Die sechsundneunzigste Fabel.
Wie einer seinem Freunde gelt zu behalten gab.

Vil gelts ein kaufman zamen legt,
Das het er mannich jar gehegt
Und eingemant von sein bezalern
An dicken groschen, groben talern.
Wie er wolt ziehen aus dem land,
Legt er dasselb zu treuer hand,
Daß ims zu weg kein feind mocht rauben,
Bei seinem wirt auf guten glauben.
Damit er seinen urlaub nam
Und über ein halb jar wider kam
Und fordert alsobald sein gelt.
Der wirt sein angsicht gar verstellt,
Sprach: »Hie ist nit wol zugesehen!
Groß schad ist bei dem gelt geschehen.
Ich meint, ich hets gar wol verwart,
In mein kasten beschloß ichs hart,
Daß sicher blieb und unverletzt;
Da han die meus hindurch gefretzt,
Den seckel gar zu stücken grißen,
Das gelt zernaget und zerbißen,
So gar vertragen und vertrieben,
Ist nit ein pfenning überblieben;
So ists verfreßen und verschwunden,
Hab nichts denn eitel meusdreck funden.«
[114]
Der kaufman, wie er war gar klug,
Bald, wie er merkt des wirts betrug,
Er sprach: »Was hör ich immer sagen?
Pflegen die meus auch gelt zu nagen?
Das hab ich warlich nie gewust,
Daß sie zu solcher speis han lust,
Freßen solch große harte stück.
So hastu warlich ser groß glück,
Weil du bist in der mitt geseßen,
Daß sie dich nit han auch gefreßen.«
Damit schweig still und gieng dahin.
Der wirt freut sich in seinem sin,
Daß er den kaufman het gefatzt,
Mit solcher list das gelt abgschwatzt.
Dieweil der kaufman gieng hinaus,
Findt auf der gaßen für dem haus
Des wirtes son, ein knaben klein,
Der spielt und war nun gar allein.
Den bracht er bei der hand gefürt
Heimlich zu seinem andern wirt,
Hielt in dieselbig nacht verborgen.
Da kam der wirt am andern morgen
Und klagt demselben man sein sachen
Und sprach: »Gebt rat, wie sol ichs machen?
Mein einig kind ist mir entkummen:
Wißt ir nit, wers hat weggenummen?
Habs in der kirchen, auf den straßen
Abkündigen und suchen laßen.«
Der kaufman stund dabei und horts;
Er sprach: »Freund, glaubt mir nur eins worts:
Rechten sahe ich ein großen raben,
Der fürt hinweg ein kleinen knaben,
Floh daußen auf ein baum damit.
Ist er eur gwest, das weiß ich nit.«
Er sprach: »Wie mag das müglich sein,
Daß in ein rab ertrüg allein?
Er ist beinahet vierthalbjärig:
Es wer eim wolfe überschwerig.«
[115]
Er sprach: »Laßt euch nit wunder nemn,
Es sein wol größer ding geschehn.
Habt ir doch meus und kleine ratzen,
Die harte taler könn zuknatzen,
Daß man kein schart nit wider sindt:
Solt denn ein rab nit tragen ein kind?«
Da merkt der wirt der sachen gstalt,
Daß ern mit gleicher münz het zalt,
Und legt im bald sein gelt da nider;
Da gab er im das kind auch wider,
Und huben mit einander auf,
Gabn gleiche war in gleichem kauf.
Wo einr mit böser maß ausmißt,
Finanzet, renket als mit list,
Der darf kein anders nit gedenken,
Denn daß man zal mit gleichen renken,
Brengs im mit solcher maß zu haus,
Wie er selb hat gemeßen aus.
Wer seine feder so wil scherfen,
Mit faulen fratzen auszuwerfen,
Der denk nicht, daß mans in verhebt.
Mit negeln man negel ausgrebt,
Und wird stets list bezalt mit list;
Ein fuchs auch wol den andern frißt.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Zweiter Theil. Das dritte Buch. 96. Wie einer seinem Freunde gelt zu behalten gab. 96. Wie einer seinem Freunde gelt zu behalten gab. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8DC0-F