Lieder der Nazarena

Erstes Lied

Ich.

Ja, gesteh' ich's, deinetwegen
Bin ich, schöne Nazarena,
Im Olivendorf geblieben.
Daß von allen süßen Töchtern
Weit umher in Civitella,
In Sanct Viso und Serone,
In Roviati und Subiaco,
Den Sabinerbergen allen
[53]
Du die schönste bist, es sagen's
Alt und Jung, und Frau'n und Männer,
Doch am meisten sagt's mein Auge,
Sagt's mein Herz, wie schön du bist.
Sie.

Fremdling, ich verstehe wenig
Deine Sprache, willst du aber
Meiner spotten, meiner höhnen,
Wisse denn, in unsren Bergen
Waltet strenge Zucht und Sitte,
Unser armes Herz gilt wenig,
Nur der Vater gilt, gehorchen
Muß ich blindlings ihm, und tändeln
Wie mit Römerinnen, darfst du
Nicht mit uns, o glaube, tödten
Würde mich der böse Vater,
Darum, Fremdling, spotte nicht.
Ich.

Kind, du kennest nicht mein Leben,
Nicht mein Herz und nicht sein Schicksal
Kennst ihn nicht, der so verwegen
Dir von Lieb' und Schönheit plaudert,
Und auf immer unverständlich
Möge dir sein Geist auch bleiben.
Aber o vergönne, daß ich
Mich dir näh're, daß ich trete
In dein Haus, wie in den Tempel,
Und die Nemesis hat keine
Macht mehr über mich, und sicher
Bin ich, Kind, an deinem Herd.
Sie.

Du erschreckst mich, Worte sprichst du
Schlimmen Sinnes, die zu fassen
[54]
Mein Verstand nicht reicht, o Fremdling!
Gut erscheinst du mir und redlich,
Drum laß ab, mit dunkeln Worten
Mich zu schrecken, zu verschüchtern.
Ach ich will dir wohl, doch muß ich
Meines Vaters Härte fürchten,
Sprich mit ihm, die Tochter kann dir
Nichts gestatten, nichts versprechen.
Liebst du mich, so geh zum Vater,
Aber, Fremdling, spotte nicht.
Ich.

O wie könnt' ich dein begehren!
Kenntest du mein Seelenleiden!
Schon zu alt bin ich, um tändelnd
Mich mit leerem Wahn zu täuschen,
Noch zu jung, um deines Auges
Wilde Strahlen nicht zu fühlen,
Zu geprüft, um noch zu hoffen,
Zu verwegen, um zu fürchten,
Zu erfahren, um zu trauen,
Und zu weich, um nicht zu lieben,
Lieben möcht' ich dich, besitzen,
Nazarena, kann ich nicht.
Sie.

Fremdling, meinem Ohre klingen
Deine Worte wie ein Räthsel,
Und ich darf dich so nicht hören,
Denn vielleicht wär's eine Sünde.
Kommst du meine Ruh zu stören
Ueber's Meer in unsre Berge,
Mich mit Worten zu bestricken,
Deren Sinn ich nicht verstehe –?
Ich gehorche meinem Vater,
Seinem Willen muß ich folgen,
[55]
Liebst du mich, so geh zum Vater,
Aber, Fremdling, spotte nicht.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waiblinger, Wilhelm. Gedichte. Lieder des Römischen Carnevals. Gedichte aus Latium und den Sabinerbergen. Lieder der Nazarena. Erstes Lied. Erstes Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8C96-6