[13] Der Wanderer zu Athen

Wanderer.

Knabe, was streckt dort
Ueber's Gesträuch
Das graue Haupt empor?
Beweglos, kühn aufstrebend,
Starrt es in's Auge
Mit riesigen Formen.
Knabe.

Steige den Bergpfad,
Den krummgewund'nen,
Nur hinan!
Du wirst es sehn,
Staunen, Wanderer!
Wanderer.

Wohin ich blicke,
Alt vermorscht Gestein,
[14]
Ueber einander geworfen,
Gestürzte Säulen,
Regellos zu Schutt und Trümmer
Schaurig aufgehäuft,
Schwarze, gebrochne Reste,
Wildwechselnd gethürmt,
Aufragend in düster'm Grau.
Aus jungem, keimendem Gras.
Knabe.

Das all' hat
Gestürzt die Zeit!
Wanderer.

Blühender Griechenknabe,
Staunst auch du?
Wie stürzt allzerstörend
Menschenwerk
Deine Macht, Zeit,
Ewige Riesin!
Wie bebt donnernd
Im Kreise, was er baute
Der schaffende Mensch!
Drückst deine Spur
Jedem gefugten Stein,
Auflösend, verwüstend,
[15]
Allfurchtbar,
Ins graue Antlitz.
Knabe.

Schau', Wanderer,
Wie um den Architrav,
Sich krümmend, umwebend,
Die heitere Blume blüht!
Wanderer.

Ach! neben dem Tod,
Dem kalten Sohn
Der ewigen Zeit,
Regt, sich erneuend,
Keime drängend und wechselnd,
Wieder sich ein schwellend Leben.
Knabe.

Freue dich,
Finsterer Fremdling!
Oben sind wir!
Ach wie schön!
Wanderer.

Mich durchwallt
Tieferer Schauer.
Welcher Anblick!
[16] Knabe.

Staunst, Fremdling?
Wanderer.

Wie der dorischen Säule
Alte Triglyphen
Grüne Laubranken
Schattend überwölben!
Und die morschen,
Epheuumwachsenen Dielenköpfe
Wie sie starren!
Welche Stille!
Nur der Wind
Regt leise schüttelnd und bewegend,
Um die öden Säulen,
Lispelnd die Lorbeerwipfel!
Schauriges Flüstern!
Knabe.

Hier an's durchbroch'ne
Graue Gemäuer tritt,
Sinnender Wand'rer!
Hinüber dringst du,
Durch's wankende Laub,
Ueber die Stadt
[17]
Drunten im Thale!
Dort der vollgrüne Berg
Mit der ragenden Säulenkrone,
Ist die Akropolis!
Und das Blaue
Drüber hinein,
Dort!
Ist das Meer!
Wanderer.

Welch' Gefühl,
Welch' ahnungsvolle Wonne
Drängt sich an dich,
Pochend Herz?
Fühlst du ihn wehen
Bangschauernd durch die Stille,
In Luft und Meer,
In Berg und Trümmern,
Durch der ewig sich erneuenden,
Stürzenden, schaffenden Natur
Unergründbare Tiefen,
Den allgeheimen,
Unsichtbar-liebend wirkenden,
Wechellosen Geist?
[18] Knabe.

Wie ist dir?
Faltest die Hände!
Wanderer.

Allbegründender!
Deines Wesens
Ewige, füllende Liebeswonne,
Dein Ruhen und Schaffen
In allem
Durchglüht im Ahnungsdrang
Mein schwellend Herz.
Wie aus uralt-gesturztem
Prachtgestein jung Gras sproßt,
Treib aus des Griechen
Dumpf-starrender Verwesung
Heilig-glühend Leben!
Daß er kenne
Sich und dich,
Wieder dringe
Zu dir!
Wie aus des Chaos
Wild-kochendem Wirbel,
Deine Sonnen,
Ewiger Geist,
[19]
In Riesenformen gestaltet,
Jungkräftig, lauter,
Sich scheiden und sondern,
Steige die alte Freyheit
Wieder aus der Nacht,
Des Menschen Braut,
Die ihm bringt
Ewige Kinder!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waiblinger, Wilhelm. Gedichte. Lieder der Griechen. Lieder der Griechen. Der Wanderer zu Athen. Der Wanderer zu Athen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8A9E-8