein... dann setzen wir die Soldatenmütze auf.

– Einverstanden, Marcel!

– Bist dahin bleibst Du aber lustig, Jean?

– Lustig, wie der ausgelassenste Buchfink!«

9. Capitel

Neuntes Capitel.
Worin die vierzehntägige Frist für Marcel Lornans wie für Jean Taconnat erfolglos verstreicht.

Ein Haushahn kann beim ersten Morgengrauen nicht fideler sein als Jean Taconnat, als er aus seinem Bette sprang und Marcel Lornans mit seinem Trällern weckte. Vierzehn Tage... er hatte ja vierzehn Tage vor sich, um jenen braven Mann und doppelten Millionär zu ihrem Adoptivvater umzuwandeln.

Uebrigens war es gewiß, daß Clovis Dardentor Oran nicht verlassen würde, ehe nicht die Vermählung Agathokles Désirandelle's und Louise Elissane's gefeiert war. Er mußte dem Sohne seiner alten Freunde doch als Trauzeuge dienen. Vier bis fünf Wochen mochten aber wenigstens hingehen, bevor es zu dieser Hochzeitsfeier kam... wenn es überhaupt dazu kam. Würde sie aber wirklich stattfinden?...

[122] Diese »Wenn« und »Aber« hüpften im Gehirn Marcel Lornans' hin und her. Es schien ihm ganz undenkbar, daß jener Bursche der Gatte dieses reizenden jungen Mädchens werden sollte, denn so wenig er sie auf dem Verdeck des »Argeles« auch gesehen hatte, hätte er es doch als eine Pflichtvergessenheit empfunden, sie nicht zu verehren und zu bewundern. Daß Herr und Frau Désirandelle in ihrem Agathokles einen für Louise ganz passenden Ehegemahl erblickten, war ja am Ende erklärlich.

Von jeher sind Eltern bezüglich ihrer Kinder ja stets mit ziemlich starker Blindheit geschlagen. Es war aber ganz ausgeschlossen, daß der Perpignaneser sich nicht früher oder später von der völligen Bedeutungslosigkeit des Agathokles Rechenschaft geben und nicht erkennen sollte, daß zwei so verschiedne Wesen nicht für einander geschaffen seien.

Um halb neun Uhr früh trafen sich Herr Dardentor und die Pariser im Speisesaale des Hôtels beim ersten Frühstück.

Clovis Dardentor war in rosigster Laune. Er hatte gestern Abend gut gegessen und die Nacht über gut geschlafen. Wer aber mit einem vortrefflichen Magen, einem ausgezeichneten Schlaf und einem guten Gewissen dem nächsten Tage nicht freudig entgegensehen kann, der wird das niemals können.

»Meine jungen Freunde, begann Herr Dardentor, während er sein Weißbrödchen in eine Tasse ausgezeichneter Chocolade tauchte, wir haben uns seit gestern Abend nicht gesehen, und diese Zeit der Trennung ist mir recht lang vorgekommen.

– Sie sind uns aber im Traum erschienen, Herr Dardentor, antwortete Jean Taconnat, mit einem Strahlenscheine um den Kopf...

– Als Heiliger, nicht wahr?

– Nun, so wie ein Schutzpatron der Ostpyrenäen!

– Ah, Herr Jean, Sie haben also die alte Fröhlichkeit wieder geangelt?

– Geangelt... wie Sie sagen, bestätigte Marcel Lornans, er ist nur der Gefahr ausgesetzt, sie sich wieder entwischen zu lassen.

– Ei, weshalb denn?

– Weil wir uns doch wieder trennen müssen, Herr Dardentor, und Sie nach der einen, wir nach der andern Seite gehen müssen.

– Wie?... Uns trennen?...

– Nun freilich... da die Familie Désirandelle auf Ihre Person Beschlag legen wird.

[123] – Ach, Papperlapapp, das giebt's nicht! Ich leide es nicht, daß jemand mich in Fesseln und Bande schlägt. Daß ich es von Zeit zu Zeit annehme, bei Frau Elissane einen Teller Suppe mit zu essen... das mag sein. Den Vormittag und den Nachmittag behalte ich mir aber vor und hoffe, daß wir sie dazu verwenden, durch die Stadt zu spazieren... zusammen, durch die Stadt und ihre Nachbarschaft...

– Ah, das ist schön, Herr Dardentor! rief Jean Taconnat. Ich möchte niemals von Ihrer Seite weichen!

– Keinen Fuß breit und keine Woche lang! erwiderte unser Perpignaneser wärmer werdend. Ich liebe einmal die Jugend und komme mir nur halb so alt vor, wenn ich mit Freunden zusammen bin, die um die Hälfte jünger sind als ich!... Und doch... recht überlegt... könnt' ich bequem Ihr Vater sein...

– O, Herr Dardentor! rief Jean Taconnat, der diesen Herzensaufschrei nicht zurückhalten konnte.

– Wir bleiben also vereinigt, meine jungen Herren! Es wird Zeit genug sein, von einander zu lassen, wenn ich von Oran scheide, um... ja, meiner Treu, ich weiß nicht, wohin zu gehen.

– Nach der Verheiratung?...

– Welcher Verheiratung?

– Der des jungen Désirandelle.

– Ah, richtig. Daran dacht' ich schon gar nicht mehr.... Hm, 's ist doch ein sehr hübsches Mädchen, das Fräulein Elissane!

– Das haben wir auch sofort entdeckt, als sie an Bord des »Argeles« kam, bestätigte Marcel Lornans.

– Ja, ich nicht weniger. Seit ich aber bei ihrer Mutter gesehen habe, wie sie so graziös, so aufmerksam, so... nun ja, so... kurz, da hat sie bei mir noch um hundert Procent gewonnen! Wahrlich, dieser Guckindiewelt Agathokles wird nicht zu beklagen sein...

– Wenn er Fräulein Elissane gefällt, glaubte Marcel Lornans einwerfen zu sollen.

– Natürlich... er wird aber gefallen, der Bursche! Beide kennen sich ja seit ihrer Geburt...

– Und sogar seit noch früher! sagte Jean Taconnat.

– Agathokles ist eine gutmüthige Natur... freilich, vielleicht ein wenig... ein wenig...

[124] – Ein wenig... viel... sagte Marcel Lornans.

– Und eigentlich doch gar nicht...« fiel Jean Taconnat ein.

Für sich aber murmelte er weiter:

»Doch gar nicht das, was Fräulein Elissane verlangen kann!«

Jedenfalls glaubte er die Stunde aber noch nicht gekommen, diese Ansicht vor Herrn Dardentor auszusprechen, der in seinem Satze fortfuhr:

»Ja... er ist ein wenig... ich geb' es zu... Doch, mag sein... er wird schon gelenkiger werden... wie ein Murmelthier nach dem Winterschlaf...

– Und wird doch ewig ein Murmelthier bleiben! konnte Marcel Lornans zu sagen nicht unterdrücken.

– Nachsichtig, meine jungen Herren, nachsichtig! mahnte Herr Dardentor. Wenn Agathokles nur mit Parisern, wie mit Ihnen, verkehrte, würde er sich vor Ablauf von zwei Monaten gehäutet haben. Sie sollten ihm Unterricht geben.

– Unterricht, um geistvoller zu werden... zu hundert Sold die Stunde! rief Jean Taconnat. Das hieße: ihm sein Geld stehlen!«

Herr Dardentor wollte sich noch nicht ergeben. Daß der junge Désirandelle schneidig war wie eine bleierne Klinge, das sagte er sich wohl selbst.

»Lachen Sie, lachen Sie nur, meine Herren! fuhr er fort. Sie vergessen, daß die Liebe den Dümmsten giebt, was sie den Schlausten an Geist raubt, und sonach wird sie reichlichst beschenken den jungen...

– Gagathokles!« vollendete Jean Taconnat den Satz.

Herr Dardentor mußte über die Verdrehung laut auflachen.

Marcel Lornans brachte das Gespräch jetzt auf Frau Elissane. Er erkundigte sich nach der Lebensweise, die sie in Oran führe... wie Herr Dardentor ihr Haus gefunden habe...

»O, eine sehr nette Wohnstätte, antwortete dieser, ein niedlicher Käfig, der durch die Anwesenheit eines reizenden Vogels belebt wird. Sie werden dahin kommen...

– Wenn das nicht indiscret erscheint, bemerkte Marcel Lornans.

– Ich führe Sie ein, da macht sich das schon von selbst. Uebrigens nicht gleich heute... Agathokles muß erst festen Fuß fassen können. Wir werden morgen einmal sehen.... Jetzt lassen Sie uns an die spätern Spaziergänge denken. Die Stadt... ihr Hafen... ihre Bauwerke...

– Und unser Dienstvertrag? wendete Marcel Lornans ein.

[125] – Den brauchen Sie heute noch nicht zu unterschreiben... morgen auch nicht... übermorgen auch noch nicht! Warten Sie wenigstens bis nach der Hochzeit...

– Da müßten wir vielleicht bis zu dem Alter warten, wo man uns entlassen muß...

– Nein, nein! Das wird sich nicht verschleppen!«

Welcher Schwall von Ausdrücken, die alle die Feinfühligkeit Patrice's schwer verletzt hätten.

»Jetzt sei also, nahm Herr Dardentor wieder das Wort, nicht mehr vom Eintreten in den Dienst die Rede...

– Beruhigen Sie sich, versicherte Jean Taconnat. Wir haben uns einen vierzehntägigen Urlaub geleistet. Haben sich unsre Verhältnisse bis dahin nicht geändert, sind nicht neue Interessen...

– Schön, liebe Freunde... jetzt keine Auseinandersetzungen! rief Clovis Dardentor. Sie haben sich vierzehn Tage vorbehalten... ich nehme sie und gebe Ihnen Quittung darüber! Während dieser Zeit gehören Sie mir. Wahrlich, ich habe mich auf dem »Argeles« doch nur eingeschifft, weil ich wußte, daß ich Sie auf dem Schiffe treffen würde...

– Und doch hatten Sie die Abfahrt versäumt, Herr Dardentor!« gab ihm Jean Taconnat anzuhören.

In der besten Laune der Welt stand unser Perpignaneser vom Tische auf und trat in die Vorhalle hinaus.

Hier wartete Patrice.

»Hat der Herr mir noch Befehle zu ertheilen?

– Befehle?... Nein, doch, Dir »Campo« für den ganzen Tag. Schreib' Dir das hinter die Ohren und lösch' es vor zehn Uhr nicht aus!«

Patrice verzog den Mund, denn er dankte seinem Herrn nicht im mindesten für einen Urlaub, der in solchen Ausdrücken ertheilt wurde.

»Der Herr wünscht also nicht, daß ich ihn begleite?

– Ich wünsche weiter nichts, Patrice, als Dich nicht länger auf den Fersen zu haben, und bitte Dich, mir die Deinigen zuzukehren!

– Der Herr gestattet mir wohl noch eine Empfehlung...

– Nun ja, wenn Du gleich darauf verschwindest.

– Nun, die Empfehlung, deren der Herr eingedenk sein mag, geht dahin, keinen Wagen zu besteigen, ehe der Kutscher nicht auf seinem Platze ist. Das [126] dürfte nicht immer mit einem Segensspruch enden, sondern gelegentlich mit einem Kopfsturz...

– Nun aber zum Teufel mit Dir!«

Clovis Dardentor ging zwischen den beiden Parisern die Freitreppe vor dem Hôtel hinunter.

»Wahrlich, ein seltenes Muster von Diener, das Sie haben, bemerkte Marcel Lornans, correct und vornehm im höchsten Grade.

– Doch auch ein Quälgeist erster Sorte! Im übrigen ist er ein prächtiger Kerl, der durchs Feuer ginge, um mich zu retten....

– Damit wäre er nicht der Einzige, Herr Dardentor!« rief Jean Taconnat, der eintretenden Falls gewiß versucht hätte, Patrice aus seiner Rolle als Lebensretter zu verdrängen.

Im Laufe dieses Morgens lustwandelten Clovis Dardentor und die beiden Vettern längs der Kais in der untern Stadt hin. Der Hafen von Oran ist dem Meere erst abgerungen worden. Ein langer Molo beschützt ihn und quer verlaufende Dämme theilen ihn in einzelne Becken, die zusammen eine Oberfläche von vierundzwanzig Hektar haben.

Wenn die beiden jungen Leute dem lebhaften Handelstreiben, das Oran unter den algerischen Städten den ersten Rang gesichert hat, keinen besondern Geschmack abgewinnen konnten, so zeigte der frühere Industrielle von Perpignan dafür doch das größte Interesse. Das Verladen der Alfa, die einen bedeutenden Ausfuhrartikel bildet und von ausgedehnten Gebieten des Südens der Provinz in großer Menge geliefert wird, die Verschiffung der Thiere, des Getreides und Rohzuckers, die Verfrachtung der in der Berggegend gewonnenen Mineralien – das war so etwas für Herrn Dardentor.

»Das weiß ich, sagte er, in dem Leben und Treiben hier werd' ich noch manchen Tag verbringen. Hier ist's mir, als befände ich mich noch in meinen mit Fässern angefüllten Schuppen. Etwas Merkwürdigeres kann Oran gar nicht zu bieten haben...

– Außer vielleicht seinen Baudenkmälern, seiner Kathedrale, seinen Moscheen und ähnlichem, sagte Marcel Lornans.


Der frühere Industrielle zeigte dafür das größte Interesse (S. 127.)

– Ei, fiel Jean Taconnat ein, der seinem Zukunftsvater offenbar etwas nach dem Munde reden wollte, ich möchte Herrn Dardentor wirklich Recht geben. Dieses Treiben ist doch höchst interessant, das Ein-und Auslaufen der Schiffe, die mit Waaren beladenen Lastwagen, die Unmenge arabischer Träger.... In [127] der Stadt selbst giebt's gewiß recht sehenswerthe Gebäude, die wir ja auch besichtigen werden. Der Hafen aber, das Meer, das seine Becken füllt, das azurblaue Wasser mit dem Spiegelbild der vielen Masten...«

Marcel Lornans warf ihm einen verschmitzten Blick zu.

»Bravo! rief Herr Dardentor. Sehen Sie, wenn es einer Gegend an Wasser gebricht, dann fehlt ihr, meines Erachtens nach, ich weiß nicht was! Ich besitze einige vorzügliche Gemälde in meinem Hause am Logeplatze, doch auf allen spielt das Wasser die Hauptrolle. Sonst hätt' ich sie gar nicht gekauft.

[128] [131]– O, Sie sind darin ja Kenner, Herr Dardentor, antwortete Marcel Lornans. Wir wollen also Oertlichkeiten aufsuchen, wo sich Wasser vorfindet. Muß es etwa Süßwasser sein?

– Das gilt mir gleich; es handelt sich doch nicht darum, es zu trinken!

– Und Du, Jean?

– Mir ist es auch gleichgiltig... bezüglich dessen, wozu ich es brauchen könnte, erwiderte Jean Taconnat mit einem Blicke auf seinen Freund.


Die Moschee des Pascha in Oran. (S. 134.)

– Gut also, fuhr Marcel Lornans fort, Wasser finden wir auch anderswo, als am Hafen; so giebt es nach Joanne auch noch den Bergbach Rehhi, der vom Boulevard Oudinot theilweise überdeckt ist.«

Was Marcel Lornans aber auch anführte, dieser Vormittag wurde doch auf den Kais des Hafens zugebracht, und erst als diese überall besucht waren, gingen Dardentor und die beiden Pariser zum zweiten Frühstück nach dem Hôtel zurück. Nach zweistündiger Siesta und nach Durchlesung der Zeitungen machte Clovis Dardentor seinen jungen Freunden den Vorschlag, den Spaziergang durch das Innere der Stadt auf den nächsten Tag zu verschieben.

»Und warum das? fragte Marcel Lornans.

– Weil die Désirandelle's es doch übel deuten könnten, wenn ich sie allein in der Patsche sitzen ließe!«

Da Patrice nicht dabei war, konnte Herr Dardentor die Worte getrost so brauchen, wie sie ihm gerade auf die Zunge kamen.

»Werden Sie denn bei Frau Elissane nicht zu Mittag essen? fragte Jean Taconnat.

– Ja... heute noch einmal. Von morgen ab mögen sie bis zum Abend sehen, wie sie allein fertig werden. Auf Wiedersehen also!«

Damit wendete sich Clovis Dardentor schnellen Schrittes der Alten Schloßstraße zu.

»Wenn ich nicht mehr an seiner Seite bin, versicherte Jean Taconnat, fürchte ich immer, daß ihm ein Unglück zustoßen könne...

– Du gute Seele!« antwortete Marcel Lornans.

Es wäre eine unnütze Zeitvergeudung, hier eingehender zu schildern, mit welchem Vergnügen Herr Dardentor im Hause der Frau Elissane empfangen wurde und wie freundschaftlich Louise, die sich instinctiv zu dem trefflichen Manne hingezogen fühlte, ihm entgegenkam. Der junge Désirandelle war nicht da... er war niemals da, statt im Hause zu bleiben, zog es der Schwachkopf vor, [131] draußen gedankenlos umherzulungern. Nur zum Essen pflegte er sich einzustellen. Obwohl er bei Tische rechts neben Louise Elissane saß, richtete er doch kein Wort an seine Nachbarin. Dardentor, der an ihrer andern Seite saß, war freilich nicht dazu geschaffen, die Unterhaltung einschlafen zu lassen. Er sprach von allerlei, von seinem Departement, seiner Heimatstadt, von der Fahrt an Bord des »Argeles«, von seinen Abenteuern in Palma, erzählte von der durchgegangenen Galera, von seiner großartigen Einfahrt in die Kirche der heiligen Eulalia, ebenso wie von seinen jungen Reisegefährten, die er nicht genug rühmen konnte... von den jungen zwanzigjährigen Freunden, die er zwar erst seit drei Tagen kannte, während er sein freundschaftliches Verhältniß zu ihnen gleich vom Tage ihrer Geburt an rechnete. Als Folge davon erwachte in Louise der Wunsch, die beiden jungen Pariser im Hause ihrer Mutter eingeführt zu sehen, und sie konnte auch ein leichtes Zeichen der Befriedigung nicht unterdrücken, als Dardentor mit einem solchen Vorschlage hervortrat.

»Ich werde sie Ihnen vorstellen, Frau Elissane, sagte er, gleich morgen bring' ich sie mit her. – Vortreffliche junge Leute... reine Musterexemplare... und Sie werden es nicht bedauern, meine Freunde empfangen zu haben.«

Vielleicht fand Frau Désirandelle diesen Vorschlag des Herrn Dardentor mindestens etwas unzeitig. Frau Elissane mußte ihm aber doch wohl oder übel zustimmen. Sie konnte Herrn Dardentor einmal nichts abschlagen.

»Mir nichts abschlagen! rief dieser. Gut, ich halte Sie beim Wort, geehrte Frau! Uebrigens verlange ich nur vernünftige Dinge – die mir und Andern so erscheinen – fragen Sie den Freund Désirandelle darüber.

– Gewiß, gewiß! bestätigte, ohne besonders davon überzeugt zu sein, der Vater des Agathokles.

– Es ist also abgemacht, fuhr Herr Dardentor fort, die Herren Marcel Lornans und Jean Taconnat werden den morgenden Abend bei Frau Elissane zubringen. – Ah, Désirandelle, wären Sie bereit, morgen von neun Uhr an bis zu Mittag mit uns die Stadt zu besuchen?

– Sie werden mich entschuldigen, Dardentor, ich wünschte aber, die Damen nicht zu verlassen und unsrer lieben Louise Gesellschaft zu leisten...

– Ganz nach Belieben... ich begreife das. O, Fräulein Louise, wie liebt man Sie schon in der vortrefflichen Familie, in die Sie eintreten sollen!... Nun, Agathokles, Du sagst gar nichts, mein Junge?... Sapperment, findest Du denn Fräulein Louise nicht ebenfalls reizend?«...

[132] Agathokles hielt es für geistreich, zu antworten, daß, wenn er nicht laut sagte, was er dächte, er eben dächte, es wäre besser, das heimlich zu sagen... eine mühsam zusammengedrechselte Phrase die gar nichts bedeutete, und mit der er ohne Nachhilfe Dardentor's nicht einmal fertig geworden wäre.

Louise Elissane bemühte sich gar nicht, den Widerwillen zu verhehlen, den dieser Tropf ihr einflößte. Sie sah nur Herrn Dardentor mit ihren großen, schönen Augen an, während Frau Désirandelle, um ihren Sohn zu ermuthigen, sagte:

»Ist er nicht nett?«

Und Herr Désirandelle setzte noch hinzu:

»Und wie lieb er sie hat!«

Offenbar wehrte sich Herr Dardentor, klar zu sehen. Wenn die Heirat beschlossen war, so war sie, seiner Meinung nach, so gut wie vollzogen, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß die Sache anders ablaufen könnte.

Frisch, lustig, strahlend, zu allem aufgelegt wie immer traf Clovis Dardentor am folgenden Morgen bei der Chocolade mit den beiden Parisern zusammen.

Sofort theilte er ihnen mit, daß sie den heutigen Abend bei Frau Elissane verbringen sollten.

»Ein herrlicher Gedanke von Ihnen, uns dort einzuführen, jubelte Marcel Lornans. Während des Verweilens in der Garnison wird uns wenigstens ein angenehmes Haus offen stehen...

– Ein angenehmes... sogar sehr angenehmes! erwiderte Clovis Dardentor. Freilich... nach der Verehelichung des Fräuleins Louise...

– Ja, das ist wahr, sagte Marcel Lornans, da giebt's eine Hochzeit...

– Zu der Sie natürlich eingeladen werden, meine jungen Freunde.

– Herr Dardentor, meldete sich Jean Taconnat, Sie überhäufen uns mit Freundlichkeiten. Ich weiß nicht, wie wir das einmal vergelten sollten. Sie behandeln uns...

– Wie meine Kinder! Würde mein Alter mir denn nicht erlauben, Ihr Vater zu sein?

– Ach Herr Dardentor, Herr Dardentor!« rief Jean Taconnat mit einer Stimme, die gar vieles verrieth.

Der ganze Tag wurde angewendet, die Stadt zu durchstreifen. Das Touristentrio besuchte deren vornehmste Promenaden, die mit schönen Blumen besetzte Turiner-Allee, den Boulevard Oudinot mit seiner Doppelreihe von [133] Bella-ombra, den Carrière-, den Theaterplatz, sowie den von Orléans und Nemours.

Dabei fand sich Gelegenheit, die verschiedenen Typen der oranischen Bevölkerung kennen zu lernen, worunter sich viele Angehörige des Heeres befanden, von denen wieder eine Anzahl die Uniform der Siebenten Afrikanischen Jäger trug.

»Höchst elegant, diese Uniform, rief Clovis Dardentor wiederholt. Die verzierte Joppe müßte Ihnen knapp wie ein Handschuh sitzen und Sie würden im Trabe avancieren! O, ich sehe Sie schon als glänzende Officiere, denen eine noch glänzendere Heirat bevorsteht! Wahrhaftig, es ist doch ein stolzer Beruf, der des Soldaten... wenn man eben Lust dazu verspürt... und das gilt doch von Ihnen.

– Ja, das liegt so im Blute, erklärte Jean Taconnat. Wir verdanken es unsern Vorfahren, braven Kaufleuten der Saint-Denisstraße, deren militärische Neigungen wir geerbt haben!«

Daneben begegnete man Juden in marokkanischer Tracht, Juden in seidnem goldgestickten Kaftan, ferner Mauren, die sorglos auf den sonnenbeschienenen Trottoirs einherwandelten, und endlich auch Franzosen und Französinnen.

Clovis Dardentor erklärte sich natürlich entzückt von allem, was er sah. Vielleicht wurde sein Interesse aber doch noch lebendiger, als die kleine Gesellschaft zufällig einzelne industrielle Anlagen, wie eine Gerberei, eine Fadennudelfabrik, eine Gießerei oder eine Tabakmanufactur zu Gesicht bekam.

In engeren Grenzen hielt sich seine Bewunderung dagegen angesichts der bedeutenderen städtischen Bauwerke, wie der 1839 umgebauten Kathedrale mit ihren drei Rundbogenschiffen, der Präfectur, der Bank und des Theaters. Letztere waren übrigens erst neueren Ursprungs.

Erhöhte Aufmerksamkeit schenkten die jungen Leute der Kirche des heiligen Andreas, einer ehemaligen viereckigen Moschee, deren Decke auf hufeisenförmigen maurischen Bögen ruht und die von einem schlanken Minaret überragt wird. Immerhin erschien ihnen diese Kirche minder merkwürdig, als die des Pascha, deren Vorhalle in Gestalt einer »Kubba« von Kunstverständigen warm bewundert wird. Vielleicht hätten sie auch vor der Moschee Sidi-el-Hâuri mit ihren drei als Arcadengänge ausgebildeten Stockwerken längere Zeit verweilt, wenn Clovis Dardentor nicht zur Eile gemahnt hätte.

Beim Fortgehen bemerkte Marcel Lornans auf dem Austritt des Minarets eine Persönlichkeit, die mit dem Fernrohr den Horizont absuchte.

[134] »Da... da... Herr Oriental! rief er.

– Wie... der Sternenjäger... der Planetenrecensent! platzte der Perpignaneser heraus.

– Er selbst... er äugt ins Weite...

– Wenn er hinausängt, ist er es auch gar nicht! erklärte Jean Taconnat. Von dem Moment an, wo er nicht ißt, ist es Herr Oriental nicht mehr!«

Dennoch war das der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar, der das Strahlengestirn in seinem Tageslaufe beobachtete.

Als sie endlich zum Mittagsmahl nach dem Hôtel zurückkehrten, empfanden die Herren Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat ein ausgesprochnes Bedürfniß nach Ruhe.

Patrice, der von dem ihm durch seinen Herrn gewährten Urlaub Gebrauch machte, war methodisch durch die Straßen hingewandert, wo er sich nicht für verpflichtet hielt, alles an einem Tage zu sehen und er sein Gedächtniß doch mit werthvollen Erinnerungen bereicherte.

So erlaubte er sich auch einen leisen Tadel gegen Herrn Dardentor, der in allem, was er vornahm, nicht die nöthige Mäßigung einhalte und Gefahr laufe, sich über die Gebühr zu ermüden. Er erhielt dafür zur Antwort, daß ein Eingeborner der Ostpyrenäen überhaupt keine Müdigkeit kenne, und daß er sich ruhig schlafen legen solle.

Das that denn Patrice auch gegen acht Uhr, nachdem er das Hôtelpersonal vorher durch seine wohlgesetzten Reden und seinen Manieren höchlichst ergötzt hatte.

In derselben Stunde fanden sich Herr Dardentor und die beiden Vettern in dem bewußten Hause der Alten Schloßstraße ein. Die Familien Elissane und Désirandelle verweilten hier im Salon. Von Clovis Dardentor vorgestellt, wurden Marcel Lornans und Jean Taconnat sehr liebenswürdig empfangen.


Die beiden jungen Leute konnten einige neuere Compositionen vortragen (S. 135.)

Die Abendgesellschaft verlief wie alle bürgerlichen Abendgesellschaften, man plauderte, schlürfte eine Tasse Thee und musicierte ein wenig. Louise Elissane spielte mit seinem Geschmack und wirklichem Kunstverständniß Piano, Marcel Lornans – welcher Zufall! – »besaß«, um das gebräuchliche Wort anzuwenden, gerade eine recht hübsche Stimme. So fügte es sich, daß der junge Mann und das junge Mädchen einige neuere Compositionen vortragen konnten.

Clovis Dardentor verehrte die Musik und widmete ihr eine so begeisterte unbewußte Aufmerksamkeit wie viele andre Leute, die nur wenig davon verstehen. Diesen genügt es, daß die Töne zu einem Ohre ein-und durch das andre [135] austreten, ohne daß ihr Gemüth einen Eindruck davon empfängt. Nichtsdestoweniger unterließ es unser Perpignaneser nicht, seine Lobsprüche auszutheilen, zu applaudieren und mit südländischer Begeisterung »Bravo »und »Bravissimo« zu rufen.

»Zwei Talente, die sich einander vermählen!« sagte er schließlich.

Die junge Pianistin lächelte dazu, der junge Sänger sah etwas verlegen aus, und Herr und Frau Désirandelle runzelten die Stirne. Ihr Freund war in der That nicht glücklich in der Wahl seiner Ausdrücke, und seine letzten [136] Worte, die gewiß auch Patrice's Beifall gefunden hätten, begegneten hier getheilter Aufnahme.

An Agathokles freilich konnte man sich mit nichts »vermählen«, weder mit Talent, noch mit Geist oder seiner Persönlichkeit, »an ihm, dachte Jean Taconnat, war nicht einmal genug für eine Convenienzheirat.«


Der Spaziergang wurde bis zum Negerdorf ausgedehnt. (S. 139.)

Das Gespräch kam dann gelegentlich auch auf den Spaziergang, den Herr Dardentor und die beiden Pariser durch die Stadt gemacht hatten. Die recht gut unterrichtete Louise Elissane beantwortete ohne Ziererei einige Fragen, die ihr [137] gestellt wurden, und gab Aufschluß über die Festsetzung der Araber hier seit drei Jahrhunderten, über die Einnahme Orans durch die Franzosen vor einigen sechzig Jahren, und über den Handel von Oran, der diesem die erste Rangstellung unter den algerischen Städten sicherte.

»Unsre Stadt, fügte das junge Mädchen hinzu, ist aber nicht immer vom Glück begünstigt gewesen und ihre Geschichte ist reich an trüben Erinnerungen. Den Angriffen der Muselmanen folgten schwere Naturereignisse. So war sie durch das Erdbeben von 1790 fast gänzlich zerstört worden...«

Jean Taconnat spitzte das Ohr.

»Und, fuhr das junge Mädchen fort, nach den Bränden, die dieses unglückselige Ereigniß im Gefolge hatte, kamen die Türken und Araber und setzten sich in Besitz der Stadt. Ruhe hat sie eigentlich erst seit der französischen Herrschaft.«

Jean Taconnat aber dachte dabei:

»Erdbeben... Feuersbrünste... feindliche Angriffe! O weh, ich komme hundert Jahre zu spät!... Werden Erdstöße auch jetzt noch dann und wann beobachtet, mein Fräulein? fragte er.

– Nein, das nicht, Herr Taconnat, antwortete gleich Frau Elissane.

– Das ist schade!

– Was?... Schade? rief Herr Désirandelle. Sie brauchen wohl Erdbeben und derartige schreckliche Ereignisse sehr nöthig, junger Herr?

– Schweigen wir davon, fiel Frau Désirandelle ein, ich könnte sonst wieder seekrank werden. Wir sind auf festem Lande, und es ist übrig genug, daß die Schiffe schwanken, ohne daß die Städte das nachmachen!«

Marcel Lornans konnte sich nicht enthalten, über diese Bemerkung der guten Frau zu lächeln.

»Ich bedaure es, derartige Erinnrungen wach gerufen zu haben, mischte sich Louise Elissane ein, da Frau Désirandelle gar so empfindlich ist...

– O, liebes Kind, antwortete Herr Désirandelle, machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe!

– Wenn es wirklich zu einem Erdbeben käme, erklärte Herr Dardentor, so würde ich schon mit ihm fertig zu werden wissen! Den einen Fuß hier- und den andern dorthin, wie der selige Koloß von Rhodus, da sollte sich wohl noch etwas rühren können!«

Mit gespreizten Beinen hintretend, machte der Perpignaneser den Fußboden unter seinen Stiefeln krachen, bereit, gegen jede Erschütterung des afrikanischen [138] Bodens anzukämpfen. Und aus seinem weit offnen Munde tönte ein so lautes Lachen, daß er mit seiner Heiterkeit auch die Andern ansteckte.

Als die Stunde des Abschieds gekommen war, ging die Gesellschaft auseinander, nachdem mit den beiden Familien ein Zusammentreffen zum Besuche der Kasbah verabredet worden war.

In Gedanken versunken, sagte sich Marcel Lornans aber auf dem Rückwege zum Hôtel, daß der Dienst bei den Siebenten Jägern denn doch nicht als das Ideal des irdischen Glücks zu betrachten sei.

Am nächsten Vormittage durchstreiften die Familien Elissane und Désirandelle, Herr Dardentor und die beiden Pariser die winkligen Gänge der alten oranischen Kasbah, jetzt einer gewöhnlichen Kaserne, die mit zwei Thoren der Stadt in Verbindung steht. Dann wurde der Spaziergang bis zum Negerdorfe der Djalis ausgedehnt, das mit Recht als eine der Merkwürdigkeiten Orans gilt. Bei diesem Ausfluge wollte es der Zufall – o, nur der Zufall – daß sich Louise Elissane zum großen Mißvergnügen der Frau Désirandelle sehr lebhaft mit Marcel Lornans unterhielt.

Am Abend war »die ganze Compagnie« von Clovis Dardentor zum Essen eingeladen. Da gab es eine vorzügliche Mahlzeit, deren Zurichtung der in solchen Dingen erfahrne Patrice ganz besonders überwacht hatte. Frau Elissane gefiel dem Gentleman in Livree am meisten, da er in ihr eine Dame von vornehmem Auftreten erkannte.

Mehrere Tage gingen so hin, ohne daß das gegenseitige Verhältniß der Gäste im Hause der Alten Schloßstraße eine Aenderung erfuhr.

Wiederholt nahm Frau Elissane ihre Tochter wegen der Angelegenheit mit Agathokles ins Gebet. Als zielbewußte Frau stellte sie ihr die Vortheile, die aus einer Verbindung der beiden Familien entspringen mußten, vor Augen. Louise vermied es, auf das Zureden ihrer Mutter zu antworten, die selbst wieder nichts zu antworten wußte, wenn Frau Désirandelle die Heiratsangelegenheit zur Sprache brachte.

Daß diese keine Fortschritte machte, war ihr Fehler gewiß nicht, denn sie bemühte sich nach Kräften, ihren Sohn anzuspornen.

»Betreibe die Sache doch besser! mahnte sie ihn täglich wohl zehnmal. Wir sorgen ja dafür, daß Ihr, Du und Louise, gelegentlich allein seid; ich bin aber überzeugt, daß Du dann dastehst und starrst durchs Fenster, statt einmal ein Compliment zu machen...

[139] – Doch... doch...

– Ach was, Du drehst die Zunge im Munde hin und her, sprichst aber keine zehn Worte in zehn Minuten...

– Zehn Minuten... das ist lange!

– Bedenke doch Deine Zukunft, mein Sohn! fuhr die trostlose Mutter fort, indem sie ihn am Aermel seines Jackets zupfte. Das ist doch eine Heirat, die sich ganz von allein machen sollte, da die beiden Familien darüber einig sind, und jetzt ist die Sache noch nicht halb geklärt...

– O doch, da ich meine Zustimmung gegeben habe, antwortete Agathokles höchst naiv.

– Nein, weil Louise die ihrige noch nicht gegeben hat!« entgegnete Frau Désirandelle.

Thatsächlich kam die Angelegenheit keinen Schritt vorwärts, und auch wenn sich Herr Dardentor einmischte, konnte er doch keinen Funken aus diesem Jungen locken.

»Ein eingeweichter Kiesel, statt eines Feuersteins, der sofort Funken sprüht, dachte er. Und doch, es genügte eine Gelegenheit... Freilich in diesem friedlichen Hause...«

Kurz, man drehte sich hier auf derselben Stelle. Zum Angriff schreitet man aber nur durch Vorwärtsgehen. Außerdem begannen die täglichen Zerstreuungen sich zu erschöpfen. Die Stadt hatte man bis zu den entlegensten Vororten besucht. Jetzt kannte sie Herr Dardentor ebenso genau, wie der gelehrte Vorsitzende der Geographischen Gesellschaft von Oran, die die bedeutendste in ganz Algerien ist. Doch ebenso wie die Désirandelle's verzweifelten, verzweifelte auch Jean Taconnat in dieser wohlgegründeten Stadt, deren Untergrund sich einer unerschütterlichen Ruhe erfreute, bei der »nichts zu machen« war.

Zum Glück kam Clovis Dardentor auf eine Idee – eine Idee, wie man sich ihrer nur von einem solchen Manne versehen konnte.

Die Algerische Eisenbahngesellschaft hatte zu ermäßigten Preisen eine Rundreise durch den Süden der Provinz Oran angekündigt. Das mußte auch den schlimmsten Stubenhocker anlocken. Die Reise ging auf einer Linie hin und auf einer andern zurück. Zwischen beiden lag eine hundert Lieues lange Tour durch herrliche Landschaften. Die ganze Sache war in vierzehn Tagen abzumachen.

Auf den bunten Placaten der Gesellschaft sah man eine Karte des betreffenden Landestheils, den eine starke rothe Zickzacklinie durchzog. Mit der Eisenbahn [140] sollte man nach Tlelat, nach Saint-Denis du Sig, von da nach Perregaux und Mascara und bis zum Endpunkte in Saïda fahren. Von hier aus besuchte man zu Wagen oder Karawane Daya, Magenta, Sebdou, Tlemcen, Lamoricière und Sidi-bel-Abbès und kehrte von letztgenanntem Orte aus auf dem Schienenwege nach Oran zurück.

Für diese Reise schwärmte Clovis Dardentor sofort mit der Leidenschaftlichkeit, die die unbedeutendsten Handlungen des außergewöhnlichen Mannes kennzeichnete. Er fand auch keine Schwierigkeiten, die Zustimmung der Désirandelle's zu diesem Plane zu erlangen. Die Zufälligkeiten der Reise, das gemeinschaftliche Leben und die kleinen Dienste, die man sich da gegenseitig erweisen konnte, mußten Agathokles doch vielfache Gelegenheit bieten, sich bei der reizenden Louise beliebt zu machen.

Frau Elissane ließ sich freilich erst etwas bitten. Die Ortsveränderung erschreckte sie aus dem und jenem Grunde. Versuche aber nur Einer, dem Herrn Dardentor zu widerstehen! Die vortreffliche Dame hatte ja gesagt, daß sie ihm nichts abschlagen könne, und jetzt erinnerte er sie an ihre Worte. Seine angeführten Gründe gaben endlich den Ausschlag. Bei dieser Vergnügungsreise werde sich Agathokles gewiß in ganz neuem Lichte zeigen, Fräulein Louise ihn aber nach Verdienst schätzen lernen und nach der Rückkehr würde die Heirat beschlossen.

»Doch werden die Herren Lornans und Taconnat auch an der Fahrt theilnehmen? fragte die vorsichtige Frau Elissane.

– Nein, leider nicht! In einigen Tagen gedenken sie in Dienst zu treten, und das würde sie zu lange aufhalten.«

Frau Elissane schien befriedigt zu sein.

Nach der Zustimmung der Mutter galt es aber auch noch die des jungen Mädchens einzuholen.

Hier hatte Herr Dardentor schwerere Arbeit. Sie widersetzte sich dieser Reise sichtlich, während der sie in fortwährender Berührung mit der Familie Désirandelle bleiben mußte. In Oran war Agathokles wenigstens häufig außer dem Hause und wurde meist nur zur Essenszeit sichtbar – die einzige Zeit, wo er den Mund wirklich aufthat, doch auch da nicht zum Plaudern. Im Waggon, im Wagen, in der Karawane würde er immer in der Nähe sein. Diese Aussicht konnte Louise Elissane nicht reizen. Der junge Mann mißfiel ihr einmal, und es wäre vielleicht das klügste gewesen, ihrer Mutter rund heraus zu erklären, daß sie ihn nie heiraten würde. Sie kannte aber diese entschlossne, zähe Frau, [141] die nicht geneigt war, auf ihre Projecte zu verzichten. Im Grunde schien es auch wirklich besser, daß die gute Dame selbst das Unpassende dieser geplanten Ehe einsah.

Herr Dardentor entwickelte eine unwiderstehliche Beredtsamkeit. Er war in dem gutem Glauben, daß diese Reise dem Erben der Désirandelle's Gelegenheit geben werde, sich vortheilhafter zu zeigen, und er hoffte, daß der Wunsch seiner alten Freunde doch schließlich in Erfüllung ginge. Es wäre ein großer Kummer für sie, wenn die Sache scheiterte. Obgleich das dem jungen Mädchen gewiß keine Schmerzen machte, erhielt er zuletzt doch die Zusage, daß sie sich mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigen werde.

»Sie werden mir's später danken, wiederholte er... ja, Sie werden mir's schon noch danken!«

Patrice, der nun von dem Vorhaben unterrichtet wurde, verhehlte seinem Herrn gar nicht, daß diese Reise nicht seinen vollen Beifall habe. Er machte Einwendungen... da würden jedenfalls auch andre Touristen dabei sein... man wisse doch nicht wer... und... so mit andern zusammenzuleben... so ein Mischmasch...

Sein Herr erklärte ihm dagegen nur, er habe sich bereit zu halten, daß am Abend des 10. Mai, also binnen achtundvierzig Stunden, die Reisetaschen gepackt seien.

Als Herr Dardentor den beiden jungen Leuten den Entschluß der Familien Elissane und Désirandelle, sowie seinen eignen, mittheilte, beeilte er sich, ihnen sein Bedauern, sein lebhaftes, aufrichtiges Bedauern auszudrücken, daß sie ihn nicht begleiten könnten. Das wäre erst das volle Vergnügen gewesen, mit ihnen vereint zu »karawanen« – so drückte er sich aus – und einige Wochen durch die Provinz Oran zu pilgern!

Marcel Lornans und Jean Taconnat gaben ihr ebenso aufrichtiges wie nicht minder lebhaftes Bedauern kund. Nachdem sie jetzt aber schon zehn Tage lang in Oran weilten, konnten sie nicht länger zögern, ihre Stellung hier zu sichern.

Am nächsten Abend freilich, am Vorabend der geplanten Reise und nach Verabschiedung von Herrn Dardentor, wechselten die beiden Vettern folgende Fragen und Antworten:

»Sag' einmal, Jean...

– Was willst Du, Marcel?

[142] – Sollte denn eine Verzögerung von zwei Wochen...

– Länger als vierzehn Tage dauern?... Nein, Marcel, ich glaube das wenigstens nicht... auch nicht in Algerien!

– Wenn wir nun mit Herrn Dardentor reisten...

– Reisen, Marcel?... Den Vorschlag machst Du mir... Du, der mir nicht einmal für mein Rettungswerk vierzehn Tage bewilligen wollte?

– Ja, Jean... weil hier... in Oran... die Stadt ist so friedlich... da könntest Du keinen Erfolg erzielen. Auf so einer Rundreise aber... wer weiß... da kann irgend etwas vorkommen...

– He, Marcel, es wäre ja möglich. Feuer... Wasser... vorzüglich ein Kampf... Und auf diese Idee bist Du nur verfallen, um mir keine Gelegenheit entschlüpfen zu lassen?...

– Einzig deshalb! versicherte Marcel Lornans.

– Spaßvogel Du!« antwortete Jean Taconnat.

10. Capitel

Zehntes Capitel.
Worin sich auf der Eisenbahn von Oran nach Saïda eine erste und ernsthafte Gelegenheit bietet.

Die von der Gesellschaft der Algerischen Eisenbahnen angekündigte Rundreise fand bei den oranischen Touristen ungetheilten Beifall. Die Leute freuten sich unbändig auf diese Fahrt von sechshundertfünfzig Kilometern durch die Provinz, d. h. dreihundert im Waggon und dreihundertfünfzig im Wagen oder mit andern Beförderungsmitteln zwischen Saïda, Daya, Sebdou, Tlemcen und Sidi-bel-Abbès. Das Ganze war ein Spaziergang, ein einfacher Spaziergang, den Liebhaber vom Mai bis zum October, d. h. in der Jahreszeit, welche nicht durch schwere Stürme unterbrochen wird, ganz nach Belieben ausführen könnten.

Es handelte sich hier übrigens, was wir ausdrücklich bemerken möchten, nicht um eine jener billigen Gesellschaftsreisen eines Stangen, Riesel u. a., bei denen man an eine bestimmte Route gebunden und gezwungen ist, am nämlichen [143] Tage und an nämlicher Stunde die nämlichen Städte und nämlichen Merkwürdigkeiten zu besuchen, ein Programm, das die Betheiligten oft belästigt und von dem sie doch nicht abweichen können. Nein, in dieser Hinsicht war Patrice im Irrthum. Von Zwang, von Mischmasch war hier keine Rede. Die Billets waren die ganze Saison über käuflich. Jeder reiste ab, wann es ihm paßte, und hielt sich unterwegs auf, wo es ihm gefiel. Da nun jedermann freigestellt war, die Reise anzutreten, wann er wollte, zeigte sich der erste, am 10. Mai abgehende Sonderzug nur von etwa dreißig Ausflüglern besetzt.

Die Reiselinie war recht zweckentsprechend gewählt. Von den drei Unterpräfecturen, die Oran zählt, nämlich Mostaganem, Tlemcen und Mascara, verlief sie durch die zwei letzten, und von den fünf Militärbezirken – Mostaganem, Saïda, Oran, Mascara und Sidi-bel-Abbès – berührte sie drei. Innerhalb dieses Gebiets, mit dem Departement Algier im Osten, Marokko im Westen, die Sahara im Süden und das Mittelmeer im Norden, bietet die Provinz sehr wechselreiche Bilder, hier Berge von mehr als tausend Meter Höhe, dort Waldbestände in der Gesammtausdehnung von viermalhunderttausend Hektaren, ferner Binnenseen und Wasserläufe, wie die Macta, die Habra, den Chelif, den Mekena, den Sig u. a. m. Wenn die Karawane auch nicht überall hinkam, so sollte sie doch durch die schönsten Gebietstheile ziehen.

An diesem Tage verfehlte Clovis Dardentor den Zug nicht so, wie früher den abgehenden Dampfer. Er fand sich sogar schon sehr zeitig auf dem Bahnhofe ein.

Als Veranstalter der Reise erfüllte er nur seine Pflicht, den Andern vorauszueilen, die ja völlig übereinstimmten, ihn als Führer der Expedition gelten zu lassen. Kühl und schweigsam hielt sich Patrice in der Nähe seines Herrn und wartete darauf, das gesammte, übrigens nicht sehr umfangreiche Gepäck – einige Reisetaschen und -säcke, ein paar Decken, nur das Nöthigste – zur Beförderung aufzugeben.

Schon war es halb neun Uhr, um neun Uhr fünf Minuten sollte der Zug abgehen.

»Nun, rief Clovis Dardentor, was machen sie denn Alle?... Sollte unsre »Smala« ihre Nase nicht bald sehen lassen?«

Patrice ließ dieses Wort der Eingebornen so hingehen, da man sich in arabischem Lande befand, und antwortete, daß er eine auf den Bahnhof zukommende Gesellschaft sehe.

[144] Es war die Familie Désirandelle mit Frau und Fräulein Elissane.

Herr Dardentor begrüßte sie herzlichst. Er fühlte sich so glücklich, daß seine alten Freunde aus Frankreich und seine neuen Freunde aus Afrika seinen Vorschlag angenommen hatten. Seiner Versicherung nach, würden sie von der Reise unverlöschliche Erinnerungen heimbringen. Frau Elissane schien ihm heute ganz besonders wohl auszusehen... Fräulein Louise in der Touristentracht ganz bezaubernd Um Plätze sollte sich niemand bekümmern... das sei seine Sorge... Er werde für die ganze Gesellschaft die Billets besorgen... das sollte später [145] ausgeglichen werden. Was das Gepäck betreffe, so werde sich Patrice dessen annehmen, auf ihn könne man sich nach allen Seiten verlassen.


»Ah,« rief sie mit einem gelinden Aufschrei. (S. 149.)

Er selbst, Dardentor, schäumte heute von guter Laune und froher Hoffnung geradezu über.

Die beiden Familien traten in den Wartesaal, nachdem sie Patrice die wenigen Gepäckstücke übergeben hatten, die sie in den Waggon nicht mitnehmen wollten. Auch während des Aufenthalts in Saint-Denis du Sig und in Mascara sollten jene bis zur Ankunft in Saïda in Verwahrung der Bahn bleiben.

Nach dem Ersuchen an Frau Dósirandelle und Agathokles, mit Frau Elissane und deren Tochter im Wartesaale zurückzubleiben, begaben sich Clovis Dardentor mit leichtem Schritte – wie mit dem eines Sylphs – und Herr Dósirandelle schwer nachtrampelnd nach dem Schalter für die Ausgabe der Rundreisekarten. Hier standen in langer Reihe gegen zwanzig Reisende, ungeduldig, ihre Billets zu erhalten.

Doch wen erblickte Herr Dósirandelle sofort darunter? Herrn Eustache Oriental in eigner Person, den Vorsitzenden der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar, mit dem von ihm unzertrennlichen Fernrohr am Riemen. Ja, auch dieses Original hatte sich durch den Köder einer vierzehntägigen Reise zu ermäßigten Preisen verführen lassen.

»Wie, brummte Herr Dardentor, der wird auch dabei sein?... Nun, da werden wir aufpassen, daß er nicht immer den besten Platz und die besten Stücke auf seinen Teller bekommt! Zum Kuckuck, erst kom men die Damen!«

Als Herr Oriental und Herr Dardentor indeß vor dem Schalter zusammentrafen, glaubten sie sich doch durch ein leichtes Nicken mit dem Kopfe begrüßen zu müssen. Dann entnahm Herr Dardentor die Billets erster Classe für die Familie Elissane, die Familie Dósirandelle und für sich selbst, ein Billet zweiter Classe aber für Patrice, der sich geweigert hätte, in der dritten zu fahren.

Bald ertönte die Glocke zum Einsteigen, die Wartesaalthüren flogen auf und die Reisenden drängten sich nach dem Perron hinaus, neben dem der Zug wartete. Die Locomotive summte und zitterte schon unter dem hochgespannten Dampfe, der zischend aus den Sicherheitsventilen hervordrang.

Der directe Zug von Oran nach Algier ist immer ziemlich stark besetzt; wie gewöhnlich bestand er auch heute aus einem halben Dutzend Waggons. Die Touristen sollten ihn übrigens schon in Perregaux verlassen, um hier nach einer Seitenlinie überzugehen, die südlich in der Richtung nach Saïda führt. Sechs Personen finden, bei einigem Andrange von Reisenden, nicht leicht sechs freie [146] Plätze in einunddemselben Coupé. Zum Glück gelang es Clovis Dardentor, dem ein Zweifrancsstück nicht so ans Herz gewachsen war, seine kleine Welt mit Hilfe eines Zugsbeamten in einem Coupé unterzubringen, dessen zwei dann noch freien Plätze auch sofort besetzt wurden. Die Abtheilung war also gefüllt. Die drei Damen nahmen die hintre, die drei Herren die vordre Bank ein. Clovis Dardentor saß übrigens Louise Elissane, beide auf den Eckplätzen, gegenüber.

Herr Eustache Oriental war nicht wieder aufgetaucht, und niemand bekümmerte sich um das drollige Männchen. Er mochte wohl in den ersten Waggon gestiegen sein, und jedenfalls würde man sein Fernrohr schon unterwegs aus dem Fenster hervorstehen sehen.

Der erste Theil der Strecke, zwischen Oran und Saint-Denis du Sig, wo der Fahrplan den ersten längern Aufenthalt angab, ist höchstens siebzig Kilometer lang.

Pünktlich um neun Uhr fünf Minuten ertönt die Schrillpfeife des Bahnhofsvorstands, die Coupéthüren werden zugeschlagen, die zweite äußre Klinke herumgelegt, ohrzerreißend pfeift die Locomotive und der Zug setzt sich rasselnd und beim Passieren der Drehscheiben wackelnd in Bewegung.

Gleich vor der oranischen Hauptstadt trifft der Blick an der rechten Seite auf ein Krankenhaus und einen Friedhof... zwei Anlagen, die sich zwar ergänzen, doch nichts besonders Anziehendes haben. Zur Linken liegen noch einige Schiffszimmerplätze, und hinter diesen nimmt die grüne, lachende Landschaft ihren Anfang.

Nach dieser Seite hatten Herr Dardentor und sein graziöses Gegenüber die Aussicht. Sechs Kilometer weiter hin, wobei die Linie um den Morsellisee verläuft, hielt der Zug an der Station von Senia an. Freilich konnten selbst die schärfsten Augen diesen etwa zwölfhundert Meter entfernt liegenden Ort kaum entdecken, der sich an der Stelle befindet, wo sich die Landstraße von Oran nach Mascara theilt.

Nach fernern fünf Kilometern und nachdem man eine alte Verschanzung Abd el Kader's hatte links liegen lassen, folgte ein Aufenthalt in Valmy, wo die Eisenbahn die vorerwähnte Landstraße überschreitet.

Links erglänzt jetzt ein großer Theil des Salzsees von Sebgha, der schon gegen zweiundneunzig Meter über dem Mittelmeere liegt.

Von ihren Eckplätzen aus konnten Clovis Dardentor und Louise Elissane die Wasserfläche nur unvollkommen sehen. So groß diese aber auch war, hätte [147] sie von Jean Taconnat doch nur einen verächtlichen Blick bekommen, denn der Wasserstand darin war zu dieser Zeit schon sehr niedrig, und in der warmen Jahreszeit trocknete der genannte See gewöhnlich gänzlich aus.

Bisher war die Richtung der Linie eine südöstliche gewesen; dann wendete diese sich jedoch dem Flecken Tlélat zu, wo der Zug bald einlief.

Clovis Dardentor hatte sich mit einer zusammenfaltbaren, auf Leinwand gezogenen Landkarte versehen, die die Reiseroute zeigte. Das darf ja bei einem so praktischen und umsichtigen Manne nicht wundernehmen.

»Hier ist es, sagte er zu seinen Reisegenossen, wo die Linie nach Sidibel-Abbès sich abzweigt, die uns bei der Rückkehr von unserm Ausfluge nach Oran heimführen wird.

– Setzt sich diese Linie denn nicht bis Tlemcen fort? fragte Herr Désirandelle.

– Später, ja, antwortete Herr Dardentor, nachdem sie bei Boukhaneses eine Gabelung gebildet hat. Jetzt ist sie noch nicht ausgebaut.

– Das ist vielleicht schade, bemerkte Frau Elissane. Könnten wir sie jetzt schon...

– Gütiger Himmel, verehrteste Frau, fiel ihr Clovis Dardentor ins Wort, da kämen wir ja ganz um unsre Karawanenfahrt! Vom Innern eines Waggons sieht man doch nichts oder nur sehr wenig und wird höchstens von der Hitze geschmolzen. Ich sehne mich sehr nach der Ankunft in Saïda!... Was ist denn Ihre Ansicht, Fräulein Louise?«

Das junge Mädchen mußte sich ja wohl der Ansicht des Herrn Dardentor anschließen.

Von Tlélat aus verläuft die Bahn geradeaus nach Osten und überschreitet dabei die kleinen gewundnen und murmelnden Wasseradern der Oueds, der Zuflüsse des Sig. Dann rollt der Zug auf Saint-Denis zu, nachdem er den Fluß gekreuzt hat, der sich unter dem Namen Macta in eine große Bucht zwischen Arzeu und Mostaganem ergießt.

Wenige Minuten nach elf Uhr kamen die Reisenden in Saint-Denis an. Hier stiegen die meisten von denen aus, die als Ausflügler auf dem Zuge gewesen waren.

Das besondre Programm des Herrn Dardentor bestimmte für diesen Ort einen Aufenthalt von einem Tage und einer Nacht, und am folgenden Tage sollte dann gegen zehn Uhr aufgebrochen werden. So wie seine Gefährten ihm [148] die Ordnung der Einzelheiten der Reise überließen, war er entschlossen, von Punkt zu Punkt dem Motto »Transire videndo« zu folgen.

Unser Perpignaneser war der erste aus dem Waggon, überzeugt, daß Agathokles gleich nach ihm aussteigen und sich beeilen werde, Louise die Hand zu reichen, um ihr beim Herabsteigen nach dem Perron behilflich zu sein. Der schlafmützige Bursche wurde aber von dem jungen Mädchen überholt, die mit Hilfe des Herrn Dardentor leichten Fußes heraushüpfte.

»Ah, rief sie mit einem gelinden Aufschrei, während sie sich umwendete.

– Haben Sie sich weh gethan, Fräulein? fragte Clovis Dardentor.

– O nein... nein... ich danke Ihnen, Herr Dardentor... ich glaubte aber... daß...

– Sie glaubten... was?..

– Daß die Herren Lornans und Taconnat nicht an der Reise theilnähmen...

– Sie?« rief Clovis Dardentor mit laut schallender Stimme.

Mit einem mächtigen Sprunge befand er sich bei seinen Freunden und öffnete zum Willkomm die Arme, während die beiden jungen Leute Frau Elissane und ihre Tochter begrüßten.

»Sie... Sie? wiederholte er.

– Ja, wir in eigner Person! bestätigte Jean Taconnat.

– Und der Dienstantritt bei den Siebenten Jägern?...

– Wir meinten, der könne ebenso gut in vierzehn Tagen erfolgen, und um die Zeit auszunützen...

– Schien es uns, daß eine solche Rundreise... fuhr Jean Taconnat fort.

– Ah, ein vortrefflicher Gedanke, rief Herr Dardentor, der uns Allen die größte Freude bereitet!«

Allen?... Das war doch vielleicht etwas zu viel gesagt. Wie würden, von Louise abgesehen, Frau Elissane und die Désirandelle's diese Ueberraschung betrachten?... Entschieden mit Mißfallen. Die Begrüßung der beiden Pariser fiel denn auch seitens der Frauen sehr trocken und seitens der Männer sehr steif aus.

Clovis Dardentor war gewiß des guten Glaubens gewesen, daß weder Marcel Lornans noch Jean Taconnat sie begleiten würde, als er das der Frau Elissane versicherte. Nichtsdestoweniger zeigte er sich jetzt hochbefriedigt.

»Das ist ja ein wahres Glück! jubelte er.

[149] – Der Zug war schon fast im Abgehen, als wir nach dem Bahnhof kamen, erklärte Jean Taconnat. Ich hatte so viele Mühe gehabt, ihn zu überreden... nun ja, wenigstens wenn er es nicht gewesen ist, der nicht weniger Mühe hatte, mich zu bestimmen... Mit einem Worte, wir zauderten bis zur letzten Minute...«

Kurz, Clovis Dardentor und seine »Smala« befanden sich nun in Saint-Denis du Sig, dem ersten Halteplatze auf der Reise, und die beiden jungen Leute wurden der Karawane angegliedert. Jetzt handelte es sich um Auskundschaftung eines Hôtels, wo man frühstücken, zu Mittag essen und gut schlafen konnte. Von einer Trennung war keine Rede. Es sollte keine zwei Gruppen geben, die Gruppe Dardentor einer-und die Gruppe Lornans-Taconnat andrerseits. Nein! Bestimmt nicht! Dieser Beschluß schuf ohne Zweifel Zufriedne und Unzufriedne, niemand ließ das aber äußerlich durchblicken.

»Offenbar, murmelte Jean Taconnat, schlägt im Busen dieses Pyrenäers für uns das Herz eines Vaters!«

Wären die Touristen in Saint-Denis du Sig vier Tage früher – am Sonntag statt am Mittwoch – eingetroffen, so hätten sie hier Araber gleich zu Tausenden sehen können. Am Sonntag war nämlich Jahrmarkt gewesen und die Hôtelfrage wäre dann nicht so mühelos gelöst worden. Gewöhnlich beträgt die Bevölkerung dieses Fleckens gegen sechstausend Köpfe, darunter ein Fünftel Juden und etwa viertausend Ausländer.

Im Hôtel ging es beim Frühstück lustig zu... eher etwas gar zu lustig, wofür Herrn Dardentor's gute Stimmung sorgte. In der Absicht, mit ihren Reisegefährten, denen sie sich doch gewissermaßen aufgedrängt hatten, nun nach und nach auf vertrauteren Fuß zu kommen, legten sich die beiden Pariser äußerlich eine discrete Zurückhaltung auf.

»He, meine jungen Freunde, rief Clovis Dardentor, ich kenne Sie ja gar nicht wieder!... Ihre erste Unentschlossenheit hat Sie noch während der Fahrt ganz verändert. Sie... die lustigen Patrone...

– Für unser Alter schickt sich das nicht mehr, Herr Dardentor, erklärte Jean Taconnat. Wir sind nicht so jung wie Sie...

– O, die losen Vögel!... Doch halt... ich habe ja Herrn Oriental nicht hier auf dem Bahnhofe bemerkt.

– War denn diese planetarische Persönlichkeit auch mit im Zuge? fragte Marcel Lornans.

– Ja, doch er ist jedenfalls nach Saïda weiter gefahren.

[150] – Alle Wetter! rief Jean Taconnat. Das ist so viel wie eine Wolke von Heuschrecken, die alles im Vorüberfliegen aufzehrt!«

Nach Beendigung des Frühstücks, und da man erst am nächsten Vormittag um neun Uhr aufbrechen wollte, wurde beschlossen, den ganzen Tag der Besichtigung von Saint-Denis du Sig zu widmen. Freilich ähneln diese algerischen Flecken »furchtbar« den Cantonshauptorten des Mutterlandes, und ihnen fehlt nichts, weder der Polizeicommissär, der Friedensrichter, der Steuereinnehmer, noch die Brücken- und Chausseewärter oder... die Gendarmen.

Saint-Denis du Sig hat mehrere recht hübsche Straßen, regelmäßig angelegte Plätze, üppig gedeihende Anpflanzungen – vorzüglich von Platanen – und eine schöne Kirche im gothischen Stile des 12. Jahrhunderts. Mehr Reiz für Touristen haben aber die freundlichen Umgebungen des Städtchens.

Die Gesellschaft wanderte also hinaus. Herr Dardentor empfahl der Bewunderung der Damen, die sich dafür wohl kaum allzusehr interessierten, und den beiden Vettern, die jetzt, wahrscheinlich von Nebelwolken der Zukunft umhüllt, nichts klar sahen, Landstücke von ganz überraschender Fruchtbarkeit und prächtige Weinanpflanzungen, die den vereinzelt aufragenden Bergstock bedecken, an den sich, wie an eine Art leicht zu vertheidigender Festung, das Städtchen anschmiegt. Unser Perpignaneser gehörte zu dem Schlage von Leuten, die Alles bewundern, weil sie nicht bei sich zu Hause sind, und denen man die Abfassung eines Reisehandbuches nicht anvertrauen dürfte.

Dieser Nachmittagspaziergang wurde vom erwünschtesten Wetter begünstigt. Jenseit der Stadt wanderte man am Sigflusse aufwärts bis zu der Sperre hin, die das Wasser auf eine Strecke von vier Kilometern anstaut, wodurch eine Ansammlung von vierzehn Millionen Cubikmetern gesichert wird, die zur Bewässerung der industriellen Culturen Verwendung findet. Genannte Sperre ist schon mehrmals durchgebrochen und das wird sich später auch wiederholen. Die Ingenieure wachen aber darüber, und von dem Augenblick an, wo die Vertreter der grundgelehrten Körperschaft wachen, ist nichts mehr zu fürchten, wenn... ja, wenn man ihrer Versicherung trauen darf.

Nach diesem etwas weiten Weg war der Einwand der Müdigkeit gewiß zulässig, und als Clovis Dardentor noch von einem Besuche sprach, der eine Wanderung von einigen Stunden in Aussicht stellte, baten Frau Elissane und Frau Désirandelle, der sich ihr Gatte anschloß, sie davon zu entbinden. Louise sollte sie unter dem Schutze des Agathokles nach dem Hôtel begleiten. Welch' [151] gute Gelegenheit für den Freier, seiner Zukünftigen den Arm zu bieten, wenn nicht beide Arme – natürlich bildlich gesprochen – amputiert gewesen wären.

Marcel Lornans und Jean Taconnat hätten sich nichts besseres gewünscht, als mit den Damen zurückzukehren, sie mußten sich aber doch wohl entschließen, hier Herrn Dardentor zu folgen.

Dieser war schon vorausmarschiert, um in acht Kilometer Entfernung eine Farm von zweitausend Hektaren, die Union du Sig, zu besuchen, deren phalansterischer Ursprung bis zum Jahre 1844 zurückreicht. Zum Glück konnte der Weg dahin auf den Rücken von Mauleseln mühelos und ziemlich schnell zurückgelegt werden. Und als sie so durch die reiche, friedliche Landschaft dahinritten, sagte Jean Taconnat für sich:

»Es ist doch zum Verzweifeln!... Es mögen so etliche sechzig Jahre her sein, da schlug man sich hier noch im Busch herum um den Besitz der Provinz Oran... vielleicht wär' es mir da vergönnt gewesen...«

Es hatte sich aber keine Gelegenheit zu einer Rettung gezeigt, als alle Drei zum Diner nach dem Hôtel zurückkehrten. Am Abend blieb man nicht lange zusammen; schon um neun suchte jeder sein Zimmer auf. Agathokles, der niemals träumte, träumte nicht von Louise, und Louise, deren Schlummer immer von angenehmen Träumen durchwebt wurde, träumte nicht von Agathokles...

Am folgenden Morgen um acht Uhr klopfte Patrice bescheiden an alle Thüren. Alle gehorchten dem Signale des pünktlichen Dieners, verzehrten zum Frühstück je nach Geschmack ihren Kaffee oder ihre Chocolade, dann wurde die Hôtelrechnung bezahlt und man begab sich zu Fuß nach dem Bahnhofe.

Diesmal standen Herrn Dardentor und seinen Gefährten alle acht Plätze eines Coupés zur Verfügung; heute hatten sie aber nur eine kurze Strecke zwischen Saint-Denis du Sig und Perregaux zurückzulegen.

Nach kurzem Aufenthalt in Mocta-Douz, einem europäischen Weiler, siebzehn Kilometer von Saint-Denis, traf der Zug, fünf Kilometer weiterhin, am heutigen Ziele ein.

Perregaux, ein einfacher Flecken von dreitausend Einwohnern, darunter sechzehnhundert Eingeborenen, wird inmitten einer sechsunddreißigtausend Hektar großen, überaus fruchtbaren Ebene von dem Habra bewässert. An diesem Punkte kreuzen sich die Bahnlinien von Oran nach Algier und die von Arzeu, einem Hafen an der nördlichen Küste, die bis Saïda hinabführt. Von Norden nach Süden durch die Provinz verlaufend, durchzieht sie die ausgedehnte Landschaft,[152] wo die Alfa massenhaft gewonnen wird, und soll noch bis Aïn-Safra, fast bis zur marokkanischen Grenze, weitergebaut werden.

Die Touristen mußten an dieser kleinen Station also den Zug wechseln, und hielten dann, einundzwanzig Kilometer weiter, bei Crève-Coeur an.


Dardentor kaufte schwarze Burnusse, bekannt unter dem Namen »Zerdanis«. (S. 156.)

Die Linie von Arzeu nach Saïda läßt Mascara nämlich links liegen. Jean Taconnat, dem es unter allen Nägeln »brannte« und der doch nur von Feuersbrünsten träumte, hätte diesen Hauptort des Arrondissements gern unberührt gelassen. Dagegen würde aber Clovis Dardentor männiglich Einspruch erhoben[153] haben, denn sein Rundreiseprogramm enthielt einmal auch den Besuch von Mascara. Für den zwanzig Kilometer langen Weg bis dahin wurden deshalb von der Bahngesellschaft gestellte Wagen in Beschlag genommen, die zur Bequemlichkeit der Reisenden gleich vor dem Bahnhofsgebäude hielten.

Einundderselbe Omnibus nahm die Gesellschaft Dardentor auf, und der Zufall, der ja oft ein boshaftes Spiel treibt, fügte es, daß Marcel Lornans neben Louise Elissane zu sitzen kam. Noch nie waren ihm zwanzig Kilometer so kurz vorgekommen! Und doch wackelte der Omnibus eigentlich nur langsam vorwärts, da die Straße bis hundertfünfunddreißig Meter über das Meer ansteigt.

Doch, kurz oder lang, der letzte Kilometer war gegen halb vier Uhr überwunden. Entsprechend dem entworfenen Plane sollten der Nachmittag des 11. und die Nacht darauf in Mascara zugebracht werden und die Weiterreise nach Sarda am 12. Mai erfolgen.

»Warum benützen wir aber nicht den heutigen Nachtzug? fragte Frau Elissane.

– O, hochverehrte Frau, antwortete Herr Dardentor, das kann Ihr Wunsch gar nicht sein; wenn es aber doch der Fall und ich schwach genug wäre, Ihnen nachzugeben, so würden Sie mir mein Leben lang darüber Vorwürfe machen....

– Mutter, sagte Louise lachend, könntest Du Herrn Dardentor wirklich so endlosen Vorwürfen aussetzen wollen?

– Und so gerechtfertigten? setzte Marcel Lornans hinzu, dessen Miteintreten Fräulein Elissane ganz angenehm zu sein schien.

– Ja gewiß, gerechtfertigten Vorwürfen, fuhr Herr Dardentor fort, denn Mascara ist eine der hübschesten Städte Algeriens, und die ihm gewidmete Zeit wird keine verlorene sein. Da soll mich doch der Wolf vom Nacken bis zum Rückgrat fressen....

– Hm! ließ Patrice hören.

– Hast Du etwa den Schnupfen? fragte sein Herr.

– Nein, ich wollte nur den Wolf rechtzeitig von dem Herrn vertreiben....

– Schafkopf!«

Die kleine Gesellschaft fügte sich also den Wünschen ihres Anführers, die schon mehr Befehlen gleichkamen.

Mascara ist eine befestigte Stadt. Am Südabhange der ersten Kette des Atlas und am Fuße des Chareb-er-Rih gelegen, beherrscht sie die weite Ebene [154] von Eghris. Drei Wasserläufe, der Oued-Toudman, der Aïn-Beïda und der Ben-Arrach vereinigen sich an dieser Stelle. Schon 1835 durch den Herzog von Orleans und den Marschall Clausel eingenommen, doch bald darauf wieder verlassen, wurde die Stadt erst 1841 durch die Generäle Bugeaud und Lamoricière zurückerobert.

Vor ihrem Mittagsmahle konnten sich die Ausflügler schon überzeugen, daß Herr Dardentor nicht übertrieben hatte. Mascara hat eine wunderschöne Lage auf zwei Hügeln, zwischen denen sich der Oued-Toudman hinschlängelt. Die Gesellschaft durchwanderte seine fünf Quartiere, wovon vier von einem breiten, mit Bäumen besetzten Boulevard umschlossen sind, d. i. der eigentlich befestigte Theil mit sechs Thoren, der von zehn Thürmen und acht Bastionen vertheidigt wird.

Schließlich rasteten die Spaziergänger ein wenig auf dem Exercierplatze.

»Welch ein Anblick! rief Herr Dardentor, als er sich mit gespreizten Beinen und gen Himmel gestreckten Armen vor einem ungeheuern, wohl zwei-bis dreihundertjährigen Baum aufpflanzte.

– Ein Wald für sich allein!« meinte Marcel.

Es war ein Maulbeerbaum, der gewiß seine Geschichte hatte und an dem mehrere Jahrhunderte vorübergegangen waren, ohne ihn zu fällen.

Clovis Dardentor wollte ein Blatt davon abpflücken.

»Das erste Kleidungsstück der Elegants im irdischen Paradiese, bemerkte Jean Taconnat.

– Und obendrein ohne jede Naht!« setzte Herr Dardentor hinzu.

Ein vortreffliches und reiches Mittagmahl flößte Allen neue Kräfte ein. Dem Weine von Mascara, der in den Kellereien der Feinschmecker jenseit des Mittelmeers als hochfeine Marke gilt, wurde tüchtig zugesprochen. Dann zogen sich die Damen, wie am Abend vorher, zeitig zurück. Mit dem Morgenrothe brauchten sie auch noch nicht wieder auf den Füßen zu sein. Die beiden Herren Désirandelle konnten bis in den hellen Tag hinein schlafen. Zum Frühstück stellten sie sich jedenfalls ein. Der Nachmittag sollte einem gemeinschaftlichen Besuche der hervorragenderen Bauwerke der Stadt gewidmet werden.

Infolge dessen sah man am nächsten Morgen um acht Uhr nur die drei Unzertrennlichen durch das Handelsquartier der Stadt schlendern. Seine alten Neigungen als Gewerbetreibender und Händler hatten den früheren Tonnenbinder von Perpignan hierher verlockt. Der lose Schmeichler Jean Taconnat [155] hatte ihm noch zugeredet, zum großen Leidwesen Marcel Lornans', den die Oel- oder Mahlmühlen, sowie die Fabriken der Einheimischen blutwenig interessierten. Ja, wenn auch Fräulein Elissane der väterlichen Fürsorge des Herrn Dardentor anvertraut worden wäre! Sie war aber nicht zur Stelle, und es mochte sehr fraglich sein, ob sie zu dieser Stunde schon die seinen Augenlider geöffnet hatte.

Auf dem Wege durch die Straßen dieses Viertels machte Herr Dardentor wieder einige Einkäufe, unter andern ein Paar jener schwarzen Burnusse, bekannt unter dem Namen »Zerdanis«, die er gelegentlich, ganz wie die Araber im Norden Afrikas, tragen wollte.

Gegen Mittag fand sich die ganze Gesellschaft wieder zusammen und begab sich nach den drei Moscheen der Stadt, deren erste die von Aïn-Beïda ist, die aus dem Jahre 1761 stammt und in der Abd el Kader einst den heiligen Krieg predigte, deren zweite, zu einer Kirche umgestaltet, zur Bereitung des Brodes der Seele dient, und deren dritte, jetzt ein Getreidemagazin, das Brod des Leibes liefert (wörtlich, nach Jean Taconnat). Nach dem mit einer schönen Fontaine mit weißem Marmorbassin geschmückten Gambettaplatze besuchte man nach einander den Beylik, einen alten Palast in arabischem Baustile, das arabische Bureau, ein maurisches Gebäude, und den bis zum Grunde der Schlucht des Oued-Toudman hinabreichenden öffentlichen Garten mit seinen großen Baumschulen und Anpflanzungen von Oel- und Feigenbäumen, deren Früchte zur Herstellung eines eßbaren Teiges verwendet werden. Zu Mittag ließ Herr Dardentor ein großes Laib von diesem Teige auftragen, den er ganz köstlich fand und den Jean Taconnat mit dem nämlichen Eigenschaftsworte – im Superlativ – zu bezeichnen für gut fand.

Gegen acht Uhr nahm der Omnibus seine Fahrgäste vom vorigen Tage wieder auf und verließ Mascara. Diesmal fuhr der Wagen aber, statt nach Crève-Coeur zurückzukehren, nach der Station Tizi durch die Ebne von Eghris. deren Weingärten einen weißen Tropfen von gutem Ruf erzeugen.

Der Zug ging um elf Uhr ab. Obwohl Herr Dardentor wieder Vierzigsolsstücke unter die Füße der Beamten gestreut hatte, kam es diesmal doch zu einer Trennung seiner Gruppe.

Der aus vier Waggons bestehende Zug war fast überfüllt, und infolge dessen konnten Frau Désirandelle, Frau Elissane und ihre Tochter nirgends anders Platz finden, als in einem Damencoupé, worin schon ein paar ältere weibliche Personen saßen. Herr Désirandelle versuchte zwar mit aller Gewalt, sich hineinzuschmuggeln, der Widerspruch der zwei unzugänglichen Matronen, [156] die ihr Alter desto wilder machte, nöthigte ihn jedoch, einen andern Platz zu suchen. Clovis Dardentor ließ ihn mit in das Coupé für Raucher steigen und wetterte ohne Scheu:

»Da sieht man diese Bahngesellschaften!... In Afrika geht es ebenso verkehrt her, wie in Europa!... Ueberall Ersparniß an Wagen, von der Ersparniß an Beamten ganz zu schweigen.«

Da das Coupé schon fünf Reisende enthielt, blieb noch ein Platz übrig, nachdem sich die Herren Dardentor und Désirandelle einander gegenüber gesetzt hatten.

»Wahrhaftig, sagte Jean Taconnat, ich ziehe es noch vor, mit ihm zusammen zu sein!«

Marcel Lornans brauchte nicht erst zu fragen, auf wen sich das »ihm« bezog, und antwortete lachend:

»Hast recht... Steig an seine Seite... man kann ja nicht wissen...«

Er selbst war nicht bös darüber, sich in einem andern, minder vollgepfropften Wagen unterzubringen, um ungestört träumen zu können. Der letzte des Zuges enthielt nur drei Passagiere in dem einen Coupé, und darin nahm er Platz.

Die Nacht war dunkel, ohne Mond und Sterne, und der Horizont von Dünsten verhüllt. Das Land bot auf dieser Strecke auch nichts Sehenswerthes, da es nur neuere Ansiedlungen enthält. So hätte man da nichts als Farmen und Oueds, die ein ganzes Netzwerk bildeten, sehen können.

In seine Ecke gelehnt, überließ sich Marcel Lornans Träumereien, wie man solchen nachhängt, ohne zu schlafen. Er dachte an Louise Elissane, an den Zauber ihrer Unterhaltung und an den Liebreiz ihrer Person... und sie sollte die Gattin dieses Agathokles werden? Nein, das war unmöglich! Das ganze Weltall hätte dagegen protestiert... und Herr Dardentor selbst mußte doch schließlich als der Wortführer des Weltalls auftreten...

»Froha... Froha!«

Dieses Wort, das dem Geschrei der Raben ähnelt, erscholl von der durchdringenden Stimme des Schaffners. Kein Passagier verließ das Coupé, wo er sich in seinen Träumen wiegte. Er liebte sie!... Ja, er liebte das reizende junge Mädchen... liebte sie von dem Tage an, wo er sie zum ersten Male auf dem Verdeck des »Argeles« erblickt hatte. Das war der berühmte Blitz gewesen, der den Menschen zuweilen aus heiterm Himmel trifft.

[157] »Thiersville!... Thiersville!« wurde zwanzig Minuten später gerufen.

Der dieser kleinen Station beigelegte Name des großen Staatsmannes riß Marcel Lornans auch nicht aus seinen Träumen, und Louise Elissane verdunkelte vollständig das Bild des berühmten »Befreiers des Landes«.

Der Zug fuhr nur mäßig schnell, da er bis zur Station Traria am gleichnamigen Oued, die hundertsechsundzwanzig Meter hoch liegt, Steigung hatte.

An dieser Station stiegen die drei Coupégefährten Marcel Lornans' aus, der nun allein zurückblieb.

Von der verticalen Haltung konnte er nun in die horizontale Lage übergehen, während der Zug jenseit des Fleckens Charrier am Fuße bis zur Kammhöhe bewaldeter Berge hinrollte. Da senkten sich allmählich die Lider über seine Augen, obwohl er sich bemühte, dem Bedürfniß des Schlafes zu trotzen, der das Bild seines Traumes hätte verwischen können. Er unterlag aber doch, und der Name »Franchetti!« war das letzte gewesen, was er zu hören glaubte.

Wie lange schlief er denn und warum fühlte er sich halb erwacht dem Ersticken nahe?... Aus seiner Brust rang es sich nur wie ein quälendes Schluchzen hervor. Er erstickte... der Athem ging ihm aus... Ein beißender Rauch erfüllte das Coupé... bald mischten sich ihm rußende Flammen bei, die unter ihm, durch die Geschwindigkeit des Zuges angefacht, weiter zunahmen....

Marcel Lornans wollte sich erheben, um eine Scheibe zu zertrümmern... Er sank nach Luft schnappend wieder zurück.

Eine Stunde später, als der junge Pariser, Dank der Sorgfalt, die man ihm gewidmet hatte, im Bahnhof von Saïda wieder zum Bewußtsein kam, als er die Augen aufschlug, da sah er Herrn Dardentor, Jean Taconnat und auch Louise Elissane an seiner Seite.

Sein Waggon war in Brand gerathen, und sobald der Zug endlich auf ein Signal des Schaffners zum Stehen gekommen war, hatte Clovis Dardentor nicht gezögert, mit eigner Lebensgefahr durch die Flammen zu dringen, um Marcel Lornans zu retten.

»O, Herr Dardentor! murmelte dieser mit dankerfüllter Stimme.

– Schon gut, schon gut! wehrte ihm der Perpignaneser. Glauben Sie denn, ich hätte Sie wie einen Truthahn braten lassen? Ihr Freund Jean und Sie hätten für mich gewiß dasselbe gethan...

[158] – Ganz gewiß! rief Jean Taconnat. Doch diesmal... diesmal... sind Sie es gewesen, der... und das ist ein ganz ander Ding!«

Heimlich flüsterte er aber seinem Vetter ins Ohr:

»Entschieden... auch nicht ein Fünkchen Glück!«

11. Capitel

Elftes Capitel.
Ein Capitel, das nur auf das nächste vorbereitet.

Endlich war die Stunde gekommen, wo die verschiedenen Elemente der Gruppe Dardentor zu einer Karawane zusammenwachsen sollten. Von Saïda bis Sidi-bel-Abbès gab es keine Bahnlinie mehr, keine Beförderung in Wagen, die von der fauchenden Locomotive gezogen wurden. Einfache Fahr- und Reitwege traten nun an die Stelle der Geleise.

Dreihundertfünfzig Kilometer waren von hier aus »unter den angenehmsten Verhältnissen«, wie Herr Dardentor wiederholt versicherte, zurückzulegen. Auf Pferden, Mauleseln, auf Kameelen und Dromedaren oder im Wagen sollte es über die weiten, von Alfalieferanten ausgebeuteten Landstrecken und durch die unermeßlichen südoranischen Wälder gehen, die auf colorierten Landkarten wie Blumenkörbe aussehen, die von dem Adernnetz der Oueds der bergigen Gegend mit Wasser versorgt und erfrischt werden.

Von Oran ab und während der Fahrt von hundertsechsundsiebzig Kilometern blieb es offenbar, daß der Erbe der Désirandelle's, in seiner Bedeutungslosigkeit verharrend, sich um keinen Schritt dem Ziele genähert hatte, worauf seine Eltern ihn zudrängten. Andrerseits konnte es der Frau Elissane nicht entgehen, daß Marcel Lornans jede Gelegenheit zum Verkehr mit ihrer Tochter wahrnahm, um ein Wort mit ihr zu sprechen, was – trotz seiner Berechtigung dazu – der Schwachkopf Agathokles nicht that. Ob Louise für die Aufmerksamkeiten des jungen Mannes empfänglich war... ja, vielleicht... doch nichts weiter, dafür trat Frau Elissane ein. Ueberdies war sie nicht dazu geschaffen, von einem einmal gefaßten Beschlusse abzugehen... niemals würde Louise, die sie schon noch ins [159] Gebet nehmen wollte, es wagen, ihre Zustimmung zu der geplanten Heirat zu verweigern.

Hatte wohl Jean Taconnat Ursache, befriedigt zu sein?

»Alle Wetter... nein!« rief er an eben diesem Morgen.

Marcel Lornans befand sich noch im Zimmer des Hôtels, wohin er in voriger Nacht geschafft worden war, und er lag auch noch auf dem Bette, obschon er jetzt schon lange wieder unbehindert athmete.

»Nein, wiederholte der Andre nochmals, es scheint, als ob sich alles verschworen hätte...

– Nicht gegen mich, warf sein Vetter ein.

– Auch gegen Dich, Marcell.

– Keineswegs, denn ich habe nie die Absicht gehabt, der Adoptivsohn des Herrn Dardentor zu werden.

– Sapperment... aus dem spricht der Verliebte.

– Wie, der Verliebte?...

– Schalk Du!... Es liegt doch klar am Tage, daß Du Fräulein Louise Elissane liebst!

– Still... Jean!... Man könnte uns hören!

– Und wenn das der Fall wäre, was erführe man da neues?... Ist es denn nicht sichtbar, wie der Mond auf drei Schritt Entfernung?... Braucht man das Fernrohr des Herrn Oriental, um zu sehen, wohin es Dich zieht?... Macht es der Frau Elissane nicht schon eine gewisse Unruhe, und glaubst Du nicht, daß Dich die Désirandelle's, Vater, Mutter und Sohn, zu allen tausend Teufeln wünschen?

– Du übertreibst, Jean!

– Gewiß nicht!... Nur Herr Dardentor scheint nichts davon zu merken, und vielleicht auch Fräulein Elissane nicht...

– Sie?... Du glaubst...? fragte Marcel Lornans lebhafter.

– Gut, beruhige Dich nur, Herr Todescandidat von gestern! Sollte ein junges Mädchen sich über so ein besondres heimliches Herzklopfen täuschen können?

– Jean!

– Was die Mißachtung betrifft, die sie gegen das Meisterwerk der Désirandelle's, das auf den Namen Agathokles hört, empfindet...

– Weißt Du, Freund Jean, daß ich in Fräulein Louise ganz vernarrt bin...


Clovis Dardentor hatte nicht gezögert, durch die Flammen zu dringen. (S. 158.)

– Vernarrt, das ist das richtige Wort, denn wohin soll es Dich führen?... Daß Fräulein Elissane reizend ist, das sieht auch der Blinde, und ich würde sie ebenso angebetet haben, wie Du. Sie ist aber versprochen, und wenn sich's auch um keine Heirat aus Liebe handelt, so stehen dieser doch ein dicker Geldsack und [160] der beiderseitige Wunsch der Eltern zur Seite. Es ist ein Gebäude, zu dem man schon in der Kindheit der Betheiligten den Grund gelegt hat, und Du bildest Dir ein, das einfach umblasen zu können?

– Ich bilde mir gar nichts ein, sondern lasse den Dingen ihren Lauf.

[161] – Auch damit begehst Du noch ein Unrecht, Marcel.

– Inwiefern denn?

– Du wirst unsern ersten Plänen untreu.

– Ich will lieber Dir freie Hand lassen, Jean!

– Aber überlege doch, Marcel! Wenn es Dir gelänge, adoptiert zu werden...

– Ich?

– Ja, ja... Du!... Wenn Du dann dem Fräulein Elissane den Hof machtest, und könntest mit der Hand in der Tasche klimpern, statt jetzt nur den schmachtenden Seladon zu spielen... Da könntest Du Agathokles schon mit dem Portemonnaie allein ausbeißen, abgesehen davon, daß der neue Vater Deine Bewerbung mächtig unterstützen würde. Er zögerte gewiß auch keinen Augenblick, Louise selbst zu seiner Adoptivtochter zu machen, wenn es von der Vorsehung ihr beschieden wäre, ihn aus Wasser, Feuer oder Kampfesnoth zu retten.

– Du faselst!

– Ich fasele?... Ja, doch mit allem Ernste überlegenen Verstandes, und ich ertheile Dir nur guten Rath.

– Du wirst wohl zugeben, Jean, daß ich von Anfang herein Pech gehabt habe. Da bricht nun im Zuge Feuer aus, und nicht allein bleibt es mir versagt, Herrn Dardentor zu retten, nein, er ist es sogar, der mich rettet.

– Ja freilich, Marcel, das ist Pech, unser verteufeltes Pech! Doch, da fällt mir ein, jetzt wärst Du in der gewünschten Lage, den Perpignaneser zu adoptieren. Das käme zuletzt auf eins hinaus! So adoptiere ihn also, und er dotiert dann seinen Vater...

– Unsinn! erklärte Marcel Lornans lachend.

– Warum denn?

– Weil es gesetzliche Vorschrift ist, daß der Adoptant älter als der Adoptierte sein muß, und wär's nur um einige Tage.

– Ach, Marcel, es geht uns einmal alles gegen den Strich, und wie verflixt schwierig ist es doch, sich durch juristische Hilfsmittel einen Vater zu erobern!«

Da erscholl eine laute Stimme in dem Gange, woran das Zimmer lag.

»Das ist er!« sagte Jean Taconnat.

Clovis Dardentor erschien, aufgeräumt wie immer, in der Thür, und mit einem einzigen Satze sprang er von der Schwelle bis an Marcel Lornans' Lager.

[162] »Wie, rief er, immer noch nicht aufgestanden?... Ist er etwa krank? Fehlt es seiner Athmung an Tiefe und Regelmäßigkeit?... Soll ich ihm etwa Luft in die Lungen blasen?... Kein Genieren!... Ich habe die Brust voll ganz besonders wirksamen Sauerstoffs, zu dem ich allein das Recept besitze.

– Herr Dardentor... mein Retter! sagte Marcel Lornans sich aufrichtend.

– Ach nein... nein!

– Doch... ja! erwiderte Jean Taconnat. Ohne Sie wäre er erstickt! Ohne Sie wäre er gekocht, gebraten, gebacken, eingeäschert! Ohne Sie hätten wir von ihm jetzt nur noch ein Häuschen Asche übrig, die ich in einer Urne mit nach Hause nehmen könnte!

– Armer Junge!... Armer Junge!« wiederholte Herr Dardentor, die Hände gen Himmel erhebend.

Dann fuhr er fort:

»Es ist also doch wahr, daß ich ihn gerettet habe!«

Er betrachtete ihn gerührt und umarmte ihn in einem Anfalle von acutem »Perichonismus«, der vielleicht noch einen chronischen Charakter annahm.

Nun begannen die Drei zu plaudern.

Wie war das Feuer nach dem Coupé gekommen, worin Marcel Lornans so ruhig schlief?... Vielleicht hatte es ein Funken aus der Locomotive veranlaßt, der durch das Fenster fliegend das Polster in Brand gesetzt hatte... dann mochte dieser durch die schnelle Bewegung des Zuges weiter angefacht worden sein...

»Und die Damen? fragte Marcel Lornans.

– Sie befinden sich wohl und haben sich von dem Schrecken erholt, mein lieber Marcel...

– Aha, jetzt heißt's schon »mein lieber Marcel«, schien sich Jean Taconnat zu sagen.

– Denn Sie sind in Zukunft doch fast wie mein Kind! setzte Clovis Dardentor hinzu.

– Sein Kind! murmelte der Vetter.

– Und Sie hätten nur Fräulein Elissane sehen sollen, fuhr der brave Mann fort. wie sie, als der Zug endlich hielt, nach dem von den Flammen umzüngelten Waggon stürzte! Ja, bei Gott, eben so schnell wie ich! Als ich Sie dann auf der Strecke niedergelegt hatte, da war sie schon mit ihrem Taschentuche zur Hand, goß ein wenig von einer belebenden Essenz darauf und netzte damit [163] Ihre Lippen. O, Sie hatten ihr einen gewaltigen Schreck eingejagt, und ich fürchtete immer, sie würde selbst in Ohnmacht fallen!«

Tiefer ergriffen, als er es sehen lassen wollte, faßte Marcel Lornans beide Hände des Herrn Dardentor und dankte aufrichtig für alles, was dieser für ihn gethan hatte... für seine Bemühungen... für das Taschentuch des Fräuleins Louise! Das rührte unsern Perpignaneser dermaßen, daß ihm die Augen feucht wurden.

»Ein Regentropfen zwischen zwei Sonnenstrahlen! dachte sich Jean Taconnat, der das ergreifende Bild mit Schalksaugen betrachtete.

– Nun, mein lieber Marcel, wollen Sie sich denn nicht aus Ihren Decken auswickeln?

– Ich war im Begriff aufzustehen, als Sie eintraten.

– Wenn ich Ihnen helfen kann...

– Danke, danke, Jean ist ja da...

– Bitte, mich nicht schonen zu wollen!... Sie gehören nun doch mir an. Ich beanspruche das Recht, für Sie sorgen zu dürfen...

– Wie ein Vater! mischte sich Jean Taconnat ein.

– Ja, wie ein Vater, wie ein solcher nur sorgen kann, sonst soll mir der Teufel gleich an den Nacken fahren!«

Zum Glück war Patrice nicht anwesend.

»Doch nun, liebe Freunde, vorwärts! Wir erwarten Sie Beide im Speisesaale. Noch eine Tasse Kaffee, dann gehen wir nach dem Bahnhofe, wo ich sehen möchte, ob für unsre Karawane alles in Ordnung ist. Nachher spazieren wir durch die Stadt; das wird schnell abgemacht sein... später durch die Umgebung, und morgen, zwischen acht und neun Uhr, machen wir uns nach arabischer Mode auf den Weg. Vorwärts, Touristen!... Vorwärts, Ausflügler! Sie werden ja sehen, ob ich das richtig zugeschnittene Aussehen habe, wenn mir der Zerdani um die Schultern flattert. Ein Scheik... ein leibhaftiger Scheik aus der Scheikardie!«

Damit drückte er Marcel so kräftig die Hand, daß er ihn dabei halb aus dem Bette zerrte, und verließ das Zimmer, während er ein Volksliedchen aus den Pyrenäen vor sich hinträllerte.

»Sapperlot, rief Jean Taconnat, als jener verschwunden war, wo fände man Leute, die sich mit ihm und... mit ihr vergleichen könnten!... Er, mit seinem afrikanischen Zerdani... sie, mit ihrem duftenden Taschentuche!

[164] – Jean, erwiderte Marcel etwas verletzt, Du scheinst mir über Gebühr lustig zu sein.

– Du hast mich ja selbst dazu aufgefordert... nun bin ich lustig!« antwortete Jean Taconnat, eine Pirouette schlagend.

Marcel Lornans begann sich anzukleiden. Er sah noch ein wenig blaß aus, doch das würde sich verlieren.

»Na, übrigens, phantasierte sein Vetter weiter, wären wir unter den Siebenten Jägern noch ganz andern Abenteuern ausgesetzt. Zum Teufel, da kläng' es wohl noch anders! Ein Sturz vom Pferde, ein Schlag mit dem Hufe, und in der Schlacht... ein Bein weg... ein Arm verschwunden... ein Loch in der Brust... die Nase futsch... der Kopf zum Kuckuck, und dazu die Unmöglichkeit, gegen die Brutalität der Geschosse von zehn Centimetern und auch von geringerem Durchmesser Einspruch zu erheben!«

Da Marcel Lornans ihn einmal so im Zuge sah, verzichtete er darauf, ihn zu unterbrechen, und wartete, bis er den Hahn am Mundstück seiner Scherze selbst schließen würde.

»Spotte nur immer zu, Freund Jean, vergiß aber nicht, daß ich auf jeden Versuch verzichtet habe, mich durch meinen Retter dadurch adoptieren zu lassen, daß ich ihn auch selbst einmal errette. Mach' Du, was Du willst. Meinen Segen hast Du!

– Ich danke, Marcel.

– O, nicht der Rede werth, Jean... Dardentor!«

Eine halbe Stunde später betraten Beide den Speisesaal des Hotels... eigentlich eines einfachen, doch sauber gehaltenen und anheimelnden Gasthofs.

Die Familien Elissane und Dósirandelle standen an einem der Fenster zusammen.

»Da ist er!... Da ist er! rief Clovis Dardentor, da ist er... Lungen und Magen noch vollständig in Ordnung... heil und gesund aus dem Backofen entwischt!«

Patrice wandte den Kopf ab, denn das unangebrachte Wort »Backofen« schien ihm einige beklagenswerthe Vergleichungen zu erwecken.

Frau Elissane empfing Marcel Lornans mit ein paar liebenswürdigen Worten und beglückwünschte ihn, der schrecklichen Gefahr entronnen zu sein.

»Dank dem Herrn Dardentor, antwortete Marcel Lornans. Ohne seine Opferfreudigkeit...«

[165] Patrice sah mit Befriedigung, daß sein Herr sich ohne weitere Antwort begnügte, dem jungen Mann die Hand zu drücken.

Die Désirandelle's dagegen verzogen die Lippen, sahen höchst gleichgiltig aus und verneigten sich kaum zur Begrüßung der beiden Pariser.

Louise Elissane sprach selbst kein Wort; ihr Blick begegnete aber dem Marcel Lornans', und vielleicht sagten sie sich mit den Augen mehr, als die Lippen hätten aussprechen können.

Nach dem Frühstück bat Herr Dardentor die Damen, sich inzwischen fertig zu machen, während die Herren auf kurze Zeit ausgingen. Dann begaben sich die beiden jungen Leute und er, sowie die Herren Désirandelle, nach dem Bahnhofe.

Wie schon erwähnt, mündet die Bahnlinie von Arzeu nach Saïda in letztgenannter Stadt. Noch weiter und durch die Alfagebiete der franco-algerischen Actiengesellschaft hat die Südoranische Eisenbahncompagnie ihre Linie über Tafararona bis zur Station Kralfalla hinausgeschoben. Von hier giebt es drei Zweiglinien: die erste, bereits betriebene Linie verläuft über den Kreider bis Mecheria und Aïn-Sefra; die zweite, noch im Bau befindliche, erstreckt sich nach Osten hinaus in der Richtung nach Zragnet; die dritte, erst projectierte, soll über Aïn-Sfissifa bis Geryville weitergeführt werden, dessen Höhenlage fast vierzehn hundert Meter über dem Meere erreicht.

Die Lustreise sollte sich aber nicht bis so weit nach dem Süden erstrecken. Die Touristen gedachten sich vielmehr nach Westen bis Sebdou zu begeben, dann sich nach Norden zu wenden und von Sidi-bel-Abbès aus mit der Bahn nach Oran zurückzukehren.

Als Clovis Dardentor also nach dem Bahnhofe von Saïda ging, wollte er sich nur überzeugen, ob auch die Transportmittel für seine Gesellschaft bereit gestellt wären, und er konnte damit völlig zufrieden sein.

Mit Sonnenschutz versehene und mit Mauleseln bespannte offene Wagen, Pferde, Maulesel, Kameele, alles wartete nur auf die Reisenden, um sich sofort in Bewegung zu setzen.

Von den andern aus Oran gekommenen Touristen schien noch keiner Saïda verlassen zu haben, und jedenfalls war es wünschenswerth, daß die Karawane bei dieser Excursion durch die südlichen Gebiete aus vielen Personen bestand, obwohl von den dort nomadisierenden Völkern keinerlei Gefahr zu befürchten war.

[166] Marcel Lornans und Jean Taconnat als geübte Reiter suchten sich zwei Pferde aus, die ihnen passend erschienen, ein Paar jener lebhaften und ausdauernden Berberrosse, die von den südoranischen Hochebnen stammen. Herr Désirandelle entschied sich nach reiflicher Ueberlegung für einen Sitzplatz in einem der Wagen in Gesellschaft der Damen. Agathokles, der im Steigbügel nicht fest saß und dem die Pferde eine zu flotte Gangart zu haben schienen, wollte seinen Leichnam einem Maulesel anvertrauen, mit dem er zur Noth auszukommen hoffte. Clovis Dardentor, ein vortrefflicher Reiter, musterte die Pferde mit Kennerblicken, ließ aber über seinen Entschluß noch nichts verlauten.

Die Leitung der Karawane lag natürlich in den Händen eines Beamten der Bahngesellschaft. Dieser Beamte, namens Derivas, hatte noch einen Führer namens Moktani und mehrere arabische Diener zu seiner Verfügung. Ein Lastwagen sollte hinreichende Nahrungsmittel mitführen, die man in Daya, in Sebdou und in Tlemcen nach Bedarf zu erneuern gedachte. Von einem Lagern während der Nacht war keine Rede. Um die vorgesehenen Rastplätze zu erreichen, brauchte die Karawane nur gegen zehn Lieues täglich zurückzulegen und sollte dann in einem der Dörfer oder Weiler, die an ihrem Wege lagen, Halt machen.

»Alles in bester Ordnung, erklärte Herr Dardentor, die ganze Organisation macht dem Director der algerischen Eisenbahnen alle Ehre. Wir können ihn wegen seiner Maßnahmen nur beglückwünschen. Morgen um neun Uhr also, Versammlung auf dem Bahnhofe, und da wir jetzt noch einen Tag vor uns haben, liebe Freunde, so wollen wir aufbrechen, um das schöne Saïa zu besichtigen.«

Als sie eben weiter gehen wollten, bemerkten Herr Dardentor und seine Begleiter in hundert Schritt Entfernung einen ihrer Bekannten.


»Da ist er!.. Da ist er!« rief Clovis Dardentor. (S. 165.)

Herr Eustache Oriental wanderte nach dem Bahnhof aus demselben Grunde, der sie hergeführt hatte.

»Da kommt er... da kommt er in höchsteigner Person!« declamierte der Perpignaneser, daß man es weithin hörte.

Wiederum wurde ein Gruß mit dem Vorsitzenden der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar ausgetauscht, doch kein Wort dabei gewechselt. Herr Eustache Oriental schien sich auch fernerhin so abseits halten zu wollen, wie früher an Bord des »Argeles«.

»Er wird also mit im Zuge sein? bemerkte Marcel Lornans.

[167] – Ja, er wird sich gleich uns mit fortschleppen lassen, antwortete Herr Dardentor.

– Ich hoffe, meinte Jean Taconnat, die Bahngesellschaft wird für hinreichende Nahrungsmittel gesorgt haben...

– Spotten Sie immer über seinen guten Appetit, Herr Taconnat, erwiderte Clovis Dardentor, doch wer weiß, ob uns das Männchen unterwegs nicht von Nutzen sein kann. Nehmen Sie nur an, die Karawane verirrte sich; würde er sie nicht allein durch Befragung der Gestirne wieder auf den rechten Weg zurückführen können?«

[168] [171]Jedenfalls dachte man sich die Anwesenheit des Gelehrten zunutze zu machen, wenn die Umstände das erforderten.


Der Perpignaneser begrüßte seine Reisegefährten. (S. 175.)

Nach Herrn Dardentor's Vorschlag wurden nun der Vor- und der Nachmittag mit Spaziergängen innerhalb und außerhalb der Stadt zugebracht.

Saïda zählt etwa dreitausend Einwohner – eine sehr gemischte Bevölkerung, die zu einem Sechstel aus Franzosen, zu einem Zwölftel aus Juden und im übrigen aus Eingebornen besteht.

Das aus der Militär-Unterabtheilung von Mascara hervorgegangene Gemeinwesen wurde 1854 gegründet. Zehn Jahre weiterhin bestand es aber eigentlich nur aus den Ruinen der alten, von den Franzosen eingenommenen und zerstörten Stadt, deren von Mauern umschlossenes Viereck zu den festen Plätzen Abd-el-Kader's gehörte. Nachher wurde die neue Stadt zwei Kilometer südöstlich zwischen dem Tell und den Hochebnen in der Höhe von neunhundert Metern erbaut.

Saïda »die Schöne«, wie die Stadt genannt wird, bildet mit ihrer halbmodernen und den Landessitten angepaßten Organisation nur einen Abklatsch von Saint-Denis du Sig oder Mascara. Auch hier gab es den unvermeidlichen Friedensrichter, den Personal-, Grundsteuer- und Acciseeinnehmer, den Forstaufseher und das hergebrachte arabische Bureau. Von Bau-oder Kunstdenkmälern, wie von einer Localfärbung war nichts zu entdecken, was bei einer verhältnißmäßig so neuen Stadt nicht wundernehmen kann.

Herrn Dardentor fiel es deshalb aber gar nicht ein, sich zu beklagen. Seine Neugier fand Befriedigung, oder seine industriellen Instincte wurden vielmehr neu aufgefrischt, wenn das Tiktak der Mahlmühlen oder das Kreischen der Sägen aus den Schneidemühlen an sein Ohr schlug. Höchstens bedauerte er, nicht an einem Mittwoch, dem Tage des großen arabischen Wollmarkts, nach Saïda gekommen zu sein. Seine Anlage zum tot admirari sollte indeß während des ganzen Ausfluges nicht unerprobt bleiben, und so wie man ihn am Anfange der Fahrt sah, erwies er sich gewiß auch noch am Ende derselben.

Zum Glück bieten die Umgebungen von Saïda hübsche Bilder, Landschaften die das Auge entzücken müssen, und reizende Aussichten, die einem Maler den Pinsel in die Hand drücken könnten. Auch hier prangen herrliche Weingelände und reiche Baumschulen und Gärten, worin die ganze algerische Flora vertreten ist. Wie überhaupt die drei Provinzen der französischen Colonie, zeigt auch die saïdische Landschaft überall den Charakter der Fruchtbarkeit. Eine halbe Million Hektar sind hier allein der Cultur der Alfa gewidmet. Der Erdboden [171] ist von bester Beschaffenheit und die Thalsperre des Oued-Méniarin versorgt ihn mit dem nöthigen Wasser. So liefert das Land reiche Ernten, neben denen auch ausgedehnte Brüche von gelbgeadertem Marmor eine gutbezahlte Ausbeute sichern.

Das veranlaßte Herrn Dardentor zu der auch von andern hellen Köpfen wiederholt erörterten Frage:

»Wie kommt es, daß Algerien sich trotz seiner natürlichen Hilfsquellen doch nicht selbst erhalten kann?

– Hier wachsen zu viele Beamte und zu wenig Colonisten, die von den ersteren erstickt werden, wie Nutzpflanzen durch überwuchernde Disteln!«

Der Spaziergang wurde bis auf zwei Kilometer nordwestlich von Saïda fortgesetzt. Hier, auf einer Berglehne, an deren Fuß der Méniarin gegen hundert Meter tiefer dahinplätschert, erhob sich einst die alte Stadt, freilich nur Ruinen der Festung des berühmten arabischen Häuptlings, den das schließliche Los aller Eroberer traf.

Zur Essenszeit kehrte die Gruppe Dardentor nach dem Hôtel zurück, und nach der Tafel verschwand jedermann bald in seinem Zimmer, um die letzten Vorbereitungen zur Abreise zu treffen.

Wenn für Jean Taconnat auch dieser Tag mit sich aufhebendem Nutzen und Verlust abschloß, konnte doch Marcel Lornans seine Activseite durch einen glücklichen Eintrag bereichern... hatte er doch Gelegenheit gefunden, sich mit Louise Elissane zu unterhalten, sich für ihre Bemühungen zu bedanken...

»Ach, Herr Lornans, hatte das junge Mädchen geantwortet, als ich Sie so leblos, kaum athmend da liegen sah, fürchtete ich, daß... Nein, diese Minuten werd' ich niemals vergessen!«

Offenbar bezeichneten diese Worte weit mehr, als der »gewaltige Schreck«, von dem Herr Dardentor gesprochen hatte.

[172]

12. Capitel

Zwölftes Capitel.
Worin die Karawane Saida verläßt und in Daya ankommt.

Am nächsten Tage, eine Stunde vor dem Aufbruche, wartete das Personal und das Material der Karawane am Bahnhofe auf das Eintreffen der Touristen. Der Anführer Derivas ertheilte die letzten Befehle. Der Araber Moktani sattelte sein Pferd. Drei offne Wagen und ein Proviantwagen, die auf dem Platze vor dem Bahnhofe standen und worauf die Kutscher schon Platz genommen hatten, waren fertig, mit ihren feurigen Gespannen im Galopp davonzufahren. Wiehernd bäumten sich ein Dutzend Pferde und Maulthiere, während reich geschirrte Kameele friedlich am Boden lagen. Fünf für die Dauer des Ausflugs angeworbne Eingeborne, die in ihren weißen Burnussen mit gekreuzten Armen in einem Winkel hockten, warteten nur auf das Signal des Anführers.

Mit der neun Personen zählenden Gruppe Dardentor sollte die Karawane aus sechzehn Theilnehmern bestehen. Andre sieben, von Oran gekommene Reisende – Herr Oriental inbegriffen – die seit zwei Tagen in Saïda weilten, hatten sich dieser, unter den besten Bedingungen organisierten Rundfahrt angeschlossen. Eine Dame befand sich unter jenen nicht. Frau und Fräulein Elissane, sowie Frau Désirandelle bildeten die einzigen Vertreterinnen des schöneren Geschlechts.

Clovis Dardentor und seine Gefährten und Gefährtinnen, denen Patrice schon vorausgegangen war, trafen zuerst auf dem Bahnhofe ein. Nach und nach erschienen die übrigen Touristen, meist Oraneser, von denen einige Frau Elissane kannten.

Das Fernrohr auf dem Rücken und die Reisetasche in der Hand, grüßte Herr Eustache Oriental die Ex-Passagiere des »Argeles«, die seinen Gruß erwiderten. Diesmal ging aber Herr Dardentor mit ausgestreckter Hand und lächelnd auf ihn zu.

»Sie sind auch dabei? fragte er.

– Jawohl, antwortete der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar.

[173] – Ich sehe auch mit Vergnügen, daß Sie Ihr Fernrohr nicht vergessen haben. Desto besser, denn es könnte der Fall eintreten, daß man das Auge, und zwar ein scharfes Auge aufthun müßte, wenn die Führer uns etwa in die Patsche geritten hätten.«

Verdrossen wendete Patrice das Gesicht ab, während der Perpignaneser und der Montélimaraner sich kräftig die Hände schüttelten.

Inzwischen befreite Marcel Lornans Frau und Fräulein Elissane von den kleinen Reiseeffecten, die sie in den Händen trugen. Herr Désirandelle wachte dar über, daß die verschiednen Gepäckstücke auf dem Lastwagen sorgsam untergebracht wurden, und Agathokles neckte tölpelhaft das Maulthier seiner Wahl, dessen lange Ohren sich unheilverheißend aufrichteten. Jean Taconnat war nachdenklich und grübelte über die Zukunft nach diesen vierzehn Tagen, mit denen die Reise durch die südoranischen Gebiete zu Ende ging.

Die Karawane wurde nun schnell zusammengestellt. Der erste Wagen mit weichen Sitzkissen und Vorhängen am Schutzdache nahm Frau Elissane nebst Tochter und Herrn Désirandelle nebst Gattin auf. Den zweiten und den dritten besetzten fünf Touristen, die diese bequemere Beförderungsart dem Schaukeln auf Reitthieren vorzogen.

Die beiden Pariser waren mit einem Satze auf ihren Pferden, als Reiter, für die eine Beherrschung der edlen Thiere kein Geheimniß war. Agathokles kletterte möglichst unbeholfen auf sein Maulthier.

»Du würdest besser thun, Dich in unsern Wagen zu setzen, wo Dein Vater Dir seinen Platz einräumen könnte!« rief ihm Herr Dardentor zu.

Herr Désirandelle zeigte sich diesem Platzwechsel nicht abgeneigt, weil sein Sohn dann zu Louise Elissane zu sitzen kam. Natürlich wollte Agathokles davon nichts hören, sondern bestand hartnäckig darauf, sein Thier zu reiten, das – nicht minder hartnäckig – sich vornahm, ihm gelegentlich einen übeln Streich zu spielen.

Derivas, der Leiter des Ganzen, saß bereits im Sattel und auch zwei der andern Touristen auf ihren Pferden, als sich Aller Blicke Clovis Dardentor zuwandten.

Der außerordentliche Mann hatte sich mit Hilfe seines Dieners eben den Zerdani um die Schultern geworfen. Das Fez oder der Turban fehlte freilich seiner mit weißer Reisemütze bedeckten Stirn, seine Gamaschen vertraten aber nothdürftig die Rolle arabischer Stiefeln, und unter seiner Hülle hatte er [174] entschieden – zur Genugthuung Patrice's – ein stolzes Aussehen: der Diener hoffte daraufhin, daß sich sein Herr später nur noch gewählter Worte bedienen und sich mit echt orientalischer Eleganz ausdrücken werde.

Dann setzte sich Herr Dardentor rittlings vor den Höcker des einen der knieend daliegenden Kameele und der Führer Moktani nahm auf dem Rücken des andern Platz. Hierauf erhoben sich die beiden Schiffe der Wüste ganz majestätisch, und mit graziöser Handbewegung begrüßte der Perpignaneser seine Reisegefährten.

»Anders thut er es niemals, sagte Frau Désirandelle.

– So lange ihm kein Unfall zustößt! murmelte das junge Mädchen.

– Was für ein Mann, raunte Jean Taconnat seinem Vetter zu, wer würde nicht die Ehre schätzen, sich seinen Sohn nennen zu dürfen!

– Und gleichzeitig ihn zum Vater zu haben!« setzte Marcel Lornans hinzu, dessen prächtiger Pleonasmus bei seinem Vetter ein lautes Lachen hervorrief.

Mit voller Würde hatte sich Patrice auf seinem Maulthiere zurechtgesetzt, und Derivas gab nun das Zeichen zum Aufbruch.

Die Karawane war in folgender Weise zusammengesetzt: An der Spitze auf seinem Pferde der Oberanführer Derivas, dann auf zwei Kameelen der Führer Moktani und Herr Dardentor, weiter die beiden Vettern und zwei andre Touristen zu Pferde, nebst Agathokles, der sehr unsicher auf dem Maulthiere saß, ferner hintereinander die drei Wagen, von denen einer auch Herrn Oriental beförderte, und endlich der Lastwagen mit dem Proviant, dem Gepäck, einigen Waffen und den Eingebornen. außer zweien von diesen, die eine berittene Nachhut bildeten.

Die Entfernung von Saïda nach Daya betrug nicht über hundert Kilometer. Auf sorgsam festgestelltem Wege dahin sollte sich in der Mitte ein Weiler vorfinden, wo man am Abend gegen acht Uhr einzutreffen und die Nacht zu verbringen gedachte. Am nächsten Tage sollte es weiter gehen und Daya gegen Abend erreicht werden. Eine Lieue für die Stunde gerechnet, verwandelte sich die Reise mehr zu einer Spazierfahrt durch die so verschieden gestaltete Landschaft.

Gleich hinter Saïda verließ die Karawane die Colonisationsländereien und trat auf das Gebiet von Béni-Méniarin über. In der Richtung nach Westen bot sich den Touristen hier ein großer Verkehrsweg, der sich bis Daya fortsetzt.

Der Himmel war mit Wolken bedeckt, die unter schwachem Nordostwind dahinzogen. Dadurch wurde auch die Luft zu einem angenehmen Grade abgekühlt. Die Sonne leuchtete nur soviel hernieder, um den Unterschied zwischen [175] Schatten und Licht sichtbar zu machen und dem Landschaftsbilde damit erhöhten Reiz zu verleihen. Die Fahrt ging nur im langsamen Trabe vor sich, denn die Straße steigt von der Höhenmarke bei neunhundert bis zu der bei vierzehnhundert Meter an.

Nach Zurücklegung weniger Kilometer ließ die Karawane die Ruinen der alten Stadt links liegen, zog durch den Wald von Doul-Thabet und wendete sich den Quellen des Oued-Hounet zu. Weiter ging es längs des Waldes von Djessra-Cheraga hin, der eine Fläche von einundzwanzigtausend Hektaren bedeckt.

Im Norden zeigten sich nun die ausgedehnten Alfaculturen nebst ihren Scheunen und den Anlagen mit hydraulischen Pressen zur Erzeugung der »Stipa tendrissima« – der Alfa der Araber. Diese, der Trockenheit wie der Hitze widerstehende Graminee dient als Futter für Pferde und Rinder, während ihre runden Blätter zur Herstellung von Matten und anderm Flechtwerk, zu Stricken, Tapeten, Fußbekleidungen und sehr festem Papier verwendet werden.

»Längs unsres Weges, bemerkte der Beamte gegen Herr Dardentor, werden wir auf ungeheure Flächen mit Alfa, auf ausgedehnte Waldungen und Berge treffen, die Eisenerze liefern, und Steinbrüche für Marmor und Baumaterial zu sehen bekommen.

– Wir werden also keine Ursache haben, uns zu beklagen, antwortete Clovis Dardentor.

– Wenigstens wenn sich uns malerische Aussichten bieten, fügte Marcel, der doch an etwas ganz andres dachte, hinzu.

– Giebt es in diesem Theile der Provinz viele Flüsse? fragte Jean Taconnat.

– Wenigstens Oueds, erklärte der Führer Moktani, davon aber mehr, als der Mensch Adern hat.

– Zu viele Wasseradern, im Plural, murmelte Jean Taconnat, doch nicht eine einzige, die mir etwas nützen könnte!«

Die Gegend, durch die der Zug ging, gehört zum Tell, ein Name, dem man dem nach dem Mittelmeere zu abfallenden Landestheil gegeben hat. Von der Natur am meisten von der Provinz Oran begünstigt, zeigt er größere Wärme als die gesammte Berberei. Immerhin ist die Temperatur hier, wie auf den Hochebnen mit ihren Weideflächen und Salzseen, noch erträglich, während weiterhin, in der Sahara, wo die Luft sich oft mit einem blindmachenden Staube beladet, Pflanzen- und Thierwelt von der brennenden afrikanischen Sonne vernichtet werden.


Weiter ging es längs des Waldes von Djeffra-Cheraga hin. (S. 176.)

[176]

Ist das Klima der Provinz Oran auch das wärmste von ganz Algerien, so ist es doch ebenfalls das gesündeste. Das verdankt es den häufigen Nordwestwinden. Der Theil des oranischen Tell, durch den die Karawane kommen sollte, ist auch weniger bergig als der Tell der Provinzen Algier und Constantine. Bei ihrer bessern Bewässerung eignen sich seine Ebnen mehr zum Anbau und der Boden ist von vorzüglicher Güte. So trifft man denn hier auf zahlreiche Culturen, vor allem auf Baumwollfelder, auf letztere wenigstens da, wo der Erdboden salzhaltig ist. und das ist bei dreimalhunderttausend Hektaren der Fall.

[177] Unter dem Laubdache der ungeheuern Wälder, die die Karawane durchzog, hatte sie übrigens von der im Mai schon manchmal recht drückenden Sonnenhitze kaum zu leiden. Doch welch verschiedenartige, mächtige, üppige Vegetation bot sich hier dem Auge dar! Welch köstliche Luft, der so viele duftende Pflanzen ihren Wohlgeruch beimengten! Da gab es Brustbeer-, Johannisbrod-, Erdbeer-, Mastixbäume und Zwergpalmen, Thymian-, Myrthen- und Lavendelgebüsche und ganze Dickichte der werthvollsten Eichenarten, wie Kork-, Spiegel- und Steineichen, ferner Lebensbäume, Cedern, Buchen, Eschen, wilde Oelbäume, Pistazien und Wachholderbäume, Citronenbäume, die in Algerien so gut gedeihenden Eukalypten und Tausende von Aleppopinien, ohne von vielen andern ätherischen Pflanzenfamilien zu reden.

Ganz entzückt und frohgelaunt, in der Seelenverfassung, die jedem Anfang einer Reise eigen zu sein pflegt, legten die Ausflügler die erste Theilstrecke ihrer Fahrt zurück. Die Vögel sangen, wo sie vorüberkamen, und Herr Dardentor behauptete, die algerische Eisenbahngesellschaft habe dieses Concert in liebenswürdiger Weise bestellt. Sein Mehari trug ihn mit der einer so gewichtigen Person zukommenden Haltung, und wenn er sich beim Traben des Wiederkäuers auch zuweilen an dessen Höcker stieß, behauptete er doch flottweg, ein so sanftes und gleichmäßiges Reitthier noch niemals gefunden zu haben.

»Das übertrifft doch jede Mähre beiweitem!« versicherte er.

Pferd – nicht Mähre! hätte Patrice gesagt, wenn er neben seinem Herren gewesen wäre.

»Wirklich, Herr Dardentor, fragte Louise Elissane, erscheint das Thier nicht zu hart?

– Nein, liebes Fräulein, höchstens könnte ich ihm zu hart erscheinen, wie so ein Marmorblock aus den Pyrenäen... was?«

Die Reiter hatten sich eben dem Wagen genähert und wechselten mit dessen Insassen einige Worte. Marcel Lornans und Jean Taconnat konnten dabei mit Frau Elissane und ihrer Tochter plaudern – zum Aerger der Désirandelle's, die stets ihren Agathokles, welcher mit seinem Maulthier zuweilen in Streit lag, im Auge behielten.

»Nimm Dich in Acht, daß Du nicht fällst! empfahl ihm seine Mutter, wenn das Thier gelegentlich einen schnellen Seitensprung machte.

– Wenn er fällt, wird er schon wieder in die Höhe kommen, meinte Herr Dardentor, Achtung, Agathokles, lass' Dich nicht absatteln!

[178] – Ich hätte es lieber gesehen, daß er mit in einem Wagen säße, sagte Herr Désirandelle.

– He da, wohin will er denn? rief plötzlich der Perpignaneser. Will er denn nach Saïda zurück?... He, Agathokles... Du bist ja auf falschem Wege!«

Trotz der Bemühung seines Reiters wollte aber das bockende und sich schüttelnde Maulthier keine Vernunft annehmen und machte starrsinnig Kehrt.

Man mußte einige Minuten anhalten, und Patrice wurde von seinem Herrn nachgeschickt, um das dumme Thier zurückzuführen.

»Wem gilt das »dumme Thier«, fragte Jean Taconnat halblaut, dem Reiter oder dem Maulesel?

– Allen beiden! murmelte Marcel Lornans.

– Meine Herren... meine Herren... etwas Nachsicht!« antwortete Herr Dardentor, der das Lachen freilich nur mühsam unterdrücken konnte.

Louise hatte jene Bemerkung aber auch gehört, und es ist nicht unmöglich, daß dabei ein Lächeln um ihre Lippen spielte.

Endlich legte sich die Unruhe der Frau Désirandelle. Patrice hatte Agathokles eingeholt und führte das widerspänstige Thier zurück.

»Meine Schuld war es nicht, erklärte der Schwachkopf, ich konnte ziehen, was ich wollte...

– Aus der Tinte ziehst Du Dich doch niemals!« versetzte Herr Dardentor, dessen weitschallende Stimme ein Volk beflügelter Sänger aus einem nahen Mastixgebüsch aufscheuchte.

Gegen zehn Uhr hatte die Karawane die Grenze überschritten, die den Béni-Méniarin vom Djafra-ben-Djafour scheidet. Die Passage eines Nebenarmes des Hounet, der die Oueds der nördlichen Gegend speist, ging ohne Schwierigkeit von statten. Dasselbe wiederholte sich einige Kilometer weiterhin beim Fénouan, dessen Quellen aus dem dichten Unterholz des Waldes von Chéraga hervortreten. Die Gespanne kamen dabei kaum bis zur Fessel ins Wasser.

Zwanzig Minuten vor der Zeit des höchsten Sonnenstandes wurde von Moktani das Zeichen zum Halten gegeben, und zwar an einer prächtigen Stelle, um am Saume eines Waldes, unter dem Schatten immergrüner, für die Sonnenstrahlen undurchdringlicher Eichen, am Rande des Oued-Fénouan mit seinem frischen klaren Wasser ein Frühstück einzunehmen.

[179] Die Reiter verließen ihre Pferde und Maulthiere, die sich bekanntlich nicht erst zur Erde zu legen pflegen.

Die beiden Meharis (Kameele) beugten die Knie und streckten die langen Köpfe auf dem Grase des Weges aus. Clovis Dardentor und der Führer gingen ans Land – ein Ausdruck, der hier ganz passend ist, da die Kameele ja »die Schiffe der Wüste« genannt werden.

Unter Ueberwachung der Eingebornen weideten die übrigen Thiere in der nächsten Umgebung. Ihre Mahlzeit aus Alfa, Diß und Chieh stand neben einem Gehölz von Terpentinsichten, wahren Musterexemplaren der Tellwälder, schon fertig.

Vom Lastwagen holte man nun den von Sada mitgebrachten Proviant, der aus verschiedenen Conserven, kaltem Fleisch, frischem Brod und aus appetitlichen Früchten in laubgefütterten Körben, wie aus Bananen, Goyaven, Feigen, japanischen-Mispeln, Birnen, Chermollas und Datteln bestand. Nach der Fahrt in freier Luft fehlte es auch niemand an gehörigem Hunger.

»Diesmal, bemerkte Jean Taconnat, ist kein Kapitän Bugarach da, der das Steuer zur Frühstücksstunde so umlegen könnte, daß einem der Appetit verginge.

– Wie, das hätte sich der Kapitän des »Argeles« unterstanden? fragte Herr Désirandelle.

– Ja wohl, mein Bester, das hat er gewagt, rief Herr Dardentor, und zwar im Interesse der Gesellschaftsactionäre. Erst die Dividende, die Passagiere können zusehen, wie sie dabei wegkommen! Desto besser für die, die einen ausgepichten Magen haben und sich um so ein Bischen Schwanken den Teufel kümmern!«

Patrice hatte dreimal die Nase gerümpft.

»Hier aber, fuhr Herr Dardentor fort, bewegt sich der Fußboden nicht und wir brauchen keine Roll- und Stampftafel!«

Patrice ließ die Ohren hängen.

Das Essen wurde auf dem Grase aufgetragen. Da fehlte es weder an Schüsseln, Tellern und Gläsern, noch an Messern, Gabeln und Löffeln – alles von erfreulichster Sauberkeit.

Selbstverständlich verzehrten die Touristen ihre Mahlzeit gemeinsam, was ein näheres Bekanntwerden der Theilnehmer begünstigte. Jeder setzte sich nach Belieben – Marcel Lornans aus Discretion nicht zu nahe neben Fräulein [180] Elissane, doch freilich auch nicht zu weit von ihr, neben seinen Retter, den er anbetete, nachdem dieser ihn »den züngelnden Flammen eines brennenden Waggons« entrissen hatte!... ein prächtiger Satz, den Herr Dardentor gerne wiederholte und der jedesmal Patrice's Beifall fand.

An der ländlichen Tafel gab es heute kein »gutes« und kein »schlechtes Ende«. Die Gerichte wurden nicht von einer einzigen Stelle aus herumgereicht. Herr Eustache Oriental hatte also keine Ursache, nach dem besten Platze zu suchen, für welche Neigung er an Bord des Dampfers so überzeugende Beweise geliefert hatte. Immerhin hielt er sich etwas abgesondert, seinem scharfen Blicke entgingen die besten Stücke dennoch nicht. Jean Taconnat gelang es zwar, ihm mit der Gewandtheit eines Taschenspielers einige solche vor der Nase wegzufischen, Herr Oriental verzog dazu das Gesicht aber auch in verdrießlichster Weise.

Die erste Mahlzeit unter freiem Himmel verlief sehr heiter. Von ansteckender Lustigkeit wurden ja stets alle befallen, wenn unser Perpignaneser, der sich wie ein Bergbach freien Lauf ließ, den Vorsitz führte. Bald war eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Man sprach von der Reise, von den Ueberraschungen, an denen es dabei nicht fehlen würde, und von den Zufälligkeiten einer Fahrt durch diese interessanten Landestheile. Dazwischen stellte Frau Elissane auch die Frage, ob man hier nichts von Raubthieren zu fürchten habe.

»Von Raubthieren? antwortete Clovis Dardentor. Pah, sind wir denn nicht zahlreich genug? Liegen auf dem Lastwagen nicht hinreichende Gewehre, Revolver und Patronen dazu? Wissen etwa meine jungen Freunde Jean Taconnat und Marcel Lornans, die doch schon ihr Jahr abgedient haben, nicht mit Schießwaffen umzugehen? – Und giebt es unter unsern Gefährten keine, die nicht schon Schützenpreise eingeheimst hätten? Ich will mich nicht rühmen, doch ich würde auf vierhundert Meter keine Mühe haben, eine conische oder andre Kugel durch den Deckel meines Ohrenfutterals zu jagen!

– Hm! brummte Patrice, dem diese Bezeichnung für einen Hut ganz und gar nicht gefiel.

– Meine Damen, ließ sich darauf der Beamte Derivas vernehmen, bezüglich etwaiger Raubthiere können Sie ganz ruhig sein! Da wir nur am Tage reisen, ist ein Angriff durch solche überhaupt nicht zu befürchten. Nur in der Nacht verlassen die Löwen, die Panther, die Guepards und Hyänen ihre Höhlen. Des Abends wird sich unsre Karawane aber stets im Schutze eines europäischen oder arabischen Dorfes befinden.

[181] – Papperlapapp! fuhr Clovis Dardentor fort, mich kümmern Eure Panther so viel wie ein krepierter Kater, und Eure Löwen, setzte er hinzu, während er mit dem ausgestreckten Arme scheinbar auf einen solchen zielte... Pang!... Pang! Unter das Wurstmesser mit dem Burschen!«

Patrice beeilte sich schon, eine Schüssel herbeizuholen, die niemand verlangt hatte.

Der Bahnbeamte hatte übrigens ganz recht: im Laufe des Tages war ein Angriff durch wilde Thiere kaum zu erwarten. Um die andern Bewohner dieser Wälder, die Schakale, geschwänzten und ungeschwänzten Affen, Füchse, um die Mousions, Gazellen und Strauße brauchte man sich keine Sorge zu machen, nicht einmal um Skorpione und manchmal giftige Nattern, die im Tell nur sehr vereinzelt vorkommen.

Es wäre überflüssig, hervorzuheben, daß die Mahlzeit mit guten algerischen Weinen, vorzüglich mit Weißem von Mascara, begossen wurde, vom Kaffee und den Likören zum Nachtisch ganz zu schweigen.

Um halb zwei Uhr wurde der Marsch wieder in der früheren Ordnung angetreten. Der Weg führte jetzt tiefer durch den Wald von Tendfeld und man verlor die weiten Alfaculturen aus dem Gesicht. Zur Rechten zeigten sich die unter dem Namen Eisenberge bekannten Höhen, aus denen vorzügliches Erz gewonnen wird. Unsern davon giebt es noch Schächte römischen Ursprungs, die schon im Alterthum zur Förderung desselben dienten.

Auf allen die Waldzone der Provinz durchschneidenden Pfaden begegnet man Arbeitern, die in den Bergwerken oder den Alfabereitungsanstalten beschäftigt sind. Die meisten davon zeigen maurischen Typus, doch untermischt mit Lybiern, Berbern, Arabern, Türken und andern Orientalen, und zwar ebenso unter denen, die in den Tiefebnen, wie unter denen, die in der Bergregion, auf den Hochebnen und am Rande der Wüste wohnen. Sie kamen hier truppweise vorüber und von ihnen war kein – von Jean Taconnat geträumter – Ueberfall zu befürchten.

Abends gegen sieben Uhr erreichten die Touristen den Kreuzungspunkt der Landstraße mit dem Fahrwege der Alfazüchter, der, von der Straße von Sidi-bel-Abbès nach Daya abzweigend, bis nach den entlegensten Gebietstheilen der francoalgerischen Gesellschaft fortgeführt ist.

Hier lag auch ein Weiler, wo die Karawane, ihrem Reiseplane entsprechend, die Nacht zubringen sollte. Drei recht wohlerhaltene Häuser waren zu ihrer Aufnahme [182] eingerichtet. Nach dem Abendessen suchte jeder sein Lager auf und auf die erste Wegstrecke von zwölf Lieues folgten nun zehn Stunden ungestörter Ruhe.

Am folgenden Morgen setzte sich die Karawane wieder in Bewegung und zog mit der nöthigen Schnelligkeit vorwärts, um im Laufe des Tages die zweite Theilstrecke bis Daya zurückzulegen.

Vor dem Aufbruche aber hatte Herr Dardentor mit Herrn und Frau Désirandelle, die er etwas bei Seite führte, folgendes Gespräch:

»Sagt mir nur, liebe Freunde, wie steht das mit Eurem Sohne... und dem Fräulein Louise?... Die Geschichte scheint mir nicht vom Flecke zu rücken. Zum Teufel, er muß einmal zum Sturme übergehen...

– Ja, was denken Sie denn, Herr Dardentor, antwortete Herr Désirandelle, er ist so discreter Natur... hält sich in der Reserve...

– Schöne Reserve! fiel der Perpignaneser das Wort aufgreifend ein. Bleibt mir weg... er ist ja noch nicht einmal in der Landwehr! Er sollte doch immer neben Eurem Wagen hertrotten, der Tropf, sollte sich bei den Halteplätzen um seine Verlobte bekümmern, freundlich mit ihr schwatzen und ihr über ihre gute Haltung und ihr hübsches Aussehen ein paar Schmeicheleien sagen, mit einem Wort, den ganzen Rosenkranz von Nichtsen ableiern, den man unter solchen Umständen einem jungen Mädchen vorbetet. Nein, er thut aber den Schnabel nicht auf, dieser Satan von Agathokles!

– Herr Dardentor, begann da Frau Désirandelle, wollen Sie, daß ich Ihnen etwas sage... alles, was ich auf dem Herzen habe?

– Schießen Sie los, geehrte Frau!

– Nun, es war unrecht von Ihnen, die beiden Pariser mitzubringen!

– Jean und Marcel? erwiderte der Perpignaneser. Erstens hab' ich sie nicht mitgebracht... sie sind ganz allein gekommen! Daran konnte sie doch niemand hindern...

– Desto schlimmer, denn das ist sehr ärgerlich!

– Ja, warum denn?

– Weil sich der eine mit Louise mehr zu schaffen macht, als recht und billig ist. Frau Elissane ist sein Benehmen auch schon aufgefallen.

– Welchen meinen Sie denn?

– Nun. den Herrn Lornans... den ich nicht ausstehen kann.

– Ich auch nicht, stimmte Herr Désirandelle ein.

[183] – Wie, rief Dardentor, meinen Freund Marcel? Ihn, den ich den züngelnden Flammen entrissen habe...«

Er verschluckte aber diesmal einen Theil des schönen Satzes.

»Ich bitt' Euch, liebe Freunde, fuhr er fort, da seid Ihr wohl auf dem Holzwege! Marcel Lornans beschäftigt sich mit unsrer lieben Louise nicht mehr, als ein Flußpferd mit einem Veilchensträußchen!... Nach Beendigung unsres Ausflugs kehren Jean Taconnat und er nach Oran zurück, um bei den Siebenten Jägern einzutreten. Geht mir, das habt Ihr geträumt!... Wenn Marcel nicht gekommen wäre, hätt' ich auch gar nicht Gelegenheit gehabt, ihn...«

Der Satz endigte mit den vier Worten »brennenden Waggons zu entreißen«.

In der That war der würdige Mann bezüglich jener Andeutungen noch recht naïv, und doch, wenn »es mit Agathokles nicht vorwärts ging«, so war gar nicht zu leugnen, daß »es sich mit Marcel machte«.

Gegen neun Uhr gelangte die Karawane in den ausgedehntesten Wald der ganzen Provinz, in den von Zegla, den die Landstraße schief durchschneidet, indem sie sich nach Daya zu hinabsenkt. Jener Wald umfaßt übrigens achtundsechzigtausend Hektar.

Zu Mittag war die nächste Theilstrecke überwunden, und wie am Vortage frühstückte man im kühlen Baumschatten am Ufer des Oued-Sefioum.

Herr Dardentor befand sich dabei in der Gemüthsverfassung, daß er gar nicht darauf achtete, ob Marcel Lornans sich gegen Fräulein Elissane besonders aufmerksam erwies oder nicht.

Während des Frühstücks bemerkte Jean Taconnat, daß Herr Oriental seiner Reisetasche verschiedne Süßigkeiten entnahm, die er, ohne jemand davon anzubieten, mit dem Behagen eines echten Leckermauls verzehrte. Wie immer, hatte er es auch jetzt auf die besten Stücke der Mahlzeit abgesehen.

»Diese zu entdecken, braucht er sein Fernrohr nicht,« sagte Jean Taconnat zu Herrn Dardentor.

Am Nachmittage gegen drei Uhr machten Wagen, Pferde, Kameele und Maulthiere vor den Berberruinen von Taourira Halt, für die zwei Touristen, mehr Archäologen als die andern, besondres Interesse bekundeten.

Auf dem weitern Wege nach Südwesten trat die Karawane auf das Gebiet von Djafra-Thouama und Mehamid über, das vom Oued-Taoulita bewässert wird. Hier bedurfte es nicht einmal des Ausspannens der Wagen, um diesen mittelst einer gangbaren Furt zu überschreiten.


.Es war unrecht von Ihnen, die beiden Pariser mitzubringen!« (S. 183.)

Der Führer zeigte übrigens viele Intelligenz – jene Intelligenz, die ein reichliches Trinkgeld erwartet, wenn die Reise zur allgemeinen Zufriedenheit abge [184] laufen ist.

Gegen acht Uhr abends endlich tauchte am Ende eines kleinen gleichnamigen Waldes im Dämmerlichte der Flecken Daya auf.

Ein ziemlich gutes Gasthaus empfing die ganze, etwas ermüdete Gesellschaft.

Vor dem Zubettgehen sagte einer der Pariser zum andern:

[185] »Na, Marcel, wenn wir nun von Raubthieren überfallen würden, wenn wir das Glück hätten, Herrn Dardentor aus den Klauen eines Löwen oder eines Panthers zu retten, sollte das nicht zählen?

– Gewiß. antwortete Marcel schon halb im Einschlafen. Ich sage Dir aber im voraus, daß Er es nicht ist. den ich bei einem Angriffe dieser Art zu retten suchen würde...

– Sapperment... das ist stark!« stieß Jean Taconnat hervor.

Als er sich dann niedergelegt hatte und ein gewisses Brüllen in der Umgebung des Fleckens vernahm, rief er:

»Still geschwiegen, dummes Viehzeug, das den ganzen schönen Tag verschläft!«

Und ehe er die Augen schloß. setzte er noch hinzu:

»Es steht also im Schicksalsbuch geschrieben, daß ich nicht der Sohn... nicht einmal der Enkel des vortrefflichen Mannes werden soll!«

13. Capitel

Dreizehntes Capitel.
Worin Jean Taconnat's Dankbarkeit und Enttäuschung sich zu gleichen Theilen mischen.

Daya, das alte Sidi-bel-Kheradji der Araber – jetzt eine von einer Mauer mit Schießscharten und von vier Bastionen vertheidigte Stadt – beherrscht hier den Zugang nach den Hochebnen Orans.

Um den Touristen von der Anstrengung der beiden vorhergegangenen Tage ausreichende Erholung zu gönnen, war an diesem Platze eine Rast von vierundzwanzig Stunden in Aussicht genommen. Die Karawane sollte also erst am übernächsten Tage weiterziehen.

Den Aufenthalt hier hätte man sogar verlängern können, denn das Klima dieses Fleckens, der vierzehnhundert Meter hoch am Abhange eines Berges mit Pinien und Eichenbeständen liegt, ist als ganz besonders heilsam bekannt, weshalb es viele Europäer gern aufsuchen.

[186] In der sechzehn- bis siebzehntausend fast ausschließlich eingeborne Einwohner zählenden Stadt findet man Franzosen nur als Officiere und Soldaten des Militärpostens.

Ueber den Aufenthalt der Ausflügler in Daya brauchen wir uns nicht eingehender zu verbreiten. Die Damen lustwandelten nur durch das Innre der Stadt. Die Herren wagten sich etwas weiter bis zum Abhange der Berge und in die Wälder hinaus. Einige stiegen auch hinunter nach der Ebne und bis zu den sumpfigen Gehölzen, die nach der Stadt benannt werden und in denen Betoums, Pistazien und wilde Brustbeerbäume vorkommen.

Immer der Bewundrung voll, war es Herr Dardentor, der seine Reisegenossen den ganzen Tag an sich zu fesseln wußte. Marcel Lornans wäre vielleicht lieber bei Frau und Fräulein Elissane geblieben, selbst wenn er die Désirandelle's dabei hätte mit in den Kauf nehmen müssen. Der Retter und der Gerettete durften sich indeß nicht trennen. Jean Taconnat war nothwendigerweise neben dem Perpignaneser, von dem er keinen Fuß breit abließ.

Ein Einziger betheiligte sich nicht an dem Ausfluge, und das war Agathokles, Dank dem Zureden Clovis Dardentor's, der dessen Eltern noch einmal ins Gebet genommen hatte. Seiner Ansicht nach mußte ihr Sohn bei Louise Elissane zurückbleiben, da die Damen die Herren nicht begleiteten. Eine freimüthige Erklärung würde die Verhältnisse der beiden Verlobten gleich aufhellen...

Der Augenblick zu einer solchen gegenseitigen Aussprache sei gekommen u. s. w. Kurz, Agathokles blieb auf ergangenen Befehl zurück.

Ob es zu einer Erklärung gekommen war, wußte am Abend noch niemand; doch als Herr Dardentor da Louise fragte, ob sie gut ausgeruht habe, um am nächsten Tage wieder weiter fahren zu können, antwortete sie:

»O, von der ersten Stunde an, Herr Dardentor! Ihr Gesicht verrieth dabei aber etwas, wie schreckliche Langeweile.

– Agathokles hat Ihnen doch wohl den ganzen Tag über Gesellschaft geleistet, mein liebes Fräulein?... Da haben Sie zwanglos plaudern können... Das verdanken Sie mir...

– Ah, also Ihnen, Herr Dardentor?

– Ja... ich hatte den vortrefflichen Gedanken und zweifle nicht, daß Sie sich darüber gefreut haben...

– O, ich bitte Sie, Herr Dardentor!«

[187] Dieses »Ah« und dieses »O« sagten sehr viel... so viel, daß ein zweistündiges Gespräch auch nicht mehr an den Tag gebracht hätte. Unser Perpignaneser begnügte sich damit aber nicht, er setzte Louise weiter zu und entwand ihr schließlich das Geständniß, daß sie Agathokles nicht leiden könne.

»Zum Teufel, murmelte er im Fortgehen, das macht sich also nicht von allein! Bah, das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen!... So ein Mädchenherz ist doch unergründlich, und wie recht that ich, den Kopf nie in eine solche Schlinge zu stecken!«

So dachte Dardentor, es kam ihm dabei aber gar nicht in den Sinn, daß Marcel Lornans dem jungen Désirandelle ein Unrecht zugefügt haben könne. Seiner Meinung nach genügte die auf der Hand liegende Unbedeutendheit, die von ihm selbst nicht erkannte Beschränktheit ihres Zukünftigen, um die Mißachtung Louise Elissane's zu erklären.

Am folgenden Morgen um sieben Uhr wurde Daya wieder verlassen. Menschen und Thiere... alle waren frisch und marschbereit. Das Wetter gestaltete sich sehr günstig, wenn beim Morgengrauen auch Dunstmassen am Himmel standen, da diese sich doch bald auflösen mußten. Regen war nicht in Aussicht. Ueber der Provinz Oran condensieren sich die Wolken so selten, daß nach zwanzigjähriger Beobachtung die mittlere jährliche Regenhöhe noch keinen Meter erreicht – um die Hälfte weniger als in den andern Provinzen Algeriens. Wenn auch nicht vom Himmel, so kommt hier, Dank den vielfachen Verzweigungen der Oueds, das Wasser doch aus der Erde.

Die Entfernung zwischen Daya und Sebdou beträgt etwa vierundsiebzig Kilometer, wenn man der Fahrstraße folgt, die von Ras-el-Ma über El-Gor nach Sebdou führt. Damit macht man von Daya nach Ras-el-Ma freilich einen Umweg von fünf Lieues, doch ist dieser vorzuziehen, statt in grader Linie durch die Alfaanpflanzungen des Westens und durch die Felder der Eingebornen zu fahren. Das hügelige Land hier bietet den Reisenden nämlich nicht den erquickenden Schatten der an den Süden grenzenden Waldungen.

Von Daya aus fällt die Straße nach Sebdou zu. Bei frühzeitigem Aufbruch und Einhaltung einer etwas schnelleren Gangart der Zugthiere rechnete die Karawane darauf, El-Gor am Abend zu erreichen. Das war freilich eine tüchtige Strecke, auf der nur einmal gefrühstückt werden sollte und über die sich die Meharis, die Pferde und die Maulthiere vielleicht zu beklagen gehabt hätten, diese thaten es aber jedenfalls nicht.

[188] So ging es in gewohnter Ordnung fort durch eine Gegend mit sehr vielen Quellbächen, dem Am-Saba, Am-Bahiri, Am-Sassa und andern, lauter Zuflüssen des Oued-Messoulen, und ferner mit Ruinen der Berber, Römer und mit arabischen Marabuts. In den beiden ersten Stunden legten die Touristen die zwanzig Kilometer bis Ras-el-Ma zurück. Das ist eine Station einer in Bau begriffnen Bahnlinie, die Sidi-el-Abbès mit der Gegend der Hochebnen verbinden soll, und gleichzeitig der südlichste Punkt der ganzen Rundreise.

Jetzt galt es nur, dem langen Bogen nachzugehen, der sich von Ras-el-Ma bis El-Gor hinzieht. Letzteres ist nicht mit einer gleichnamigen Station der genannten Eisenbahn zu verwechseln.

Ein kurzer Aufenthalt an diesem Orte, wo zur Zeit die Arbeiter am Bau der Bahn beschäftigt waren, die von der Station Magenta am linken Ufer des Oued-Hacaïba verläuft und von neunhundertfünfundfünfzig bis elfhundertvierzehn Meter ansteigt.

Erst drang man darauf in einen kleinen Wald von vier Hektaren, den Wald des Hacaïba ein, den dieser Oued vom Walde von Daya scheidet und dessen Wasser durch eine Thalsperre stromaufwärts von Magenta angesammelt wird.

Halb zwölf Uhr wurde am jenseitigen Saume des Waldes Halt gemacht.

»Meine Herren, begann der Beamte Derivas nach einem Zwiegespräch mit dem Führer Moktani, ich schlage Ihnen vor, schon an dieser Stelle zu frühstücken.

– Ein Vorschlag, der immer gern angenommen wird, wenn man vor Hunger bald umkommt! ließ sich Jean Taconnat vernehmen.

– Und wir sterben vor Hunger! setzte Dardentor dazu. Ich fühle mich wie ein ausgeblasnes Ei!

– Da ist auch ein Bergbach mit klarem, frischem Wasser, bemerkte Marcel Lornans, und wenn der Platz hier den Damen genehm ist...

– Der Vorschlag Moktani's, fuhr Herr Derivas fort, verdient umsomehr angenommen zu werden, als es bis zum Walde von Ourgla, das heißt auf eine Strecke von zwölf bis fünfzehn Kilometern durch die Alfafelder, an jedem Schatten fehlen wird.

– Also abgemacht, erklärte Dardentor unter Zustimmung der Uebrigen. Die Damen brauchen aber vor dem Endchen Weg im vollen Sonnenschein nicht zu erschrecken; sie werden in ihrem Wagen Schutz finden. Was uns angeht, [189] so brauchen wir dem Tagesgestirn nur straff ins Gesicht zu sehen, da senkt es schon die Augen...

– Die schärfer sind als die des Adlers!« schloß Jean Taconnat.

Nun ging's, wie am Vortage, zum Frühstück aus dem Proviant des Lastwagens, der in Daya zum Theil erneuert worden war und nun bis Sebdou reichen mußte.

Zwischen den verschiednen Theilnehmern der Karawane war es schon zu größerer Vertraulichkeit gekommen, mit Ausnahme des Herrn Eustache Oriental, der noch immer für sich blieb. Sonst konnte man sich über den Verlauf des Ausflugs nur freuen und die Bahngesellschaft loben, die zur vollen Befriedigung ihrer Kundschaft für alles gesorgt hatte.

Marcel Lornans that sich durch seine Gefälligkeit hervor. Ganz instinctiv war Herr Dardentor stolz auf ihn, wie es ein Vater auf seinen Sohn ist. Er suchte ihn sogar in noch besseres Licht zu setzen und rief aufrichtig:

»Nicht wahr, meine Damen, ich habe klug daran gethan, diesen Marcel Lornans den...

– Züngelnden Flammen eines brennenden Waggons zu entreißen! konnte Jean Taconnat sich nicht enthalten, den Satz zu vollenden.

– Ganz recht!... Ganz recht! stimmte Dardentor ein. Der Satz mit den volltönenden, stolzen Worten rührt aber von mir her. Ist er nach Deinem Geschmack, Patrice?

– Er klingt wirklich gut, antwortete der Diener lächelnd, und wenn sich der Herr in dieser akademischen Weise ausdrückt...

– Wohlan, meine Herren, fiel der Perpignaneser das Glas erhebend ein, auf die Gesundheit der Damen... und auf die unsrige auch! Vergessen wir nicht, daß hier das Land der Béni-Immerpumper ist!

– Nun ja, es konnte ja nicht lange dauern!« murmelte Patrice, den Kopf senkend.

Wir brauchen nicht zu erwähnen, daß Herr und Frau Désirandelle Marcel Lornans unausstehlich, faslig, fad und geziert fanden und sich vornahmen, Herrn Dardentor über ihn den Staar zu stechen, was freilich bei den Anschauungen des redefertigen Mannes kein leichtes Ding sein konnte.

Halb ein Uhr wurden Körbe, Flaschen und Geschirr wieder auf den Lastwagen gepackt und alles machte sich zum Aufbruch fertig. Da, im letzten Augenblicke, fiel es auf, daß Herr Eustache Oriental nicht da war.

[190] »Ich sehe Herrn Oriental nicht mehr,« sagte der Beamte.

Niemand bemerkte den Mann, obgleich er mit gewohnter Pünktlichkeit und Eßlust am Mahle theilgenommen hatte.

Was war aus ihm geworden?

»Herr Oriental! rief Clovis Dardentor mit seiner mächtigen Stimme. Wo ist er denn hin, der Sterngucker mit seinem Taschenteleskop?... He! Herr Oriental!«

Keine Antwort.

»Wir können den Herrn aber doch nicht im Stich lassen«, sagte Frau Elissane.

Natürlich ging das nicht an. Mehrere suchten also nach ihm, und bald zeigte sich der Astronom, sein Fernrohr nach Nordwesten gerichtet, am Waldessaum.

»Wir wollen ihn nicht stören, ermahnte Herr Dardentor, da er eben den Horizont betrachtet. Wissen Sie denn, daß dieser Sonderling uns gegebenen Falls große Dienste leisten kann? Nur dadurch, daß er die Sonnenhöhe abliest, würde er uns, wenn unser Führer sich verirrte, wieder auf den richtigen Weg...

– Nach einer Speisekammer bringen, fiel Jean Taconnat ein.

– Ganz recht!«

Der Theil des Gebiets von Ouled-Balagh, durch den die Ausflügler auf dem Wege nach El-Gor kamen, enthält sehr ausgedehnte Alfaculturen. Der von unzähligen Gramineen, die über Sehweite hinausreichen, eingefaßte Weg bot kaum den Wagen genügenden Platz. Es mußte sich alles im Gänsemarsch vorwärts bewegen.

Eine zitternd heiße Luft lag auf dem weit offnen Lande. Die Wagen mußten mit den Vorhängen geschlossen werden. Wenn Marcel Lornans jemals das Strahlengestirn gelästert hatte, so war das heute der Fall, denn die geschlossnen Wagen verhüllten ihm ja das liebliche Gesicht Louise Elissane's. Clovis Dardentor, jetzt zwischen den beiden Höckern seines Mehari zurecht gesetzt und »beduinend wie ein echter Sohn Mohammeds«, hatte zum großen Schaden seiner Schweißdrüsen die Augen der Sonne dem Anscheine nach nicht zum Niederschlagen bringen können, und während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, bedauerte er vielleicht, keine arabische Tabourka aufzuhaben, die ihn gegen die brennenden Strahlen geschützt hätte.

»Alle Teufel, rief er, dieser wandelnde Ofen, der von einem Ende des Horizonts bis zum andern hinkriecht, ist aber auch bis zur Weißgluth erhitzt. Der versengt Einem ja ganz das Oberstübchen!


[191]
Man frühstückte aus dem Proviant des Lastwagens. (S. 190.)

– Den Kopf... wenn ich bitten darf!« verbesserte ihn Patrice.

Gegen Nordwesten erhoben sich die bewaldeten Höhen von Ourgla, während im Süden der mächtige Bergstock der Hochebnen aufstieg.

Um drei Uhr erreichte man den Wald, wo die Karawane unter dem undurchdringlichen Dache immergrüner Eichen eine von frischen und belebenden Düften gesättigte Luft wiederfand.

Der Wald von Ourgla ist weit und breit einer der größten, denn er bedeckt nicht weniger als fünfundsiebzigtausend Hektar Boden.


»Ein Affe wäre nicht heruntergefallen...« (S. 194.)

Die Landstraße durchschneidet ihn auf eine Strecke von elf bis zwölf Kilometern. Breit ausgefahren durch [192] die Lastwagen, die die Regierung zur Zeit des Holzschlages hierher schickt, erlaubte sie den Touristen, sich nach Belieben zu gruppieren.

Die Vorhänge der Wagen wurden wieder aufgezogen und die Reiter trabten heran. Da flogen so manche Scherzworte hin und her, und Dardentor wiederholte immer, die Lobsprüche, die ihm niemand – außer den mürrischen Désirandelle's – vorenthielt, einheimsend:

[193] »Na, liebe Freunde, wer ist denn der brave Mann, der Euch diese köstliche Reise angerathen hat?... Sind Sie zufrieden, Frau Elissane, und Sie liebes Fräulein Louise?... Und Sie zögerten noch, Ihre Wohnung in der Alten Schloßstraße einmal zu verlassen! Sagen Sie mir, ist dieser prächtige Wald nicht schöner, als die Straßen von Oran? Könnte der Boulevard Oudinot oder die Létang-Allee sich gegen ihn aufspielen?«

Nein, das konnten sie nicht, umsoweniger, als jetzt ein Haufen kleiner Affen, von Baum zu Baum, von Zweig zu Zweig springend, schreiend und nach Herzenslust Grimassen schneidend, der Karawane das Geleit gab. Um seine Geschicklichkeit zu zeigen – und er war geschickt, von einiger Aufschneiderei vielleicht abgesehen – kam Herrn Dardentor der Einfall, eines der gelenkigen Thiere herunter zu schießen. Da ihm das Andre gewiß nachgemacht hätten, wäre wohl eine Abschlachtung der ganzen Affenbande daraus geworden. Die Damen erhoben jedoch dagegen Einspruch, und wer hätte dem Fräulein Louise Elissane widerstehen können, wenn sie für diese hübschen Master der algerischen Fauna um Gnade bat?

»Und nebenbei bemerkt, Herr Dardentor, sagte Jean Taconnat, der sich in den Steigbügeln bis zum Ohr desselben erhob, wenn Sie nach einem Affen zielen, könnten Sie Agathokles treffen!

– Ei, ei, Herr Jean, antwortete der Perpignaneser, wahrhaftig, Sie thun dem armen Jungen Unrecht!... Das ist nicht edelmüthig!«

Und als er sich nach Désirandelle Sohn umsah, den sein bockendes Maulthier eben um vier Schritt nach rückwärts abgeworfen hatte, ohne daß der Reiter dabei besondern Schaden nahm, setzte er hinzu:

»Uebrigens wäre ein Affe nicht heruntergefallen...

– Richtig, erwiderte Jean, und ich bitte alle Vierhänder wegen meines Vergleichs um Verzeihung!«

Wenn El-Gor noch vor der Nacht erreicht werden sollte, galt es, in den letzten Nachmittagsstunden tüchtig auszuschreiten.

Die Thiere wurden also in Trab gesetzt, was natürlich manche Stöße zur Folge hatte. War die Straße auch für Alfabauern und Holzfäller fahrbar, so ließ sie für eine Karawane von Lustreisenden doch viel zu wünschen übrig. Doch trotz des Schaukelns der Wagen und der Fehltritte der Reitthiere auf dem durch ausgefahrene Gleise und hervorstehende Wurzeln unebnen Wege wurde keine Klage hörbar.

[194] Die Damen vorzüglich hatten es eilig, in El-Gor, das heißt an einer Stelle anzukommen, wo sie in Sicherheit wären. Der Gedanke, nach Sonnenuntergang hier durch den Wald zu fahren, hatte für sie gar nichts Verlockendes. Ja, einer Gesellschaft von Affen und einer Heerde von Gazellen oder Antilopen zu begegnen, das war ja ganz angenehm. Jetzt vernahm man in der Ferne aber zuweilen ein verdächtiges Gebrüll, und wenn die Höhlen erst ihre Raubthiere in der Finsterniß ausgesendet haben...

»Meine Damen, begann Clovis Dardentor, erschrecken Sie nicht über etwas, worüber nicht zu erschrecken ist. Würden wir mitten im Walde von der Dunkelheit überrascht, nun ja, das wäre fatal!... Dann richtete ich Ihnen aber einen Lagerplatz inmitten der Wagen ein und wir schliefen einmal unter freiem Himmel. Ich bin überzeugt, daß Sie sich nicht fürchten würden, Fräulein Louise?...

– So lange Sie in der Nähe sind... nein, Herr Dardentor.

– Da hören Sie's... mit Herrn Dardentor!... Aha, meine Damen! Das liebe Kind hat Vertrauen zu mir... und mit Recht!

– So gutes Zutrauen man zu Ihrem Werthe auch haben mag, antwortete Frau Désirandelle, würd' ich es doch vorziehen, ihn nicht auf die Probe gestellt zu sehen!«

Die Mutter des Agathokles sprach diese Worte in sehr trocknem Tone, der den vollen Beifall ihres Gatten fand.

»Haben Sie keine Angst, meine Damen, sagte jetzt auch Marcel Lornans. Im gegebnen Fall kann Herr Dardentor auf uns alle rechnen, und wir würden erst das eigne Leben dransetzen, ehe...

– Schöne Aussichten, meinte Herr Désirandelle, wenn wir nachher auch das unsre verlieren sollen!

– Doch völlig logisch, alter Freund, erwiderte Clovis Dardentor. Uebrigens wüßt' ich nicht, welche Gefahr...

– Die Gefahr, von einer Bande Uebelthäter angefallen zu werden, sagte Frau Désirandelle.

– Ich glaube nicht, daß in dieser Hinsicht etwas zu besorgen ist, fiel der Beamte beruhigend ein.

– Ja, woher wissen Sie das? fuhr die Dame fort, die sich nicht ergeben wollte. Dann kommen auch noch die Raubthiere in Frage, die in der Nacht umherschweifen...

[195] – Von denen ist erst recht nichts zu befürchten, versicherte Dardentor. Wir stellen an den vier Ecken des Lagerplatzes Wachtposten auf, unterhalten bis zum Tagesanbruch mehrere Feuer, Agathokles bekommt die Flinte Castibelza's und erhält seinen Platz...

– Ich bitte Sie dringend, Agathokles da zu lassen, wo er eben ist! entgegnete Frau Désirandelle erschrocken.

– Gut, er mag bleiben! Die Herren Marcel und Jean werden schon ihre Sache machen...

– Gern zugegeben, erklärte Frau Elissane, am besten ist es aber doch, noch bis El-Gor zu kommen.

– Vorwärts also, Pferde, Maulesel und Meharis! rief Clovis Dardentor. Drauf, und laßt sie die Köpfe zwischen die Beine nehmen!

– Der Mann kann doch nie mit einer anständigen Rede schließen!« dachte Patrice.

Dabei versetzte er seinem Maulthiere einen Schlag mit der Reitgerte, den er lieber seinem Herrn hätte zukommen lassen.

Schließlich trabte die Karawane ziemlich schnell von dannen und hielt gegen sechs Uhr an der entgegengesetzten Seite des Waldes von Ourgla ein wenig an. Von hier aus trennten sie nur noch fünf bis sechs Kilometer von El-Gor, wo sie vor Einbruch der Nacht anlangen mußte.

An dieser Stelle wurde ein Flußübergang nöthig, der sich weniger leicht als die früheren gestaltete.

Ein ziemlich breiter Oued durchschnitt die Straße. Der Sar, ein Seitenarm des Oued-Slissen, hatte Hochwasser, wahrscheinlich infolge der theilweisen Leerung einer stromaufwärts gelegnen, überfüllten Thalsperre. Die Furten, durch die die Karawane zwischen Saïda und Daya gezogen war, hatten kaum die Füße der Gespanne benetzt, da sie fast trocken lagen. Diesmal handelte es sich um achtzig bis neunzig Centimeter Wassertiefe, was indeß den Führer, der die Furt genau kannte, gar nicht in Verlegenheit setzte.

Moktani wählte also eine weniger steil abfallende Stelle aus, wo die Personen- und der Lastwagen bequemer nach dem Bett des Oued hinabgelangen konnten. Da das Wasser kaum bis über die Nabe der Räder reichen sollte, würden die Sitzkasten trocken bleiben und die Insassen konnten darauf rechnen, ungefährdet nach dem andern, etwa zehn Meter entfernten Ufer zu gelangen.

[196] Der Führer ritt voraus; Derivas und Dardentor folgten ihm. Von der Höhe seines gewaltigen Reitthiers beherrschte letzterer sozusagen die Fläche des Flusses, ähnlich einem Wasserungethüm der antediluvianischen Epoche.

Zu beiden Seiten des Wagens, worin die Damen saßen, hielten sich Marcel Lornans zur Linken und Jean Taconnat zur Rechten. Dann folgten die andern beiden Wagen, von denen die Touristen nicht abgestiegen waren. Die auf den Lastwagen sitzenden Eingebornen bildeten die Nachhut der Karawane.

Agathokles hatte auf das bestimmte Verlangen seiner Mutter von dem Maulthiere absitzen und mit in den Wagen steigen müssen. Frau Désirandelle wollte ihren Sohn keinem unfreiwilligen Bade im Sar ausgesetzt sehen, für den Fall, daß das launische Thier wieder einige Bocksprünge wagte, denen sein Reiter rettungslos zum Opfer gefallen wäre.

Die Durchfahrt ging in der von Moktani eingehaltenen Richtung bisher ohne Unfall von statten. Da sich das Flußbett allmählich vertiefte, sanken die Gespanne nur nach und nach ins Wasser. Dieses reichte ihnen, selbst in der Mitte des Oued, noch nicht einmal bis an den Bauch. Wenn die Reiter auch die Beine emporhoben, hatten das Herr Dardentor und der Führer auf ihren Meharis nicht nöthig.

Die Hälfte der kleinen Strecke war bereits überwunden, als sich ein Schrei vernehmen ließ.

Louise Elissane hatte ihn ausgestoßen, als sie Jean Taconnat verschwinden sah, dessen Pferde es für alle vier Füße plötzlich an Grund fehlte.

Rechts von der Furt befand sich nämlich eine fünf bis sechs Meter tiefe Depression, die der Führer dadurch vermied, daß er sich etwas weiter stromauf davon hielt.

Der Aufschrei des Fräulein Elissane brachte die Karawane zum Stehen.

Jean Taconnat als guter Schwimmer wäre nicht gefährdet gewesen, wenn er sich von den Steigbügeln befreit hätte. Von dem plötzlichen Vorgang überrascht, fand er aber keine Zeit dazu und wurde gegen die Seite seines Pferdes geworfen, das heftig ausschlug.

Marcel Lornans riß in dem Augenblicke, wo sein Vetter verschwand, sein Pferd schnell nach rechts.

»Jean, rief er, Jean!...«

Trotz seiner Unfähigkeit zu schwimmen, wollte er doch, auf die Gefahr, selbst zu ertrinken, den Versuch machen, ihm Hilfe zu bringen, als ein Andrer [197] ihm schon zuvorkam. Dieser Andre war Clovis Dardentor. Nach Abwerfung seines Zerdani stürzte sich der Perpignaneser vom Rücken seines Mehari in den Sar und schwamm nach der Stelle, wo sich noch ein Wirbeln des Wassers zeigte.

Regungslos, kaum athmend und starr vor Schreck folgten Aller Augen dem kühnen Retter. Sollte er seine Kräfte nicht überschätzt haben und waren am Ende gar zwei Opfer statt eines zu zählen?

Nach wenigen Secunden tauchte Clovis Dardentor wieder auf und zog den halberstickten Jean Taconnat, den er glücklich aus den Steigbügeln losgemacht hatte, nach sich. Er hatte ihn am Halskragen gepackt, hielt seinen Kopf mit der einen Hand über Wasser und steuerte mit der andern Hand den seichteren Stellen zu.

Einige Augenblicke später erstieg die Karawane das jenseitige Ufer. Alles verließ die Wagen und die Pferde und drängte sich um den jungen Mann, der bald wieder zum Bewußtsein kam, während Clovis Dardentor sich wie ein durchnäßter Neufundländer schüttelte.

Jean Taconnat begriff nun, was vorgegangen war, wem er das Leben verdankte, und streckte seinem Retter die Hand entgegen; doch statt diesem zu danken, sagte er:

»Das ist eben mein Unglück!«

Diese Antwort wurde natürlich von niemand, außer von Freund Marcel, richtig verstanden.

Hinter einem Baumdickicht, wenige Schritte vom Ufer, wohin ihnen Patrice aus ihren Reisetaschen einen andern Anzug gebracht hatte, kleideten sich Clovis Dardentor und Jean Taconnat vom Kopf bis zu den Füßen um.

Nach kurzem Halt setzte sich die Karawane wieder in Bewegung und halb neun Uhr abends hatte sie die lange Strecke bis El-Gor glücklich hinter sich.

[198]

14. Capitel

Vierzehntes Capitel.
Worin Tlemcen nicht so eingehend, wie es das verdient, besucht wird.

Sebdou, der Hauptort eines Kreises, ein gemischtes Gemeinwesen mit sechzehntausend Einwohnern – darunter kaum einige Dutzend Franzosen – liegt inmitten einer Gegend mit herrlichen Landschaften, ausnehmend gesundem Klima und unvergleichlich fruchtbarem Boden. Man sagt selbst, es sei das Tafraoua der Eingebornen gewesen. Jean Taconnat bekümmerte sich darum freilich so wenig, »wie ein Lachs um eine Zahnzange«, wie Clovis Dardentor auf die Gefahr hin, seinen treuen Diener zu verletzen, hätte sagen können.

Jean Taconnat hatte sich in der That weder nach der Ankunft in El-Gor, noch seit dem Eintreffen in Sebdou wieder beruhigen können. Während des Restes des Tages, den die Karawane in dem kleinen Städtchen zubrachte, war er nicht aus seinem Zimmer zu bringen. Marcel Lornans mußte ihn sich selbst überlassen. Er wollte niemand sehen, mit niemand sprechen. Die Dankbarkeit, die er doch dem muthigen Perpignaneser schuldete, vermochte er nicht zu empfinden, noch weniger sie auszusprechen. Ja, wenn er seinem Retter hätte an den Hals springen können, hätte er ihn am liebsten gleich erwürgt.

Infolge dessen waren es nur Herr Dardentor nebst Marcel Lornans und einige andre Touristen, die sich treu an das Reiseprogramm hielten, welche Sebdou gewissenhaft in Augenschein nahmen. Die Damen, die sich von der Aufregung und Anstrengung noch nicht recht erholt hatten, beschlossen, den Tag der Ruhe zu widmen – ein Beschluß, der Marcel Lornans nicht wenig verdroß. da er Louise Elissane nun nur beim Frühstück und beim Mittagessen zu Gesicht bekommen sollte.

Sebdou bot im Ganzen nicht viel Sehenswerthes und eine Stunde hätte genügt, das ganze Städtchen kennen zu lernen. Clovis Dardentor fand darin jedoch das gewöhnliche Contingent von Kalk- und Ziegelbrennereien nebst Getreidemühlen, die fast in allen Städten der Provinz Oran anzutreffen sind. Seine Begleiter und er wanderten um die bastionierte Mauer, die die Ortschaft einschließt. welche einige Jahre hindurch ein vorgeschobener Posten der französischen[199] Colonie war. Da an diesem Tage, einem Mittwoch, aber großer arabischer Jahrmarkt war, hatte unser Perpignaneser mit der Beobachtung des lebhaften Verkehrs grade genug zu thun.

Am folgenden Tage, dem 19. Mai, brach die Karawane beizeiten auf, um die vierzig Kilometer, die Sebdou von Tlemcen trennen, zurücklegen zu können.


Er stürzte sich vom Rücken seines Mehari in den Sar. (S. 198.)

Jenseits des Oued-Merdja, eines Zuflusses des Tafna, aus der Stadt gekommen, zog sie an ausgedehnten Alfaanlagen hin, überschritt Aïns (Quellbäche) mit klarem Wasser, zog durch kleinere Wälder, hielt einmal zum Frühstück [200] in einer fünfzehnhundert Meter hoch gelegenen Karawanserei, und erreichte, auf dem fernern Wege durch das Dorf Terni und über die Schwarzen Berge, jenseits des Oued-Sakaf, endlich Tlemcen.


Die Umkreisung von Mansourah.

Nach dem tüchtigen Marsche nahm ein gutes Hôtel die ganze Gesellschaft auf, die hier sechsunddreißig Stunden zu rasten gedachte.

Unterwegs hatte sich Jean Taconnat abseits gehalten und antwortete kaum auf die quasi-väterlichen Vorstellungen des Herrn Dardentor. Seiner Enttäuschung mischte sich eine gewisse Dosis Scham bei. Er... dem verpflichtet, den er sich [201] verpflichten wollte! An diesem Morgen und nachdem er seit dem Vorabend geschmollt hatte, sprang er aus dem Bette und weckte Marcel Lornans mit dem Zurufe:

»Nun... was sagst Du denn dazu?«

Der Schläfer konnte gar nichts dazu sagen, einfach weil sein Mund noch ebenso geschlossen war, wie seine Augen.

Sein Vetter lief hin und her, focht mit den Armen und kreuzte sie wieder, während er laute Anschuldigungen hören ließ. Nein, von jetzt nahm er die Sache nicht mehr, wie er versprochen hatte, von der heitern Seite. Er war entschlossen, sie nun tragisch zu nehmen.

Auf die vorige, wiederholt an ihn gestellte Frage konnte der junge Pariser, der sich nun aufrichtete, nur antworten:

»Ich sage zunächst, Jean, daß Du Dich beruhigen mußt! Wenn Einen das Pech so hartnäckig verfolgt, ist es am besten, sich zu unterwerfen....

– Oder sich selbst wegzuwerfen! fiel Jean Taconnat ein. Ich kenne das, zu meinen Wahlspruch mach' ich's aber nicht! Nein, wahrlich, das ist doch gar zu stark! Von den drei Bedingungen, die das Gesetzbuch vorschreibt, wären nun schon zwei, das Feuer und das Wasser, eingetroffen. Und dieser unqualificierbare Dardentor, der doch ebenso hätte in die Flammen des Bahnzugs gerathen oder unter dem Hochwasser des Sar verschwinden und den wir, Du oder ich, hätten retten können... Er mußte es sein, der die Rolle des Retters spielte! Und Du bist es, Marcel, den die Feuersbrunst, und ich, Jean, den das Wasser sich zum Opfer ersehen hatte....

– Willst Du einen Rath von mir hören?

– Nun laß' los, Marcel!

– Ich muß Dir gestehen, ich finde die ganze Geschichte höchst drollig!

– Ah so... Du findest das drollig?...

– Ja, und ich meine, wenn der dritte Zufall einträfe, wenn es z. B. während des letzten Theils der Reise noch zu einem Kampfe käme, müßte ich stark irren, wenn es nicht Dardentor wäre, der uns gleich alle beide rettete!«

Jean Taconnat stampfte mit dem Fuße auf, stieß die Stühle hin und her und trommelte an die Fensterscheiben, daß sie fast zersprangen. Eigenthümlich ist es aber, daß dieser Ingrimm bei einem Phantasten seines Schlages wirklich echt war.

[202] »Siehst Du, mein alter Jean, fuhr Marcel Lornans fort, Du wirst schon darauf verzichten müssen, Dich von Herrn Dardentor adoptieren zu lassen, wie ich für meinen Theil darauf verzichtet habe...

– Niemals!

– Um so mehr, als er jetzt, wo er Dein Retter geworden ist, Dich ebenso ins Herz schließen wird, wie schon vorher mich, dieser Nacheiferer des unsterblichen Perrichon!

– Ich brauche seine Liebe und Verehrung nicht, Marcel, wohl aber seine Adoption, und Mohammed soll mir den Hals umdrehen, wenn ich nicht das Mittel entdecke, sein Sohn zu werden.

– Und wie soll Dir das gelingen, da der Zufall ihn so unabänderlich begünstigt?

– Ich stelle ihm Mardereisen... stoße ihn in den ersten besten Fluß, der uns in den Weg kommt... ich stecke sein Zimmer, wenn nöthig, sein Haus in Brand... ich bestelle mir eine Rotte Beduinen oder Touaregs, die uns unterwegs überfallen... überall stell' ich ihm Fallen...

– Und weißt Du, was mit Deinen Fallen geschehen wird, Jean?

– Nun, das liegt doch auf der Hand...

– Du wirst selbst hineingerathen und Herr Dardentor, der Günstling der guten Feen, der Bote der Vorsehung, das Urbild der erfolgreichen Menschen, wird Dich daraus befreien, er, dem in seinem Leben alles geglückt ist, für den sich das Rad der Frau Fortuna nur im günstigen Sinne dreht.

– Ich werde es schon durchzusetzen wissen, daß sie die Kurbel losläßt!

– Uebrigens, Jean, befinden wir uns jetzt in Tlemcen...

– Nun, was soll das...?

– Binnen drei bis vier Tagen werden wir wieder in Oran sein und dort am klügsten thun, alle vagen Zukunftspläne in den Schacht der Vergessenheit zu werfen und unsern Dienstcontract zu unterzeichnen...«

Bei den letzten Worten nahm Marcel Lornans' Stimme freilich eine ganz andre Klangfarbe an.

»Doch sage mir, mein armer Freund, fuhr Jean Taconnat fort, ich glaubte doch, daß Louise Elissane...

– Ja... Jean... ja!... Doch... warum daran denken?... An einen Traum, der sich niemals verwirklichen wird!... Jedenfalls werde ich diesem jungen Mädchen eine unauslöschliche Erinnerung bewahren.

[203] – So weit hast Du bereits Verzicht geleistet?

– Ja, leider!

– Fast so weit, wie ich auf die Hoffnung, Herrn Dardentor's Adoptivsohn zu werden! rief Jean Taconnat. Wenn ich Dir gegenüber ganz offen sein soll, scheint es mir, daß von uns beiden Du die meiste Aussicht auf Erfolg hast....

– Du bist thöricht!

– Nein... Dich verfolgt das Pech weniger, und ich glaube, es wird Fräulein Elissane leichter sein, Frau Lornans, als Jean Taconnat einmal Jean Dardentor zu werden, obgleich es sich bei mir nur um einen Namenswechsel handelt!«

Während die beiden jungen Leute dieses Gespräch bis zum Frühstück fortsetzten, beschäftigte sich Clovis Dardentor mit Unterstützung Patrice's mit seiner Toilette. Tlemcen und dessen Umgebungen sollten erst am Nachmittage besucht werden.

»Na, Patrice, fragte der Herr den Diener, was denkst Du denn von jenen beiden jungen Leuten?

– Von Herrn Jean und Herrn Marcel?...

– Ja, von ihnen.

– Ich denke, der eine davon wäre in den Flammen und der andre im Wasser umgekommen, wenn der Herr sich nicht auf die Gefahr des eignen Lebens hin aufgeopfert hätte, sie einem schrecklichen Tode zu entreißen.

– Es wäre auch schade um sie gewesen, Patrice, denn Beide verdienen ein recht langes und glückliches Leben. Mit ihrem liebenswürdigen Charakter, ihrer guten Laune, ihren Kenntnissen und ihrem Geist werden sie in der Welt schon vorwärts kommen; nicht wahr, Patrice?

– Ich theile gänzlich die Ansicht des Herrn... der Herr wird mir aber eine Bemerkung gestatten, zu der mich persönliche Beobachtungen veranlassen.

– Die gestatt' ich Dir, wenn Du nicht zu lange Phrasen drechselst.

– Nun, wie? Bestätigt der Herr vielleicht die Richtigkeit meiner Beobachtungen?

– Packe sie doch erst aus und geh' nicht wie die Katze um den Brei!

– Den Brei... den Brei! stieß Patrice hervor, der sich schon von dem »drechseln« beleidigt gefühlt hatte.

– Na, bist Du endlich zum Losplatzen fertig?

[204] – Wird der Herr mir erlauben, mein Urtheil über den Sohn des Herrn und der Frau Désirandelle auszusprechen?

– Ueber Agathokles?... Das ist ein guter Junge... es mag ihm ein wenig... meinethalben recht viel fehlen... er will immer nur mit dem linken Fuß auftreten. Er ist eine jener Naturen, die sich erst nach der Verehelichung entwickeln. Wer weiß, er ist etwas hölzern! Gieb mir meinen Bartkamm...

– Hier ist der Kamm des Herrn.

– Jedenfalls aber aus dem Holz, aus dem man die besten Ehemänner schnitzt. Jetzt hat man für ihn eine vortreffliche Partie ausgesucht und ich bin überzeugt, daß das allseitig von den glücklichsten Folgen sein wird. Ich sehe aber noch nichts von Deiner Beobachtung, Patrice...

– Sie wird sofort offenbar werden, wenn der Herr gewillt ist, noch eine zweite Frage zu beantworten, die seine Güte mir zu stellen erlaubt...

– Bringe, stelle, lege sie vor!

– Was denkt der Herr über Fräulein Elissane?

– O, sie ist reizend, entzückend, gut, schön gewachsen, geistvoll, kenntnißreich, gleichzeitig übermüthig und ernsthaft... die Worte fehlen mir, ebenso wie meine Haarbürste. Wo ist denn nun wieder meine Haarbürste hinverpackt?

– Hier ist die Haarbürste des Herrn.

– Und wenn ich verheiratet wäre, da wünscht ich mir so eine...

– Haarbürste?...

– Nein, Einfaltspinsel, eine Frau, wie die liebe Louise! Das Eine sag' ich, Agathokles kann sich des Glücks rühmen, ein so großes Loos gezogen zu haben.

– Der Herr glaubt also, daß diese Heirat so gut wie sicher sei?

– So sicher, als ob Beide vor dem Standesamte schon das Protokoll unterschrieben hätten. Uebrigens sind wir ja einzig deshalb nach Oran gekommen. Freilich hätte ich gehofft, daß die zwei Zukünftigen auf der Reise einander mehr näher treten würden. Doch auch gut so, die Sache wird sich schon machen. Junge Damen thun ein bischen zimperlich, das liegt so in ihrer Natur. Denke dran, was ich Dir sage: In drei Wochen tanzen wir auf der Hochzeit, und da sollst Du Dein blaues Wunder sehen, da will ich ihnen schon etwas aus dem ff vorhopsen!«

Patrice verschluckte nur mit Mühe seinen Widerwillen, eine so feierliche Ceremonie durch »vorhopsen« entweiht zu sehen.

[205] »Na, ich bin parat, erklärte Herr Dardentor, ich weiß aber immer noch nichts von Deiner durch persönliche Beobachtungen veranlaßten Bemerkung.

– Gewiß persönliche, und ich wundere mich nur, daß diese dem Scharfblick des Herrn entgangen zu sein scheinen.

– Nun aber vorwärts, altes Stückfaß, rolle doch, wohin man Dich treibt!... Deine Bemerkung...

– Ist so richtig, daß sie der Herr nach einer dritten Frage selbst machen wird.

– Noch eine dritte!

– Wenn der Herr nicht wünscht...

– Komm doch einmal zur Sache, Trödelfritz! Das sieht ja grade aus, als wolltest Du mich absichtlich wüthend machen.

– Der Herr weiß, daß ich eines solchen Unterfangens gegen seine Person nicht fähig wäre.

– Willst Du nun die dritte Frage auspacken... ja oder nein?

– Hat der Herr nicht das Benehmen des Herrn Marcel Lornans seit der Abreise aus Oran bemerkt?

– Des lieben Marcel?... Nun ja, er hat sich sehr dankbar gezeigt für den kleinen Dienst, den ich ihm erweisen konnte... und auch seinem Vetter... der es nicht so von sich zu geben versteht.

– Es handelt sich hier nur um Herrn Marcel Lornans, nicht um Herrn Jean Taconnat, antwortete Patrice. Ist es dem Herrn nicht aufgefallen, daß Fräulein Elissane jenem ungemein zu gefallen scheint, daß er sich mit ihr mehr beschäftigt, als es sich gegenüber einer von den Banden der Ehe schon halb gefesselten jungen Dame schickt, und daß Herr und Frau Dósirandelle schon einen nicht unbegründeten Verdacht hegen?

– Das hättest Du gesehen, Patrice?

– Wenn der Herr nichts dawider hat.

– Ja, ja, habe auch schon etwas läuten gehört... die gute Frau Dósirandelle.... Bah, es ist doch reine Einbildung...

– Ich wage, dem Herrn zu versichern, daß Frau Dósirandelle das nicht nur allein bemerkt hat...

– Ihr wißt nicht, was Ihr sprecht, weder die Einen, noch die Andern! rief Clovis Dardentor. Und wenn es der Fall wäre, was käme dabei heraus?... Nein, ich hab' es einmal versprochen, Agathokles und Louise zusammen zu schmieden, und die Heirat muß zustande kommen!

[206] – So sehr ich bedauere, mich mit dem Herrn in Widerspruch zu befinden, muß ich doch dabei beharren, die suchen in meiner Weise zu sehen.

– Beharre nur... und blase ein Lied auf der Clarinette dazu!

– Eines, das die Leute beschuldigt, blind zu sein! bemerkte Patrice trocken.

– Es steckt aber kein Sinn und Verstand drin, Ihr Drehköpfe! Marcel... ein Bürschchen, das ich den züngelnden Flammen entrissen habe... und ein Auge auf Louise werfen!... Das ist ebenso unsinnig, als wenn der Vielfraß Oriental daran dächte, um ihre Hand anzuhalten!

– Von Herrn Oriental hab' ich nicht gesprochen, antwortete Patrice. Herr Oriental hat mit der ganzen Sache nichts zu thun, diese geht speciell Herrn Marcel Lornans an.

– Wo ist mein Angstrohr?

– Des Herrn Angstrohr?...

– Nun ja... mein Hut?...

– Hier ist des Herrn Hut, nicht sein... erwiderte Patrice empört.

– Und vergiß nicht Patrice, daß Du nicht weißt, was Du fabelst, daß Du keine Ahnung von der Sache und Dich schauderhaft verrannt hast!«

Seinen Hut ergreifend, ließ Herr Dardentor seinen Diener stehen, um sich selbst wieder zurecht zu finden, so gut er konnte.

Dennoch fühlte sich Herr Dardentor nicht mehr so ganz sicher.... Der Tölpel Agathokles machte auch gar keine Fortschritte, und da wollten die Désirandelle's auch noch mit ihm ein Hühnchen rupfen, als ob er für die Gedanken Marcel Lornans' verantwortlich wäre, vorausgesetzt, daß dieser überhaupt so kühne Gedanken hegte. Gewisse Kleinigkeiten fielen ihm jetzt allerdings wieder ein.... Jedenfalls wollte er die Augen offen halten und scharf aufpassen.

Während des heutigen Frühstücks bemerkte Clovis Dardentor nichts Verdächtiges. Marcel Lornans ließ er etwas links liegen und wendete seine Freundlichkeit mehr Jean Taconnat, »seiner letzten Rettung«, zu, der nur wenig darauf antwortete.

Louise Elissane erwies sich gegen ihn sehr liebevoll, und vielleicht kam er dabei auf den Gedanken, daß sie doch viel zu reizend sei für den Tropf, den man ihr zum Gatten bestimmt hatte und mit dem sie wie Zucker und Salz zusammenzupassen schien.

»Herr Dardentor?... begann Frau Désirandelle, als man beim Dessert war.

[207] – Meine vortreffliche Freundin... antwortete Herr Dardentor.

– Giebt es keine Eisenbahn zwischen Tlemcen und Sidi-bel-Abbès?...

– Ja wohl... doch sie ist noch im Bau begriffen.

– Das ist bedauerlich!

– Warum denn?

– Weil Herr Désirandelle und ich es vorziehen würden, damit nach Oran zurückzufahren.

– O, gehen Sie! rief Clovis Dardentor. Der Weg bis Abbès ist ganz ausgezeichnet. Da ist keine Anstrengung zu fürchten... keine Gefahr... für niemand!«

Er lächelte dabei Marcel Lornans zu, der das nicht bemerkte und auch Jean Taconnat, der mit den Zähnen knirschte, als wollte er gleich beißen.

»Ja, meldete sich Herr Désirandelle, wir sind von der Reise sehr angegriffen, und es ist bedauerlich, daß sie sich nicht abkürzen läßt. Frau Elissane und Fräulein Louise würden ebenso wie wir...«

Vor Vollendung des Satzes hatte Marcel Lornans schon das junge Mädchen und diese den jungen Mann angesehen. Diesmal mußte Herr Dardentor sich sagen: Ja, es ist richtig! Und in Erinnerung an den schönen Gedanken des Dichters, daß »Gott dem Weibe den Mund gegeben hat, um zu sprechen, und die Augen, um zu antworten«, fragte er sich, welche Antwort die Augen Louises wohl gegeben haben möchten.

»Alle tausend Teufel!« murmelte er vor sich hin.

Dann fuhr er laut fort:

»Was wollt Ihr denn, liebe Freunde, die Eisenbahn ist noch nicht in Gang und es giebt kein Mittel, die Karawane aus den Fugen zu bringen.

– Könnten wir nicht wenigstens noch heute weiterziehen? fragte Frau Désirandelle.

– Heute! fuhr Herr Dardentor auf. Weiter ziehen, ohne das prächtige Tlemcen, seine Waarenlager, seine Citadelle, seine Synagogen, Moscheen, Promenaden, seine Umgebung und alle die Wunderdinge, wovon mir unser Führer erzählt hat, gesehen zu haben? Dazu reichen zwei Tage kaum aus!

– Die Damen sind zu ermüdet, um einen solchen Ausflug zu unternehmen, Dardentor, antwortete Herr Désirandelle frostig, und ich werde ihnen auch Gesellschaft leisten. Wir gehen einmal in die Stadt, mehr machen wir nicht. Ihnen steht es ja frei, mit den Herren, die Sie aus den züngelnden Flammen [208] [210]und den Fluthen gerettet haben, das prächtige Tlemcen gründlich anzusehen. Doch was auch komme, nicht wahr, morgen in aller Frühe brechen wir auf?«

Das war deutlich genug, und Clovis Dardentor, der die gelegentlichen Anzüglichkeiten des Herrn Désirandelle nicht recht verdauen konnte, bemerkte, daß sich die Gesichter Marcel Lornans' und Louise Elissane's etwas verfärbten. In dem Gefühle, hier nicht weiter widersprechen zu sollen, verließ er die Damen nach einem letzten Blicke auf das etwas betrübte junge Mädchen.

»Kommt Ihr, Marcel?... Und auch Jean? fragte er.

– Wir folgen Ihnen, antwortete der Eine.


Hier und da finden sich zahlreiche Reste arabischer Architektur. (S. 212.)

– Er wird uns zuletzt noch duzen!« murmelte der Andre etwas verächtlich.

Unter den vorliegenden Umständen blieb ihnen nichts anders übrig, als sich von Herrn Dardentor ins Schlepptau nehmen zu lassen. Der junge Désirandelle hatte sich schon aus dem Staube gemacht und suchte mit Herrn Oriental eifrig alle Läden mit Eßwaaren und alle Conditoreien ab. Der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft hatte in ihm jedenfalls die natürliche Anlage zum Feinschmecker herausgefunden.

Bei ihrer Gemüthsverfassung konnten die jungen Leute sich für das merkwürdige Tlemcen nur sehr mäßig interessieren... für das berühmte Bab-el-Gharb der Araber, das mitten im Becken der Isser und in einem von der Tafna gebildeten Halbkreise liegt. Und doch ist es so schön, daß man es das afrikanische Granada nennt. Das alte, südöstlich gelegne und verlassne Pomaria der Römer, an dessen Stelle mehr im Westen später Tagrart trat, ist das moderne Tlemcen geworden.

Seinen »Reiseführer« in der Hand, konnte Herr Dardentor zwar nach Belieben predigen, daß es schon im 15. Jahrhundert durch Handel, Gewerbfleiß, Kunst und Wissenschaft unter dem Einflusse von Berberrassen in hoher Blüthe stand, daß es damals fünfundzwanzigtausend Haushaltungen zählte, daß es heute mit seinen fünfundzwanzigtausend Einwohnern, darunter je dreitausend Franzosen und Juden, die fünfte Stadt Algeriens ist, daß es 1553 von den Türken, 1836 von den Franzosen erobert, später an Abd-el-Kader abgetreten und 1842 endgiltig wieder eingenommen wurde, daß es einen strategischen Punkt von hoher Bedeutung an der marokkanischen Grenze bildet... er erzwang sich damit doch nur sehr geringe Aufmerksamkeit und erhielt blos oberflächliche Antworten.

[210] Der würdige Mann fragte sich auch, ob er nicht besser gethan hätte, die beiden »verstimmten Geigen« zu Hause zu lassen, um sich dort auszubrummen. Doch nein, er liebte sie einmal und bestrebte sich deshalb, keine üble Laune darüber zu verrathen.

Wiederholt wandelte Herrn Dardentor zwar die Lust an, Marcel Lornans aufs Gewissen zu fragen und ihm zuzurufen:

»Ist's denn wahr?... Ist es ernsthaft?... So schlagen Sie mir doch das Buch des Herzens auf, damit ich darin lesen kann!«

Er that es aber nicht. Wozu hätte es auch gedient?.. Die praktische und genau rechnende Frau Elissane hätte den unvermögenden jungen Mann doch nicht als Schwiegersohn angenommen. Und dann... er selbst... der Freund Désirandelle's...

Diese Sachlage verschuldete denn auch, daß unser Perpignaneser nicht den erhofften Genuß von der Stadt hatte, die auf einer Terrasse in achthundert Meter Höhe unter dem steil abfallenden Berge Terni eine reizende Lage hat. Letzterer gehört zum Gebirgsstock des Nador, von dem aus man die Ebnen des Isser und der Tafna, sowie die niedriger gelegnen Thäler mit ihren Weinpflanzungen und Gärten überblickt... das Ganze ein grünes Land von zwölf Kilometern Länge, reich an Orangenhainen und Olivenwäldern, hundertjährigen Nußbäumen und üppig gedeihenden Terpentinsichten, ohne von dem Reichthume an Obstbäumen jeder Art zu sprechen.

Das Räderwerk der französischen Verwaltung in Tlemcen fungiert mit der Regelmäßigkeit einer Corliß-Dampfmaschine. Was industrielle Anlagen betrifft, so hätte Herr Dardentor zwischen Getreide- oder Oelmühlen und Webereien – vorzüglich solchen, die den Stoff für die schwarzen Burnusse herstellen – die Wahl gehabt. In einem Laden des Cavaignacplatzes erkaufte er sich zum Andenken wenigstens ein Paar sehr hübsche Babuschen.

»Die scheinen mir für Sie etwas zu klein zu sein, bemerkte Jean Taconnat spöttelnden Tones.

– Sapperment!

– Und ein wenig theuer?

– O, man hat es ja dazu!

– Wem haben Sie die Dinger zugedacht? fragte Marcel Lornans.

– Einem niedlichen Persönchen,« antwortete Herr Dardentor mit leichtem Augenzwinkern.

[211] Das hätte sich Marcel Lornans freilich nicht gestatten dürfen, so gern er sein ganzes Reisegeld zu Geschenken für das junge Mädchen verwendet hätte.

Wenn in Tlemcen der Handelsverkehr des Westens mit dem der arabischen Stämme, die Getreide, Schlachtvieh, Häute, Webstoffe und Straußfedern hierher bringen, zusammentrifft, so bietet die Stadt doch auch Verehrern des Alterthums werthvolle Erinnerungen. So finden sich hier und da zahlreiche Reste von arabischer Architektur, Ruinen der drei Städte mit Befestigungen, die jetzt durch eine vier Kilometer lange moderne Mauer mit neun Thoren ersetzt sind, maurische Viertel mit krummen Gäßchen und noch einige von den früher vorhandnen sechzig Moscheen. Die jungen Leute mußten wohl oder übel die ehrwürdige Citadelle, den Mechouar, einen alten Palast aus dem 12. Jahrhundert, besichtigen, und auch die Kissaria, jetzt eine Kaserne für Spahis, wo sich früher die genuesischen, pisanischen und provençalischen Kaufleute zusammenfanden. Ferner die Moscheen mit ihrer Unmenge von weißen Minarets, ihren kleinen Mosaiksäulen, Malereien und Fayencen, die Moschee von Djema-Kebir, die des Abdul-Hassim, deren drei Gewölbe auf Onyxpfeilern ruhen und worin die Araberjungen im Lesen, Schreiben und Rechnen an derselben Stelle unterrichtet werden, wo einst Boabdil, der letzte König von Granada, die Augen schloß.

Nachher durchstreifte das Trio verschiedne Straßen und regelrecht angelegte Plätze, ferner einen Stadttheil mit Häusern von Eingebornen und Europäern und andre mehr moderne Theile. Ueberall waren Springbrunnen erbaut, der schönste auf dem Saint-Michel-Platze. Zuletzt und vor der Rückkehr nach dem Hôtel bot die mit vier Baumreihen geschmückte Esplanade von Mechouar den Touristen eine unvergleichliche Aussicht über die Landschaft der Umgebung.

Bezüglich der sonstigen Nachbarschaft Tlemcens, seiner bäuerlichen Dörfchen, der Koubbas von Sidi-Daoudi und von Sidi-Abd-es-Salam, des rauschenden Wasserfalls von El-Ourit, mit dem der Saf-Saf vierundzwanzig Meter herabstürzt, sowie bezüglich mehrerer andrer Sehenswürdigkeiten, mußte Clovis Dardentor sich begnügen, sie nach den Angaben seines Reisehandbuchs zu bewundern.

Es hätte wirklich mehrerer Tage bedurft, um Tlemcen und seine Umgebungen zu studieren. Ein solcher Vorschlag wäre aber Leuten gegenüber, die so schnell und auf so kurzem Wege wie möglich weiter wollten, doch vergebliche Mühe gewesen. So vieler Autorität – die übrigens etwas vermindert war – Clovis Dardentor bei seinen Reisegefährten auch genoß, wagte er so etwas doch nicht.

[212] »Nun, mein lieber Marcel und mein bester Taconnat, was denken Sie nun über Tlemcen?

– O, eine recht nette Stadt, begnügte sich der Eine zerstreut zu antworten.

– Nett... jawohl... fügte der Andre, kaum die Lippen bewegend, hinzu.

– Ei, Ihr lustigen Brüder, hab' ich nicht recht daran gethan, Sie, Marcel, am Kragen, und, Sie Jean, am Rockärmel aus der Tinte zu ziehen? Wie viele herrliche Dinge hätten Sie sonst nicht mehr zu sehen bekommen!

– Sie haben Ihr Leben für das unsre eingesetzt, Herr Dardentor, sagte Marcel Lornans, und seien Sie überzeugt, daß unsre Dankbarkeit...

– Ah, Herr Dardentor, fragte Jean Taconnat, seinem Vetter das Wort abschneidend, ist es Ihre Gewohnheit als Retter von...

– Na, es ist mir schon wiederholt vorgekommen, und ich könnte mir die Brust mit einer hübschen Menge von Medaillen pflastern! Die Folge davon ist, daß ich, trotz meiner Lust, Adoptivpapa zu werden, doch niemand adoptieren konnte.

– Freilich, Sie waren es immer selbst, bemerkte Jean Taconnat, der Andre...

– Wie Sie sagen, mein Kleiner! bestätigte Clovis Dardentor nicht die Worte, doch den Gedanken des jungen Mannes. Jetzt heißt's aber: die Beine unter die Arme!«

Nun ging's schnell nach dem Hôtel zurück. Das Essen verlief nicht angenehm. Die Tischgäste sahen alle aus wie Leute, die ihr Bündel schon geschnürt haben und die der Zug erwartet. Beim Nachtisch bot der Perpignaneser die kleinen hübschen Babuschen noch der, für die sie bestimmt waren, an.

»Zur Erinnerung an Tlemcen, liebes Fräulein!« sagte er.

Frau Elissane konnte für die freundliche Aufmerksamkeit des Herrn Dardentor nur durch ein Lächeln danken, während in der Gruppe der Désirandelle's der eine Theil den Mund verzog und der andre mit den Schultern zuckte.

Das Gesicht Louisens heiterte sich auf, ein Blitz der Befriedigung leuchtete aus ihren Augen und sie sagte:

»Ich danke Ihnen, Herr Dardentor! Gestatten Sie, daß ich Sie umarme?

– Sapperment, deshalb hatt' ich sie eben gekauft!... Ein Kuß für ein Paar Babuschen!«

Und freudigen Herzens schloß das junge Mädchen Herrn Dardentor in die Arme.

[213]

15. Capitel

Fünfzehntes Capitel.
Worin eine der drei vom Civilgesetzbuch vorgesehenen Bedingungen erfüllt wird.

Im Grunde war es nun vielleicht an der Zeit, die von der Algerischen Eisenbahngesellschaft so umsichtig organisierte Reise zu beendigen, die so vielversprechend angefangen hatte und jetzt – wenigstens für die Gruppe Dardentor – so schlecht abzulaufen drohte.

Beim Aufbruche von Tlemcen war die Karawane auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Mehrere Touristen hatten es vorgezogen, in dieser Stadt, die es gewiß verdiente, noch einige Tage zu verweilen. Da der Beamte Derivas mit diesen hier zurückblieb, schlugen Herr Dardentor und seine Gesellschaft mit dem Führer Moktani am frühen Morgen des 21. Mai allein die Richtung nach Sidi-bel-Abbès ein.

Auch Herr Eustache Oriental, der es mit der Rückkehr nach Oran eilig zu haben schien, hatte sich angeschlossen. Daß es seine Absicht wäre, einen wissenschaftlichen Bericht über diesen Ausflug abzufassen, hätte Dardentor und die Uebrigen wohl verwundern müssen. Er hatte ja nur mit dem Fernrohr gewisse Punkte besichtigt, die übrigen Instrumente aber stets in seiner Reisetasche stecken lassen.

Die Karawane bestand also nur noch aus zwei Personenwagen. Der erste trug die Damen und Herrn Désirandelle, der zweite Herrn Oriental und Agathokles, der sich von seinem Mauleselritte etwas erschöpft fühlte, und ferner zwei Eingeborne zur Bedienung, nebst dem Gepäck und einigem Mundvorrath. Diesen brauchte man nur noch zu einem Frühstück zwischen Tlemcen und dem Dorfe Lamoricière, wo die Nacht über gerastet werden sollte, und am nächsten Tage zu einem zweiten zwischen Lamoricière und Sidi-bel-Abbès, das der Führer gegen acht Uhr abends zu erreichen hoffte. Hier endigte dann die Karawanenfahrt, und die Eisenbahn sollte die Vorhut der Ausflügler nach Oran zurückbefördern.

Natürlich hatten sich Herr Dardentor und Moktani von ihren Meharis nicht getrennt, denn das waren prächtige Thiere, die zu keiner Klage Anlaß [214] gaben, und ebensowenig die beiden Pariser von ihren Pferden, die sie nur ungern verlassen würden.

Zwischen Tlemcen und Sidi-bel-Abbès durchschneidet eine große Straße das Arrondissement und trifft in Tlelat auf eine andre, die Oran mit Algier verbindet. Von Tlemcen nach Sidi-bel-Abbès rechnet man zweiundneunzig Kilometer, die binnen zwei Tagen bequem zurückzulegen sind.

Die Karawane kam jetzt durch ein mehr Abwechslung bietendes Land, als die südoranischen Gegenden von Saïda bis Sebdou. Wälder gab es zwar weniger, dafür mehr angebaute Felder, Colonisationsgebiete und ein vielverzweigtes Netz von Zuflüssen des Chouly und des Isser. Letzterer, einer der großen Flüsse Algeriens, ist eine lebenspendende Wasserader, die sich zweihundert Kilometer weit bis zum Meere fortsetzt und dabei einem Thale folgt, worin, Dank den Abflüssen von den Hochebnen und dem Tell, Baumwolle sehr gut gedeiht.

Doch wie verändert war die Stimmung der Touristen, unter denen bei der Abreise mit der Bahn von Oran und dem Anfange des Karawanenzugs von Saïda aus die schönste Harmonie herrschte! Jetzt waren die gegenseitigen Beziehungen erkaltet. Die Désirandelle's und Frau Elissane sprachen in ihrem Gefährt nur unter einander, und Louise mußte so mancherlei hören, was ihr nicht gefiel. Marcel Lornans und Jean Taconnat, die sich ihren trüben Gedanken hingaben, trotteten hinter dem Perpignaneser her und gaben ihm kaum Antwort, wenn er sich etwas zurückhielt, um sie anzusprechen.

Unglücklicher Dardentor! Alle schienen jetzt auf ihn zu zürnen: die Désirandelle's, weil er nicht mithalf, Louise zu bestimmen, daß sie Agathokles' Hand annahm, und Frau Elissane ebenso, daß er dieser langgeplanten ehelichen Verbindung nicht den erhofften Vorschub leistete, Marcel Lornans, weil er zu Gunsten dessen, den er gerettet hatte, hätte eintreten sollen, und Jean Taconnat, weil er ihn gerettet hatte, statt ihm Gelegenheit zu geben, sich selbst retten zu lassen. Kurz, Clovis Dardentor war nur noch der Sündenbock auf einem Kameele. Ihm blieb nur noch der getreue Patrice.


Der rauschende Wasserfall von El-Ourit. (S. 212.)

»Ja, schien dieser sagen zu wollen, so liegen nun die Dinge, und Ihr Diener hatte sich nicht getäuscht!«

Er sprach diesen Gedanken aber nicht aus, aus Furcht, eine richtige Dardentor'sche Antwort zu bekommen, vor der es ihm schon durch und durch fröstelte.

Nun, Clovis Dardentor wollte sich deshalb nicht ins Bockshorn jagen lassen.

[215] »Ueberleg' dir einmal, Clovis, sagte er für sich, bist du denn den Papageien da irgendwie verpflichtet? Brauchst du dir den Kopf zu zerbrechen, wenn nicht alles nach deren Wunsche geht?... Ist es dein Fehler, wenn Agathokles nur ein Zeisig ist, wenn sein Vater und seine Mutter ihn für einen Phönix halten und wenn Louise den Vogel schließlich nach seinem wahren Werth schätzt?... Hier heißt es doch: klar sehen! Daß Marcel das junge Mädchen liebt, vermuth' ich nun wohl. Ich kann ihnen doch nicht zurufen: »Kommt her, Kinder, damit ich Euch segne!« Und dann der sonst so lustige Jean, dessen gute Laune [216] und übersprudelnde Phantasie im Sar ertrunken zu sein scheinen. Es sieht fast aus, als wäre er bös auf mich, weil ich ihn gerettet habe. Wahrhaftig, sie blasen alle zusammen in dasselbe Horn! Na, ich werde schon mit der Gesellschaft fertig werden!«

Eben war Patrice vom Wagen abgestiegen, um seinem Herrn etwas zu sagen.


Es war ein Löwe und eine Löwin. (S. 224.)

»Ich fürchte, Herr Dardentor, daß bald Regen kommt, und vielleicht wär' es besser...

– Ach was, besser schlechtes Wetter, als gar keins!

[217] – Als gar keins?.. erwiderte Patrice, dem dieses phantastische Axiom nicht in den Sinn wollte. Wenn nun der Herr...

– Stillgeschwiegen!«

Schneller, als er heruntergekommen war, kletterte Patrice wieder auf den Wagen.

Unter einem warmen, aus gewitterhaften Wolken herabströmenden Regen wurden die zwölf Kilometer von Tlemcen bis zum Aïn-Fezza zurückgelegt. Nach dem Aufhören des Niederschlags frühstückte man an der vorher bestimmten Stelle in bewaldeter Schlucht, die von zahlreichen nahen Wasserfällen kühl gehalten wurde – ein Frühstück ohne Vertraulichkeit, bei dem sich jeder einen gewissen Zwang auferlegte. Man hätte von den Gästen einer Table d'hôte sprechen können, die sich niemals gesehen hatten, ehe sie sich vor ihren Teller setzten, und sich niemals wiedersehen würden, wenn sie diesen geleert hatten. Unter den Blitze schleudernden Augen der Désirandelle's vermied es Marcel Lornans, Louise Elissane anzusehen. Jean Taconnat, der auf Zwischenfälle unterwegs nicht mehr rechnete – auf der Staatsstraße mit ihren tadellosen Böschungen, ihren Kilometersteinen und mit ihren regelmäßigen Haufen vorräthigen Schüttmaterials – schimpfte heimlich auf die unglückselige Verwaltung, die dieses Land civilisiert hatte.

Wiederholt versuchte Clovis Dardentor zwar, den Bann zu brechen, die alten Bande wieder zu verknüpfen... er ließ einige Raketen los, sein Feuerwerk verpuffte aber wirkungslos in der Luft.

»Na, die fangen entschieden an, mich zu langweilen!« knurrte er.

Gegen elf Uhr ging es wieder weiter, zunächst über eine Brücke des Chouly, eines hurtigen Armes des Isser, dann längs eines Waldes, an Steinbrüchen und an den Ruinen von Hadjar-Roum vorüber, und gegen sechs Uhr abends erreichte man ohne Unfall das Vorwerk von Lamoricière.

Nach so kurzem Aufenthalt in Tlemcen konnte nicht davon die Rede sein, in diesem Ouled-Mimoun von zweihundert Einwohnern, der den Namen des berühmten Generals trägt, zu verweilen. Bemerkenswerth wegen seines kühlen, fruchtbaren Thales, bietet das einzige Gasthaus des Ortes doch keinerlei Bequemlichkeit. Hier wurden »sogenannte« weiche Eier vorgesetzt, die da hätten am Spieß gebacken sein können. Zum Glück war der Beamte Derivas nicht anwesend, sonst wäre es ohne derbe Vorwürfe nicht abgegangen. Zum Ersatze wurden die Touristen jedoch von Eingebornen mit einem Ständchen beehrt. Vielleicht hätten [218] sie das Concert abgelehnt, sie fügten sich aber auf Verlangen Dardentor's, dessen schlechte Laune doch keiner zu verschlimmern wagte.

Die Serenade wurde also im großen Saale des Gasthauses ausgeführt, war aber freilich kaum des Anhörens werth.

Sie bestand aus einer sogenannten »Nouba« von drei verschiedenen arabischen Instrumenten, einem »Tebeul«, d. i. einer großen Trommel, die auf beiden Schallflächen mit zwei dünnen Holzklöppeln geschlagen wurde, ferner aus der »Rheïta«, einer zum Theil metallnen Flöte, deren scharfer Ton fast dem einer Kindertrompete gleicht, und endlich dem »Nouara«, der aus zwei halben, mit getrockneter Thierhaut überzogenen Flaschenkürbissen besteht. Wenn eine »Nouba« gewöhnlich von graziösen Tänzen begleitet ist, so standen solche heute Abend wenigstens nicht auf dem Programm.

Nach Schluß der kleinen Festlichkeit rief Dardentor mit voller Stimme:

»Bezaubernd... ich bin ganz hingerissen!«

Da niemand eine gegentheilige Ansicht zu äußern wagte, ließ er den Eingebornen durch Moktani seine Anerkennung aussprechen und begleitete diese auch noch mit einem recht anständigen Trinkgeld.

Ob der Perpignaneser wirklich so zufrieden war, wie er sich stellte, ist zwar fraglich. Dagegen gab es unter den Zuhörern einen, dessen Befriedigung sicher nichts zu wünschen übrig ließ. Während der Nouba hatte einer der beiden Vettern – welcher, ist ja leicht zu errathen – ein Plätzchen neben Fräulein Elissane zu finden gewußt und ihr wahrscheinlich »die drei Worte«, die in seinem Herzen geschrieben standen und in dem des jungen Mädchens ein Echo fanden, zugeflüstert.

Zeitig am nächsten Morgen erfolgte der Aufbruch der Touristen, die dem Endziel der Reise voll Ungeduld entgegensahen. Nach Lamoricière und bis zum Aïn-Tellout folgten sie auf etwa zehn Kilometer der in Bau begriffenen Bahnstrecke. Dann zweigt die Straße nach Nordosten hin ab und schneidet wenige Kilometer vor Sidi-bel-Abbès eine andre, noch unvollendete Bahnlinie, die nach Südoran führt.

Erst mußten hier ausgedehnte Alfaanpflanzungen und bis zum Horizonte reichende Getreidefelder durchzogen werden. Längs der Straße gab es zahlreiche Ziehbrunnen, obwohl die Oueds Mouzen und Zehenna hier schon ziemlich viel Wasser führen. Wagen und Pferde bewegten sich so schnell wie möglich dahin, um die noch übrige Strecke in einem Tage zu überwinden.

[219] Jetzt ließ man sich nicht mehr durch fröhliches Geplauder aufhalten, auch bot die Straße nichts Sehenswerthes, nicht einmal Ruinen aus der Römer- oder Berberzeit.

Die Temperatur war ziemlich hoch, zum Glück milderte eine Wolkendecke den Sonnenbrand, der in dieser waldlosen Gegend unerträglich gewesen wäre. So ging es durch Felder ohne Bäume. durch Ebnen ohne Schatten bis zur Zeit des Frühstücks weiter.

Es war elf Uhr, als die Karawane auf ein Zeichen des Führers Halt machte. Wäre sie um einige Kilometer nach links abgewichen, so hätte ihr der Wald von Ouled-Mimoun einen recht hübschen Platz zu kurzer Rast geboten. Noch einen Umweg zu machen, schien aber nicht rathsam.

So setzten sich also Alle in Einzelgruppen an der Straßenböschung zum Frühstück nieder. Da gab es die Gruppe Dósirandelle-Elissane, der natürlich Louise sich anschließen mußte; ferner die Gruppe Jean-Marcel, und der junge Mann, der sich dem jungen Mädchen nicht zu nähern suchte, zeigte dabei eine zarte Zurückhaltung, für die jene gewiß erkenntlich war. Wahrscheinlich waren Beide von Lamoricière ab weiter vorwärts gekommen, als die Karawane, und einem Ziele entgegen, das Sidi-bel-Abbés wohl nicht war.

Endlich gab es die Gruppe Dardentor, die nur aus der Person dieses Namens bestanden hätte, wenn unser Perpignaneser sich nicht in Ermanglung erwünschterer Gesellschaft mit der des Herrn Oriental begnügt hätte.

So saßen sie Beide bei einander und plauderten zusammen von allerlei... von der Reise vorzüglich, die ohne Zwischenfälle zu Ende gehen sollte. Von der Abfahrt an hatte es keine Verspätung, keine Unfälle ernsterer Art gegeben. Die Touristen waren wohlauf, höchstens, besonders die Damen, etwas ermüdet. Noch gegen sechs Stunden bis Sidi-bel-Abbès, dann brauchte man nur noch in einen Waggon erster Classe zu steigen, um schnell nach Oran zurückzukommen.

»Und sind Sie befriedigt, Herr Oriental? fragte Clovis Dardentor.

– Vollkommen, Herr Dardentor, versicherte der Montólimarer. Die Rundreise war vorzüglich arrangiert, und die Frage der Nahrung selbst in den kleinsten Dörfern in annehmbarster Weise gelöst.

– Diese Frage scheint Ihnen von besondrer Bedeutung gewesen zu sein?

– Gewiß; ich habe mir unterwegs sogar einige Proben von Nahrungsmitteln verschaffen können, von denen ich bisher nichts wußte.

– Mich freilich, Herr Oriental, hätte die Sorge für Stopfmaterial...

[220] – Hm! brummte Patrice, der seinen Herrn bediente.

–... für den »Gaster«, für den Magen, sehr kalt gelassen, meinte Clovis Dardentor.

– Meiner Ansicht nach, erwiderte Herr Oriental, nimmt sie doch bezüglich des leiblichen Fortbestandes die erste Stelle ein.

– Nun, lieber Herr, gestatten sie mir, Ihnen zu gestehen, daß wir, wenn wir auf einen Dienst von Ihnen hofften, nicht auf culinarische, sondern auf astronomische Unterstützung gehofft hätten.

– Astronomische?... wiederholte Herr Oriental.

– Jawohl, zum Beispiel, wenn unser Führer sich verirrt hätte... wenn wir, Dank Ihren vielfachen Messungen der Sonnenhöhe, auf Ihre Beobachtungen hätten zurückgreifen müssen, um den richtigen Weg wieder zu finden...

– Ich hätte die Sonnenhöhe gemessen!...

– Ohne Zweifel... am Tage... oder die Sternenhöhe in der Nacht. Sie wissen doch, die Declinationen...

– Welche Declination?... Rosa, die Rose; rosae, der Rose...

– O, charmant! rief Herr Dardentor und brach in lautes Lachen aus, das bei den andern Gruppen keinen Widerhall fand.

– Nun, ich meine, mit Hilfe Ihrer Instrumente... Ihres Sextanten... wie die Seeleute... des Sextanten, der doch in Ihrer Reisetasche steckt.

– Ich... ich soll einen Sextanten in der Reisetasche haben?

– Doch höchst wahrscheinlich... denn das Fernrohr, das ist zwar anwendbar für Betrachtung von Landschaften, wenn es sich um den Durchgang der Sonne durch die Mittagslinie handelt...

– Ich verstehe Sie nicht!

– Sind Sie denn nicht der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar?

– Der Gastronomischen, lieber Herr, der Gastronomischen Gesellschaft!« antwortete Herr Oriental stolz. Diese Antwort, die so vieles, bisher Unerklärliche erklärte, ließ, als Dardentor sie wiederholt hatte, sogar über Jeans Gesicht wieder etwas Sonnenschein aufleuchten.

»Dieser Schafkopf von Patrice, der uns an Bord des »Argeles« sagte... rief er.

– Wie? Der Herr ist nicht Astronom? fragte der würdige Diener.

– Nein... Gastronom... bist Du denn taub?... Gas-tro-nom!

[221] – Da hab' ich den Restaurateur falsch verstanden, entschuldigte sich Patrice, und das kann jedermann einmal vorkommen!

– Und ich habe glauben können... rief der Perpignaneser... ich hielt Herrn Oriental für einen... und doch ist er nur ein... Wahrlich, da könnte man sich das Rückgrat verrenken!... Nun, mach Dich aber auf die Strümpfe, Patrice, und drücke Dich aus meinem Gesichtskreise!«

Verwirrt durch sein Mißverständniß, noch mehr aber durch die grobe Beleidigung, die ihm durch so vulgäre Ausdrücke widerfahren war, trollte Patrice davon. »Sich das Rückgrat verrenken«, das war das erstemal, daß sein Herr sich ihm gegenüber eines solchen Ausdruckes bediente, und sollte auch das letztemal gewesen sein, sonst wollte Patrice sich eine neue Stellungsuchen... womöglich bei einem Mitgliede der Französischen Akademie, der eine gewähltere Sprache liebte, natürlich nicht bei Zola...

Jetzt trat Jean Taconnat heran.

»Sie werden ihm verzeihen, nicht wahr, Herr Dardentor? fragte er.

– Ja, warum denn?

– Weil das nicht die Sache danach ist, einen Menschen aufzuhängen. Ein Gastronom ist ja am Ende auch ein Astronom, nur mit der Schlinge des G voran.«

Clovis Dardentor mußte lachen.

»O, diese Pariser, mit denen soll Einer auskommen!... Die verstehn's, einen Andern zu nehmen! Nein, das käme in Perpignan nicht vor, und die Perpignaneser sind doch auch nicht auf den Kopf gefallen... gewiß nicht.

– Zugegeben, sagte Jean Taconnat für sich, sie haben nur zu sehr die Mucke, sich als Retter aufzuspielen!«

Bald ging es wieder weiter. Den Alfapflanzungen folgten Colonisationsländereien. Gegen ein Uhr wurde der Weiler Lamtar erreicht, genau an der Kreuzungsstelle eines kleinen Nebenweges, der den großen Communicationsweg von Aïn-Temouchent mit der staatlichen Landstraße nach Sidi-bel-Abbès verbindet. Um drei Uhr erfolgte die Ankunft an der Brücke nach Mouzen, an der Stelle, wo sich der gleichnamige Oued mit einem seiner Nebenflüsse vereinigt, und um vier Uhr da, wo die beiden vorgenannten Straßen sich ein wenig unterhalb Sidi-Kraleds und wenige Kilometer von Sidi-Lhassen treffen, nachdem sie ein Stück weit den Lauf des Mekerra – d. i. der Name, den der Sig hier annimmt – begleitet haben.

[222] Sidi-Lhassen bildet eine Art Vorwerk mit sechshundert Einwohnern, meist Deutschen und Eingebornen. Hier sollte nicht gehalten werden.

Plötzlich – es war etwa halb fünf Uhr – machte das Mehari des an der Spitze reitenden Führers einen Seitensprung. Vergeblich suchte er, ihm zuzureden, das Thier weigerte sich zu gehorchen und wich immer weiter zurück.

Fast gleichzeitig bäumten sich die unruhig gewordenen Pferde der jungen Leute und ließen ein erschrecktes Wiehern hören. Trotz Sporens und Zügels drängten sie sich nach den Wagen hin, deren Gespanne ebenso ein auffallendes Entsetzen verriethen.

»Was giebt es denn?« fragte Clovis Dardentor.

Schnüffelnd und in der Ferne etwas witternd, kauerte sich sein Mehari eben nieder.

Auf seine Frage antwortete ein doppeltes Gebrüll, über dessen Natur sich niemand täuschen konnte. Es kam etwa hundert Schritte weit aus einem Piniendickicht hervor.

»Da sind Löwen!« rief der Führer.

Begreiflicher Weise packte die Karawane der Schrecken. Solche Raubthiere in unmittelbarer Nähe und am hellen Tage, Bestien, die gewiß schon zum Sprunge ausholten...

Voller Entsetzen beeilten sich Frau Elissane, Frau Désirandelle und Louise, ihren Wagen zu verlassen, dessen Maulthiere die Stränge zu zerreißen suchten, um zu entfliehen.

Zuerst wollten die Damen, die Herren Désirandelle Vater und Sohn und Herr Oriental ganz instinctiv zurücklaufen und sich nach dem einige Kilometer entfernten Vorwerk flüchten.

»Alle da bleiben!« rief da aber Clovis Dardentor mit so befehlender Stimme, daß er sich passiven Gehorsam erzwang.

Frau Désirandelle hatte übrigens die Besinnung verloren. Die Pferde und die Kameele hatten der Führer und die Eingebornen im Handumdrehen fest zusammengekoppelt, so daß diese nicht ausreißen konnten.

Marcel Lornans war nach dem zweiten Wagen gelaufen und brachte mit Hilfe Patrice's Gewehre und Revolver herbei, die sofort geladen wurden.

Dardentor und Marcel Lornans erhielten die Gewehre, Jean Taconnat und Moktani ergriffen Revolver. Alle hielten sich bei einer Gruppe von Terpentinsichten [223] an der linken Böschung der Straße zusammen. Hier in der öden Landschaft war auf keine Hilfe zu rechnen.

Von neuem dröhnte das Gebrüll und fast gleichzeitig tauchte am Waldsaume ein Raubthierpaar auf.


Als noch ein Schuß krachte... (S. 227.)

Es war ein Löwe und eine Löwin von außerordentlicher Größe, deren gelbliches Fell lebhaft gegen das dunkle Grün der Aleppopinien abstach.

Würden sich die Thiere nun auf die Karawane stürzen, die sie mit glühenden Augen anstarrten, oder würden sie, von der Zahl der Gegner erschreckt, [224] in das Gehölz zurückweichen und den Weg freigeben?


»Mit einem solchen Menschen ist nichts anzufangen.« (S. 228)

Zuerst thaten sie nur langsam einige Schritte nach vorwärts und ließen dabei ein leises Knurren vernehmen.

»Daß niemand sich rührt, ermahnte Herr Dardentor, wir werden unsre Sache schon machen!«

Marcel Lornans warf einen Blick auf das junge Mädchen. Wieder zu sich gekommen, doch wachsbleich und mit entstellten Zügen, suchte sie ihre Mutter zu beruhigen. Dann traten Jean Taconnat und er, zehn Schritte über die [225] Bäume hinaus, neben Clovis Dardentor und Moktani heran. Eine Minute später krachte, da die Raubthiere sich genähert hatten, der erste Schuß. Der Perpignaneser hatte auf die Löwin gefeuert, diesmal aber hatte ihn seine gewöhnliche Gewandtheit im Stich gelassen, und nur am Halse gestreift, stürzte das Thier unter schrecklichem Brüllen auf die Männer zu. Als in demselben Augenblicke auch der Löwe heransprang, gab Marcel Lornans auf ihn Feuer.

»Ich Ungeschickter!« rief Herr Dardentor wegen seines verfehlten Schusses.

Marcel Lornans brauchte sich einen solchen Vorwurf nicht zu machen, denn er hatte den Löwen an der Schulter getroffen. Die dicke Mähne mochte die Kugel aber abgeschwächt haben, so daß sie nicht tödtlich wirkte, und mit verdoppelter Wuth sprang das Thier vorwärts, ohne sich von drei Revolverkugeln Taconnat's aufhalten zu lassen.

Alles das hatte sich in wenigen Secunden abgespielt, und ehe die Gewehre wieder geladen werden konnten, waren die Raubthiere an der Baumgruppe angelangt.

Marcel Lornans und Jean Taconnat wurden von der Löwin umgerannt, die schon die Tatzen über sie erhoben hatte, als eine Kugel Moktani's sie auf einen Moment ablenkte. Dann stürzte sie sich aber wieder, den Angriff erneuernd, auf die am Boden liegenden jungen Leute.

Das Gewehr des Herrn Dardentor krachte ein zweites Mal. Die Kugel schlug der Löwin in die Brust, doch ohne das Herz zu treffen, und wenn sich die beiden Vettern jetzt nicht aufspringend etwas zur Seite geflüchtet hätten, wären sie gewiß nicht mit gefunden Gliedern davongekommen.

Trotz der schweren Verwundung war die Wuth der Löwin noch immer zu fürchten. Der Löwe, der jetzt an ihrer Seite war, stürzte mit ihr auf die Gegner los, unter denen die Todesangst der Pferde und andern Gespanne die Verwirrung und das Entsetzen noch vermehrten.

Von dem Löwen gepackt, wurde Moktani ganz blutüberströmt gegen zehn Schritte weit hingezerrt. Jean Taconnat, den Revolver in der Hand, und Marcel Lornans mit dem neugeladenen Gewehre eilten wieder der Böschung zu. Da donnerten aber zwei Schüsse fast gleichzeitig und machten der Löwin ein Ende, die mit einem letzten Satze fast schon leblos zusammenbrach.

Mit einem zwanzig Fuß weiten Sprunge fiel der Löwe jetzt in höchster Wuth über Dardentor, der, unfähig von seiner Waffe Gebrauch zu machen und zur Erde stürzend, in Gefahr war, von der Last des Thieres erdrückt zu werden...

[226] Jean Taconnat stürmte bis auf drei Schritte vor dem Löwen auf ihn zu und – er dachte jetzt gewiß nicht an die im Civilgesetzbuch vorgeschriebenen Bedingungen einer Adoption – drückte am Abzug seines Revolvers, der im Augenblicke der höchsten Noth... versagte...

Vor Angst unsinnig, hatten die Pferde und Gespanne sich voneinander losgerissen und jagten über die Felder hin. Moktani, der seine Waffe verloren hatte, schleppte sich wieder nach der Böschung, während Herr Désirandelle, Herr Oriental und Agathokles selbst zitternd noch vor den Damen standen...

Clovis Dardentor hatte sich nicht aufrichten können, und schon wollte der Löwe die Tatze in seine Brust einschlagen, als noch ein Schuß krachte...

Mit durchbohrtem Schädel warf das gewaltige Thier den Kopf nach rückwärts und fiel todt an der Seite des Perpignanesers nieder.

Louise Elissane war es gewesen, die Moktani's Revolver aufgehoben und aus unmittelbarer Nähe auf das Thier gefeuert hatte.

»Gerettet... durch sie gerettet! rief Dardentor. Und sie steckten nicht in Schaffellen und hatten keine Rollen an den Beinen, diese Löwen hier!«

Dann erhob er sich mit einem Sprunge, der dem neben ihm liegenden Könige der Thiere keine Schande gemacht hätte.

Was also weder Jean Taconnat noch Marcel Lornans hatte thun können, das hatte das junge Mädchen gethan! Wohl verließen sie gleich danach die Kräfte und sie wäre umgefallen, wenn Marcel sie nicht mit den Armen aufgefangen und zu ihrer Mutter geführt hätte.

Jede Gefahr war vorbei, und was hätte Herr Dardentor jetzt mehr sagen können, als jene ersten, an Louise Elissane gerichteten Worte, die ihm tief aus dem Herzen gekommen waren?

So ging denn unser Perpignaneser mit Patrice und den Eingebornen zunächst daran, die entflohenen Pferde und Maulthiere wieder einzufangen. Das gelang ihnen bald, denn die durch den Tod des Löwenpaars beruhigten Thiere kamen schon von selbst nach der Straße zurück.

Der an Hüfte und Armen schwerverletzte Moktani wurde auf den einen Wagen niedergelegt, und Patrice mußte seinen Platz zwischen beiden Höckern des Meharis einnehmen, wo er sich als eben so vollendeter Sportsman erwies, als wenn er einen Vollblut-Araber geritten hätte.

Als Marcel Lornans und Jean Taconnat ihre beiden Pferde wieder bestiegen hatten, sagte der zweite zu dem ersten:

[227] »Nun siehst Du... da hat er auch noch uns Beide gerettet, der ostpyrenäische Neufundländer! Nein, mit einem solchen Menschen ist nichts anzufangen!

– Rein gar nichts!« bestätigte Marcel Lornans.

Die Karawane setzte sich wieder in Gang. Eine halbe Stunde später erreichte sie Sidi-Lhassen und stieg um sieben Uhr am besten Hôtel von Sidibel-Abbès ab.

Zunächst wurde ein Arzt geholt, um Moktani in Behandlung zu nehmen, und dieser erkannte, daß die Verwundungen des Führers keine ernsteren Folgen haben würden.

Um acht Uhr speisten Alle gemeinschaftlich... eine schweigsame Mahlzeit, während der Alle wie auf Verabredung des Ueberfalls durch die Raubthiere gar nicht erwähnten.

Beim Nachtisch aber stand Herr Dardentor auf und wandte sich an Louise in so ernstem Tone, wie man ihn von ihm gar nicht gewöhnt war.

»Liebes Fräulein, begann er, Sie haben mir das Leben gerettet...

– O, ich bitte Sie, Herr Dardentor, rief das junge Mädchen, deren Wangen sich purpurroth färbten.

– Ja, gerettet... gerettet aus einem Kampfe, worin ich ohne Ihr muthiges Eintreten das Leben verloren hätte! Mit Erlaubniß Ihrer Frau Mutter wär' es nun, da Sie den im Artikel 345 des Civilgesetzbuches vorgeschriebenen Bedingungen entsprechen, mein lebhaftester Wunsch, Sie zu adoptieren...

– Herr Dardentor... rief Frau Elissane, ich bin ganz bestürzt über Ihren Vorschlag...

– Keine Widerrede, unterbrach sie der Perpignaneser, denn wenn Sie nicht zustimmen...

– Nun, wenn ich nicht zustimme...

– Heirate ich Sie, verehrte Frau, und da wird Fräulein Louise ganz von selbst doch meine Tochter!«

[228]

16. Capitel

Sechzehntes Capitel.
Worin eine den Wünschen des Herrn Dardentor entsprechende Lösung diesen Roman abschließt.

Am nächsten Morgen um neun Uhr entführte der Zug von Sidi-bel-Abbès den Bruchtheil der Karawane, der nach vierzehntägiger Reise nach seinem Ausgangspunkte zurückkehren sollte.

Dieser Bruchtheil umfaßte Herrn Dardentor, Frau und Fräulein Elissane, das Désirandelle'sche Ehepaar und dessen Sohn Agathokles, ferner Jean Taconnat und Marcel Lornans, von Patrice zu schweigen, der nur danach verlangte, sein ruhiges, regelmäßiges Leben in dem Hause am Logeplatze in Perpignan wieder aufzunehmen.

Freiwillig oder gezwungen verblieben in Sidi-bel-Abbès der Führer Moktani, der hier die sorgsamste Pflege fand und von Dardentor königlich belohnt worden war, sowie die beiden Eingebornen, die im Dienst der Algerischen Eisenbahngesellschaft standen.

Herr Eustache Oriental, der Vorsitzende der Gastronomischen Gesellschaft in Montélimar, war nicht der Mann dazu, sofort eine Stadt zu verlassen, der man den Spitznamen »Biscuitville« gegeben hat, ohne sie bezüglich der Leckereien, die sie bot, durchstudiert zu haben.

Die bedeutende Ortschaft zählt siebzehntausend Bewohner, darunter viertausend Franzosen, fünfzehnhundert Juden, und der Rest Eingeborne. Diese Arrondissementshauptstadt gehörte früher zu dem Gebiete der Beni-Amor, die über die Grenze zurückweichen und nach Marokko flüchten mußten. Die neue, aus dem Jahre 1843 stammende Stadt zeigt mit ihren, vom Mekerra bewässerten Umgebungen ein blühendes Gedeihen. Auf einer Abdachung des Tessala erbaut, liegt sie in einer Höhe von vierhundertzweiundsiebzig Metern halb im Grün versteckt.

Doch trotz aller Reize, die die Stadt hat, war es jetzt Herr Dardentor, der die schleunigste Abreise betrieb. Niemals hatte er noch eine solche Sehnsucht empfunden, nach Oran zurückzukehren.

[229] Es dürfte ja niemand verwundern, daß sein Anerbieten, Louise Elissane zu adoptieren, im Princip gern angenommen worden war und auch ohne die Verpflichtung für die vortreffliche Dame, die Gattin des Herrn Dardentor zu werden! Ein Adoptivvater mit zwei Millionen, der Junggesell zu bleiben entschlossen war, der wird wohl nirgends unter der Sonne ausgeschlagen. Der Form und der Discretion halber setzte Frau Elissane der Sache zwar erst einigen Widerstand entgegen, doch das war nicht von Dauer. Das junge Mädchen mochte immerzu sagen:

»Ueberlegen Sie sich es reiflich, Herr Dardentor!

– Ist schon alles überlegt, gab er ihr zur Antwort.

– Sie können nicht das Opfer bringen....

– Ich kann es und ich will es, Töchterchen!

– Sie werden es vielleicht bereuen....

– Nie, Papas Herzblättchen!«

Schließlich hatte Frau Elissane als eine praktische Frau, der die Vortheile der Sache einleuchteten – was ja nicht schwierig war – Herrn Dardentor ihren herzlichen Dank ausgesprochen.

Auch die Désirandelle's konnten sich vor Freude nicht fassen. Welch große Mitgift brachte nun Louise ihrem einstigen Gatten zu!... Welch ein Vermögen wurde das in Zukunft! Welch reiche Erbin!... Und alles das für Agathokles, denn jetzt zweifelten sie gar nicht mehr, daß ihr Freund, ihr Landsmann Clovis Dardentor, seinen väterlichen Einfluß zum Besten des guten Jungen geltend machen müsse. Das war gewiß sein Hintergedanke bei der Sache gewesen... ihr Sohn würde nun gar der Eidam des reichen Perpignanesers!

Alle stimmten also darin überein, baldigst nach Oran zurückzukehren. Ueber Jean Taconnat und Marcel Lornans wäre nur Einzelnes zu bemerken.

Der Erstere, der nun endgiltig aus dem Reich der Träume, wohin ihn seine Phantasie verlockt hatte, zurückgekommen war, rief an jenem Morgen:

»Hoch, Dardentor soll leben! Da es uns nicht beschieden war, seine Söhne zu werden, so bin ich doch entzückt, daß die reizende Louise seine Tochter wird. – Und Du, Marcel?«...

Der junge Mann schwieg.

»Doch, fuhr der Andere fort, ist das auch, vom gesetzlichen Standpunkte aus betrachtet, wirklich giltig?

– Was denn?

[230] – Ein Kampf gegen Löwen?

– Ob gegen Thiere oder gegen Menschen, ein Kampf bleibt immer ein Kampf, und es ist nicht zu bestreiten, daß Fräulein Elissane Herrn Dardentor gerettet hat.

– Ei, Marcel, es ist doch ein Glück, daß wir nicht gleichzeitig mit Fräulein Louise Elissane an der rettenden That betheiligt waren.

– Weshalb denn ein Glück?

– Weil er uns vielleicht alle Drei hätte adoptieren wollen.... In diesem Falle wäre sie unsre Schwester geworden und Du hättest nie daran denken können....

– Ja freilich, antwortete Marcel Lornans gereizt, das Gesetz verbietet die Ehe zwischen.... Uebrigens denk' ich gar nicht mehr daran....

– Armer Freund!... Armer Junge! Du liebst sie doch wohl?

– Ach ja, Jean, von ganzem Herzen!

– Welch ein Unglück, daß Du es nicht warst, der den zweifachen Millionär rettete!... Er hätte Dich zum Sohn erkoren, und dann...«

Ja, welch ein Unglück, das die beiden jungen Leute auch in recht trübe Stimmung versetzte, als der Zug, nachdem er im Norden die gewaltige Bergmasse des Tessala umkreist hatte, die Richtung nach Oran einschlug. Herr Dardentor hatte von Sidi-bel-Abbès also nichts gesehen, weder seine Wasser- und Windmühlen, noch seine Gyps- und Ziegelbrennereien oder seine bedeutenden Gerbereien, er hatte weder das Civil- noch das Militärquartier besucht, war nicht durch seine sich rechtwinklig schneidenden und mit schönen Platanen geschmückten Straßen gewandert, hatte nicht von dem frischen Wasser seiner zahlreichen Fontänen gekostet, war nicht durch die vier Thore seiner Ringmauer gekommen und hatte auch die prächtige Baumschule vor dem Dayathore nicht besucht.

Kurz, nachdem die Locomotive auf etwa zwanzig Kilometer dem Bett des Sig gefolgt, durch den Flecken Trembles und das Städtchen Saint-Lucien gekommen war und nachdem sie in Sainte-Barbe du Tlélat die Linie von Algier nach Oran erreicht hatte, lief sie nach einer Strecke von achtundsiebzig Kilometern gegen Mittag in den Hafen der Provinzialhauptstadt ein.

Endlich war die Rundreise glücklich abgeschlossen, bei der sich freilich einige von der Algerischen Eisenbahngesellschaft im Programme nicht vorhergesehene Zwischenfälle zugetragen hatten, die die Ausflügler gewiß niemals vergaßen.


Sie waren enttäuscht, wüthend... (S. 236.)

Während sich nun Herr Dardentor und die beiden Pariser nach ihrem Hôtel am Platze der Republik begaben, suchten Frau Elissane, ihre Tochter und die Désirandelle's nach vierzehntägiger Abwesenheit das Haus in der Alten Schloßstraße wieder auf.

[231]

Bei Dardentor durfte aber eine Sache nicht »verschleppt« werden – wir erlauben uns dieses Wort ohne Scheu, Patrice damit vor den Kopf zu stoßen. Er betrieb eifrigst die Angelegenheit dieser Adoption, die übrigens ziemlich compliciert ist.


»Du wirst mein Neffe, Bürschchen! (S. 237.)

Wenn er noch nicht fünfzig Jahre alt war, für Louise während [232] ihrer Minorität nicht gesorgt hatte, so stand doch fest, daß ihn Louise Elissane, entsprechend dem Artikel 345 des Civilgesetzbuches, aus einem Kampfe gerettet hatte. Die für den Adoptanten und den zu Adoptierenden vorgeschriebenen Bedingungen waren damit also erfüllt. Da unser Perpignaneser in dieser Zeit gar häufig nach der Alten Schloßstraße gerufen wurde, fand er es praktischer, gleich ganz in Frau Elissane's Haus überzusiedeln.

Inzwischen konnte man aber beobachten, daß der sonst so redselige und mittheilsame Herr Dardentor immer einsilbiger, fast schweigsam geworden war.

[233] Die Désirandelle's beunruhigte das, wenn sie die Hilfswilligkeit ihres Freundes auch nicht in Zweifel zogen. Auf Drängen seines Vaters und seiner Mutter bewarb sich Agathokles nun etwas dringlicher um eine Erbin, die einst mehr hunderttausend Francs besitzen sollte, als sie jetzt Jahre zählte.

Die Folge dieses Sachverhalts war übrigens, daß sich Marcel Lornans und Jean Taconnat von ihrem Retter jetzt recht vernachlässigt sahen. Seit dieser das Hôtel verlassen hatte, sahen sie ihn nur selten und höchstens beim zufälligen Begegnen auf der Straße, wo er, immer geschäftig, ein umfangreiches Actenbündel unter dem Arme trug Ohne Zweifel befand sich der »Perrichonismus« Clovis Dardentor's gegen die beiden Pariser jetzt in der Abnahme, der Ostpyrenäer schien sich gar nicht zu erinnern, daß er sie, erst jeden einzeln, aus den rauschenden Fluthen und den züngelnden Flammen, und einmal beide zugleich bei dem Kampfe mit den Raubthieren gerettet hatte.

»Mein lieber Marcel, äußerte deshalb eines schönen Morgens Jean Taconnat, wir müssen nun zu einem Entschluß kommen. Da wir hierher gereist sind, um Soldaten zu werden, so mag es dabei bleiben! Wann, denkst Du, wollen wir zu dem Unterintendanten und dann nach dem Recrutierungsbureau gehen?

– Morgen,« antwortete Marcel Lornans.

Als Jean Taconnat am andern Tage aber die nämliche Frage wiederholte, erhielt er ganz dieselbe Antwort.

Marcel Lornans betrübte es am meisten, daß er jetzt gar keine Gelegenheit hatte, Louise Elissane einmal zu sehen. Das junge Mädchen ging fast gar nicht aus. Die kleinen Abendgesellschaften in der Alten Schloßstraße hatten aufgehört. Man sprach unter der Hand schon von der bevorstehenden Vermählung des Herrn Agathokles Désirandelle mit Fräulein Louise Elissane. Marcel Lornans war in Verzweiflung.

Eines Morgens kam da Clovis Dardentor ins Hôtel, um die beiden jungen Leute zu besuchen.

»Na, liebe Freunde, platzte er ohne lange Vorrede heraus, wie steht's denn mit dem Engagement?...

– Morgen, antwortete Marcel Lornans.

– Ja, morgen, erklärte auch Jean Taconnat, unbedingt morgen, lieber Herr Dardentor!

– Morgen? wiederholte dieser, nein, nein, zum Teufel, nein, sag' ich. Ihr habt noch Zeit genug, unter die Siebenten Jäger zu kommen. Wartet nur [234] ein wenig.... die Sache eilt nicht so sehr. Ich wünsche Eure Anwesenheit bei einer von mir geplanten Festlichkeit....

– Zur Vermählung des Herrn Désirandelle und des Fräuleins Elissane? fragte Marcel Lornans, dessen Züge sich sichtbar veränderten.

– O nein, doch zum Feste der Adoption... vor der Heirat. Ich rechne auf Euch Beide. Auf Wiedersehen!«

Mit diesen Worten verließ er sie, solche Eile hatte der Mann.

Unser Perpignaneser hatte sich im Canton Oran, dessen Friedensrichter den Adoptionsact vollziehen sollte, eine eigene Wohnung nehmen müssen. Dann waren vor genanntem Richter die Parteien erschienen: Frau und Fräulein Elissane, auf der einen, Herr Clovis Dardentor auf der andern Seite, alle mit ihren Geburtszeugnissen und den Belegen für Erfüllung der vorgeschriebenen Bedingungen für den Adoptanten und die zu Adoptierende.

Nach Erklärung der beiderseitigen Zustimmung setzte der Friedensrichter den Vertrag auf. Der Actuar des letzteren faßte dann das Ganze in ein Protokoll zusammen – dazu brauchte er zehn Tage – dem die Geburtsscheine, die Zustimmungserklärungen nebst den nöthigen Belegen beigefügt wurden, und schließlich gelangte das Fascikel durch Vermittlung eines Rechtsanwaltes an den Procurator der Republik.

»Das ist aber auch ein Hin- und Herjagen, eine ewige Scheererei, schimpfte Herr Dardentor. Da kann Einem ja die Galle überlaufen!«

Nach Einsicht der Acten erklärte das erstinstanzliche Gericht, daß gegen die Adoption nichts einzuwenden sei. Hierauf wurde dieses Erkenntniß nebst den Acten an das Appellationsgericht in Algier gesendet, dessen Ausspruch denselben Tenor hatte. Dabei verging aber eine Woche nach der andern. Und die beiden Pariser gingen jeden Morgen am Militärbureau vorüber, traten aber niemals hinein.

»Nun geh' mir Einer! sagte Dardentor. Der kürzeste Weg, ein Kind zu bekommen, ist doch der, daß man sich verheiratet!«

Nach der amtlichen Gestattung der Adoption wurde dieses Erkenntniß an dazu bestimmten Stellen und in vorschriftsmäßiger Anzahl von Exemplaren öffentlich ausgehängt. Clovis Dardentor, der die Angelegenheit am fleißigsten betrieb, hatte den Erlaß gleich durch Druck vervielfältigen und mit amtlichem Stempel versehen lassen. Endlich, endlich erfolgte die Uebersendung des Erkenntnisses an den Standesbeamten von Oran, der am Tage der Vorstellung der [235] Betheiligten einen Eintrag in das Geburtsregister machen sollte – eine Formalität die binnen drei Monaten erfüllt sein muß, sonst wird die Adoption wieder für null und nichtig erklärt.

Im vorliegenden Falle zögerte man damit keine drei Monate, nicht einmal drei Tage.

»Na, nun ist die Sache doch fertig!« rief Herr Dardentor.

Das Ganze machte etwa dreihundert Francs Kosten, Herr Dardentor hätte aber gerne das Doppelte oder das Dreifache aufgewendet, wenn es dadurch zu beschleunigen gewesen wäre.

Kurz, der Tag der Ceremonie kam endlich heran und das angekündigte Fest fand im großen Prunksaale des Hotels statt. Der Speisesalon der Frau Elissane hätte die eingeladenen Gäste nicht alle aufnehmen können. Hier versammelten sich Jean Taconnat, Marcel Lornans, verschiedene Freunde und Bekannte, selbst der inzwischen nach Oran zurückgekehrte Herr Eustache Oriental, dem unser Perpignaneser eine vielversprechende Einladung hatte zugeben lassen, die nach Gebühr dankend angenommen wurde.

Zum größten Erstaunen der Einen und zur größten Befriedigung der Andern befanden sich die Dósirandelle's aber nicht unter den Theilnehmern. Sie waren am Abend vorher enttäuscht, wüthend und auf Dardentor fluchend bis zum letzten Glied der etwaigen Descendenten seiner Adoptivtochter, mit dem »Argeles« abgereist, wo sich der Kapitän Bugarach und Doctor Bruno wegen ihrer Ernährung nicht zu ruinieren brauchten, denn selbst Agathokles hatte schließlich allen Appetit verloren.

Wir brauchen kaum hervorzuheben, daß die treffliche Mahlzeit voller Lust und Fröhlichkeit verlief, daß Marcel Lornans hier Louise Elissane im ganzen Glanze ihrer Schönheit wiederfand und Jean Taconnat ein Klagelied auf die Abfahrt des »Kleinen Gagathokies« gedichtet hatte, ohne daß er es – aus zarter Rücksicht – vorzutragen wagte, und daß Herr Eustache Oriental, bis an die Ohren in der Serviette steckend, von allem, doch nur mäßig, aß und von allem, doch mit Zurückhaltung, trank.

Den Glanzpunkt der Tafel bildete aber die Ansprache des Herrn Dardentor vor dem Dessert.

Wie weise hatten die Désirandelle's daran gethan, sich am Tage vorher einzuschiffen, und welches Gesicht hätten sie in diesem feierlichen Augenblicke wohl gemacht!

[236] »Meine Damen und Herren! Ich danke für Ihre wohlwollende Theilnahme an dieser Ceremonie, die einen meiner innigsten Wünsche krönen wird.«

Patrice konnte nach diesem Anfange hoffen, daß der Speech diesmal auch in anständiger Weise enden werde.

»Ich mache Sie übrigens aufmerksam, geehrte Anwesende, daß, wenn das Diner vielleicht Ihren Beifall fand, das Dessert noch besser ausfallen dürfte, Dank dem Erscheinen eines neuen Gerichts, das der Speisezettel nicht anführte.«

Patrice begann einige Unruhe zu empfinden.

»Oh, oh!... Noch ein neues Gericht! sagte Herr Eustache Oriental, mit der Zunge schnalzend.

– Ich brauche Ihnen, fuhr Dardentor fort, unsre reizende Louise nicht vorzustellen, die deren vortreffliche Mutter mir zu adoptieren gestattet hat und die, während sie ihre Tochter bleibt, auch hiermit die meinige geworden ist....«

Einstimmiger lauter Beifall und auch einige Thränen in den weiblichen Augen der Zuhörerschaft.

»Mit Zustimmung ihrer Mutter bringe ich also unsre Louise zum Dessert dar, wie ein Gericht von der Tafelrunde der Götter....«

Enttäuscht setzte Herr Oriental die Zunge wieder in Ruhe.

»Doch wem? werden Sie fragen, liebe Freunde... Einem unsrer Tischgenossen... hier dem wackeren Marcel Lornans, der damit mein Sohn wird...

– Und ich? konnte sich Jean Taconnat nicht enthalten, dazwischen zu rufen.

– Du wirst mein Neffe, Bürschchen! Doch nun, Musik! Bum, bum!... Piff, paff! Alles Hochzeitsfeuerwerk heraus, daß Alles in Scherben geht!«

Patrice hatte sich das Gesicht mit der Serviette verhüllt.

Brauchen wir noch hinzuzufügen, daß Marcel Lornans in der nächstfolgenden Woche feierlichst mit Louise Elissane getraut wurde, und daß weder sein Name noch der Jean Taconnat's jemals in der Stammrolle der Siebenten Afrikanischen Jäger zu lesen war?...

Doch, wird der freundliche Leser sagen, das endigt ja wie ein Vaudeville? Zugegeben, was ist diese Erzählung auch anders, als ein Vaudeville ohne Couplets mit der unumgänglichen Heirat beim Fallen des Vorhangs?...


Ende.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Clovis Dardentor. Clovis Dardentor. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8743-8