Die sechsundzwanzigste Fabel.
Vom Kefer und Adlar.

Der kefer ward verachtet gar
Von dem hoffertigen adlar;
Schalt in onmechtig, stark und treg,
Wie ein wurm stets im rosdreck leg
Ganz werlos, könt hauen noch stechen.
Das wolt der kefer an im rechen.
Er trachtet seinem feinde nach,
Sein nest er auf dem baum ersach;
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Gar heimlich er den baum aufkroch,
Biß er erlangt das nest so hoch,
Und tet da, wie er mocht, sein best,
Warf im die eier aus dem nest,
Verbarg sich darnach ins genist,
Daß in der adlar da nit wist.
Wie der adlar den schaden sach,
Trauriglich zu im selber sprach:
»Das ist vorwar ein böser feint,
Der mich mit solchem ernste meint.
So bald ich hier mein eier leg,
So komt der feint und wirft mirs weg.«
Zuletst klagt ers dem Jupiter,
Er sprach: »Mein gott und gnedig herr,
Weil ir doch hie zu grichte sitzen,
Bitt, wöllet für gewalt mich schützen.
Mein eier leg ich alle tag,
Verwars zum besten, wie ich mag,
In meinem nest auf jenem baum;
Ich kann davon auch fliegen kaum,
So sein die eier ausgestoßen,
Ligen zerknürßt und gar zerfloßen.
Ein solcher schad mir teglich gschicht,
Noch kan den feind ergreifen nicht.«
Da antwort im der Jupiter
Und sprach: »Leg deine eier her
In meinen schoß, in meinen gern;
Wenn alle vögel dein feinde wern,
So solten sie dirs hie nit nemen:
Bei mir laßens dir wol bezemen.«
Der adlar legt sein eier groß
Dem Jupiter in seinen schoß.
Das sahe der kefer in dem nist,
Erdacht gar bald ein ander list,
Damit dem feind möcht schaden ton;
Kroch zum Jupiter auf den tron,
Verbarg sich in seins mantels falten.
Da tet er sich ein weil enthalten;
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Darnach gunt sich ein wenig regen,
Daß er die eier möcht bewegen.
Da solchs der Jupiter ersach,
Aus forchten zu im selber sprach:
»Nicht gnug ich mich verwundern kan!
Es rürt die eier niemant an,
Dennoch regt sich ein jedes ei.«
Er schütt sie aus und warfs entzwei.
Damit dem adlar ganz und gar
All hilf und trost benomen war.
Die fabel lert, daß wir zu trachten,
Den gringen nit zu ser verachten.
Wenn der feint klein, onmechtig ist,
So understet er das mit list
Zu tun, das im felt an der macht.
Darnach mit allem fleiß er tracht,
Daß er den starken breng zu schaden,
Des er sich schwerlich kan entladen.
Exempel han wir aus der schrift,
Welch auch gar eben hie auftrifft.
Der groß und freche Goliath,
Ein Philister geborn von Gath,
Ganz Israel honsprechen tet,
Als obs nit einen kriegsman het,
Der sich aus künheit dörfte wagen
Und sich mit dem Philister schlagen.
Da kam zu im David, der klein,
Erlegt in bald mit einem stein,
Mit einem stein er in erschreckt,
Daß er zur erden lag gestreckt.
An seinem eigen schwert er starb,
Damit David den preis erwarb,
Als er den Goliath erschlug,
Sein kopf gen Hierusalem trug;
Damit ward Israel getröst
Und von den Philistim erlöst;
Denn so tut Gott gemeinlich streiten,
Mit wenig und geringen leuten
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Nicht groß ding aus, auf daß die welt
(Die vil von großen dingen helt)
Erkennen mög, daß aller pracht
Und hoffart ist bei Gott veracht.
Sanct Paulus sagt: »In der schwachheit
Wird sterk und macht weit ausgebreit.«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Erster Theil. Das ander Buch. 26. Vom Kefer und Adlar. 26. Vom Kefer und Adlar. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8D19-9