[131] Die neunzigste Fabel.
Vom Esel.

Der müller het ein esel alt,
Der entlief im ein mal in walt;
Da fand ein haut von einem lauen:
Der esel tets mit freud anschauen
Und sprach: »Ich wil ein löw auch werden
An haut und har und allen berden.«
Er kroch bald in die löwenhaut
Und seinen kleidern vil vertraut,
Gleich wie ein löw tet umbher springen,
Wolt nicht mer wie ein esel singen.
Er lief bald hin zu felde dar:
Da wurden sein die tier gewar.
Bald flohen ochsen, schaf und rinder,
Nach der mülen liefen die kinder
Und zeigtens irem vatter an:
»Hör zu, was wir gesehen han!
Aus dem wald kam ein grausam tier,
Des gleich noch nie gesehen wir.
Drumb teten wir von stund her laufen
Mit allem vih an einem haufen.
Hets uns ergriffen in seim zorn,
Wir wern mit vih, mit all verlorn.«
Der müller sprach: »Was mags gesein?
Wiewol ich jetzund bin allein,
Das tier zu bsehen wil ich wagen.«
Er nam sein köcher und den bogen,
Lief naus; der esel bald zusprang,
Mit brüllen auf den müller drang.
Der müller dacht: was tiers ist das?
Zum esel trat er zuhin baß:
Misdunken het er an der stimm,
Sie wer nit eines löwen grimm.
Bald sahe er esels orn aus ragen,
Sprach: »Liebes tierlin, laß dir sagen,
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Ich acht nicht groß auf deinen trutz:
Du stellst dich wie ein fasnachtbutz,
Daß vih und kinder vor dir fliegen;
Mich aber kanstu nit betriegen.
Ich kenn dich, lieber esel, wol,
Weiß wol, wie ich dich nennen sol.
Vor mir kein spiegelfechten gilt,
Daß dich eim löwen gleichen wilt,
Zeuh aus, zeuh aus den fremden rock!«
Erwischt ein groben heseln stock,
Schlug seinen esel wol zur kür,
Jagt in in stall und gab im für
Sein gwonlich futter, grob gerstenstro.
Seins prangens ward er nicht gar fro
Und blieb ein esel, wie er was:
Vor diß must er auch haben das.
Der grobe esel solt uns leren,
Daß wir selb sehen, wer wir weren,
Denn mancher jetzt hoch einher fert,
Tut sich herfür, als sei er glert,
Sagt, wie er könn griechisch, ebreisch,
Latein, arabisch und chaldeisch,
Schwatzt vil davon beim gmeinen man,
Der ficht in vor ein doctor an.
Wenn er aber bei glerte komt,
Mit seinen sprachen gar verstumt,
Von künsten hat ein lere taschen,
Kan nicht zur sach ein löffel waschen.
Der sein jetzt vil, die umbher streichen,
Zum armen volk in dwinkel schleichen,
Vil ergerlich artikel rüren,
Damit das unglert volk verfüren.
Wenn man ir ler im grund besicht,
Helts bei die heilig schrift ans liecht,
Findt sichs vom teufel sein entsproßen
Und durch ein esels kopf gefloßen.
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Dann ragen aus die eselsoren,
Dabei man kennen mag den toren.
Zeuht man im ab die schmeichelhaut,
So findt man drin ein teufelsbraut
Und ein böses verdamt gewißen,
Durch misverstand der schrift zerrißen.
Denn ist not, daß der müller kum
Und treib ein solchen gESELlen umb
Zum gerstenstro, daß er nicht mer
Die leut verfür mit seiner ler.
Hüt euch, sagt Christus, seht euch wol für,
Wenn sie euch kommen für die tür,
Wie schaf mit euch reden beginnen,
So zeigt die frucht den wolf von innen.
Also auch in weltlichen sachen
Tut sich mancher herfür machen,
Rümt seinen adel und hohen stand,
Damit sich machen wil bekant,
Er sei von hohen, großen leuten,
Hab vil getan in sturm und streiten,
In fremden landen vil gesehen,
Was wunders hie und dort geschehen,
Könn bauen, hauen, schnitzen, gießen,
Könn büchsen leuten, glocken schießen,
Und was sonst in der welt umbfert,
Das hab er alles ausgelert,
Und brengt ein solcher bub mit listen
Gar oft vil pfennig von den christen.
Wenn er denn solchs hat ausgericht,
Zuletst komt einer, der tut bericht,
Deckt auf sein sach und macht sie bar,
Daß man den btrug mag sehen klar,
Und zeuht im ab den löwenbalk,
Findt sich ein esel und großer schalk.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. 90. Vom Esel. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8FB7-2