Die achte Fabel.
Vom Jäger und Löwen.

Ongefer in einer wildnus kamen
Ein jäger und ein löw zusamen;
Auf einen weg wollen sie wandern,
Gunten zu reden mit einander.
[157]
Ein jeder rümt sich seiner kraft,
Seinr mänlichen tat und ritterschaft.
Da sprach der löw; »Vorwar, glaub mir,
Ich bin das aller sterkest tier,
Auch under allen menschen kind
An sterk nit meinen gleichen find,
Welchs man dabei wol merken kan:
Im streit zieht ir ein panzer an,
In eurem harnisch komt daher;
So stehe ich bloß, on alle wer,
Verlaß mich auf mein scharfe tatzen,
Wer mich mit reißen, beißen, kratzen,
Dabei gar wol ist zu ermerken,
Bei wem man findt am meisten sterke.«
Da sprach der jäger: »Kom mit mir,
Das widerspiel wil zeigen dir.«
Und fürt in hin zu einer wand,
Da er ein schön gemälde fand,
Welchs gnomen war aus heilger schrift,
Wie Samson einen löwen trifft
Am wege bei der stadt Tymnach
Und doch kein wer da bei im hat,
Zerriß dennoch den löwen gar,
Wie das gemäld anzeiget klar,
Und sprach zum löwen: »Da magstu sehen,
Daß solchs wol oftmals sei geschehen.«
Er sprach: »Das hat ein mensch gemacht
Und aus seim eignen topf bedacht,
Nach seim gefalln hat ers gemalt,
Under dem menschen des löwen gstalt.
Wenn die löwen auch malen künden
Und sich auf solche kunst verstünden,
Da fünd sich wol das widerspiel:
Denn ich weiß, daß der menschen vil
Oft von den löwen seind zerrißen,
Und von den tiern zu tot gebißen.«
In grichtshendeln gmeinlich gschicht,
Daß einr sein eigen sach verficht
[158]
Und bringt erfür mit wort und tat
Als, was er je gelernet hat;
Muß im als seine sache zieren,
Solt ers auch bei den harn zufüren.
Menschlich natur ist gar verrirt,
Daß sie sich allzeit selb verfürt,
Ir eigen tun so hoch aufmutzt,
Mit glerten worten schmückt und butzt
Und ir fürs best gefallen tut,
Unangesehn, obs bös oder gut.
Den gbrechen han wir all zumal:
Unzehlich ist der narren zal.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Erster Theil. Das ander Buch. 8. Vom Jäger und Löwen. 8. Vom Jäger und Löwen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-911F-9