[148] Die zweite Fabel.
Vom Weidemann und dem Tiger.

Der tiger ist ein tier vierfüßig,
Stark, frech, gerad, ist nimmer müßig:
Der war einst mit vil andern tiern
Gegangen in den wald spaziern,
Da kam ein weidman hergezogen,
Der trug ein köcher und ein bogen,
Verbarg sich heimlich ins genist,
Daß in daselb kein tier nit wist,
Schoß vil pfeil aus derselben hecken;
Da gunten alle tier erschrecken,
Sprachen: »Da seind vil feind, im hagen
Haben ir läger angeschlagen,
Zu hand sie feindlich an uns ziehen;
Nichts beßers, daß wir alle fliehen.«
Der tiger sprach: »Macht euch von dannen,
Ich wil mich selb allein ermannen,
Und wenn ir gleich mer wern denn zehen,
So wil ichs doch allein bestehen.«
Der weidman horts, und in verdroß,
Drumb auf das tier gar heftig schoß,
Biß daß ein tötlich wund empfieng.
Bald hinder sich gar traurig gieng
Und für dem weidman gunt zu fliehen;
Versucht, obs möcht den pfeil ausziehen.
Da kam der fuchs und sprach: »Wer hat
Begangen solche greulich tat?
Er muß vorwar gar sein erwegen,
Der sich gegn solches tier darf legen.«
Das tier sprach: »Wie ich hab befunden
Am schmerz und bei der größ der wunden,
Kan ich wol bei mir selb erwegen,
Es ist ein starker man gewesen.«
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Die starken können sich nicht maßen,
Sich stets auf ire macht verlaßen.
Daneben auch beweislich ist,
Daß oft durch kunst, sinn, witz und list
Groß sterk und manheit wird erlegt,
Daß sie sich nicht bald wider regt:
Welchs all geschicht gnugsam bezeugen,
Daß niemand kan mit warheit leugnen.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. 2. Vom Weidemann und dem Tiger. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-90E5-F