[128] Die siebenundachtzigste Fabel.
Vom Schnecken und Adler.

Ein schneck verdroß einmal das krichen,
Daß er must auf der erden schlichen;
Zum adler sprach: »Horch, laß dir sagen
Wiltu mich nauf gen himel tragen,
Daß ich mög in den lüften schweben,
Vil edler gstein wil ich dir geben,
Die ich hab in dem roten mer
Gelesen, mit mir bracht hieher.«
Der adler sprach: »Das wil ich tun,
Haltu mir, was du globest nun.«
Der adler nam in in sein kluft,
Fürt in hoch oben in die luft,
Daß er möcht sehn weit in die welt;
Bald mit im wider abher fellt,
Setzt in beis waßer auf den plan
Und fordert da von im den lon.
Da het er nichts, das er mocht geben.
Der adlar stund im nach dem leben,
Mit seinen füßen in zerknüßt:
Dem schnecken ward sein lust gebüßt.
Het er die welt nicht wölln besehen,
Wer im nicht solcher unfall gschehen.
Die fabel lert, ein jeder bleibe
In seinem stand und ernstlich treibe
Als, was im drin ist aufgelegt
Und was zum selben stand sich tregt.
Denn vormals ist es oft geschehen,
Habens auch augenscheinlich gsehen,
Daß etlich, wenn sie weren blieben
Und iren beruf mit fleiß getrieben,
Hettens gelebt sicher im fried.
Wie sie dasselb nun achten nit,
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Suchten mit list ein höhern stand,
Bald sich ir unglück selber fand,
Musten wider demütig werden
Und nider gschlagen zu der erden.
Dasselb uns klar anzeiget hat
Maria im magnificat,
Da sie von Gott dem vatter singt,
Daß er dem, der nach hoffart ringt
Und prächtiglich stolziert und lebt,
Mit ganzem ernst entgegen strebt
Und stürzt in hoch vom stul hernider
Und erhöhet den armen wider:
Wie uns jetzt alle hendel leren
So klar, daß mans nicht darf beweren.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Erster Theil. Das erste Buch. 87. Vom Schnecken und Adler. 87. Vom Schnecken und Adler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8E7C-1