Die neunte Fabel.
Vom Knaben und dem Diebe.
Es saß ein knab und weinet ser
Bei eim brunnen; da kam dort her
Ein dieb geschlichen, tet in fragen
Und sprach: »Ich bitt, wöllest mir sagen,
Warumb du weinst so bitterlich,
Ob ich darin möcht trösten dich.«
Er sprach: »Ich arm, elender knab
Mich übel fürgesehen hab!
Ein gülden eimer bracht ich her,
Ließ in in brunnen nach der schwer,
Waßer zu schöpfen und zu trinken,
Gar bald tet er zu grunde sinken.
Hart für dem eimer brach der strick,
Behielt ich in der hand diß stück.
Köntstu etwan ein rat erdenken,
Ich gelobe dir, ein gut geschenke
Von meinem vatter zu bekommen.«
Der dieb het bald den sin vernomen,
[159]Gedacht: ein beut ich gwunnen hab!
Eilend zoh er sein kleider ab,
Ließ sich in brunnen da zuhand:
Kein gülden eimer er da fand,
Fur wider raus gar trauriglich,
Nach dem knaben sahe weit umb sich.
Der het sich fern von im verholen
Und im dieweil den rock gestolen.
Es komt oftmals, daß solch gesellen,
Die ein andern betriegen wöllen,
Werden von andern selb betrogen,
Mit irem eignen schwert geschlagen.
Ein strick oft einr dem andern stellt,
Darin zu letst er selber fellt:
Die grub, welch er hat selber graben,
Muß er zur rach oft selber haben,
Und schleht untreu irn eignen herrn,
Wie uns jetzt alle hendel lern.