Widmung
Ich widme dieses Werk
Moritz Heimann
dem brüderlichen Freund
Ich widme dieses Werk
Moritz Heimann
dem brüderlichen Freund
Die Landschaft hat vielfaches Grün; vom Rednitztal bis zum Taubertal hinüber ziehen sich tiefe Wälder, meist Nadelholz. Doch um die Dörfer ist in weitem Bogen alles bebaut, denn es ist uralter Kulturboden. An den zahlreichen Weihern steht das Gras höher, so hoch oft, daß man von den Gänseherden nur die Schnäbel gewahrt, und wäre das Geschnatter nicht, man könnte sie für wunderlich bewegte Blumen halten, diese Schnäbel.
Das Städtchen Eschenbach liegt ganz flach in der Ebene. Es ist ein übriggebliebenes Stück Mittelalter, aber die Fremden kennen es nicht, es ist stundenweit von jeder Bahnlinie entfernt. Ansbach ist die nächste Stadt im großen Ring des Verkehrs; um sie zu erreichen, bedient man sich der Postkutsche. So heute wie damals, als Gottfried Nothafft, der Weber, dort lebte.
Die Stadtmauern sind mit Moos und Efeu bewachsen; über den Graben führen noch die alten Zugbrücken durch baufällige runde Tore in die Straßen. Die Häuser haben Erker und weitvorspringende Firste, und ihr gekreuztes Balkenwerk sieht aus wie Muskelgeflecht.
Von dem Dichter, der einst hier geboren wurde und der das Lied vom Parzival sang, wissen die Leute nichts mehr. Vielleicht raunen in der Nacht die Brunnen von ihm, vielleicht wandelt sein Schatten manchmal im Mondschein um Kirche und Rathaus. Die Menschen wissen nichts mehr von ihm.
[9] Das kleine Häuschen des Webers stand unweit vom Gasthaus zum Ochsen, ein wenig abgerückt von der Straße. Drei vertretene Stufen führten zum Tor, und sechs Fenster blickten auf den stillen Platz. Wer hätte denken sollen, daß der Geist der großen Industriewelt sich bis zu diesem verlorenen Winkel zerstörerisch eine Bahn schaffen würde!
Als Gottfried Nothafft im Jahre 1849 geheiratet hatte, seine Frau Marianne war eine von zwei Schwestern Höllriegel aus Nürnberg, hatte er sich noch auskömmlich zu ernähren vermocht. Sie wünschten sich beide ein Kind und jahrelang vergebens. Oft sagte Gottfried am Feierabend, wenn er auf der Bank vor dem Haus die Pfeife rauchte: »Wie schön, wenn wir einen Sohn hätten.« Da schwieg Marianne und senkte die Augen.
Später sagte er nichts mehr, weil er die Frau nicht beschämen wollte. Aber seine Miene verriet den Wunsch nur um so deutlicher.
Eines Tages machte sich ein Stocken des Gewerbes bemerkbar. Die Weber im ganzen Lande klagten; sie konnten nicht mehr mitkommen, es war eine lähmende Krankheit, von der sie betroffen wurden. Der Markt hatte plötzlich niedrigere Preise, die Beschaffenheit der Ware hatte sich verändert.
Dies geschah gegen das Ende der fünfziger Jahre, als von Amerika aus die neuen Maschinenwebstühle eingeführt wurden. Da fruchtete kein Fleiß mehr, das billige Produkt, das die Maschine zu liefern vermochte, raubte der Handarbeit den Absatz.
Gottfried Nothafft ließ sich's zuerst nicht verdrießen; so läuft ein Rad noch, wenn der Antrieb gehemmt wird. Aber nach und nach verging ihm die Lust. In einem einzigen Winter [10] wurde sein Haar grau, und mit fünfundvierzig Jahren war er ein gebrochener Mann.
Und da, als die Armut drohend vor der Türe stand und Mariannes Gemüt durch Haß befleckt war, erfüllte sich die Sehnsucht des Ehepaares, und die Frau wurde, im zehnten Jahr der Ehe, schwanger.
Der Haß, den sie hegte, galt der Maschine. In ihren Träumen wurde die Maschine zu einem Ungeheuer mit stählernen Schenkeln, das tückisch kreischend Menschenherzen verschlang. Es erbitterte sie die Ungerechtigkeit eines Vorgangs, bei dem in frecher Mühelosigkeit gedieh, was ehedem unter den bedächtigen Fingern des Webers sinnvoll und natürlich erstanden war.
Die Gesellen mußten einer nach dem andern entlassen werden, und ein Webstuhl nach dem andern kam auf den Dachboden. Tag für Tag schlich Marianne hinauf und kauerte stundenlang vor den Geräten, die einst eine wohltätig bestimmbare Kraft in Bewegung gesetzt hatte und die jetzt Leichnamen glichen.
Gottfried ging mit seinen Lagervorräten hausierend über Land. Einmal kehrte er zurück und brachte ein Stück Maschinengewebe mit, das ihm ein Kaufmann in Nördlingen geschenkt hatte. »Sieh doch, Marianne, was das für ein Ding ist,« sagte er und reichte ihr den Stoff. Aber Marianne zog schaudernd die Hand davon weg, als hätte sie den Raub eines Mörders erblickt.
Nach der Geburt des Knaben verloren sich die krankhaften Empfindungen, dafür verfiel Gottfried von Monat zu Monat mehr. Und wenn er auch die Jahre überstand, er hatte aufgehört, ein heiterer Mensch zu sein, und freute sich nicht einmal des heranwachsenden Knaben. Als er seine eigenen Waren verkauft hatte, übernahm er fremde und schleppte sich mühsam von Dorf zu Dorf, Sommer und Winter hindurch.
Trotz der Knappheit, die im Hause herrschte, war Marianne [11] überzeugt, daß Gottfried erspartes Geld zurückgelegt habe, und gewisse Andeutungen des Mannes hatten diese Hoffnung befestigt. Es gehörte zu seinen eigentümlichen Lebensansichten, die Frau über den wahren Stand seines Vermögens im unklaren zu lassen. Als die Läufte immer schlechter wurden, schwieg er über diesen Punkt völlig.
Auf dem Kornmarkt in Nürnberg betrieb Jason Philipp Schimmelweis, der Mann von Mariannes Schwester, eine Buchbinderei.
Schimmelweis war ein Westfale. Er war aus Haß gegen Junker und Pfaffen in die protestantische Stadt im Süden gekommen und hatte von Anfang an allen Leuten durch seine Mundfertigkeit große Achtung abgenötigt. In dem Haus, wo er sein Geschäft errichtet, hatte auch Therese Höllriegel gewohnt und sich durch Schneidern ihr Brot verdient. Er hatte geglaubt, sie besitze einiges Geld, aber es hatte sich erwiesen, daß es für seinen Ehrgeiz zu wenig war. Da benahm er sich gegen Therese so, als ob sie ihn betrogen hätte.
Er verachtete sein Handwerk und wollte höher hinaus. Er fühlte den Beruf zum Buchhändler in sich. Aber um diesen Plan zu verwirklichen, mangelte es ihm an Kapital. So hockte er denn mißvergnügt in dem unterirdischen Gewölbe und leimte und salzte und zürnte seinem Geschick und las in seinen Mußestunden sozialistische und freigeistige Schriften.
Es war der Herbst, in dem der Krieg gegen Frankreich wütete. Am Vormittag war die Kunde von der Schlacht bei Sedan eingetroffen. Von allen Kirchen läuteten die Glocken.
Da trat zu Jason Philipps Verwunderung Gottfried Nothafft in die Werkstatt. Sein langer Patriarchenbart und die [12] hohe Gestalt machten ihn zu einer ehrwürdigen Erscheinung, obwohl sein Gesicht müde aussah und die Augen erloschen waren.
»Grüß Gott, Schwager,« sagte er und bot die Hand, »dem Vaterland geht's besser als seinen Bürgern.«
Schimmelweis, der Verwandtenbesuche nicht liebte, erwiderte den Gruß mit vorsichtiger Kälte. Erst als er erfuhr, daß Gottfried im »roten Hahn« Logis genommen, hellten sich seine Züge auf. Er fragte, was den Schwager in die Stadt geführt.
»Ich habe mit dir zu sprechen,« antwortete Gottfried Nothafft.
Sie gingen in einen Raum hinter der Werkstatt und setzten sich nieder. In Jason Philipps Augen lag ein abschlägiger Bescheid schon jetzt für jedes Ansinnen, das ihn Mühe oder Geld kosten würde. Aber er fand sich angenehm enttäuscht.
»Du sollst wissen, Schwager,« begann Gottfried Nothafft, »daß ich mir in den neunzehn Jahren, die ich mit meinem Weib zusammengelebt, dreitausend Taler erspart habe. Und weil mir zumut ist, als könnte mir bald was Menschliches zustoßen, komm ich zu dir mit der Bitte, das Geld in Verwahrung zu nehmen für Marianne und den Buben. Hab Sorge genug gehabt, es beiseite zu halten in der letzten schlimmen Zeit. Marianne weiß nichts davon und soll nichts davon erfahren. Sie ist ein schwaches Weib, die Weiber verstehen nichts vom Gelde und was für eine Würde es hat, wenn es mit so saurem Schweiß erworben ist. In einer Stunde der Not greift sie danach, und eh sie sich besinnt, ist's weg. Ich will aber meinem Daniel den Eintritt ins Leben erleichtern, wenn er die Lern- und Lehrjahre hinter sich hat. Er ist jetzt zwölf, also noch einmal zwölf, so Gott will, und er ist ein Mann. Marianne kannst du mit den Zinsen aushelfen, und ich verlange nichts anderes von dir, als daß du schweigst und an dem Jungen väterlich handelst, wenn ich nicht mehr bin.«
[13] Jason Philipp Schimmelweis erhob sich und drückte Gottfried Nothafft gerührt die Hand. »Du kannst dich auf mich verlassen wie auf die Bank von England,« sagte er.
»Das hab ich mir wohl gedacht, Schwager, und darum der Weg.«
Er zählte dreitausend Taler in Reichsscheinen auf den Tisch, und Jason Philipp stellte ihm eine Quittung aus. Dann drängte er in ihn, er möge doch die Nacht über im Hause bleiben, allein Gottfried Nothafft sagte, er müsse wieder heim zu Weib und Kind und habe von der verflossenen Nacht genug, die er in der lärmenden Stadt zugebracht.
Als sie in die Werkstatt zurückkehrten, saß Therese dort und hielt ihr Erstgebornes, die dreijährige Philippine, auf dem Schoß. Das Mädchen hatte einen großen Kopf und häßliche Züge. Gottfried vergönnte sich kaum Zeit, der Schwägerin Rede zu stehen. Später erkundigte sich Therese bei ihrem Mann, was Nothafft gewollt habe. Kurzangebunden versetzte Jason Philipp: »Mannsgeschäfte.«
Drei Tage darauf schickte Gottfried die Quittung wieder; auf ihre Rückseite hatte er geschrieben: »Was soll mir der Wisch, er könnt mich nur verraten. Ich habe Wort und Handschlag von dir, selbes genügt. Mit Dank für deinen Freundschaftsdienst dein treugeneigter Gottfried Nothafft.«
Eh noch der Friede geschlossen wurde, legte sich Gottfried zum Sterben hin. Er wurde in dem kleinen Kirchhof an der Mauer begraben, und ein Kreuz wurde aufgerichtet.
Jason Philipp und Therese waren zur Beerdigung gekommen und blieben drei Tage bei Marianne wohnen. Die Hinterlassenschaftsprüfung ergab zu Mariannes Schrecken, daß keine zwanzig Taler im Hause waren, und was sie vor [14] sich sah, war ein Leben der Not und des Kummers. Da waren Jason Philipps Ratschläge und Anordnungen ein rechter Trost, und seine Erklärung, daß er ihr nach Kräften beistehen wolle, beruhigte ihr Herz.
Es wurde beschlossen, daß sie einen Kramladen einrichten solle, und Jason Philipp schoß hundert Taler vor. Es hatte den Anschein, als sei Jason Philipp ein gemachter Mann. Er trug den Kopf hoch, und seine runden Bäckchen zeugten von Wohlgenährtheit. Er trommelte gern an die Fensterscheiben und pfiff dabei. Es war die Marseillaise, die er pfiff, aber in Eschenbach wußte man das nicht.
Daniel blickte aufmerksam auf seine Lippen und pfiff die Weise nach. Da lachte Jason Philipp, daß sein Bäuchlein erbebte, dann sagte er, sich der Trauerstimmung erinnernd: »So ein Bengel.«
Der Knabe mißfiel ihm jedoch. »Der selige Gottfried scheint sich zu wenig um ihn gekümmert zu haben,« sagte er, als er einmal Zeuge einer Widerspenstigkeit Daniels war, »der Bursch braucht eine starke Hand.«
Daniel hörte diese Worte und sah dem Onkel höhnisch ins Gesicht.
Am Sonntag nach der Vesper nahm das Ehepaar Schimmelweis Abschied, und Daniel war nicht da. Die Frau des Ochsenwirts rief herüber, sie habe ihn mit dem Organisten in die Kirche gehen sehen. Marianne lief zur Kirche, um ihn zu holen. Nach einer Weile kam sie zurück und sagte zu dem wartenden Jason Philipp: »Er sitzt bei der Orgel und ist nicht wegzubringen.«
»Er ist nicht wegzubringen?« fuhr Jason Philipp auf, und seine runden Bäckchen glühten vor Zorn, »was heißt denn das? Das läßt du dir gefallen?« Und er ging selbst in die Kirche, um den Ungehorsamen zur Stelle zu schaffen.
Als er in den Chor hinaufstieg, begegnete ihm der Organist [15] und lachte. »Sie suchen wohl den Daniel?« fragte er; »der stiert noch immer die Orgel an und ist wie verzaubert von dem bißchen Spiel.«
»Will ihm den Zauber schon austreiben,« knurrte Jason Philipp.
Daniel kauerte hinter der Orgel auf dem Boden und blieb beim Anruf seines Onkels unbeweglich. Er war so versunken, daß seine Augen einen Ausdruck hatten, der Jason Philipp auf den Gedanken brachte, der Knabe sei vielleicht nicht recht bei Verstand. Er packte Daniel bei der Schulter und herrschte ihn an: »Komm mal sofort mit mir nach Hause.«
Die Augen aufschlagend und erwachend und das entrüstete Fauchen der fremden Stimme vernehmend, riß sich Daniel los und erklärte frech, bleiben zu wollen, wo er war. Jason Philipp geriet in Wut und suchte sich des Knaben neuerdings zu bemächtigen, um ihn mit Gewalt hinunterzuschleppen. Da sprang Daniel zurück und rief mit zitternden Lippen: »Rühr mich nicht an!«
Ob es nun die Stille des Kirchenraums war, die mahnend und erschreckend auf Jason Philipp wirkte, oder ob die außerordentliche Bosheit und Leidenschaft in den Zügen des Knirpses ihn veranlaßten, von seinem Vorhaben abzustehen, genug, er drehte sich um und ging wortlos davon.
»Es ist höchste Zeit, die Post wartet schon,« rief ihm seine Frau entgegen.
»Ein hübsches Früchtchen ziehst du dir auf,« sagte er mit finsterem Gesicht zu Marianne; »an dem wirst du noch was erleben.«
Marianne blickte zu Boden. Die Worte trafen sie vorbereitet. Die Wildheit und Verstocktheit des Knaben, das selbstsüchtige Beharren auf seinen Einbildungen, seine Härte, seine Ungeduld und die Verachtung jeder Regel, dies alles ängstigte sie sehr. Es wollte ihr scheinen, als ob das Schicksal [16] etwas von dem törichten und quälenden Haß, den sie während der Schwangerschaft genährt, in das Gemüt des Kindes habe fließen lassen.
Jason Philipp Schimmelweis verließ das düstere Kellerloch am Kornmarkt, mietete einen Laden an der Museumsbrücke und eröffnete eine Buchhandlung. Das Ziel jahrelanger Wünsche war erreicht.
Es wurde ein Gehilfe aufgenommen, und Therese saß den Tag über an der Ladenkasse und lernte Geschäftsbücher zu führen.
Als sie ihren Mann gefragt hatte, woher er das Betriebskapital genommen, hatte er erwidert, ein Freund, der zu seiner Tüchtigkeit Vertrauen geschöpft, habe es ihm gegen mäßige Verzinsung geliehen. Den Namen des Freundes zu verschweigen, sei ihm zur Pflicht gemacht worden.
Therese glaubte ihm nicht. Ihr Geist war voll dunkler Befürchtungen. Sie grübelte unablässig und wurde wachsam und mißtrauisch. Sie forschte insgeheim nach dem namenlosen Helfer und fand keine Spur von ihm. Wenn sie hin und wieder Jason Philipp zur Rede stellte, schnauzte er sie böse an. Von einer Zurückerstattung des Geldes und von Zinsenzahlung wurde nicht gesprochen, auch wiesen die Geschäftsbücher keine Eintragung der Art auf. Sie hätte an Wichtelmännchen glauben müssen, um sich ihrer die Jahre überdauernden Besorgnisse entschlagen zu können. Aber sie glaubte nicht an Wichtelmännchen.
Die Natur hatte sie weder mit Fröhlichkeit noch mit Sanftmut begabt; unter dem Druck des unlösbaren Rätsels wurde sie eine verdrossene Gattin und eine launenhafte Mutter.
Wenn Ruhe im Laden war, nahm sie bald dies, bald jenes [17] Buch zur Hand und las. Einen Mörderroman etwa; oder einen schwatzhaften Traktat über geheime Laster. Womit sollte ein Publikum angelockt werden, dem das Bücherkaufen als eine sündhafte Verschwendung galt? Sie las ohne sonderliche Lust, nur mit einer mürrischen Art von Wißbegierde Enthüllungen über das Leben an Fürstenhöfen und gedruckte Verrätereien aller möglichen Spione, Abenteurer und Halunken. Unbewußt gewöhnte sie sich daran, die Welt, in die ihr Blick nicht gelangen konnte, nach Büchern zu beurteilen, in denen sich die Ausgeburten verpesteter Gehirne Wahrheit anmaßten.
Aber als sich mit den Jahren der Wohlstand im Bürgertum hob, verließ Jason Philipp Schimmelweis die lichtscheue Sphäre seines Gewerbes. Er war ein Mann, der die Zeit verstand, und er hißte die Segel, wenn er sicher war, daß günstiger Wind sie schwellen würde. Er vertraute sein Boot der immer mächtiger werdenden Strömung der proletarischen Parteien an und hoffte dort Profit zu machen, wo halb und halb sein Herz war. Er zeigte dem Bürger die Rebellenstirn und bot dem Arbeiter die biedere Rechte. Man mußte nur einen Weg nach oben finden. Mancher unbedeutende Krämer konnte jetzt seine muffigen Stuben mit einer Villa in der Vorstadt vertauschen, die er mit pomphaften Möbeln ausstattete, und seine Söhne ins Ausland schicken.
Da erwachte auch die alte Reichsstadt aus ihrem romantischen Schlummer. Hatten die erhabenen Kirchen, die schöngeschwungenen Brücken und verwinkelten Häuser ehedem ein sinnreich Lebendiges gebildet, so waren sie jetzt nur noch Überbleibsel, und Burg und Wälle und die gewaltigen Rundtürme wurden zu Ruinen einer glücklich überstandenen Zeit der Träume. Schienen wurden durch die Straßen gelegt und verrostete Ketten, an denen unförmliche Laternen aufgehängt waren, vom Eingang enger Gäßchen entfernt. Fabriken und Schlöte umgaben das ehrwürdige und pittoreske [18] Weichbild wie ein eiserner Nahmen das Gemälde eines alten Meisters.
»Der moderne Mensch muß Luft und Licht haben,« sagte Jason Philipp Schimmelweis und klimperte mit dem Geld in seiner Hosentasche.
Daniel besuchte das Gymnasium in Ansbach. Er sollte nur die Berechtigung zum einjährigen Heeresdienst erwerben und dann in eine kaufmännische Stellung eintreten. So hatte es Jason Philipp mit Marianne ausgemacht.
Er zeigte nur geringen Eifer. Die Lehrer schüttelten die Köpfe über ihn. Ein so beschaffenes Wesen hatten sie trotz ansehnlicher Welterfahrung noch nicht kennen gelernt. Das Brüllen einer Kuhherde und der Lärm des Spatzenvolks fanden ihn williger lauschend als die bewährtesten Leitsätze der Grammatik. Viele hielten ihn für dumm, einige andere für tückisch. Seinen Weg durch die Klassen machte er, obgleich mit Not, durch eine wunderbare Fähigkeit des Erratens und in besonders kritischen Momenten durch die Hilfe und den Fürspruch des Kantors Spindler.
Die Familien, bei denen er die Wohltat des Freitisches genoß, beklagten sich über seine schlechten Manieren. Die Gerichtsrätin Hahn hatte ihm wegen einer flegelhaften Antwort das Haus verboten. »Habenichtse müssen demütig sein,« rief sie ihm zu.
Kantor Spindler war. ein Mann, der mit Fug von sich behauptete, daß er zu Größerem bestimmt gewesen, als in einer Kreisstadt zu versauern; seine weißen Locken umrahmten ein Gesicht, welches durch die Melancholie um den Untergang von Idealen und Illusionen geadelt wurde.
An einem Sommermorgen hatte er sich mit der frühen Sonne erhoben und war über Land gegangen. Wie er nun [19] beim Dorf Dautenwinden an die erste Scheune kam, sah er eine Musikantengesellschaft, die am Abend vorher und bis in die Nacht zum Tanz aufgespielt hatte und nun, aus dem Heu sich erhebend, die Fasern von Kleidern und Haaren strich. Und droben, unter dem offenen Giebel der Scheune, lag Daniel Nothafft im Stroh und versuchte der Flöte, um die er einen der Musikanten gebeten hatte, mit vertiefter und hingegebener Miene eine Melodie abzulocken.
Der Kantor blieb stehen und schaute hinauf. Die Musikanten lachten, aber er nahm an ihrer Heiterkeit keinen Teil. Es dauerte lange, bis der ungeschickte Flötenbläser ihn gewahrte, dann kletterte er herunter und wollte sich mit einem scheuen Gruß davonstehlen. Der Kantor trat ihm in den Weg. Sie gingen zusammen, und Daniel erzählte, daß er sich seit dem gestrigen Nachmittag von den Musikanten nicht habe trennen können. Der Vierzehnjährige vermochte es nicht auszudrücken, aber es war, als habe ihn eine höhere Macht gezwungen, dieselbe Luft mit Menschen zu atmen, die Musik machten.
Von dem Tag an, drei Jahre lang, kam Daniel in jeder Woche zweimal zum Kantor, der ihn aufs gründlichste in der Lehre von Kontrapunkt und Harmonik unterrichtete. Diese Stunden hatten Beflügelung und Weihe. Der Kantor fand ein eigenes Glück darin, eine Neigung zu nähren, deren Entfaltung ihm wie Lohn für viele Jahre echoloser Einsamkeit erschien. Die verzweifelte Leidenschaft, das Aufbäumen und dumpfwilde Rasen, die ihm sowohl aus dem Wesen wie auch aus den ersten Kompositionsversuchen seines jungen Schülers entgegenschlugen, gaben sie ihm gleich Anlaß zur Sorge, wollte er immer wieder durch den Hinweis auf die hochruhenden Muster und Meister der Kunst beschwichtigen.
Und so kam die Zeit, wo Daniel sein Brot verdienen sollte.
Da fuhr der Kantor nach Eschenbach, um mit Marianne Nothafft zu reden.
Marianne begriff ihn nicht. Beinahe hätte sie gelacht.
Sie hatte bisher unter Musik nichts anderes verstanden als das Gedudel eines Leierkastens, den Gesang des Turnvereins oder den Marsch einer Militärkapelle. Wollte er herumziehen und vor den Haustüren fiedeln? Er war ein Verrückter in ihren Augen. Sie preßte die Hände gegeneinander und hörte dem Kantor zu wie einem Menschen, der nichtige Worte an ein großes Unglück verschwendet. Der Kantor sah, daß seine Macht so klein war wie seine Welt und mußte unverrichteter Dinge wieder gehen.
Marianne schrieb an Jason Philipp Schimmelweis.
Man sah es fast, wie Jason Philipp den rotbraunen Vollbart mit beweglichen Fingern durchpflügte und spöttisch mit den Augen zwinkerte; man hörte die ganze Schärfe seiner norddeutschen Zunge, als er an Daniel schrieb: »Hab nichts anderes von dir erwartet, als daß es dein innigster Wunsch ist, ein Tagdieb zu werden. Mein lieber Junge! Entweder du parierst und entschließest dich, ein anständiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden, oder ich ziehe meine Hand von euch ab. Was dann das Los deiner Mutter sein wird, male dir gefälligst selber aus, denn vom Hering- und Pfefferverkaufen kann sie nicht leben, wenn der Herr Sohn mitschmarotzt.«
Daniel zerriß den Brief in unzählige Teile und ließ sie vom Fenster aus mit dem Wind fortfliegen, indes seine Mutter weinte.
Hierauf ging er in den Wald, irrte bis zum Abend herum und nächtigte in der Höhlung eines Baumes.
Es wäre zu erzählen von fortgesetzter Auflehnung, von lieblosen Worten hüben und drüben, von Bitten und Klagen und fruchtlosen Vorstellungen und erbitterter Wechselrede und erbittertem Schweigen.
Und wie er flieht und zurückkehrt und wie träg er die Tage hingehen läßt und wie er durch die Landschaft stürmt und an den Wassertümpeln liegt, wo das Gras hochsteht, und wie er sich des nachts aus dem Schlaf erhebt und die Fenster öffnet und der Ruhe flucht und den Wolken ihre Bewegung neidet.
Und wie die Mutter ihm folgt, wenn er in die Kammer schleicht und das Ohr an die Tür preßt und hineintritt und die Kerze brennen sieht und zu ihm geht, an sein Bett geht und vor seinen glänzenden Augen erschrickt, die sich bei ihrem Nahen verfinstern. Und wie sie voll Erinnerung an ihre ersten Sorgen um ihn, erwartend, daß der Abend und der Anblick ihrer Schwäche ihn willfährig machen wird, noch einmal bittet und fleht. Und wie er sie dann anschaut und gleichsam innerlich zusammenstürzt und zu tun verspricht, was sie fordert.
Wie er dann in Ansbach beim Lederhändler Hamecher auf den Warenballen sitzt, im langen öden Tor, oder auf den Stufen einer Kellertreppe, oder auf dem Speicher und träumt, träumt, träumt. Und wie sich Herrn Hamechers nachsichtige Verwunderung in Befremdung und dann in Entrüstung verwandelt und er dem Unbrauchbaren nach einem halben Jahr den Laufpaß gibt.
Wie dann Jason Philipp noch einmal Gnade für Recht ergehen läßt und einen neuen Schauplatz mit neuen Menschen für pädagogisch ersprießlich hält, schon um Kantor Spindlers verhängnisvollen Einfluß zu mindern. Wie von Bayreuth gesprochen wird und wie niemand Daniels feuriges Erschauern bemerkt, weil ihnen der Name Richard Wagners [22] fremd ist und der Name des dortigen Weinhändlers Maier vertraut. Wie er nach Bayreuth kommt, dem Jerusalem seiner Sehnsucht, und sich zum Scheinfleiß zwingt, um nur bleiben zu dürfen, wo Sonne, Luft und Erde, die Tiere, der Kehricht und die Steine jene Musik aushauchen, von der Kantor Spindler gesagt, daß er sie wohl ahne, aber zu alt sei, um sie zu fassen oder zu lieben.
Und wie er ungeachtet seiner Bemühung, den Nützlichen zu spielen, Notenköpfe unter die Fakturen malt und in verlassenen Gewölben sonderbare Gesänge vor sich hinbrüllt und ein ganzes Faß mit Wein auslaufen läßt, weil auf seinen Knien aufgeschlagen die englischen Suiten liegen.
Und wie er sich ins Festspielhaus zu einer Probe stiehlt, durch einen beflissenen Wächter hinausgewiesen wird und dabei die Bekanntschaft von Andreas Döderlein macht, der Professor an der Musikschule in Nürnberg ist und unermüdlicher Apostel des neuen Heilandes. Und wie Döderlein zu verstehen und zu helfen nicht ungewillt scheint und viel Vergnügen über den urwüchsigen Enthusiasmus und die flammende Hingabe seines Schützlings äußert. Und wie Daniel, berauscht von der allgemeinen und unverbindlichen Verheißung einer Freistelle an der Schule des Professors bei Nacht und Nebel der Stadt den Rücken kehrt und sich aufmacht, um zu Fuß nach Eschenbach zu wandern; vor die Mutter hinstürzt; sich förmlich hinwühlt vor ihr; bettelt; beschwört; fast irre redet; sie zu bewegen sucht, Jason Philipps Sinn zu ändern, ihr zu erklären sucht, daß sein Leben, seine Seligkeit, sein Blut und Herz an diesem einen Einzigen hängt, und wie sie nun hart wird, die ehedem Gütige, steinhart und eiskalt, und nichts versteht, nichts spürt, nichts glaubt, nur das Schreckliche seiner unheilbaren Verstörung, so nennt sie es, empfindet.
Von alledem wäre zu erzählen, aber es sind Ereignisse, so selbstverständlich in ihrer Folge wie daß Funken und [23] Rauch Produkte des Feuers sind; bestimmbar jedenfalls, oft dagewesen und immer wieder in gleicher Weise wirkend.
Es sind althergebrachte Vorurteile von Zigeunerhaftigkeit und Vagabundentum, die in Mariannes Seele nisten, denn all ihre Vorfahren und ihres Mannes Vorfahren haben sich im Handwerk redlich ihr Brot verdient. Sie sieht nicht ein, was durch die Freistelle an Döderleins Anstalt gewonnen sein soll, da Daniel ja nichts besitzt, um sein Leben zu fristen. Er hat beim Kantor Klavierspielen gelernt, will sich auf dem Instrument vervollkommnen und mit dieser Fertigkeit seinen Unterhalt erwerben. Sie schüttelt den Kopf. Er spricht von der Größe der Kunst, von der Beglückung, die ein Künstler geben, der Unsterblichkeit, die er erringen könne, und daß es ihm vielleicht vergönnt sei, etwas zu machen, was nur Einer einmal zu machen imstande sei. Sie hält es für anmaßenden Wahn und lächelt verächtlich. Da wendet er sich in seinem Innern von ihr ab, und sie ist ihm keine Mutter mehr.
Als Jason Philipp Schimmelweis vernahm, was im Werke war, scheute er die umständliche Reise nicht und erschien in Mariannes Laden wie ein Racheengel. Daniel fürchtete ihn nicht mehr, weil er nichts mehr von ihm hoffte. Insgeheim mußte er lachen, als er den kurzen und kurzhalsigen Mann in seinem Grimm sah. Dabei flackerten immer noch listige und spöttische Lichter über Jason Philipps rotwangiges Gesicht, denn er hatte eine zu hohe Meinung von sich, um den nichtswürdigen Schwärmereien eines Neunzehnjährigen mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit entgegenzutreten.
Während er mit funkelnden Äuglein sprach und das rote Zünglein einige widerspenstige Schnurrbarthaare von den beredten Lippen wischte, stand Daniel an den Türpfosten gelehnt, hatte die Arme über der Brust verschränkt und betrachtete bald seine Mutter, die stumm und altgeworden in der Sofaecke saß, bald das Ölporträt seines Vaters, das ihm gegenüber an der Wand hing. Ein Jugendfreund Gottfried [24] Nothaffts, ein Maler, der verschollen war wie seine übrigen Bilder, hatte es verfertigt; es zeigte einen Mann von ernster Haltung und erinnerte an einen der fürstlich aussehenden Zunftmeister des Mittelalters. Da erkannte Daniel den Weg, der ihn durch die Geschlechterreihe dorthin geführt hatte, wo er war.
Und als er nun in Jason Philipps Gesicht schaute, glaubte er die Unruhe des schlechten Gewissens darin wahrzunehmen. Der Mann handelte nicht aus einer Überzeugung, so schien es ihm, der Mann war von vornherein entschlossen, nicht zu wollen. Und ferner schien es ihm, daß nicht bloß der eine Mann und sein zufällig begründeter Zorn, sondern daß eine ganze Welt gegen ihn in Waffen stand und zu seiner Verfolgung verschworen war. Er hatte keine Lust mehr, das Ende von Jason Philipps oratorischer Leistung abzuwarten und verließ die Stube.
Jason Philipp erblaßte. »Täuschen wir uns nicht, Marianne, du hast eine Schlange an deinem Busen genährt,« sagte er.
Daniel stand vor dem Wolframs-Brunnen auf dem Platz und ließ sich vom Purpur der untergehenden Sonne bestrahlen. Ringsum glühten die Steine sowie die gekreuzten Balken in den Häusermauern, und die Mägde, die mit Wassereimern kamen, blickten verwundert in die Lichtfülle des Himmels. In dieser Stunde wurde ihm die Heimat teuer. Als Jason Philipp den Platz betrat, an dessen Ecke die Postkutsche harrte, war er bestrebt, von Daniel nicht gesehen zu werden, und machte hinter ihm einen Bogen. Aber Daniel drehte sich um und heftete seine Augen fest auf den eilig schreitenden und verbissen zur Seite schauenden Mann.
So begibt es sich immer wieder. Und daran, daß der Flüchtling sich wendet und dem Verfolger Schrecken einjagt, ist auch nicht viel Wunderbares.
Daniel sah, daß seines Bleibens bei der Mutter nicht war. Er konnte der Mutter nicht auf der Tasche liegen. Sie war arm und vom Gutdünken eines tyrannischen Verwandten abhängig. Den ungestümen Drang niederhaltend, zwang er sich zu kühlem Bedacht und setzte sich einen Plan. Es war notwendig zu arbeiten und so viel zu verdienen, daß er über Jahr und Tag zu Andreas Döderlein gehen und ihn an sein großmütiges Anerbieten mahnen konnte. Er studierte Zeitungsinserate und schrieb Briefe. Eine Druckerei in Mannheim suchte eine Hilfskraft für Korrespondenzen. Da er sich mit dem niedrigen Lohn einverstanden erklärte, forderte man ihn auf, zu kommen. Marianne gab ihm das Reisegeld.
Drei Monate hielt er es dort aus, dann wurde ihm der Plage zu viel. Dann schuftete er sieben Monate lang bei einem Baumeister in Stuttgart, dann vier Monate bei der Kurverwaltung in Baden-Baden, dann sechs Wochen in einer Zigarettenfabrik bei Kaiserslautern.
Er lebte wie ein Hund. Aus Furcht vor Geldausgaben mied er jeglichen Verkehr. Er war grenzenlos einsam. Vor Darben und Hungern wurde er mager wie ein Strick. Die Wangen fielen ihm ein, und die Glieder schlotterten in den Gelenken. Er nähte und flickte seine Kleider selbst, und um die Stiefel zu schonen, nagelte er Hufeisen an die Absätze und breite Stifte in die Sohlen. Das Ziel hielt ihn aufrecht; Andreas Döderlein winkte in der Ferne.
Jeden Abend zählte er die Summe, die er erspart hatte. Und als er endlich, nach sechzehn Monaten der Entbehrungen, zweihundert Mark im Vermögen hatte, glaubte er den großen Schritt wagen zu dürfen. Nach seinen Berechnungen und dem Maßstab, den ihm sein bisheriges Leben geliefert hatte, meinte er von dem Gelde fünf Monate zehren zu können, und im Verlauf dieser Zeit konnten sich ja neue Quellen [26] erschließen. Er hatte viele Menschen kennen gelernt und viele Verhältnisse erfahren, aber in Wirklichkeit hatte er nichts kennen gelernt und nichts erfahren, denn er hatte in der Welt gestanden wie eine Laterne mit verdecktem Licht. Da er, um zur Erwerbsarbeit tauglich zu bleiben, mit ungeheurer Energie seinem Geist die angeborene Betätigung mit dem Hinweis auf die Zukunft verwehrt hatte, befand sich nun sein Inneres in der Glut eines Hochofens.
Auf der Wanderschaft nährte er sich von trockenem Brot und Käse, wie er es gewohnt war. Aus den Büchern und Notenheften, die er besaß, hatte er ein Paket gemacht und es an das Nürnberger Bahnamt geschickt. Es waren Vorfrühlingstage, und wenn das Wetter schön war, schlief er im Freien, wenn es regnete, kroch er in einen Schuppen. Sein Bündel benutzte er als Kopfkissen, der verschlissene Mantel schützte ihn vor dem Nachtfrost. Nicht selten fand er freundliche Aufnahme und eine Mahlzeit bei Bauersleuten; bisweilen auch schloß sich ihm ein walzender Handwerksbursche an, aber seine Schweigsamkeit verscheuchte den Weggenossen bald.
Einmal kam er in der Nähe von Kitzingen zu einem vergitterten Park. Unter einem Ahornbaum saß ein junges Mädchen in weißem Gewand und las in einem Buch. Eine Stimme rief: »Sylvia!« worauf sich das Mädchen erhob und mit unvergeßlicher Anmut der Tiefe des Gartens zuschritt.
Sylvia, dachte Daniel, es klingt wie aus einer besseren Welt. Ihm graute vor dem Los, draußen stehen zu müssen vor dem Gitter, das den Augen alles gab und den Händen alles versagte.
Sein erster Gang war zu Andreas Döderlein. Es wurde ihm mitgeteilt, der Herr Professor sei verreist. Zwei Wochen [27] später stand er wieder in dem alten Haus auf der Füll. Nun hieß es, der Herr Professor sei heute nicht zu sprechen. Sehr entmutigt, doch um seiner Sache nichts schuldig zu bleiben, kam er nach drei Tagen zum drittenmal und wurde empfangen.
Er trat in ein überheiztes Zimmer, in welchem der Professor in einem Lehnstuhl saß, sein Töchterchen, ein Kind von etwa acht Jahren auf den Knien und eine stattliche Puppe im rechten Arm hielt. Die weißen Ofenkacheln waren mit bildlichen Darstellungen aus der Nibelungensage geschmückt, auf Tisch und Stühlen lagen Notenhefte, die Fenster hatten Butzenscheiben, und in einer Ecke befand sich allerlei Gestrüpp, mit Pfauenfedern, farbigen Tüchern und chinesischen Fächern künstlich gruppiert, eine Zusammensetzung, die den Namen Makartbukett trug und in der Mode war.
Döderlein stellte das Mädchen auf die Erde, gab ihm die Puppe und richtete sich zu seiner Riesengröße auf, was ihm offensichtlichen Genuß verschaffte. Sein Hals war so dick, daß das Kinn wie auf einer weißen Gallertmasse ruhte.
Er schien sich Daniels nicht zu erinnern. Stichworte mußten die Fülle seiner Gesichte zerteilen, dann schlenkerte er mit einem Knallgeräusch zwei Finger, zum Zeichen, daß sein Geist die gewünschte Haltestation erreicht hatte. »Ja, ja! Ja freilich; gewiß, gewiß, mein lieber junger Mann; aber wie denken Sie sich das eigentlich? Gerade jetzt, wo alle Plätze so dicht besetzt sind wie eine krumenbestreute Straße von Spatzen. Möglich, daß man im Herbst darüber sprechen könnte. Ja, im Herbst, da ließe sich die Angelegenheit erwägen.«
Eine Pause, die durch ein halbes Dutzend Hms den Charakter tiefsinnigen Bedauerns erhielt. Und sei man denn echter Begabung so sicher? Habe man auch in Betracht gezogen, daß die Kunst mehr und mehr zum Tummelfeld für die Unreifen und Gescheiterten werde? Gar zu schwer seien die Schafe von den Böcken zu scheiden. Und schließlich, die Begabung vorausgesetzt, wie verhalte es sich denn mit der [28] moralischen Kraft? Es sei doch unbestreitbar, daß darin der Kernpunkt der Frage zu suchen sei; oder nicht? Habe man eine andere Meinung darüber?
Wie im Nebel gewahrte Daniel, daß das kleine Mädchen an ihn herantrat und ihn mit einem seltsam prüfenden, seltsam ungerührten Blick betrachtete. Beinahe hätte er die Hand ausgestreckt, um die Augen des Kindes zuzudecken, dessen Art ihm in einer geisterhaften Vorahnung unheimlich war.
»Es tut mir herzlich leid, daß ich Ihnen keine tröstlicheren Aussichten eröffnen kann,« tönte wieder die ölige und von ihrem eigenen Klang freudig gehobene Stimme Andreas Döderleins an sein Ohr, »aber wie gesagt, vor dem Herbst ist nichts zu hoffen. Lassen Sie mir jedenfalls Ihre Adresse hier. Schreiben Sie Ihre Adresse auf diesen Zettel. Oder nicht? Wie Sie wollen. Adieu, junger Mann; adieu.«
Döderlein geleitete ihn bis zur Türe, kehrte hierauf zu seiner Tochter zurück, nahm sie wieder auf die Knie, die Puppe wieder auf den Arm und sagte: »Die Menschen, meine liebe Dorothea, sind ein armseliges Geschlecht. Vergleiche ich sie mit den Spatzen auf der Landstraße, so tue ich, scheint mir, den Spatzen wenig Ehre an. Hach, du lieber Gott! Schreibt nicht einmal seinen Namen auf den Zettel. Gekränkt! Ei, ei, ei,! Ihr komischen Menschen, ihr! Schreibt seinen Namen nicht; ei, ei, ei!«
Er summte das Walhalla-Motiv, und Dorothea beugte sich über die Puppe und küßte kokett lachend deren Wachsgesicht.
Daniel, vor dem Hause stehend, biß die Lippen zusammen wie ein Fiebernder, der seine Zähne am Klappern verhindern will. Warum, fragte ihn die tiefe Seele, warum bist du in ihren Schreibstuben gesessen und hast die Zeit vertan? Warum hast du für jene deinen Leib gemartert und mir die Flügel gebunden? Warum warst du taub gegen mich und wolltest Früchte sammeln, wo nur Steine sind? Warum bist du feig[29] vor deinem Schicksal geflohen in ihre Schreibstuben, zu ihren Warenhäusern, zu ihren Geldschränken, zu ihrer traurigen Geschäftigkeit? Nur um dieser Stunde willen? Armer Narr!
Nie mehr, Seele, antwortete er, nie mehr.
Anfangs hatte Marianne hie und da eine kurze Nachricht von Daniel erhalten. Dies geschah immer spärlicher; im zweiten Jahr schickte er ihr bloß zu Weihnachten ein paar Zeilen.
Um die Zeit, als er seine letzte Arbeitsstelle verließ, schrieb er auf einer Postkarte, daß er seinen Aufenthaltsort wieder einmal verändere, aber daß er nach Nürnberg ging, unterließ er ihr mitzuteilen. Frühling und Sommer verflossen, da wurde ihr zwischen Furcht und Hoffnung schwankendes Gemüt durch einen Brief Jason Philipps grausam aus der Unentschiedenheit gescheucht.
Er schrieb, Daniel treibe sich in Nürnberg herum; er habe ihn vor einigen Tagen zufälligerweise unter den Meßbuden auf der Insel Schütt gesehen, in einem Aufzug, den zu schildern die Feder sich sträube. Als er ihn stellen gewollt, sei er verschwunden gewesen. Was ihn in die Stadt geführt, darüber könne er, Jason Philipp, keine Auskunft geben, aber es sei zehn gegen eins zu wetten, daß wieder ein ganz niederträchtiger Streich zugrunde liege, denn der Bursche habe nicht ausgesehen wie einer, der sich anständig durchbringt. Er schlage Marianne vor, zu kommen und bei der Razzia auf den Strolch zu helfen, man müsse, ehe es zu spät sei, verhindern, daß der unbescholtene Name, den er trage, dauernd verunglimpft werde. Als Reisebeitrag sende er hierzu fünf Mark in Briefmarken.
Mittags hatte Marianne den Brief erhalten, hatte Laden und Haus verschlossen, um zwei Uhr befand sie sich auf dem [30] Ansbacher Bahnhof, und um vier Uhr kam sie in Nürnberg an. Ihr Köfferchen in der Hand tragend, fragte sie sich von Straßenecke zu Straßenecke nach der Plobenhofgasse durch.
Therese saß hinter der Ladenkasse. Das braune Haar auf ihrem viereckigen Bauernkopf war glatt frisiert. Zwanziger, der sommersprossige Gehilfe, war mit dem Auspacken von Büchern beschäftigt. Therese begrüßte die Schwester scheinbar freundlich, verließ aber ihren Platz nicht, sondern reichte bloß die Hand über das Tintenfaß hinüber und musterte Mariannes armselige Erscheinung, die verschossene Mantille und das altmodische Stoffhütchen, dessen schwarze Sammetbänder unter dem Kinn zur Masche geknüpft waren.
»Geh einstweilen hinauf,« sagte sie, »unterhalte dich mit den Kindern, Rieke soll deinen Koffer holen.«
»Wo ist dein Mann?« fragte Marianne.
»Bei einer Wählerversammlung,« antwortete Therese mürrisch; »sie können sich ja nicht versammeln, wenn er fehlt.«
Jetzt trat ein Mann im Arbeitskittel in den Laden und fing an, mit leiser, aber erregter Stimme auf Therese einzusprechen. »Ich habe das Werk gekauft, das Werk ist mein Eigentum,« sagte der Mann, »und wenn man mit der Rate mal aussetzt, so ist das kein Grund, daß man sein Eigentum verliert. Das sind Praktiken, Frau Schimmelweis, Praktiken sind das.«
»Was hat denn Herr Wachsmuth von uns bezogen?« wandte sich Therese an den Gehilfen Zwanziger.
»Schlossers Weltgeschichte,« war die prompte Erwiderung.
»Da müssen Sie halt Ihren Vertrag lesen,« sagte Therese zu dem Arbeiter, »im Vertrag ist alles festgesetzt.«
»Das sind Praktiken, Frau Schimmelweis, Praktiken sind das,« wiederholte der Mann, als ob in diesem Ausdruck alles enthalten sei, was ihm an vernichtendem Urteil zu Gebote stand; »unsereiner will sich fortbringen, unsereiner will was lernen; gut, denkt man, kaufst dir ein Buch, rückst [31] um eine Charge hinauf in deinen Kenntnissen. Gut, man geht zu einem Parteifreund, man geht zum Buchhändler Schimmelweis, da ist man geborgen, denkt man. Für schwere sechzig Mark schafft man sich eine Weltgeschichte an, rackert sich die Raten vom Lohn ab, und auf einmal, mir nichts, dir nichts, wenn man schon die Hälfte gezahlt hat, soll man sein Eigentum wieder verlieren, weil man zweimal im Rückstand geblieben ist. Das sind Praktiken, Frau Schimmelweis, Praktiken sind das.«
»Lesen Sie Ihren Vertrag,« sagte Therese, »da ist jeder Punkt festgesetzt.«
»Kein Wunder, daß man dabei reich wird,« fuhr der Arbeiter mit immer lauter werdender Stimme fort und blickte zornig auf Jason Philipp, der mit eingedrücktem Hut und kotbespritzter Hose eben zur Ladentür hereinschoß, »kein Wunder, daß man sich Häuser kaufen und in Grundstücken spekulieren kann. Jawohl, Schimmelweis, das sind Praktiken, und ich pfeif auf Ihren Vertrag. Von allen Seiten hört man's ja, wie Sie's treiben, was für eine Fuchsfalle das ist mit den Ratenzahlungen und wie Sie den Arbeiter bewuchern. Erst wird ihm die Bildung angepriesen, und dann wird er geschröpft damit. Pfui Teufel!«
»Nehmen Sie sich zusammen, Wachsmuth!« rief Jason Philipp streng.
Wachsmuth ergriff seine Kappe und schlug die Ladentüre hinter sich zu.
Marianne Nothaffts Augen liefen mechanisch über die Titel einer Reihe feuerfarbenen Broschüren, die auf dem Tisch ausgebreitet waren. Sie las: »Auf zur Entscheidungsschlacht«; »Moderne Sklavenhalter«; »Dem Armen sein Recht«; »Christentum und Kapitalismus«; »Die Verbrechen der Bourgeoisie«. Obwohl ihr diese Schlagworte nichts bedeuteten und nichts sagten, spürte sie in ihrer Brust auf einmal wieder jenen alten, schon vergessenen Haß gegen die Maschine.
»Laß mir ein Butterbrot schneiden, Therese,« befahl Jason Philipp, »der Magen kracht mir.«
»Hast du denn im Wirtshaus nichts gegessen?« fragte Therese mißtrauisch.
»Ich war nicht im Wirtshaus.« Jason Philipps Augen blitzten, und er schüttelte den Kopf wie ein Löwe.
Da ging Therese, um das Butterbrot zu holen, und es war eigentümlich, wieviel Argwohn und Widerspruch sie in die Langsamkeit ihres Schrittes zu legen vermochte. Ihre Tochter Philippine kam aber schon mit dem Butterbrot über die Stiege herunter.
Jetzt erst gewahrte Jason Philipp seine Schwägerin. »Da bist du ja, wie klein du dich machst,« sagte er flüchtig überrascht und reichte ihr die rundliche Hand. »Therese soll dir die Kammer unterm Speicher geben, da hast du eine hübsche Aussicht auf die Pegnitz.«
Therese reichte ihm das Butterbrot. Er beroch es und runzelte die Stirn, weil es so dünn bestrichen war, hatte aber nicht den Mut, sich tadelnd darüber zu äußern. Er biß hinein, und mit vollen Backen wandte er sich neuerdings an die schweigende Marianne.
»Na, dein Filius ist also wieder abgängig. Schöne Geschichte das. Wird noch im Zuchthaus enden, der saubere Herr. Das beste wäre, ihn nach Amerika zu spedieren, aber wie wir seiner habhaft werden sollen, ist mir noch unklar. Polizeilich gemeldet ist er nicht, und ich weiß eigentlich gar nicht, wozu du da bist. War eine Übereilung von mir, dich kommen zu lassen.«
»Wenn ich nur wüßte, wovon er lebt,« flüsterte Marianne beklommen.
»Neulich hab ich irgendwo gelesen,« fuhr Jason Philipp erzählerbehaglich fort, »daß aus einem zoologischen Garten [33] eine Giraffe durchgebrannt war. Von Giraffen hast du doch gehört? Es sind langhalsige Vierfüßler, die sehr albern und bockig sind. Das dumme Vieh war in einen Wald gelaufen und die Leute wußten nicht, wie sie es fangen sollten. Da hing ein Wärter die Stallaterne vor seine Brust und ein Bündel Heu auf den Rücken, und mit sinkender Nacht begab er sich in den Wald. Die Giraffe erblickt kaum den Laternenschein, als sie neugierig herzurennt. Der Mann dreht sich um, sie riecht das Heu, sie zupft und frißt, der Mann geht weiter, sie zupft und frißt weiter, und so bringt er die Bestie wieder in den Käfig. Was meinst du, könntest du nicht deinen Daniel, wenn ihn der Hunger piesakt, auch mit ein bißchen Heu wieder kirre machen? Denk mal drüber nach.«
Jason Philipp lachte vergnügt und Zwanziger grinste. Dieser besaß in seinem Prinzipal eine Quelle des Witzes, und wenn er am Abend im »Bärleinhuter« oder im »gläsernen Himmel« beim Bier saß, ergötzte er die Zechgenossen mit Schimmelweisschen Geistesblüten und fand vielen Beifall.
Ein magerer Greis, der Glacéhandschuhe und einen Zylinderhut trug, betrat den Laden. Es dämmerte, er hatte sich draußen vorsichtig umgesehen, nun ging er eilig auf Jason Philipp zu und sagte mit einer gebrochenen Fistelstimme: »Also, was ist's mit den Neuigkeiten? Was haben wir Schönes?« Er rieb sich die Hände und stierte unter dünnen, roten Lidern blöde vor sich hin. Es war der Graf Schlemm-Nottheim, ein Vetter des liberalen Parteihauptes, des Freiherrn von Auffenberg.
»Stehe ganz zu Diensten, Herr Graf,« sagte Jason Philipp, stramm wie ein Unteroffizier, wenn er vom Hauptmann angesprochen wird.
Er führte den Grafen in eine Ecke des Raums und sperrte einen schweren Eichenschrank auf. In diesem lagen die vom Staatsanwalt verbotenen erotischen Druckwerke, die nur [34] unter der Hand und an verläßliche Personen verkauft werden konnten.
Jason Philipp tuschelte, und der alte Graf wühlte mit gierigen Fingern in einem Bücherhaufen.
Im finstern Treppenhaus erklomm Marianne die steile Stiege und läutete vor einem Gitter. Sie mußte der Magd sagen, wer sie war, auch den Kindern mußte sie ihren Namen nennen. Ihre stadtfremde Höflichkeit erweckte bei den Kindern ein Gelächter. Die zwölfjährige Philippine tat hochmütig und wackelte beim Gehen mit den Hüften. Alle drei hatten den viereckigen Kopf der Mutter und eine käsige Gesichtsfarbe.
Die Magd brachte das Köfferchen, dann kam auch Therese und half der Schwester beim Auspacken. Mit ihrer spitzen und lieblosen Stimme stellte sie viele Fragen, wartete aber nicht die Antwort ab, sondern berichtete von Heiraten, Entbindungen und Todesfällen, die sich in der Stadt ereignet hatten. Sie vermied es, dem Blick Mariannes zu begegnen, da sie sich Gedanken darüber machte, wie lange der Besuch der Schwester wohl dauern und welche Unkosten daraus entstehen würden.
Von Daniel sprach sie nicht. Ihr Schweigen verurteilte ihn mehr als ihres Mannes bissige Reden es taten. Sie hielt unerschütterlich an beinahe religiösen Vorstellungen der Gehorsamspflicht der Kinder gegen die Eltern fest und traute Marianne nicht die Kraft zu, das Verbrechen an diesem heiligen Gebot zu ahnden.
Als Marianne wieder allein war, setzte sie sich ans Fenster der Kammer und sah traurig auf den Fluß hinunter. Das gelbe Wasser glitt wellenlos dahin und umspülte die Mauern der gegenüberliegenden Häuser. Sie konnte die Museumsbrücke [35] und die Fleischbrücke überschauen, und das Menschengewühl auf den Brücken beunruhigte sie.
Sie ging auf die Straße und blieb am Kopf der Museumsbrücke stehen. Sie war der Meinung, jeder in der Stadt wohnende Mensch müsse einmal hier vorüberkommen. Ihr aufmerksamer Blick durchforschte alle Gesichter, und wo ihm eins entschlüpfte, verfolgte er die in den Abend schwindende Gestalt. Es kamen immer weniger Menschen, je später es wurde.
Des Nachts lag sie wach und lauschte den dumpf klingenden Schritten der Spätlinge, und am andern Tag wanderte sie vom frühen Morgen bis in die Dämmerung straßauf, straßab. Was sie sah, machte ihr das Herz schwer, die Menschen erschienen ihr wie stumme Tiere, geplagt und böse, die engen Gassen raubten ihr den Atem und der Lärm benahm ihr die Sinne.
Aber sie wurde nicht müde, zu suchen.
Am fünften Tag kam sie erst gegen zehn Uhr abends nach Hause und Therese, die schon zu Bett gegangen war, schickte ihr einen Teller Linsensuppe. Während sie ihn hungrig auslöffelte, vernahm sie Schritte auf dem Flur, ein Klopfen an der Türe, und Jason Philipp trat ein. »Komm mal gleich mit mir,« war alles, was er sagte, aber sie begriff. Mit zitternden Händen warf sie ein Tuch um die Schultern, denn die Oktoberabende waren schon kalt, und folgte ihm schweigend.
Sie gingen zur Adlergasse bergan, bogen in diese hinein, dann nach wenigen Schritten in ein schmales und finsteres Gäßchen zur Rechten. Über einem Tor hing eine Laterne, auf deren grünen Scheiben die Worte standen: »Zum Jammertal«. Grün beleuchtet war auch die steinerne Treppe, die in den Keller führte, die Fässer unten und der mit Bänken und Tischen versehene öde Gastraum. Eine sauer schmeckende Weinluft drang empor.
[36] Neben dem Eingang befand sich ein vergittertes Fenster. Dort machte Jason Philipp halt und winkte Marianne zu sich hin.
An den langen Tischen drunten saß eine wunderliche Gesellschaft, junge Leute, wie man sie nirgends sonst in Häusern und nur selten auf den Straßen sieht. Die Not schien sie zusammengeworfen, die Nacht aus ihren Schlupfwinkeln gelockt zu haben; Schiffbrüchige, die an verlassener Küste in eine Höhle geflohen sind. Sie hatten lächerlich bunte Krawatten und traurig fahle Mienen, und das grüne Licht ließ sie noch leichenhafter aussehen. Seit langem hatte kein Haarkünstler eines ihrer Häupter berührt, seit langem kein Schneider Hand an sie gelegt. So schienen sie in mehr als einem Betracht Verächter des Handwerks zu sein.
Zwei alle Kerle saßen abseits, zwei Säufer, nicht in guten Umständen, aber einigermaßen erstaunt über die acherontische Sippe. Denn sie empfingen schließlich doch am Samstag ihren Wochenlohn, und jene lebten sichtlich ohne Lohn dahin, seit Jahren.
In einer halbdunklen Ecke vor dem Klavier aber saß einer und hämmerte gewaltig auf die Tasten. Er hatte keine Notenblätter vor sich, er spielte aus dem Gedächtnis. Das Instrument röchelte; die Saiten schepperten kläglich; die Pedale ächzten; doch der Spieler war so behext von seiner Produktion, daß ihn die Mängel der Materie wenig kümmerten. Wie sinnlos auch das Getöse klang, die schrill tobenden Akkorde, die wüsten Aufschreie des Diskants, die gejagten Triolen und brodelnden Tremolos im Baß, so gab doch die Ergriffenheit des Spielers, die Ekstase und der erdferne Rausch, worin er sich befand, der Szene eine Melancholie und eine Feierlichkeit, die des grünen Kellers und der troglodytisch fahlen Zuhörerschaft nicht bedurft hätte, um so zu wirken, wie sie wirkte.
Marianne hatte in dem Spieler sogleich Daniel erkannt. [37] Sie mußte sich am Fenstergitter festhalten und die Knie gegen das Gesimse stemmen. Jason Philipp galt nicht umsonst für einen Mann von humoristischer Anlage; das Bild von Daniel in der Löwengrube war zu verführerisch, und er raunte die Worte in Mariannes Ohr. Aber das Fenster war offen und da sich das Musikstück eben zu einer Fermate gesteigert hatte, drang seine Stimme bis hinunter und einige an der Tafelrunde schauten hinauf. Marianne war unbesonnen; sie glaubte, der Vortrag sei zu Ende und rief, matt und furchtsam: »Daniel!«
Daniel sprang empor, starrte nach der Ruferin, sah Jason Philipps höhnisches Gesicht, stürzte zur Tür, zur Treppe und in drei Sätzen die Treppe hinan.
Er stand in der Torwölbung und seine Lippen wollten Worte rufen. Der unselige Mensch, dachte Marianne, und ihr war, als könne sie das Wort, vor dem sie zitterte, zurückzwingen in die Brust, in der es geboren wurde.
Vergebens, das Wort wurde ausgesprochen. Er wolle die Mutter nicht mehr sehen; er wolle mit sich selber und für sich selber leben, er wolle frei sein, er brauche niemand, er wolle frei sein.
Jason Philipp schleuderte dem Frevler einen Blick der Verachtung zu und zog Marianne mit sich fort. Noch an der Ecke des Gäßchens vernahmen sie die aufgeregten Stimmen der Leute vom Jammertal.
Am andern Morgen kehrte Marianne nach Eschenbach zurück.
[38]Daniel hatte sich bei dem Bürstenmachersehepaar Hadebusch eingemietet, auf dem Jakobsplatz hinter der Kirche.
Damals im März war es noch recht kalt geworden, und Frau Hadebusch hatte eine abergläubische Furcht vor Kohlen, die sie als Teufelsdreck bezeichnete. Hinten im Hof war das Holzlager, davon nahm sie die Scheite, mit denen die Öfen geheizt wurden. Aber diese Scheite waren teuer; hätte Daniel das eiserne Öfchen in seiner Mansardenstube mit so kostbarer Nahrung gespeist, so hätte die Monatsrechnung eine unerschwingliche Höhe erreicht. Er zahlte sieben Mark für die Stube und rechnete immer wieder, um seine Freiheit durch keinen vergeudeten Groschen zu verkürzen.
So saß er frierend bei seinen Büchern und Heften, bis endlich Frühlingswärme durch die offenen Fensterluken zog. Die Bücher holte er sich gegen Entrichtung von sechs Pfennigen für den Band von einer Leihbibliothek am Königstor. Achim von Arnim und Jean Paul waren in jener Zeit seine Dichter; bei dem einen fand er die Welt außen wunderbar geschmückt, bei dem andern innen.
Mit dem Meldezettel Daniels, auf welchem er sich Musiker nannte, kam Frau Hadebusch in die Wohnstube, die, wie alle Räume im Haus, wie für Zwerge gebaut war und, wie gleichfalls alle Räume, nach Leim und Laugenwasser duftete. Es hatten sich dort, da es Feierabend war, Herr Francke und Herr Benjamin Dorn niedergelassen, die Mieter des Mittelstocks, ferner der Sohn der Frau Hadebusch, der schwachsinnig war und grinsend auf der Ofenbank hockte.
Herr Francke war Stadtreisender für ein Zigarrengeschäft und galt bei den weiblichen Dienstboten der Umgebung als ein gefährlicher Herzensdieb; Benjamin Dorn war Schreiber [39] bei der Versicherungsgesellschaft Prudentia, gehörte einer Methodistengemeinde an und stand wegen seiner gottgefälligen Lebensführung bei allen respektablen Leuten in Respekt.
Das Schriftstück wurde von den Herren eingehend und mit gerunzelten Stirnen geprüft, und Herr Francke äußerte sich dahin, daß ein Musiker, von dem man keine Musik vernehme, mit nichten als Musiker zu betrachten sei.
»Wird die Baßgeige oder das Flügelhorn, oder was er sonst gelernt hat, ins Pfandhaus getragen haben,« sagte er geringschätzig; »vielleicht kann er nur trommeln, und das kann ich auch, wenn man mir eine Trommel gibt.«
»Ja, eine Trommel muß man haben, um trommeln zu können,« bemerkte Benjamin Dorn; »es ist jedoch die Frage, ob sich so ein Gewerbe mit den Grundsätzen christlicher Bescheidenheit verträgt.« Er legte den Finger an die Nase und fügte hinzu: »Es ist eine Frage, die ich, in aller Demut versteht sich, in aller Demut verneinen möchte.«
»Er hat gar keine Verwandten, sagt er, und gar keine Bekannten,« jammerte Frau Hadebusch mit einer Stimme, die klang, wie wenn man Rüben auf einem Reibeisen schabt, »und gar keine Stellung und gar keine Aussichten und von Stiefeln und Kleidern nichts, als was er auf dem Leibe trägt. Mein Lebtag hab ich keinen solchen Zimmerherrn gehabt.«
Der Meldezettel flatterte auf den Boden, von wo ihn der schwachsinnige Hadebusch junior aufhob, eine Tüte daraus drehte und diese in den Mund steckte, um Trompete zu blasen, eine Prozedur, bei welcher das wichtige Dokument allmählich aufgeweicht und so seiner Bestimmung entzogen wurde. Frau Hadebusch hielt zu wenig von den polizeilichen Vorschriften, um sich in der Folge noch einmal um ihre Vermieterinnenpflicht zu kümmern.
Herr Francke nahm ein Paket schmieriger Karten aus der Tasche und begann zu mischen. Frau Hadebusch kicherte [40] gleich einer Hexe, wenn es im Kamin raschelt, der Methodist bezwang seine frommen Skrupel und zählte Pfennige auf das Tischbrett, und der Stadtreisende stülpte die Rockärmel hoch, als sei er im Begriff, einem Huhn den Hals abzuschneiden.
Es dauerte nicht lange, so erhob sich ein mißtönendes Gezänke, da Herr Francke zur Göttin Fortuna in einem etwas gewalttätigen Verhältnis stand. Der alte Bürstenmacher steckte den Kopf in die Tür und fluchte, der Schwachsinnige blies träumerisch die papierene Trompete, und die vorhin so friedfertig gewesene Gesellschaft stob wutschnaubend auseinander.
Daniel wanderte zur Burg hinauf, an den Wällen entlang, über die Brücken und die Stege.
Es war seine Jugend, die ihn die Nacht so lieben ließ, daß er die Menschheit vergaß und sich wie allein auf der Erde erschien; die Jugend, die ihn den Dingen mit Inbrunst überlieferte und ihn fähig machte, Melodien wie Geisterblumen um alles zu flechten was sichtbar war; Melodien, die so zärtlich, so beredt, so schwebend keine Feder jemals zu Papier gebracht hat und die dahinstarben, wenn die Hand sich ihrer bemächtigen wollte.
Aber es war auch die Jugend, die beim Blick auf gemütlich erleuchtete Fenster sein Auge gehässig entzündete und mit Bitterkeit gegen die Zufriedenen, die Gleichgültigen, die Fremden, ewig Fremden, nichts von ihm Wissenden seine Brust erfüllte.
Er war klein und groß; klein vor der Welt, groß vor sich selbst. Er war ein Gott, wenn die Töne aus ihm sprühten wie Funken von einem Amboß, und ein Ausgestoßener, wenn er im finstern Hof hinterm Stadttheater wartete, bis [41] der Schlußchor der Oper Fidelio durch die Mauern zu ihm drang.
Von überall her rauschten die Quellen, aus Kinderaugen und von den Sternen. Es gab keine Grenze mehr, sein Tag war eine Wildnis, sein Hirn ein durstiges Ackerfeld im Regen, seine Gedanken Sturmvögel, seine Träume Leben über dem Leben.
Er nährte sich von Brot und Obst, nur jeden dritten Tag erlaubte er sich ein warmes Nachtessen in der Wirtschaft zum weißen Turm. Da lauschte er manchmal verstohlen der ungewöhnlich klingenden Unterhaltung einiger junger Leute, und brennend erwachte in ihm das Verlangen nach Aussprache mit Gleichgestimmten. Aber als ihn die Brüder vom Jammertal in ihre Mitte nahmen, glich er doch einem Robinson oder Selkirk, den man von seiner Insel entführt.
Benjamin Dorn hatte ein mitleidiges Gemüt, und die Begierde, eine verlorene Seele zu retten, verlieh ihm den Mut, Daniel Nothafft einen Besuch abzustatten. Er humpelte mit seinem Klumpfuß die krachende Stiege hinauf und klopfte schüchtern an die Tür.
»Kann ich Ihnen, mein Herr, vielleicht in christlicher Weise mit etwas dienen?« fragte er, nachdem er sich geschneuzt hatte.
Daniel starrte ihn verwundert an.
»Ich könnte Ihnen, mein Herr, natürlich ganz uneigennützig, in christlicher Weise, zu einer Anstellung verhelfen. Bei der Prudentia gibt es mancherlei zu arbeiten. Ich würde sicher keine Fehlbitte bei Herrn Zittel tun. Herr Zittel ist Bureauchef, mein Herr. Auch beim Herrn Generalagenten Diruf stehe ich in Gunst. Und mit Herrn Inspektor Jordan [42] verkehre ich fast täglich. Herr Inspektor Jordan ist ein äußerst gebildeter Mann. Seine Tochter Gertrud ist von mir in christlicher Weise erleuchtet worden. Sie hat Anteil an der Gnade erlangt, mein Herr. Wenn Sie sich mir anvertrauen wollen, betreten Sie einen heilsamen Weg. Ich bin immer bemüht. Ohne unbescheiden zu sein, darf ich sagen, daß ich mit der Bemühung geboren bin.«
Er sah aus wie ein Flickwerk aus Übelkeit, Trübsal und Gottgefälligkeit, und sein Rockkragen war zerfranst.
»Lassen Sie's nur gut sein,« entgegnete Daniel, »Sie sehen ja, es geht mir ganz erträglich.«
Der fromme Versicherungsschreiber seufzte und wischte mit dem Handrücken ein Tröpfchen von seiner Nase. »Beherzigen Sie, mein Herr, das Wort Salomonis: Hochmut erniedrigt den Menschen, wer aber demütig ist im Geiste, erlangt Ehre.«
»Ich will's beherzigen,« sagte Daniel trocken und beugte sich wieder über das Notenblatt, an dem er schrieb.
Benjamin Dorn seufzte abermals und humpelte wieder hinaus. Zu Frau Hadebusch sagte er, mit dem Daumen emporweisend: »Mutter Hadebusch, ich kann nicht anders, ich muß mir in christlicher Weise das Herz erleichtern, – denken Sie sich –«
»Jesus Maria, was tut er? Was treibt er?« keuchte die Alte, ihren Besen unter die Achsel schiebend.
»Der Tisch ist voller Papier, und das Papier ist mit lauter Geheimzeichen bedeckt, so wahr ich hier stehe.«
Da schickte Frau Hadebusch, in Angst vor der Schwarzkunst des Mansardenbewohners, ihren Gatten zum Revierkommissär. Dieser aufgeklärte Beamte hieß den Bürstenmacher einen alten Schwätzer. Aus Verdruß hierüber begab sich der Bürstenmacher ins Gasthaus zum Roß und betrank sich und mußte, es war eine schöne Mondnacht, von Benjamin Dorn heimgeführt werden.
Um Plärrer stand ein kleines Caféhaus, das Paradieschen mit Namen; darin war alles winzig klein: der Wirt, die Kellnerin, die Tische, die Stühle und die Portionen. Dort versammelten sich die Brüder vom Jammertal, um die Götter in den Staub zu schleifen und den Weltbau zu zerstören.
Dorthin lenkte Daniel seine Schritte.
Er kannte den liliputanischen Raum, er kannte die verhungerten Gesichter. Er kannte den Maler, der nie malte, den Schriftsteller, der nie schrieb, den Studenten, der nicht studierte, den Erfinder, der nichts erfand, den Bildhauer, der seine Kunst in einer Gipsgießerei verschwendete, den Schauspieler, der seit vielen Jahren auf Urlaub war, und das halbe Dutzend armselige Philister, die hierher kamen, um sich gruselnd zu ergötzen. Er kannte den jungen Freiherrn von Auffenberg, der aus Gründen, welche niemand wußte, mit seiner Familie zerworfen war, und Herrn Carovius kannte er, der stets den Beobachter zu spielen schien, geheimnisvoll dasaß, schmachtend und ironisch vor sich hinlächelte und mit der Hand über das lange Haar strich, das über dem Nacken in künstlichem Gleichschnitt endigte.
Er kannte die von den Schultern abgeriebenen Stellen an den Wänden, die eingetrockneten Flecken auf der Politur der Tische, die Hirschhornknöpfe auf der Weste des Wirts und die rauchgeschwärzten Vorhänge an den winzigen Fenstern. Er kannte das Geschrei, die täglich sich wiederholenden Worte, die anarchistischen Windbeuteleien des Malers, den sie Krapotkin nannten, die philosophischen Zynismen des Studenten, der sich als Sokrates des neunzehnten Jahrhunderts fühlte und auf fünfundzwanzig verbummelte Semester wie auf ebensoviele siegreiche Schlachten zurückblickte.
Die interessanteste Erscheinung war Herr Carovius.
Er war ein belesener Mann; auch auf die Musik verstand [44] er sich gründlich, viele seiner Bemerkungen verrieten es. Er war ein Schwager von Andreas Döderlein, doch schien er diese Verwandtschaft nicht mit freundlichen Augen zu betrachten, denn sobald irgendwer von Andreas Döderlein sprach, verzerrte sich seine Miene, und er rückte zapplig auf seinem Stuhl herum. Er war eine undurchschaubare Persönlichkeit, und hätten ihm nicht schon seine Jahre eine gewisse Achtung verschafft, er war fünfundvierzig, so hätte es der boshafte Hohn getan, mit dem er die Menschen betrachtete. Die Leute sagten, er besitze viel Geld; wurde ihm dies hinterbracht, so beteuerte er mit gräßlichen Eiden seine Armut. Aber da er keinen Beruf hatte und sich einem Müßiggang hingab, der geheimnisvoll wirkte wie alles an ihm, hielt man ihn in diesem Punkt, trotz der Eide, für unzuverlässig.
»Wer ist denn der spindeldürre Quack dort?« fragte Herr Carovius, auf Daniel deutend, den Bildhauer Schwalbe. Er kannte Daniel längst, doch behagte es ihm bisweilen, den Neuling zu spielen.
Der Bildhauer sah ihn unwillig an.
»Einer, der noch an sich glaubt,« erwiderte er finster. »Einer, der im Drachenblut der Illusionen gebadet hat und unverletzlich ist wie Jung-Siegfried. Er ist überzeugt, daß alle, die da ringsherum in ihren Häusern schlafen, von seiner künftigen Größe träumen und den Lorbeer für ihn schon beim Grünzeughändler bestellt haben. Er weiß nicht, daß ihnen nur ihr Mittagessen heilig ist, daß sie Bier trinken, wenn die Schalmeien erklingen, und gähnen, wenn der Sinai flammt. Er ist erfüllt von sich, das genügt ihm, und er sammelt Honig. Die Biene will nur Honig, und findet sie keine Blüten, so schwirrt sie um den Mist. Wie Figura zeigt. Prosit Nothafft,« schloß er und erhob sein Glas gegen Daniel.
Herr Carovius lächelte schmachtend. »Nothafft,« meckerte er, »Nothafft! Hübscher Name, aber nicht für Walhall, eher für das Firmenschild eines Schneiders. Hach, du lieber [45] Gott! Der Knochen, an dem jetzt die jungen Leute kiefen, ist zu meiner Zeit noch voll Fleisch gewesen.«
Dann heftete er, den Zwicker fester auf die Nase setzend, seine Augen ehrfürchtig blinzelnd gegen die Tür, durch welche, elegant, schlank und mißvergnügt, der junge Eberhard von Auffenberg eintrat, der das Leben hier suchte, wo andere es wegwarfen.
In später Nacht zogen die Brüder durch die Straßen und brüllten die stillen Häuser an.
Während das Gelächter und sinnlose Streiten an sein Ohr drang, vernahm Daniel eine sanfte Stimme in Es-Moll, darunter schritten in gewaltiger Wucht unerbittlich die Achtel einher; dann löste sich die Stimme in einen feierlichen Akkord in Es-Dur auf, und dann war alles wie in die Tiefe des Meeres versunken.
Gegen Ende des Sommers ereignete es sich, daß Philippine, Jason Philipps Tochter, ihrem siebenjährigen Brüderchen mit einem sogenannten Schnepper ein Auge ausschoß.
Die Geschwister spielten im Hof, Willibald, der ältere Knabe wollte den Schnepper haben, Philippine, die keinen Spaß verstand, riß ihn roh aus seinen Händen, drückte den Stein auf das elastische Band, schnellte ihn mit ziemlicher Kraft ab, der kleine Markus rannte dazwischen, ein Schrei ließ die ahnungsvolle Mutter von ihrem Zahltisch in den Hof stürzen, sie sah, wie sich das Kind auf der Erde wälzte, Jason Philipp lief, während Therese den Knaben in die Wohnung hinauftrug, zum Arzt, aber es nützte kein Eingriff mehr, das Auge war verloren.
Philippine hatte sich versteckt. Ihr Vater fand sie endlich unter der Kellerstiege. Er schlug sie so erbarmungslos, daß die Hausgenossen herbeieilten und ihm in die Arme fielen.
[46] Der kleine Markus war Thereses Lieblingskind. Sie konnte das Unglück nicht verwinden. Was in ihrem Gemüt schon lang geschlummert, wurde nun beharrlicher Wahn; sie grübelte nach der Schuld.
Bisweilen erhob sie sich des Nachts aus dem Bett, zündete die Kerze an und schlurfte in ihren Pantoffeln durch die Zimmer. Sie leuchtete hinter die Öfen und unter die Schränke und drückte das Ohr lauschend an die Kammertür der Magd. Sie sah in den Mausfallen nach, und wenn sich eine Maus gefangen hatte, konnte sie sich von dem Anblick der unruhigen Angst des Tierchens nicht trennen.
Eines Tages wurde Jason Philipp von einem ihm bekannen Schreinermeister auf der Straße angehalten und gefragt, ob er keine alten Möbel zu verkaufen habe. Jason Philipp erwiderte, er wisse nichts von dergleichen ausgedientem Hausrat, schickte ihn aber gleichwohl zu Therese. Diese entsann sich, daß auf dem Dachboden seit vielen Jahren ein alter Sekretär stehe, für den man vielleicht ein paar Taler lösen könne, und ging mit dem Mann hinauf.
Sie stieß das kleine Holzfenster auf, und der Schreiner besah den Sekretär, der nur drei Füße hatte und morsch und verfallen war. »Dafür kann man nichts geben,« sagte der Schreiner und klopfte an dem Möbel herum wie ein Doktor an einer Leiche; »zwölf Groschen höchstens.«
Sie feilschten eine Weile und einigten sich schließlich auf sechzehn Groschen. Der Schreiner ging fort, nachdem er versprochen hatte, am Nachmittag einen Gesellen zu schicken. Therese war schon auf der Treppe, da fiel ihr ein, man müsse in den Schubfächern des alten Sekretärs nachsehen, ob nicht etwelche vergessene Schriftstücke darin seien, und sie ging wieder hinauf.
Im Staub einer Lade fand sie wirklich Papiere, und unter diesen Papieren lag die Quittung, die Gottfried Nothafft vor zehn Jahren Jason Philipp zurückgeschickt hatte. Und [47] sie las im undeutlichen Licht die vertrauensvollen Worte des Verstorbenen, und sie sah, daß Jason Philipp dreitausend Taler bekommen hatte.
Sie las und sah und zerknitterte das Blatt. Sie schob es in die Schürzentasche und schrie auf einmal mit gellender! Stimme: »Geh fort, Gottfried, geh fort!«
Sie ging hinunter und kam in die Küche, und bei der Anricht stehend, rührte sie mit dem Kochlöffel geistesabwesend in einer Schüssel, in der Eier auf Mehl geschlagen waren. Rieke, die Magd, erschrak vor ihr und bekreuzigte sich.
Als das Mittagessen vorüber war, standen die Kinder auf, um sich zum Schulgang zu bereiten. Jason Philipp zündete eine Zigarre an und zog die Zeitung aus der Rocktasche.
»Hast du was gefunden für den Schreiner?« fragte er paffend.
»Für den Schreiner was und für mich was,« lautete die Antwort.
»Wieso für dich was? Was soll das heißen?«
»Es soll heißen, was es heißt. Ich hab ja immer gewußt, das mit dem Gelbe damals ist nicht mit rechten Dingen zugegangen.«
»Mit was für einem Geld, Frau? Sprich nicht in Rätseln mit mir. Mit mir mußt du ohne Hintertüren reden, verstehst du mich?«
»Mit Gottfried Nothaffts Geld, Jason Philipp,« flüsterte Therese.
Jason Philipp beugte sich über den Tisch. »Hast du am Ende gar die alte Quittung gefunden?« fragte er mit weitaufgerissenen Augen, »die alte Quittung, nach der ich jahrelang gesucht –?«
[48] Therese nickte. Sie nahm eine Haarnadel vom Kopf und stach sie in eine Brotrinde. Jason Philipp erhob sich und ging, die Hände auf dem Rücken, hin und her. Inzwischen kam Rieke, die Magd, um den Tisch abzuräumen. Sie verrichtete ihr Geschäft mit vielem Lärm und wenig Eile, und als sie fertig war, pflanzte sich Jason Philipp vor Therese auf und stemmte die Arme in die Hüften.
»Du denkst wohl, ich soll mich von dir ins Bockshorn jagen lassen,« begann er; »da irrst du dich, meine Liebe. Verübelst du mirs vielleicht, daß ich dir und deinen Kindern eine menschenwürdige Existenz gegründet habe? Und daß ich deine Schwester vor dem Armenhaus bewahrt habe? Du tust ja, als hätt' ich das Geld auf der Kirmes verjuxt. Gottfried Nothafft hat mir dreitausend Taler anvertraut, jawohl, das hat er. Sein Wille war, daß die Sache nicht in die weiblichen Mäuler kommt. Sein Wille war, daß das sauer erworbene Kapital Früchte bringt, und nicht, daß ich es dem Schandbuben zum Verludern gebe.«
»Unrecht Gut gedeihet nicht,« versetzte Therese, ohne den Blick zu erheben. »Mag's zehn Jahre lang so scheinen, im elften kommt die Rache des Himmels, wie sich an unserm Markus zeigt.«
»Du redest im Wahnsinn, Frau,« schrie Jason Philipp, packte einen Stuhl und stieß ihn so heftig auf den Boden, daß alles Geschirr im Zimmer klapperte.
Thereses trotzige Bauernstirn wendete sich ihm furchtlos zu, und er hatte ein wenig Angst. »Was uns an Unglück ferner noch heimsuchen wird, verantworte du, wenn du kannst,« sagte sie mit tiefer Stimme.
»Hältst du mich für einen Banditen, Frau?« erwiderte Jason Philipp; »meinst du, ich will das Geld in die Tasche stecken? Kannst du dir nicht denken, daß ich höhere Zwecke verfolgen könnte? Solches geht wohl über dein Begriffsvermögen.«
[49] »Was wären denn das für Zwecke?« fragte Therese mürrisch und mit zwinkernden Augen.
»Hör mich an,« fuhr Jason Philipp fort und setzte sich in lehrhafter Haltung auf den zuvor mißhandelten Stuhl; »der Schandbube soll klein beigeben. Auf den Knien soll er vor mir rutschen. Es ist nicht mehr so weit bis dahin. Ich habe mich erkundigt, ich bin auf seiner Fährte, ich weiß, daß er auf dem letzten Loch pfeift. Er wird kommen, verlaß dich darauf, er wird kommen und winseln. Dann, siehst du, nehm ich ihn zu mir ins Geschäft. Und dann kommt es darauf an, ob endlich ein brauchbarer Mensch aus ihm wird. Ist es der Fall, und bewährt er sich dauernd, na, so setz ich ihm eines Tages die ganze Geschichte auseinander und biete ihm an, als Teilhaber in die Firma einzutreten. Du wirst zugeben, daß er damit ein gemachter Mann ist und daß er das ohne weiteres einsehen und mir die Hand küssen wird. Und später dann, um die Beziehung noch fester zu knüpfen, werde ich ihn mit unserer Philippine verheiraten.«
Ein schiefes Lächeln glitt über Thereses Gesicht. »Mit Philippine, so so,« sagte sie eigentümlich singend, »mit Philippine; die wird schwer unter die Haube zu bringen sein, meinst du, und wer sie kriegt, hat an ihr genug. Das ist eine gute Idee.«
»Auf diese Art wird die Rechnung zwischen ihm und mir glatt,« schloß Jason Philipp, ohne den Hohn in Thereses Worten zu beachten, seine Ausführungen; »der Schandbube wird ein anständiger Mensch, das Geld bleibt in der Familie, und Philippine ist versorgt.«
»Und wenn er nicht kommt, wenn er nicht auf den Knien rutscht, wenn du dich verspekuliert hast, was dann?« Ob Jason Philipp an das, was er sagte, selbst glaubte, das wußte Therese nicht. Sie hatte keine Lust, darüber nachzudenken, und sie blickte nicht in sein Gesicht, sondern bloß auf seine Hände.
»Dann ist immer noch Zeit, den Plan zu ändern,« gab [50] Jason Philipp ärgerlich zurück. »Verlaß dich nur auf mich. Ich seh mir alles an, ich zähl mir alles aus, ich kenne die Menschen, und ich irre mich nie. Mahlzeit.«
Damit ging er.
Therese blieb noch eine Weile sitzen, die Arme über der flachen Brust verschränkt. Als sie aufgestanden war und die Tür zu dem hofwärts gelegenen Zimmer geöffnet hatte, stockte sie auf der Schwelle, denn sie erblickte Philippine, die am Fenster saß und mit einer Miene von verdachterweckender Harmlosigkeit einen zerrissenen Strumpf stopfte.
»Was ist mit dir?« fragte Therese betroffen, »warum bist du nicht in die Schule gegangen?«
»Hab nicht können, hab Kopfweh,« antwortete das Mädchen und zog an der Nadel, daß der Wollfaden riß. Struppig über die Stirn hängende Haare verdeckten das herabgebeugte Gesicht.
Therese schwieg. Finster ruhte ihr Auge auf den geschäftigen Fingern Philippines. Es war zu vermuten, daß das Mädchen alles gehört hatte, was Jason Philipp mit seiner lauten Stimme gesprochen; sie mußte nicht einmal an der Tür gehorcht haben. Am liebsten hätte sie das hinterhältige Geschöpf gezüchtigt, aber sie beherrschte sich und ging still hinaus.
Philippine sandte ihr einen stechenden Blick nach, unterbrach jedoch ihre Arbeit nicht und begann leise und wie herausfordernd vor sich hin zu trällern.
Daniels Geldvorrat ging zu Ende. Die neuen Quellen, auf die er gehofft, waren nicht zu entdecken. Er verschloß sich trotzig der Sorge, und wenn Furcht sich melden wollte, fand er bei den Brüdern Vergessen.
Der Bildhauer Schwalbe hatte die Bekanntschaft der Zingarella [51] gemacht, die in den Reichshallen schlüpfrige Couplets sang. Er lud die Brüderschaft ein, ihn zu begleiten.
Die Reichshallen waren ein Rauchtheater niedrigster Sorte. Als sie hinkamen, war die Vorstellung schon zu Ende. An vielen Tischen saßen noch Leute. Der von abgestandenem Bierdunst erfüllte Raum glich einem düstern Schacht.
Mit einer Gleichgültigkeit, als ob Menschen in ihren Augen um nichts besser als Stühle seien, nahm die Zingarella zwischen dem Bildhauer und dem Schriftsteller Platz. Sie lachte, und es war kein Lachen; sie redete, und die Worte waren leer; sie streckte die Hand aus, und die Gebärde war tot. Sie schaute keinen an, ihr Blick streifte nur. Sie hatte eine Art, mit dem Armband zu rascheln, die Mitleid erweckte, und eine andere, nach platten Roheiten, die sie geäußert, den Kopf wegzuwenden, die den Rohesten stutzig machte. Ihr Gesicht war von der Schminke verdorben, aber unter der Haut schimmerte etwas wie Wasser unter dünnem Eise.
Den verwüsteten Mund hielt gewesene Anmut noch in wehem Bogen.
Bisweilen war ihr ruheloses Auge böse spähend auf Daniel gerichtet, der einsam an der unteren Schmalseite des Tisches saß. Um das Grauenvolle seiner hochmütigen Fremdheit nicht spüren zu müssen, hätte sie viel darum gegeben, wenn ihn einer vor ihre Füße geworfen hätte. Sie sah, daß er kein Weib kannte. Dieses quälte sie so, daß sie mit den Zähnen knirschte.
Daniel fühlte den Haß der Zingarella nicht. Während er beklommen in ihr Gesicht starrte, welches vom Laster und vom Schicksal gezeichnet war, baute er innerlich ein Gebilde von unnennbarer Keuschheit, Gespielin eines Gottes. Der Vorhang mit der gemalten Harlekinsfratze, der Akrobat und der Hundedresseur am Nebentisch, die über Gagen stritten, vier halbwüchsige Kartenspieler hinter ihm, ein dickes Weib, das [52] auf einer Bank lag und mit einem roten Taschentuch über den Augen schlummerte, der Schriftsteller, der über andere Schriftsteller schimpfte, der Erfinder, der vom Perpetuum mobile erzählte, das alles war plötzlich versunken wie in die Tiefe des Meeres. Er stand auf und ging fort.
Aber als er die schneebedeckte Straße vor sich sah und nicht wußte, ob er sich nach Hause wenden sollte, trat die Zingarella an seine Seite. »Rasch,« flüsterte sie, »eh sie merken, daß wir beisammen sind.« Und so gingen sie wie zwei Flüchtlinge, die nichts voneinander wissen, als daß sie beide arm und elend sind, durch das nächtliche Schneegestöber.
»Wie heißen Sie?« fragte Daniel.
»Anna Siebert heiß ich.«
Vom Turm der Lorenzerkirche schlug es drei Uhr. Der Sebalderturm bestätigte es mit tieferem Schlag.
Sie kamen an ein altes Haus und gelangten über einen modrig riechenden, finstern Gang in einen kellerartigen Raum. Anna Siebert zündete eine Ampel an, die rote Scheiben hatte. An einigen Nägeln hingen bunte Gewänder der Soubrette, auf der Tischdecke lag eine graue Katze und spann. Das Mädchen nahm sie auf den Arm und liebkoste sie. Die Katze hieß Zephir. Sie begleitete Anna Siebert überallhin.
Daniel warf sich auf einen Sessel und blickte in die Ampel. Die Katze Zephir streichelnd, stand die Zingarella vor dem Spiegel an der Wand, und ohne sich selbst zu gewahren, nur ins Öde des Spiegels schauend, erzählte sie, der Direktor habe ihr heute gekündigt, weil das Publikum mit ihren Leistungen unzufrieden sei.
»Nennt man das Publikum,« fragte Daniel, der seine Augen nicht von der Ampel wandte, so wie sie die ihren nicht von der Öde des Spiegels, »diese Familienväter, die Seitensprünge machen, die Ladenschwengel, deren Blicke euch die Kleider vom Leib reißen, diesen Menschen-Unflat, vor dem Gott sein Angesicht verhüllt, nennt man das so?«
[53] »Der Direktor kommt in meine Garderobe,« fuhr Anna Siebert tonlos fort, »wirst mir den Kontrakt hin und schreit, ich hätte ihn beschwindelt. Wie soll ich ihn denn beschwindelt haben? Ich bin ja keine erste Kraft mehr, der Agent hat's ihm ja gesagt. Für zwanzig Mark wöchentlich kann man nicht wie die Patti singen. In Elberfeld hab ich fünfundzwanzig gehabt, vor einem Jahr, in Zürich, noch sechzig. Jetzt behauptet er, er braucht mir gar nichts zu zahlen. Wovon soll ich aber leben? Man muß doch leben. Was, Zephir?« flüsterte sie der Katze schmeichelnd zu und drückte die Wange auf das Fell, »man muß doch leben.«
Sie ließ die Arme fallen, das Tier sprang auf die Erde und buckelte. Das Mädchen trat zu Daniel, sank auf die Knie und legte die Stirn auf seinen Schenkel. »Ich bin am Ende« murmelte sie kaum hörbar, »am Ende von allem.«
Der Schnee prasselte an die Fensterscheiben. Mit einem Ausdruck, als ob seine Gedanken einander mordeten, blickte Daniel in die Ecke, aus welcher die Katze Zephir mit gelbglühenden Augen herüberblinzte. In seinem Gesicht bebten die Muskeln, wie Fische beben, wenn man sie von der Angel reißt.
Und als er so kauerte, die Arme an den Leib gepreßt, die Schultern geduckt, kam es wieder empor aus der Tiefe des Meeres: Zuerst ein hinstürmendes Arpeggio in As-Dur, und darüber, Ruhe gebietend, ein majestätisches Thema in Sechzehntel-Dreiklängen. Mit einem Septakkord in Forte stürzten sie zusammen. Ein Ringen, ein Scheiden, ein Weiterwandern, und aus dem gedämpften Pianissimo schwebte die sanfte Stimme in Es-Moll auf. O Stimme! O Menschheit! Die Achtel, in ihrer unerbittlichen Wucht, schritten tiefer, wühlender in den Baß, hoheitsvoller trug es die gelöste Stimme in den Es-Durakkord, und nun wurde alles wahr! Was Schatten und Traum und Sehnen und Wollen gewesen wurde wahr. Er selbst wurde wahr.
[54] Auf dem Heimweg deckte er die Hand über das Gesicht, denn die Fenster der Häuser blickten ihn an wie die leeren Augen einer Dirne.
Die Zingarella wußte nicht, warum der fremde Mensch fortgegangen war. Es war ihr gleichgültig. In ihr war jeder Schlag des Herzens ohne Kraft. Das einzige Geschöpf, durch welches sie sich an die Welt gebunden fand, war die Katze Zephir.
Eine Nacht und noch eine Nacht; ein Tag und noch ein Tag. Sprechen, wenn die Menschen sich die Mühe gaben, zu fragen, lachen, wenn sie die unbegreifliche Lust hatten, Gelächter zu hören; dies Kleid über den frierenden Körper ziehen und dann jenes; die Stunde abwarten, in der sie etwas Bestimmtes tun sollte; im Bett liegen und sich vor der Finsternis fürchten; des Unrechts gedenken, der Schande und der Not; es war zuviel.
Es kam ein Mann, und beim Morgengrauen ging er wieder fort, mischte sich unter die übrigen, und wenn sie erwachte, wußte sie nicht mehr, wie er ausgesehen hatte. Die Wirtin brachte Suppe und Fleisch, später klopfte jemand an die Tür, aber sie riegelte nicht auf. Sie war nicht neugierig, zu sehen, wer es war; vielleicht der von der gestrigen Nacht, vielleicht ein anderer.
Sie hatte keine Neugier und keine Hoffnung mehr. Ihre Seele war zergangen wie ein Stück Salz im Wasser. Als sie am dritten Tage nach Hause kam, fand sie die Katze Zephir tot neben dem Kohleneimer. Sie kniete nieder, betastete das kalte Fell, zog die Stirne kraus, raschelte mit dem Armband und ging wieder fort.
Es war gegen Abend und die Luft voll Nebel. Sie ging durch beleuchtete Straßen und nachher durch unbeleuchtete. [55] Sie ging durch Alleen kahler Bäume und über stille Plätze. Der Schnee dämpfte ihren Schritt, und wenn er aufstäubte, blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen.
Da gelangte sie zum Fluß an einer Stelle, wo das Ufer flach war. Ohne zu denken, ohne zu zaudern, als ob sie blind wäre, als ob sie eine Brücke sähe, wo keine war, ging sie ins Wasser.
Sie spürte, wie das Wasser in ihre Schuhe eindrang, wie es die Beine näßte, wie die Kleider sich weich und eiskalt an den Leib preßten, sie ging weiter. Die Brust tauchte ein, der Hals tauchte ein, sie ließ sich sinken, sie glitt hin, seufzte schwer, lächelte, und lächelnd verlor sie das Bewußtsein.
Die Leiche wurde am anderen Tag aus Land gespült, etwas außerhalb der Stadt, und man brachte sie ins Schauhaus auf dem Rochuskirchhof.
Der Bildhauer Schwalbe ging in einem Totenzug. Sein Bruderskind war gestorben, und es wurde auf jenem Kirchhof begraben.
Als er mit den andern am Schauhaus vorüberging, gewahrte er durchs Fenster eine Mädchenleiche. Nachdem das Kind zur Erde bestattet war, trat er dort ein. Es standen ein paar Leute an der Leiche, und einer sagte: »Es ist eine Sängerin von den Reichshallen.«
Dem Bildhauer fiel der reine und schöne Ausdruck im Gesicht der Ertrunkenen auf. Er blieb lange Zeit ergriffen bei der Toten, dann ging er zum Verwalter und bat um die Erlaubnis, eine Gipsmaske abnehmen zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt, und ein paar Stunden später kam er mit dem Handwerkszeug.
Als er aber die Maske abgenommen hatte, da hielt er etwas [56] Wunderbares in der Hand. Es waren die Züge eines sechzehnjährigen Mädchens, ein Antlitz voll Süßigkeit und bittersüßer Schwermut, und das Bezauberndste darin war das selige Engelslächeln um den wehen Mundbogen. Es glich dem Werk eines großen Künstlers, und den Bildhauer erfüllte plötzlich die Sehnsucht nach seiner verlorenen Kunst.
Trotzdem zwang ihn eine Woche später die Not, die Maske an den Gießer in der Pfannenschmiedsgasse zu verkaufen, bei dem er arbeitete, und der hing sie an den Türpfosten seines Ladens.
Im Dezember hatte Daniel kein Geld mehr, und er mußte die Partitur der Bachschen H-Moll-Messe verkaufen, die einzige Kostbarkeit, die er besaß. Der Kantor Spindler hatte sie ihm beim Abschied geschenkt, und jetzt mußte er sie zum Antiquar tragen und für ein Bettelgeld dahingeben.
Wenn er nicht den ganzen Tag im Bett liegen wollte, mußte er, um sich warm zu halten, durch die Straßen laufen. In eine Wirtschaft zu gehen, verwehrte ihm seine Armut, und deshalb kam er auch nicht mehr mit den Brüdern vom Jammertal zusammen. Deshalb und auch, weil ihm vor den Leuten ekelte.
Eines Abends stand er vor der Egydienkirche und lauschte der Orgel, die drinnen gespielt wurde. Der eisige Wind blies in seine Rockärmel. Als das Orgelspiel aufhörte, ging er über den Platz und lehnte sich an die Mauer eines Hauses. Er fühlte sich sehr einsam.
Da kamen zwei Männer daher, die in das Haus gehen wollten, an dessen Tor er frierend stand. Der eine der beiden war Benjamin Dorn, der andere war der Inspektor Jordan. Benjamin Dorn redete ihn an, der Inspektor stand schweigend daneben, während Daniel unfreundliche Antworten gab, [57] und er schien den Zustand des jungen Menschen lebhaft zu erfassen. Er lud Daniel ein, mit hinaufzukommen, und Daniel folgte, bis ins Mark durchkältet und an nichts weiter denkend als an einen warmen Ofen.
So kam er in die Familie des Inspektors. Inspektor Jordan hatte drei Kinder, die neunzehnjährige Gertrud, die siebzehnjährige Lenore und den fünfzehnjährigen Benno, der noch das Gymnasium besuchte. Seine Frau war tot.
Von Gertrud hieß es, daß sie eine Frömmlerin sei. Sie ging täglich in die Kirche und hatte eine heimliche Neigung für die katholische Religion, worüber der Inspektor, als überzeugter Protestant, sehr betrübt war. Tagsüber versorgte sie den Haushalt, und wenn sie damit fertig war, saß sie an ihrem Stickrahmen und stickte Dornenkronen, von Schwertern durchstochene Herzen und schmächtige Engel für eine überseeische Mission. Schweigend und mit immer gesenkten Augen saß sie und stickte.
Als Daniel sie zuerst sah, trug sie ein laubgrünes Kleid, das über den Hüften mit einem geschuppten Gürtel befestigt war, und ihre braunen, stark gewellten Haare lagen offen auf den Schultern. So sah er sie dann stets, wenn er ihrer gedachte, auch nach vielen Jahren so, im laubgrünen Kleid, mit niedergesenkten Blicken, am Stickrahmen arbeitend und seiner Gegenwart feindselig nicht achtend. Sie war wie etwas Finsteres im hellen Raum.
Anders Lenore. Sie war wie eine Lampe, die durch finstere Räume getragen wird.
Seit dem Sommer war sie in der Generalagentur der Prudentia angestellt, denn sie wollte sich ihr Leben verdienen. Ihren Worten nach zu schließen bereitete ihr die Arbeit dort Spaß. Ihren Worten nach zu schließen belustigte es sie, Prämienquittungen zu schreiben, Briefmarken aufzukleben, Briefe zu kopieren und viele Leute kommen und gehen zu sehen. Der fette Generalagent Diruf und der magere Bureauchef [58] Zittel gaben ihr Stoff zur Verwunderung, und wenn trübe Laune heranschleichen wollte, drehte man sich auf der Schraube des Sessels im Karussell, und alles war wieder gut.
Sie schien ein Kind zu sein und war doch ganz Jungfrau. Auf dem blonden Kopf trug sie das runde Pelzkäppchen in vergnügter Schiefheit, und wenn sie ins Zimmer trat, war irgend etwas in der Atmosphäre verändert, so daß sie frischer und angenehmer zu atmen war. Die Leute mißbilligten es, daß ihre Augen so strahlend blau waren und daß die erstaunlich geordnete Reihe weißer Zähne beständig hinter den pfirsichhaft weichen Lippen blitzten. Sie sei ein leichtes Blut, sagten die Leute; sie sei ein Schmetterling, sagten sie, und Benjamin Dorn nannte sie eine vom Teufel der Sinnlichkeit besessene Kreatur, die an Putz und irdischem Tand ihr Genügen finde. Es herrschte zwischen ihr und dem jungen Freiherrn von Auffenberg seit kurzem eine Beziehung vertrauter Art; niemand wußte Genaues darüber; aber als der Schnüffler Benjamin Dorn, der zwei Menschen verschiedenen Geschlechts nicht beisammen sehen konnte, ohne sich mitschuldig zu fühlen an der großen Erbsünde, sie eines Tages in Gesellschaft des Freiherrn erblickte, war sie in seinen Augen eine Verlorene.
Es war mit Lenore so bestellt; das Leben kam ihr niemals ganz nah. Andern kommt es dicht an den Leib, andere würgt es und schleift es hin, ihr blieb es fern, denn sie stand in der Mitte einer gläsernen Kugel. Wenn sie Kummer hatte, wenn schmerzlich unentschiedenes Gefühl an ihr nagte, wenn die Gemeinheit einer niedern und verstörten Welt zu ihr herauflangte, da wurde die gläserne Kugel nur noch weiträumiger, und die Dinge, die an ihrer Peripherie schwirrten, noch ungreifbarer.
Man kann immer lächeln, wenn man in einer gläsernen Kugel steht. Auch die bösen Träume bleiben draußen, sogar die Sehnsucht ist nur wie rosiger Hauch, der das Kristall des Gehäuses von außen umdunkelt.
[59] Die Leute hatten eigentlich recht, wenn sie sagten: der Inspektor Jordan erzieht seine Töchter wie Prinzessinnen. Beide waren der Gewöhnlichkeit des Lebens entrückt, die eine ins Finstere, die andere ins Helle.
Und Daniel sah beide; sie waren ihm fremd wie er ihnen. Er sah auch den Bruder, einen flinken, glatten, hochaufgeschossenen Jüngling. Er sah das alte Haus mit seinen morschen Stiegen und die Stuben mit ihren wuchtigen Bürgermöbeln, und den Wechsel von Ruhe und Unruhe darin, das kleine, ungewisse, hinaus- und zurückfließende Leben, und wenn er kam, unterhielt er sich nur mit dem Inspektor, da er die Stunde wußte, in der dieser zu Hause war. Sie sprachen unverbindlich und allgemein; Daniel war verschlossen und der Inspektor voll Takt. Und Gertrud saß am Tisch und stickte.
Er kam und wärmte sich am Ofen. Bot man ihm ein Butterbrot an oder eine Schale Kaffee, so schlug er es aus. Drängte man ihn, es doch zu nehmen, so schüttelte er den Kopf und machte ein Gesicht wie ein böser Affe. Daran war sein Bauerntrotz schuld, die ungroßmütige Angst, irgend jemand etwas verdanken zu müssen, und als die Not überwältigend wurde, kam er plötzlich überhaupt nicht mehr.
Die Not wuchs empor wie ein purpurner Schein. Es war für ihn etwas Lächerliches in der Tatsache: man schrieb das Jahr 1882, und er hatte nichts zu essen; er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte nichts zu essen.
Frau Hadebusch zeterte megärenhaft auf den Stiegen. Die Miete war überfällig, und es fanden unheimliche Beratungen in der Wohnstube statt, an denen ein Invalide vom Wespennest und ein Seifensieder aus der Kamerariusstraße teilnahmen.
[60] In seiner Verzweiflung dachte er an den Militärdienst. Er ging in die Kaserne, um sich zu stellen, wurde untersucht und wegen Schmalbrüstigkeit abgewiesen.
Zuerst war der purpurne Schein. Noch als er auf dem Henkersteg stand und ins Wasser schaute, wo kleine Eisschollen trieben. Aber als er den bedrängten Blick erhob, sah er ein riesenhaftes Antlitz. Der ganze Himmel, der sich über ihm wölbte, war ein Antlitz, furchtbar entstellt durch Rache und Hohn. Man konnte nicht entfliehen; im Innern der Brust wurde es dunkel, Bilder und Töne zerflossen in einer schauerlichen Weise, als ob ein nasser Lappen darüber gewischt würde.
Im Weitergehen schien es ihm, wie wenn sich die Gräßlichkeit des Gesichtes verringere, es wurde kleiner und milder; es war nur noch so grob wie die Fassade einer Kirche, und nur noch in der Stirn verkündete sich Zorn. Da ging eine Frau vorüber, die Apfel in ihrer Schürze trug; beim Geruch der Früchte zitterte er, aber er langte nicht hin, ihr einen Apfel zu nehmen, einen einzigen bloß, er hatte sich noch in der Gewalt, und da war das Antlitz nur noch so groß wie ein Baumwipfel und hatte Züge des Erbarmens.
Die Sonne stand am Himmel, der Schnee taute, in der Luft zwitscherten Sperlinge. Durch die Pfannenschmiedsgasse wankend, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Da war das Gesicht; körperhaft erblickte er es am Türpfosten eines Ladens. Daß es die Maske der Zingarella war, vermochte er nicht zu erkennen, es war ja ein verwandeltes Gesicht, und wie hätte er jetzt eine Wirklichkeit fassen sollen? Er schaute von innen nach innen, das Ding außer ihm war Vision, es verband das Firmament mit der unteren Erde, es war eine Verheißung. Er hätte sich auf das Pflaster hinwerfen und schluchzen mögen, denn ihm war, als sei er gerettet.
Der unvergleichlich hingegebene holde Schmerz im Ausdruck der Maske, die Seligkeit unter den langbewimperten [61] Lidern, das halb erloschene Lächeln um den wehen Mundbogen, und etwas Geisterhaftes noch, ein Dasein fern von Tod und Leben, all dies steigerte sein Gefühl zu abergläubischer Andacht, die ganze Zukunft schien ihm vom Besitz der Maske abzuhängen, und ohne zu überlegen stürzte er in den Laden.
Drinnen stand ein junger Mann, den der Gießer sehr respektvoll als Doktor Benda anredete, und der etwa dreißig Jahre alt sein mochte. Der Gießer zeigte ihm die gelungenen Abgüsse einiger Figuren vom Tugendbrunnen, und es dauerte ziemlich lange, bis er sich nach Daniel umdrehte und nach seinem Begehren fragte. Mit rauher Stimme und einer trunkenen Geste bedeutete ihm Daniel, daß er die Maske haben wolle. Der Gießer nahm die Maske vom Pfosten draußen, legte sie auf den Ladentisch und nannte den Preis. Er musterte den abgerissenen Anzug des Kauflustigen, dachte, daß ihm die geforderte Summe von zehn Mark zu hoch dünken mochte, und wandte sich, um ihm Zeit zur Überlegung zu geben, wieder an jenen jungen Mann.
Sie hatten eine Weile miteinander gesprochen, da schaute sich der Gießer um und sah, daß Daniel noch immer am Ladentisch stand. Mit halbgeschlossenen Augen und verzogener Stirne stand er dort und hatte die linke Hand mit ihrer ganzen Fläche auf das Gesicht der Maske gelegt. Der Gießer tauschte einen verwunderten Blick mit Doktor Benda, und der begriff in einer Regung ahnungsvoller Teilnahme die Situation des ihm fremden Menschen, seine Armut, seine Verlassenheit; sogar die Glut des Wunsches in ihm. Das Gefühl gewohnter Zurückhaltung sichtlich bekämpfend, trat er auf Daniel zu und sagte ohne eine Spur von Gönnerhaftigkeit, ernst, ruhig und schonend: »Wenn Sie mir erlauben wollen, das Geld für die Maske auszulegen, bereiten Sie mir eine Freude.«
Daniel knirschte ein wenig mit den Zähnen, und sein Blick [62] funkelte grünlich auf. Aber das geistig erfahrene Gesicht des andern hatte einen Glanz von Menschlichkeit, der ihn weich stimmte und unterwarf. Er ließ es schweigend geschehen, daß Doktor Benda das Geld für die Maske auf den Tisch legte.
Als sie den Laden des Gießers verlassen hatten, Daniel hielt die eingepackte Maske krampfhaft unterm Arm, fiel Benda die körperliche Zerrüttung seines Begleiters auf, und es bedurfte nicht vieler Fragen für ihn, um die Ursache zu erkennen. Er tat, als hätte er noch nicht zu Mittag gegessen, lud Daniel ein, ihm Gesellschaft zu leisten und ging mit ihm in die nahegelegene Wirtschaft zur blauen Traube.
Wie mit einem Zauberschlüssel fühlte Daniel sein Inneres aufgeschlossen, endlich ein hörendes Ohr, endlich ein sehendes Auge, ihm war, als steige er aus Bergwerksschächten herauf, und als sie sich trennten, besaß er einen Freund.
[63]Der Anblick der Verkommenheit, den die lärmenden, schwärmenden Sumpfbrüder vom Jammertal boten, erhöhte das Lebensgefühl des Herrn Carovius. Er hatte eine liebenswürdige Neigung für den Verkehr mit Menschen, die am Abgrund des Daseins wandeln. Er trank dann immer viel Likör; am besten mundete ihm die Sorte, die man Knickebein hieß. Nach dem Genuß des Likörs wurde er aufgeräumt und wagte kühne Äußerungen, nicht nur auf erotischem Gebiet, sondern auch gegen die Polizei und gegen die göttliche Vorsehung.
Trippelte er aber in später Nacht heimwärts, so war in seinem Gesicht ein feiges, kleines Schmunzeln, das Anzeichen seiner inneren Rückkehr zur Tugendhaftigkeit. Denn er betrog seinen Tag mit seiner Nacht.
Er lebte von einer ansehnlichen Rente, und das Haus auf der Füll, in dem er wohnte, war sein Eigentum. Es wurde den Fremden als sehenswert genannt und war eines der ältesten und düstersten Gebäude der Stadt. Insonderheit war der zierliche Erker berühmt, und über dem schöngebogenen Tor prangte ein patrizisches Wappen in Stein gebildet, zwei gekreuzte Speere mit einem Helm. Im engen Hof befand sich ein Ziehbrunnen mit bemooster Umfassung, und die Stockwerke hatten Holzgalerien mit kunstvollen Schnitzereien. Die Treppe war breit, mit flachen Stufen und viermal geteilt; in ihrer Bewegung drückte sich das behagliche Verweilen vergangener Jahrhunderte aus.
In manchen Nächten erkannte Herr Carovius von fern die gewaltige Figur seines Schwagers, des Musikprofessors Döderlein; diesem wünschte er nicht zu begegnen, und er wartete an der Straßenecke, bis der Lampenschein aus [64] Döderleins Fenster herableuchtete. In andern Nächten stieß er mit dem Bewohner des zweiten Stockwerks, dem Doktor Friedrich Benda zusammen. Da gab es ein eifriges Hutabziehen und Bekomplimentieren, jeder wollte auf den Vortritt verzichten, und die Artigkeit des jungen Mannes nötigte Herrn Carovius zu noch größerer Artigkeit, bis er vor lauter Artigkeit plump und verlegen wurde und die Rede verlor.
Kam er aber allein und hatte mit dem riesigen Schlüssel, den er in der Manteltasche trug, das Tor aufgesperrt, so zündete er ein Wachskerzchen an, hielt das Licht über seinen Kopf und spähte vorsichtig in die Winkel des weiten Flurs, ehe er seine erdgeschössige Wohnung betrat.
Im Wirtshaus zum Krokodil hatte Herr Carovius seinen Stammtisch. An diesem fanden sich zu Mittag regelmäßig ein: der Fiskalrat Korn, der Magistratsadjunkt Hesselberger, der Postassistent Kitzler, der Apotheker Pflaum, der Uhrmacher Gründlich und der Zuckerbäcker Degen. Als Ehrengast erschien von Zeit zu Zeit der Assessor Kleinlein.
Es wurde über die Nachbarn, die Bekannten, die Freunde und die Berufsgenossen geklatscht. Der Klatsch durchlief die ganze Stufenleiter von der harmlosen Anekdote bis zur giftigen Verleumdung. Kein Verhältnis war vor übler Nachrede sicher, kein Ruf vor der Besudelung, an jedem Charakter war etwas auszusetzen, jedes Haus hatte seine vor der Welt verschlossene Kammer.
War das Mahl zu Ende, so entfernten sich die Herren, mit Ausnahme des Herrn Carovius, denn für ihn kam jetzt die wichtige Stunde der Zeitungslektüre, nach dem privaten Ohrenschmaus das Studium der Sünden, der Lächerlichkeiten und der Tragödien, die das Leben der Menschheit ausmachen.
[65] Täglich las er drei Zeitungen, ein heimisches Blatt, ein Berliner und ein Hamburger Blatt. Täglich dieselben drei, und zwar von Anfang bis zu Ende, die politischen Nachrichten, das Feuilleton und sämtliche Inserate. Dadurch wurde er vertraut mit den Fortschritten der Kultur, den Veränderungen im Staatsleben und mit der Existenz der Aristokratie, der Bourgeoisie und des Proletariats.
Es entging ihm nichts; weder die Mordtat in einem pommerschen Dorf noch das auf dem Boulevard des Italiens verlorene Perlenhalsband; weder der Untergang eines Dampfers in der Südsee noch die vornehme Trauung in Westminster; weder die Glosse über neue Kleidermoden, noch die Niedermetzelung der von den Türken geknechteten Armenier; weder der Tod eines großen Herrn noch die Notiz über einen aufgegriffenen Landstreicher.
Doch ist anzumerken, daß seine eigentliche Teilnahme nur den unglücklichen Ereignissen galt. Denn er betrachtete die Welt bloß im Hinblick auf die Kriege, die Erdbeben, die Hagelschläge, die Orkane, die Überschwemmungen, die öffentlichen und häuslichen Unannehmlichkeiten der Menschen. Freudige Vorfälle, wie Geburten, Ordensauszeichnungen, heldenhafte Handlungen, die Kunde von einem Haupttreffer, einem erfolgreichen Werk, einer gelungenen Spekulation gingen ohne Eindruck an ihm vorüber, wenn sie ihn nicht gar verdrossen, hingegen haftete sein Geist mit Vergnügen an allem Üblen, Jämmerlichen, Traurigen und Beklagenswerten, das auf dem Erdball oder im Sternenraum passiert und zu seiner Kenntnis gelangt war.
Sein Kopf war ein Magazin wüster und schrecklicher Begebenheiten; von Krankheitsgeschichten, Entführungen, Diebstählen, Raubanfällen, Einbrüchen, Attentaten, Elementarkatastrophen, Seuchen, Lustmorden, Selbstmorden, Duellen, Bankrotten und Familienzwistigkeiten.
Hatte er seine Erfahrung um einige besonders kuriose [66] und unerhörte Geschehnisse vermehrt, so zog er sein Taschenbuch, merkte das Datum an und schrieb: in Amberg hat ein Priester während der Predigt den Blutsturz bekommen; oder: in Kotschinchina hat ein Tiger vierzehn Kinder gefressen, ist in den Bungalo eines Ansiedlers gedrungen und hat der an der Seite des Gatten schlafenden Frau den Kopf abgebissen; oder: in Kopenhagen hat eine ehemalige Schauspielerin, eine neunzigjährige Greisin, mitten auf dem Marktplatz den Monolog der Lady Macbeth rezitiert, indem sie auf einen Gemüsekorb stieg; dies erregte solches Aussehen, daß in dem Gedränge des Volks mehrere Personen zerquetscht wurden.
Dann ging er in froher Laune nach Hause und gab auf der Straße den Türstehern und Fensterguckern ihren Gruß leutselig zurück.
Bei jeder Feuersbrunst, die in der Stadt ausbrach, war er zugegen, und seine in die Flammen gerichteten Augen hatten etwas Ergriffenes und Trunkenes. Er summte leise vor sich hin, schaute verstohlen in die besorgten Gesichter der Leute, machte sich bei den geretteten Habseligkeiten zu schaffen und drängte dem Löschmeister seine Ratschläge auf.
War irgendein Mann von Bedeutung gestorben, so versäumte er nie, sich dem Leichenbegängnis anzuschließen. Er folgte dem Sarg bis ans Grab und verharrte bei der Rede des Pfarrers mit gesenktem Haupt. Aber um seinen Mund zuckte es sonderbar, als fühlte er sich verstanden und geschmeichelt.
Und in der Tat, es schmeichelte ihm. Der Tod der andern, die Niederlagen der andern, die Not der andern, die begangenen Verrätereien, die Übergriffe der Großen, die Bedrückung der Geringen, die Vergewaltigung des Rechts und die Leiden, die täglich Tausende ertragen mußten, alles dies schmeichelte ihm, beschäftigte ihn und wiegte ihn in eine süße Empfindung von Sicherheit.
[67] Aber dann saß er zu Hause an seinem Klavier und spielte mit schwärmerischem Augenaufschlag ein Adagio von Beethoven oder ein Impromptu von Schubert. Wenn in einem Bachschen Oratorium die Chöre erschallten, wurde er vor Entzücken bleich, und er konnte Tränen vergießen beim Anhören eines kunstvoll gesungenen Liedes.
Er liebte die Musik bis zur Abgötterei.
Er war ein Kleinbürger mit entfesselten Instinkten. Er war ein Aufrührer von konservativer Haltung. Er war ein Nero ohne Diener, ohne Macht und ohne Land. Er war ein Musiker aus Verzweiflung und aus Eitelkeit. Er war ein Nero unserer Zeit.
Der Nero unserer Zeit, in drei Stuben hausend; einsamer Hagestolz und Bücherleser; mit dem Krämer Meinungen über das Wetter tauschend; mit dem Nachtwächter über magistratische Verordnungen räsonierend; Wüterich in jeder Faser, heimlicher Henker; dem Schicksal die unwahrscheinlichsten Verknüpfungen, die zerstörendsten Gewaltakte ablauernd; beständig auf dem Pirschgang nach Unheil, Zank und Schändlichkeit; frohlockend über alles Mißlingen und alle Bedrängnis nah und fern; auf den innig ausgedachten Trümmern jedes Zusammenbruchs, der sich ereignete, befriedigt verweilend und neben solcher stillen Grausamkeit und Blutgier von einer quälenden Leidenschaft für die Musik erfüllt, dieses war Herr Carovius, so war sein Leben.
Neun Jahre lang hatte ihm seine Schwester Margaret die Wirtschaft geführt, von ihrem fünfzehnten bis zu ihrem vierundzwanzigsten Jahr. Sie hatte sein Frühstück bereitet, sein Bett gemacht, seine Wäsche geflickt, seine Kleider gebürstet, und er hatte nicht viel mehr von ihr gewußt, als daß sie gelbe [68] Haare, eine Haut voll Sommersprossen und eine furchtsame Kinderstimme besaß. Sein Erstaunen war grenzenlos, als eines Tages Andreas Döderlein, der den Sommer zuvor ins Haus gezogen war, um ihre Hand anhielt, denn sie war für ihn immer vierzehn Jahre alt geblieben.
Er stellte Margaret zur Rede. Mit einem Mut, den aufzubringen sie lang gerungen hatte, erklärte sie, den Mann heiraten zu wollen. »Du bist eine schamlose Dirne,« sagte Herr Carovius, getraute sich aber nicht, Andreas Döderlein zurückzuweisen, und die Hochzeit fand statt.
Eines Abends saß er bei dem jungen Paar. Andreas Döderlein war in guter Laune, ging zum Klavier und schlug das Motiv des Hirten aus Wagners »Tristan und Isolde« an.
Da fuhr Herr Carovius empor wie gestochen und rief aus: »Laß doch den faulen Zauber, ich glaub ihn dir ja doch nicht.«
»Wie meinst du das, Schwager?« fragte Andreas Döderlein mit schmerzlich geneigtem Kopf.
»Willst du mich vielleicht über diesen Brunnenvergifter belehren?« rief Herr Carovius aus, und sein Gesicht zeigte eine Bosheit wie das eines Buckligen, wenn man auf seinen Buckel deutet; »weiß der Herr Professor vielleicht genauer als ich, wer er ist, dieser Richard Wagner, dieser Komödiant, dieser Jud', der sich als germanischer Messias kostümiert, dieser Kakophoniker, dieser Verballhornist, dieser Höfling, dieser Pulcinell, der sich lustig macht über das ganze genasführte deutsche Reich und Europa? Ja, ja, belehre mich nur, da bin ich, da sitz ich, nur Mut, nur Mut!« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lachte in asthmatisch keuchenden Stößen, wobei er die Hände auf dem Bauch ruhen ließ.
Andreas Döderlein erhob sich zu seiner Größe, wippte auf den Fußspitzen und blickte auf Carovius herunter wie auf einen Floh, den man zwischen zwei Fingernägeln zerquetschen kann. »Ei, ei,« sagte er, »wie interessant! So wahr ich lebe, du bist eine interessante Erscheinung, Schwager Carovius, [69] Aber wenn man mir alles Gold der Welt böte, ich möchte nicht so ... interessant sein. Ich nicht. Und du, Margaret, möchtest du so interessant sein?«
Es war etwas Zermalmendes in dieser Überlegenheit, und das Gelächter des Herrn Carovius verlor sich in ein gurgelndes Gekicher. Er riß die Augen hinter den Zwickergläsern auf und ähnelte einem jener fratzenhaften Wasserspeier, die man an alten Brunnen sieht. Margaret aber, die Scheue, die nie sprach, ohne sich kleiner zu machen und die Hände zu verbergen, sah hilflos vom Bruder zum Gatten und schlug die Blicke nieder vor beiden.
War es Haß, was Herr Carovius gegen Andreas Döderlein empfand? Es war mehr als Haß. Es war eine vipernhafte Erbitterung, mit der er an ihn dachte, an seinen Namen, an sein Weib, an sein Kind, an den dicken Trauring an seinem Finger und an die Gallertmasse seines dicken Halses. Seit jenem Abend besuchte er die Schwester nicht mehr, und wenn Margaret sich ein Herz faßte und zu ihm kam, behandelte er sie mit verbissener Geringschätzung. Da ließ sie ihn und ging an seiner Tür vorüber.
Als das Kind geboren wurde und die Magd ihm die Nachricht brachte, schielte er in die Ecke und kicherte. »Ich laß gratulieren,« sagte er, »es ist gut, daß sich die Döderleins fortpflanzen, da stirbt das Pläsier in der Welt nicht aus.«
Mit den Jahren kam es, daß die kleine Dorothea sich manchmal auf der Stiege herumtrieb oder am Ziehbrunnen im Hofe saß. Da schaffte Herr Carovius einen bösen Hund an, der den Namen Cäsar erhielt. Cäsar lag an der Kette, aber sein Geknurr und seine tückischen Augen flößten dem Kinde Furcht ein, und es mied die häuslichen Spielplätze.
An einem Geburtstag des Herrn Carovius erschien, nach Jahren wieder, Margaret mit ihrem vierjährigen Töchterchen, und Dorothea sagte ein Gedicht auf, das sie zu diesem Zweck hatte lernen müssen. Carovius schüttelte sich vor Lachen, [70] als er das puppenhaft herausstaffierte und geziert redende Mädchen sah. »Meiner Treu,« rief er, »ich hätte nie geglaubt, daß so eine kleine Kröte schon so wacker quaken kann.«
Obwohl er von Frauen so wenig wußte, daß es schauerlich gewesen wäre, den Umfang dieses Nichtwissens auszumessen, spürte er doch, während Margarets Antlitz strahlte, eine Lebensenttäuschung in ihr, die sich betäuben wollte und die ihn entzückte.
Um jene Zeit starb der Oberoffizial Becker, der seit achtundzwanzig Jahren den zweiten Stock bewohnt hatte, und als neue Mietspartei zog Doktor Benda mit seiner Mutter ins Haus.
Carovius erzählte das Ereignis am Stammtisch, und man konnte ihm dort verschiedenes über die Herkunft und das Leben Bendas berichten. Es wurde gesagt, daß die Familie früher reich gewesen, dieses Reichtums im Jahr des großen Krachs verlustig gegangen und nun auf eine mäßige Wohlhabenheit beschränkt war. Bendas Vater habe sich damals erschossen, wurde gesagt, und seine Mutter habe ihn nach den Hochschulen begleitet, an denen er studiert. Der Fiskalrat Korn wollte gehört haben, daß er trotz seiner Jugend schon bedeutende wissenschaftliche Arbeiten auf biologischem Gebiet geliefert, daß ihn dies aber nicht ans Ziel geführt habe.
An welches Ziel? wurde gefragt. Nun, er habe nach der Professur gestrebt, und dem sei man entgegengetreten. Warum denn entgegengetreten? Nun, man werde doch nicht ohne weiters einem Juden das Lehramt an einer Universität übertragen, das verstehe sich doch von selbst. Das verstehe sich allerdings von selbst, meinte Herr Carovius, obschon dieser Benda durchaus nicht wie ein Jude aussehe, eher wie ein Holländer, ein ziemlich fetter Holländer. Er sei zwar nicht [71] ganz blond, aber auch nicht ganz schwarz, und seine Nase sei so gerade wie ein Lineal.
Eben, das sei ja der neue jüdische Kniff, antwortete der Assessor und tat einen gewaltigen Schluck aus seinem Maßkrug; in alten Zeiten hätten sie den gelben Fleck getragen hätten Geiernasen gehabt und Haare wie die Buschmänner; heute sei kein Christenmensch mehr sicher, daß er nicht dem einen oder dem andern gelegentlich mal aufsitze. Dem wurde zugestimmt.
Herr Carovius legte sich auf die Lauer. Er spähte in den Gesichtern der neuen Mieter und forschte nach ihrem Umgang. Er wußte, wann sie abends das Licht auslöschten und am Morgen die Fenster öffneten. Er wußte, wieviel Teppiche sie besaßen, wieviel Fleisch sie verzehrten, wieviel Kohle sie verbrauchten, wieviel Briefe sie bekamen, welche Spaziergänge sie bevorzugten, welche Personen sie grüßten und von welchen sie gegrüßt wurden. Zum Überfluß verschaffte er sich alle Schriften, die von Friedrich Benda im Buchhandel erschienen waren und las im Schweiße seines Angesichts die schwierigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Er ärgerte sich, daß ihm das Urteil darüber fehlte, und hätte jeden umarmt, der ihm gesagt hätte, es seien nichtswürdige Machwerke.
Als er einmal im Frühjahr um die Dämmerstunde in den Hof ging, um dem Hunde Cäsar Futter zu reichen, gewahrte er, emporblickend, seine Schwester Margaret oben auf der Galerie. Sie sah ihn nicht, sie blickte ebenfalls empor, denn auf der Galerie im zweiten Stock, schräg ihr gegenüber, stand Friedrich Benda und erwiderte stumm ein stummes Zeichen, das sie ihm gemacht. Dann schauten sie einander bloß an, bis Margaret endlich ihren Bruder bemerkte und lautlos hinter der grünverhangenen Glastür verschwand.
Oho, dachte Herr Carovius, da geht etwas vor. Eine wohltätige Aufregung durchrieselte seine Adern.
[72] Von nun an mied er den Hof. Aber er saß stundenlang jeden Tag in einer Kammer, von wo er durch einen Spalt zwischen den Gardinen die Fenster und Galerien genau beobachten konnte. Er entdeckte, daß vom ersten in den zweiten Stock durch die veränderten Stellungen eines Blumentopfes auf dem Geländer bestimmte Signale gegeben und daß die Signale erwidert wurden, indem oben ein gelbes Tuch bald an einem Längs-, bald an einem Querbalken flatterte.
Bisweilen trat Margaret scheu hervor und sandte einen Blick in die Höhe, bisweilen kam Benda, blieb an der Brüstung stehen und verlor sich in anscheinend trübe Gedanken. Beide zusammen ertappte Herr Carovius nur noch ein einziges Mal; er riß den Fensterflügel auf und steckte das Ohr in die Öffnung, aber da wurde in einem Nachbarhof eine Kiste zugehämmert, und infolge des Lärms konnte er nicht verstehen, was sie sagten.
Seit jenem Tag hatten sie einander keine Signale mehr gegeben und sich auf den Galerien nicht mehr gezeigt.
Herr Carovius rieb sich die Hände bei dem Gedanken, daß der majestätische Andreas Döderlein am Ende gar Hörner aufgesetzt bekäme; aber seine Freude verringerte sich durch die Vorstellung, daß zwei andere Personen aus diesem Unternehmen einen Gewinn zogen. Dies durfte nicht sein, dem mußte gesteuert werden.
So stand er manchmal am Abend in dem schmalen Flur vor seinen Stuben, der Schlafrock hing ihm faltenreich um den dürren Leib, und die brennende Kerze tragend, lauschte er in die Stille des Hauses.
Auch kam es vor, daß er spät in der Nacht mit einer Blendlaterne Schritt um Schritt die Treppen hinaufging und lauschte, gierig lauschte. Es war etwas in der Luft, das ihm Kunde zutrug von geheimen und schändlichen Beziehungen.
Trug es ihm auch Kunde zu von der Verdunkelung in Margarets Geist und Gemüt? Von ihrer Gewissensangst [73] und dem wachsenden Wahn ihres geschreckten und für immer gebrochenen Herzens?
Später erfuhr er von Ausbrüchen törichter Angst um das Leben des Kindes; daß sie das Kind nicht mehr von ihrer Seite lassen wollte; daß ihr die natürliche Körperwärme als eine fieberhafte Verfassung erschienen war und daß sie jeden Morgen an Dorotheas Bett gejammert, das Mädchen auf den Arm gehoben, den Puls befühlt, den Körper in Decken gehüllt hatte und Nacht für Nacht wachend und betend neben der ruhig Schlummernden gesessen war. So erzählte später die Magd.
Eines Tages kam Herr Carovius nach Hause und sah einen Krankenwagen und gaffende Menschen vor dem Tor. Da ging er die Stiege hinauf und hörte ein dumpfes Wimmern. Margaret wurde von zwei Männern aus der Wohnung geschleppt und Andreas Döderlein schritt mit anklagendem Gesicht hinterher. Die Zimmertür war offen, drinnen lagen Scherben von Gläsern und Geschirr, und mitten in den Scherben saß Dorothea, die Lippen zum Weinen verzogen, die Stirn mit einem Tuch umbunden. Die Magd stand händeringend auf der Schwelle, und auf einer Treppenstufe zum zweiten Stock stand bleich und verstört Friedrich Benda.
Margaret wehrte sich nur noch schwach; ihre Augen flohen zurück und suchten das Kind. Herr Carovius vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und folgte der traurigen Karawane bis auf die Straße. Das arme Weib wurde in die Irrenanstalt nach Erlangen gebracht.
Herr Carovius sagte sich, daß hier Schuldige sein mußten, und schwor, daß er die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen wolle. Nicht aus Schmerz, nicht aus Bruderliebe, sondern aus Haß gegen eine bewegte Welt, in deren Mitte er zur Unbeweglichkeit verdammt war.
Von Döderleins Magd war wenig zu erfahren und die Bemühung, aus der kleinen Dorothea etwas herauszuholen, war ebenfalls fruchtlos. Dorothea war immer mit sich selbst beschäftigt, mit ihrem Putz, mit ihren Spielen, mit ihren kleinen Erlebnissen, und sie hörte kaum zu, wenn er sie auf der Stiege anhielt und seine schlau ersonnenen Fragen stellte.
Eines Tages fuhr er nach Erlangen, um seine Schwester in der Irrenanstalt zu besuchen. Möglicherweise, dachte er, gibt sie mir irgendeinen Aufschluß über das Geheimnis.
Margaret saß in einem Winkel der Kammer und strählte unaufhörlich ihr langes, gelbes Haar. Ihr Auge war zu Boden gerichtet, und keine List des Bruders war imstande, ihr nur ein einziges Wort zu entlocken.
Der Arzt sagte: »Sie ist ein sanfte Kranke, aber verschlossen und leidenschaftlich. Sie muß viele Jahre lang unter großem seelischen Druck gelebt haben.«
Als Herr Carovius im Sonnenschein zum Bahnhof wanderte, wurde er zu seinem Unbehagen gewahr, daß das Bild der schwermütigen Frau von seinem inneren Auge nicht mehr weichen wollte. Er trank in einer Schenke einen starken Bauernschnaps. Während der Rückfahrt saß ihm gegenüber ein Mütterchen, das ihn verständig betrachtete. Beunruhigt vom Menschenblick, setzte er sich auf einen andern Platz.
Ich habe Zeit, sagte er sich, als er die Schwierigkeiten erkannt hatte, auf die er bei seinen Nachforschungen stieß. Es blieb ihm noch übrig, den Doktor Benda irgendwie zu fassen und auszuhorchen. Er war einmal Zeuge, wie Friedrich Benda der kleinen Dorothea auf der Stiege begegnete, und die sonderbare Ängstlichkeit, mit der er dem Kinde auswich, gab ihm zu denken.
Es sollten Gasröhren gelegt werden und so hatte Carovius als Hausherr einen Anlaß, zu Friedrich Benda zu gehen. [75] Es war die Zeit, wo Benda den letzten Versuch machen wollte, seine Rechte, die Rechte des Menschen und des Gelehrten, gegen eine Verschwörung unangreifbarer Feinde durchzusetzen.
Er war allein zu Hause und führte Herrn Carovius durch den Flurgang in sein Studierzimmer. Die Wände des Ganges waren, wie die des Zimmers, bis oben hinauf von Büchern verdeckt. Benda sagte, er sei im Begriff abzureisen, und die peinliche Artigkeit, mit der er einen Stuhl von Büchern frei machte, der gespannte Blick dann, mit dem er Herrn Carovius ansah, raubten diesem den Mut zu allem Scheingerede, und er sprach von den Gasröhren. Mit zwei Worten hatte Benda die Angelegenheit erledigt und erhob sich.
Herr Carovius stand ebenfalls auf, nahm aber den Zwicker von der Nase und putzte mit seinem blitzblauen Taschentuch die Gläser. »Wohin geht die Reise, wenn man fragen darf?« erkundigte er sich teilnehmend.
Benda erlaubte sich nie, wegen einer bloßen Antipathie einen Menschen nachlässig zu behandeln, und erwiderte höflich, er gehe nach Kiel, um sich an der Universität zu habilitieren.
»Bravo,« rief Herr Carovius, auf einmal in den Ton plumper Vertraulichkeit fallend, »man muß den Kerlen nur zeigen, daß man keine Bange hat. Bravo.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz,« sagte Benda verwundert, und seine wachsende Abneigung war bloß an dem sich ängstlich zurückziehenden Auge erkennbar.
Herr Carovius warf einen Seitenblick voll Falschheit auf den jungen Mann. »Sie müssen mich nicht für einen ungebildeten Schlüffel halten, mein werter Herr Doktor,« antwortete er, »anch' io sono pittore. Ich habe unter anderm Ihre Schrift über die morphogene Leistung der ersten Furchungszellen gelesen. Donnerwetter! Alle Achtung! Noch keine selbständige Arbeit natürlich, gehört ja auch zu Ihren frühesten, wenn ich nicht irre, und schließt sich im Ideengang [76] an die entwicklungsmechanischen Theorien des vielverlästerten Wilhelm Roux an, aber Sie gehen immerhin Ihren eigenen Weg. Jawohl, und Sie stecken einem ein mächtiges Licht auf über die Geheimnisse unseres Herrgotts. Da wird immer von der Freiheit der Wissenschaft gefaselt. Schöne Freiheit; na, ich danke. Ein dünkelhaftes Gelichter ist's, weiter nichts, eine brotneidische Sippe. Nur mutig in den Kampf, Verehrtester, frisch drauf los!«
Es überraschte Benda, aus dem Mund des Herrn Carovius ein Werk genannt zu hören, das sonst nur Fachgenossen kannten, aber dies steigerte sein Mißtrauen, statt es zu verringern. Er wußte zu vieles von dem Mann, um ohne Bitterkeit vor ihm stehen zu können. Es genügte, sich an den schlichten Bericht jener Frau zu erinnern, deren Jugend er zu einer Einöde und zu einem Kerker gemacht hatte, um es qualvoll zu empfinden, daß er in demselben Raum mit ihm atmen mußte.
Doch war seiner äußeren Haltung nichts anzumerken. Er antwortete ernst: »Es ist nicht einfach, mit den Menschen zu leben. Jeder hat seinen Platz und will ihn behaupten. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihre freundlichen Worte, aber meine Zeit ist beschränkt, ich habe noch zu tun –«
»Gewiß, gewiß,« beeilte sich Herr Carovius einzufallen, und sein Gesicht zeigte ein hämisches Grinsen, »brauchen mich nicht fortzuschicken, ich gehe schon. Soll um fünf Uhr auf dem Amtsgericht sein. Soll ein Dokument unterschreiben, den Aufenthalt meiner Schwester im Irrenhaus betreffend. Vermögensverwaltung oder so; weiß der Teufel. Was haben Sie denn zu dem Unglück gesagt? Sie haben sie doch näher gekannt. Na, na, Doktor, keine Ausflüchte! Sitzt in der Zelle und kämmt sich das Haar. Haben Sie eine Vermutung, wer sie so weit gebracht hat? Schließlich von einer simplen Liebelei wird man nicht verrückt. Und der Musikschwindler da unten will auch nicht mit der Farbe heraus. Ach ja, man hat seine Not!«
[77] Um seine unverschämten Deutlichkeiten abzuschwächen, da er bedauerte und es als schädlich erkannte, seine Trümpfe zu früh ausgespielt zu haben, lächelte er skurril, duckte feig den Kopf und heftete die Augen voll banaler Neugier auf Benda.
Aber Bendas Blick war gesenkt. Bendas Blick wurde von den Schnallenschuhen des Herrn Carovius angezogen. Ein eigentümliches Grauen war es, mit dem Benda die melonengelben Streifen der Strümpfe unter den zu hoch gezogenen Hosen gewahrte, mit dem er zusah, wie die Schuhe in Bewegung gerieten, wie einer nach dem andern sich vom Fußboden entfernte und mit dem Absatz voran in häßlicher Weise, mit einem häßlichen Geräusch niederstapfte.
Bendas Abwesenheit dauerte kaum ein Jahr. Seine Mutter hatte ihn diesmal nicht begleitet. Sie kränkelte ein wenig und die Sehkraft ihrer Augen war gefährdet.
Nach seiner Rückkehr versank er in ein wochenlanges, trübes Schweigen, und ohne daß zwischen ihm und der Mutter ein Wort über die erlittene Enttäuschung gewechselt wurde, wußte sie alles, was er erlebt hatte, und schonte ihn, indem sie gleichfalls schwieg.
Es bedrückten ihn die Erinnerungen, die das Haus in ihm erweckte. Vergessene Bilder wurden lebendig, die Gestalt einer Hingemordeten huschte abends über die Galerien, ihr Schatten schwebte ins Zimmer und schmiegte sich an ihn, während er an seinem Schreibtisch saß.
Vieles verband ihn noch mit ihr, deren Geist die Erde verlassen hatte, wenn auch ihr Körper noch auf der Erde weilte.
Er vermochte ihren sanften Blick nicht zu vergessen und die Schüchternheit ihrer Hände nicht. Er kannte ihr Schicksal, [78] er kannte ihre Seele; auch darüber war er zum Schweigen verurteilt. Schaudernd zurückzuweichen vor der Berührung der Welt, bis in die tiefste Einsamkeit, das war ihr Los gewesen, und es war auch seines. Stets sah er sie vor sich, wie der Bruder sie geschildert, in der Zelle sitzend und ihr gelbes Haar kämmend.
Er machte niemand verantwortlich, er grollte niemand, er beklagte es nur, daß die Menschen so waren, wie sie waren.
Ein ehemaliger Studienkollege besuchte ihn und munterte ihn auf, an einer großen wissenschaftlichen Arbeit teilzunehmen. Er verweigerte sich. Als er wieder allein war, vergegenwärtigte er sich noch einmal das ganze Gespräch. Trotz des freundlichen Drängens hatte er in dem Wesen des Mannes jene rätselhafte, unterirdische Feindseligkeit verspürt, der er immer begegnete, wenn er mit Personen des andern Glaubens und der andern Rasse nicht nur in geschäftlicher und äußerlicher, sondern auch in einfach menschlicher Art zu verkehren hatte. Das Geringste, was er zu fürchten hatte, war eine vorurteilsvolle Fremdheit, als ob der Betreffende ihm zuriefe: ich hüben, du drüben, auf die Brücke geh nicht.
Es war ihm dies nur allzu wohlbekannt. Aber dagegen zu kämpfen verwehrte ihm sein Stolz. Das natürliche Recht des Lebens, die allen zugestandene Freiheit des Mit-dasein-Dürfens, die Teilnahme am notwendigen und förderlichen Wetteifer der Kräfte erst erobern, vielleicht gar erbetteln, durch Argumente verteidigen, durch Politik erlisten zu sollen, das ging wider die Vernunft und die Billigkeit, darauf verzichtete er.
Er verzichtete darauf, an einem Tor zu rütteln, das er zuletzt selbst zugesperrt und verbarrikadiert hatte.
Jedoch er litt darunter bis zu einem kaum mehr erträglichen Grad. Es war das Unsinnige und Verlogene dieser Dinge, worunter er litt. Handelten sie so, weil sie so stark im Glauben waren? Nein. Glaubte er an jene Unterschiede der Rasse, [79] welche sie glauben machten? Nein. Er fühlte sich heimatlich auf dem Boden, der ihn nährte, verpflichtet der Not und dem Glück des Volkes, Herz an Herz geschlossen an ihre Besten und geistig geformt durch ihre Sprache, ihre Ideen und ihre Ideale.
Alles andere war Lüge. Sie wußten, daß es Lüge war, aber sie schmiedeten aus seinem eigenen Stolz eine Waffe gegen ihn. Es war Plan und böser Wille, seine durch Leistung und Enthusiasmus bewiesene Zugehörigkeit zu leugnen und zu übersehen.
Bündnisse zu knüpfen, Gleichgesinnte zu suchen und in Verbrüderungen zu wirken verschmähte er. Er wollte nicht in unfruchtbare und phrasenhafte Gemeinschaftsbestrebungen gerissen werden, und trotzig und einsam erklärte er seinen Fall vor sich selbst für einen einzelnen. Da es seinen schmerzlichen Zustand nicht linderte, sondern verschärfte, wenn er andere, ähnliche Schicksale mit seinem verglich, unterließ er die Vergleiche wie auch alle Erwägungen, die dem Verhalten der ihm gegenüberstehenden Welt wenigstens einen Anschein von Gerechtigkeit geben konnten.
Dafür wuchs eine Sehnsucht in seiner Brust, die von Tag zu Tag festere Gestalt annahm und allmählich zu einem bestimmten und unwiderruflichen Entschluß wurde.
Um diese Zeit machte er die Bekanntschaft Daniels, und durch ihn wurde er wieder zu den Menschen geführt. Vom ersten Augenblick an spürte er das Ungemeine in ihm, ja etwas völlig Neues, das er bis dahin noch nicht erfahren hatte. Schon seine äußere Bedrängnis forderte zur Tätigkeit auf und seine innere Bewegtheit ließ den Mitfühlenden niemals ruhen.
Ihm zu helfen war nicht leicht; er stieß jede Gabe zurück, der er keine Leistung entgegenzusetzen hatte. Man mußte ihn erst von der Pflicht und Schuldigkeit überzeugen, die dem Freund am Geschick des Freundes erwächst, und man mußte ihm erlauben, theoretisch undankbar zu sein.
[80] Es gelang den Anstrengungen Bendas und seiner Mutter, ihm bei einigen Bürgerfamilien Unterrichtsstunden zu verschaffen. Er mußte kleine Knaben und Mädchen das Klavierspiel lehren, und war der Lohn auch nicht groß, so wurde die schlimmste Not doch beseitigt.
Nach der Arbeit des Tages schlossen die Abende und Nächte sie in langem Beisammensein immer fester aneinander.
Eines Abends trat Daniel ins Haus und begegnete Herrn Carovius, war aber so in Gedanken versunken, daß er ihn nicht sah und nicht grüßte. Herr Carovius schaute ihm zornig nach und kehrte bis an die Stiege zurück, um sich zu vergewissern, zu wem der junge Mensch ging. Als er ihn im zweiten Stock läuten hörte, bekam sein Gesicht einen unruhigen Ausdruck und er rieb sich mit der linken Hand das Kinn.
»An mir vorüber zu gehen wie an einem Klotz,« murmelte er gehässig; »warte nur, das sollst du mir entgelten, Bursche.«
Statt das Haus zu verlassen, wie er gewollt, begab er sich wieder in seine Wohnung, zündete eine Kerze an, trippelte hastig durch drei Zimmer, in denen alte Schränke und Truhen mit vielen Büchern und Notenheften standen, auch ein Klavier, und sperrte mit einem Schlüssel, den er in der Tasche trug, einen vierten Raum auf, der geschlossene Fensterläden und eine seltsame Einrichtung hatte.
Er trat an einen Tisch, der fast die ganze Länge des Raumes einnahm, griff nach einem weißen Zettelchen, setzte sich und schrieb darauf mit roter Tinte: »Daniel Nothafft, Musiker, zwei Monate Zuchthaus.«
Dann bestrich er den Zettel mit Klebegummi, drückte ihn auf eine hölzerne Schachtel, die einem Miniatur-Schilderhäuschen [81] ähnlich sah und nagelte mit kleinen Nägeln einen bereitliegenden Deckel an die Schachtel.
Auf dem langen Tisch standen mindestens fünf Dutzend solcher Schachteln; die meisten hatten einen Namenszettel und waren mit kleinen Nägeln zugenagelt.
Das stets versperrte Zimmer nannte Herr Carovius sein Gerichtszimmer; was er darin trieb, nannte er die Regulierung seines Verhältnisses zur Menschheit, und die Sammlung kleiner Holzzellen nannte er sein Zuchthaus. Jeder Mensch, der ihn beleidigt, gekränkt, gedemütigt oder übervorteilt hatte, bekam ein solches Verließ, in welchem er im Bilde so lange schmachten mußte, bis die Zeit, dem Urteil gemäß, verstrichen war.
Damit nicht genug. Auf dem mittleren Teil des Tisches befanden sich lauter winzige Sandhügelchen, etwa dreißig an Zahl, deren jedes ein winziges Holzkreuz mit einem winzigen Namenszettel trug. Das war der Kirchhof des Herrn Carovius, und die im Bilde hier Begrabenen waren, obgleich sie ganz gesund und munter auf der Erde wanderten, gestorbene Leute für ihn. Es waren Leute, deren irdische Laufbahn für ihn erledigt war und unter deren Sündenkonto er einen Strich gemacht hatte. Leute wie Richard Wagner und seine Helfershelfer; sodann ein Papierhändler, dem er vor vielen Jahren Geld geliehen hatte und der durchgebrannt war, ferner einige Verfasser von schlechten Büchern, die viel gelesen wurden, oder von Büchern, die er verabscheute, ohne sie selbst gelesen zu haben, wie die des Herrn Zola in Paris.
Aber noch eine dritte Abteilung hatte der Tisch, und das war die sogenannte Akademie. Die Akademie war ein durch ein Drahtgitter umzäuntes Gebiet, innerhalb dessen etwa zwölf bis fünfzehn regelmäßige Felder mit schöner grüner Farbe angestrichen waren. In der Mitte jedes Feldes erhob sich ein zwei Zoll hohes Holzstäbchen und in der Mitte jedes [82] Stäbchens wieder war eine Namenstafel gefestigt. An der Spitze einiger von diesen Stäbchen hingen kleine, aus Stoff geschnittene grüne Fähnchen.
Herr Carovius besaß nämlich eine Schwäche für den Umgang mit aristokratischen Personen. Er bewunderte insgeheim die Manieren dieser Leute, ihre Art von Gleichgültigkeit und Selbstbewußtsein, ihre unumstößlichen Traditionen, ihre geräuschlose und harmonische Lebensführung. Auf den Stäbchen der Akademie nun waren die Namen der vornehmsten und ausgezeichnetsten Familien der Stadt angebracht, wie die der Tucher, der Haller, der Humbser, der Kramer-Klett, der Auffenberg. Wenn es Herrn Carovius gelungen war, mit einem Mitglied einer dieser Familien bekannt zu werden, so hißte er auf der Spitze des betreffenden Stäbchens die grüne Fahne.
Ungeachtet allen Strebens hatte er im Lauf der Zeiten nur drei Fahnen aufpflanzen können, aber die hierdurch verkündeten Beziehungen waren recht flüchtig und zufällig und ohne ersprießliche Folgen. Ein von dem und jenem bemerkter Gruß auf der Straße oder im Konzert war alles, was erreicht werden konnte, und die Akademie zeigte im Gegensatz zum Zuchthaus und zum Kirchhof eine klägliche Verödung. Bis eines Tages der Auffenbergsche Fähnlein an die Spitze seines Mastes stieg; da schien es Herrn Carovius, als ob der Akademie eine große Zukunft sicher sei.
Der Maler Krapotkin hatte einmal den Auftrag bekommen, ein Holbeinsches Bild für den Freiherrn Siegmund von Auffenberg zu kopieren. Er machte das Bild nicht fertig, seine Fähigkeiten waren zu gering, aber er hatte damals den jungen Baron Eberhard kennen gelernt und führte ihn dann, [83] Jahre später, nach einer gelegentlichen Begegnung, zu den Sumpfbrüdern ins Paradieschen.
Nicht lange sah man Eberhard dort; so plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder. Aber die kurze Zeit genügte Herrn Carovius, in vertraute Beziehungen zu ihm zu treten.
Als er zum erstenmal mit ihm an einem Tisch saß, war er den ganzen Abend hindurch erregt und von einer milden geistigen Glut überstrahlt. Seine Stimme klang süß und seine Behauptungen waren von angenehmer Mäßigung.
Er lenkte das Gespräch auf die Vorzüge der Geburt und rühmte die Distinktion der erb-eingesessenen Geschlechter als ein volkserziehendes Element. Die Sumpfbrüder höhnten, Herr Carovius schlug sie mit einem vernichtenden Witz.
Eberhard von Auffenberg verschanzte sich bei dem Lobgesang hinter einem griesgrämigen Schweigen. Trotzdem Herr Carovius auch fernerhin jeden Anlaß benutzte, um dem jungen Edelmann in pfiffig-feiner Weise zu schmeicheln, kam er zu keinem Ziel. Höchstens, daß Eberhard sein Drosselbartkinn in die Luft steckte und eine sarkastische Bemerkung fallen ließ. Alles Scharwenzeln war umsonst.
Eines Nachts jedoch fügte es sich, daß die beiden den Nachhauseweg gemeinschaftlich antraten, d.h. Herr Carovius ging dem Freiherrn nicht von der Seite. Der bisherigen Taktik überdrüssig, wollte er sein Glück einmal auf eine andere Art versuchen. Er spottete über den Hochmut einer gewissen Kaste, die einen Mann seinesgleichen geringer einzuschätzen wage als irgendeinen Stiesel, dessen Taschentuch eine gestickte Krone aufweise.
»Was sind Sie, was für einen Beruf haben Sie?« fragte Eberhard von Auffenberg.
»Ich tue nichts,« antwortete Herr Carovius.
»Gar nichts? Das ist immerhin sympathisch.«
»Ich treibe ein bißchen Musik,« setzte Herr Carovius hinzu, entzückt von der Wißbegier des Freiherrn.
[84] »Na, sehen Sie, das ist doch etwas,« sagte dieser; »ich meinerseits bin unmusikalisch wie ein Schießgewehr. Aber, wenn Sie sonst nichts treiben als Musik, und, wie es scheint, zu Ihrem Vergnügen, müssen Sie doch eine Menge Moos haben«
Herr Carovius wand sich. Die Angst, die er davor hatte, für einen reichen Mann gehalten zu werden, kämpfte mit dem eitlen Bestreben, vor dem jungen Freiherrn etwas zu sein und zu gelten. »Es geht an,« bemerkte er kichernd, »es geht an.«
»Schön; wenn Sie mir zehntausend Mark verschaffen können, will ich Ihnen mit Vergnügen die Krone auf meinem Taschentuch verehren,« sagte Eberhard von Auffenberg.
Herr Carovius blieb stehen und riß Mund und Augen auf. »Sie belieben zu scherzen, Herr Baron,« stammelte er. Und als Eberhard den Kopf schüttelte, fuhr er fort, und das Erstaunen trieb seine Stimme in die höchsten Lagen: »Aber Geehrtester! Ihr Herr Vater hat ausgewiesenermaßen ein Einkommen von einer halben Million! Ein Einkommen!«
»Von meinem Vater ist hier nicht die Rede,« antwortete Eberhard kalt und stieß das Drosselbartkinn in die Luft. »Es gehört offenbar zu Ihren heraldischen Vorurteilen, daß Sie das Einkommen meines Vaters in meinen Beutel praktizieren wollen.«
Sie standen unter einer Gaslaterne am Hallertor. Der Regen rieselte vom Himmel und sie hatten die Schirme aufgespannt. Die Nacht war still, es war auch schon spät; weit und breit war kein Mensch zu sehen. Carovius schaute den gravitätisch verdrossenen jungen Mann an, der junge Mann schaute den verlegen grinsenden Carovius an und keiner wußte, wie er den andern nehmen sollte.
»Sie wundern sich,« begann Eberhard wieder; »Sie wundern sich mit Recht. Ich stecke als ein unzufriedener Gast in meiner Haut, dessen kann ich Sie versichern. Ich bin so mißgeboren wie nur irgendein Geschöpf, das zu viel Überflüssiges [85] und zu wenig Notwendiges mitbekommen hat. Es sind da Geheimnisse; außen sind Geheimnisse an mir. Innen ist nichts; innen ist abgestandene, tote Luft.«
Er stierte zu Boden und es war, wie wenn er mit sich selbst spräche, wie wenn er vergessen hätte, daß ihm jemand zuhörte, als er fortfuhr: »Haben sie schon in alten Kirchen alte Ritter, in Stein gemeißelte alte Ritter gesehen? So bin ich. Mir ist, als ob ich der Vater meines Vaters wäre, und als ob er mich lebendig hätte begraben lassen und ein böser Geist hätte mich versteinert und meine Hände lägen auf der Brust gekreuzt und könnten sich nicht rühren. Ich bin aufgewachsen mit einer Schwester und ich sehe sie, als wär's gestern gewesen,« hier nahm sein Gesicht einen Ausdruck phantastischer Greisenhaftigkeit an, »zierlich und unschuldig und stolz durch einen Saal gehen, mit Rosen in der Hand. Sie ist an einen Rittmeister verheiratet, einen Kerl, der seine Soldaten wie Negersklaven behandelt und den Gruß eines Bürgers nur erwidert, wenn er besoffen ist. Sie mußte ihn heiraten. Ich konnte es nicht hindern. Jemand hat sie gezwungen. Und wenn sie jetzt Rosen trägt, ist es, wie wenn ein Leichnam Lieder singt.«
Herrn Carovius war es nicht geheuer zumut. Solche Worte war er nicht gewohnt zu hören. Dort wo er zu Hause war, nannte man die Dinge deutlicher beim Namen. Er spitzte die Ohren und machte ein unbehagliches Gesicht. Es ist seine Erziehung, die ihn so sprechen heißt, dachte er, die Gemälde, die er beständig vor sich sieht, die goldlehnigen Stühle, auf denen er sitzt.
Ich werde auch auf solchen Stühlen sitzen, frohlockte es in ihm, werde auch die Gemälde sehen. Und er sah sich zwischen Baron und Baronin durch ein Spalier von betreßten Dienern unter die neidische Menge vor dem Portal schreiten. Der junge Freiherr aber ging als heimgekehrter verlorener Sohn reumütig hinterdrein.
[86] Man müsse eine Sicherheit haben, sagte Carovius; ob der Herr Baron majorenn sei. Er habe vor kurzem das einundzwanzigste Jahr vollendet, antwortete Eberhard; er habe jedoch Gründe, die ihn bestimmten, ohne die Unterstützung seiner Familie zu leben und auf alle Vermögensrechte bis auf einen gewissen Zeitpunkt zu verzichten. Hauptsächlich sei ihm daran gelegen, dem Verkehr mit berufsmäßigen Geldverleihern auszuweichen.
Ein sehr ernster Fall, äußerte sich Herr Carovius; er verstehe; o, er verstehe sehr gut; auch sei er zu allem bereit, doch müsse ihm klarer Wein eingeschenkt werden. Er sagte dies in einem Ton, als hielte er ein Glas Johannisberger in den Regen hinaus und schnüffelte mit seinen Nüstern.
»Ich bin verschwiegen,« sagte er; »ich bin äußerst verschwiegen.« Er sah den Freiherrn zärtlich an.
Der junge Freiherr nickte.
»Wer einen Purpur trägt, wird überall erkannt,« fuhr Herr Carovius sententiös fort, »und wirft man den Purpur ab, so braucht man verschwiegene Freunde. Ich bin verschwiegen.«
Der Freiherr nickte abermals. »Wenn Sie erlauben, werde ich Sie an einem der nächsten Tage aufsuchen,« beendete er das Gespräch.
Er entfernte sich mit steifen, mißvergnügten Schritten gegen die Allee, während Herr Carovius, eine Arie aus dem Barbier von Sevilla summend, die sich verengende Gasse hinuntertrippelte.
Herr Carovius wartete Tag um Tag vergebens.
Als die Woche um war, argwöhnte er, er sei zum besten gehalten, und es ergriff ihn eine tückische Wut, die sich Luft verschaffen mußte. Eines Morgens verließ er seine Wohnung, da standen im Hausflur zwei mit Milch gefüllte Kannen, [87] eine für den ersten Stock und eine für den zweiten Stock. Das Milchmädchen hatte sie einstweilen hier niedergestellt und war ins Nachbarhaus gegangen. Herr Carovius holte eine Essigflasche aus der Rumpelkammer, die ihm zugleich als Küche diente, spähte vorsichtig umher und schüttete den Inhalt der Flasche, gleichmäßig verteilt, in die beiden Milchgefäße.
Zwei Tage vergingen, da beschloß er, dem Hunde Cäsar nichts mehr zu fressen zu geben, damit er alle in der Nachbarschaft wohnenden Leute durch sein Geheul erschrecken sollte. So kam es auch, der Hund heulte die Nächte hindurch zum Steinerweichen und die Leute konnten nicht schlafen. Andreas Döderlein schickte auf die Polizei, aber es wurde gesagt, man könne dem nicht abhelfen.
Herr Carovius lag in seinem Bett und freute sich, daß die Menschen nicht schlafen konnten. Er verliebte sich in die Vorstellung, daß man vielleicht vermittelst einer ingeniösen Erfindung einer ganzen Stadt, einer ganzen Nation den Schlaf zu rauben vermöchte und daß man dann bei Tag unter ihnen herumging als der Austeiler und Entzieher alles auf der Welt vorhandenen Schlafs und sie hinsiechen lassen konnte, wenn man Lust hatte, hinsiechen, verfallen und verdorren.
Wie nun der Hund Cäsar genügend wild geworden schien, da machte sich Herr Carovius daran, ihn von der Kette zu lösen. Es war gegen Abend, er näherte sich dem Tier von hinten, öffnete das Kettenschloß und der Hund rannte wie toll durch den Hof, durch das Haus und auf die Straße.
Nun geschah es, daß gerade in diesem Augenblick der junge Freiherr von Auffenberg ins Haus treten wollte, um Herrn Carovius den versprochenen Besuch abzustatten. Er prallte vor der Bestie zurück, das Tier sprang ihm aber doch gegen den Leib und der lange Mensch stürzte auf das Pflaster. Cäsar setzte über ihn hinweg, raste in die offenstehende Tür eines nahegelegenen Metzgerladens und riß in seinem Heißhunger ein mächtiges Stück Fleisch vom Hackpflock.
[88] Herr Carovius, um zu sehen, was der Hund für Schaden anrichten würde, eilte mit einer Miene heuchlerischen Entsetzens, als ob ihm die Dogge entkommen wäre, ans Tor, und da sah er nun, wie der Baron sich mühsam von der Erde erhob und auf ihn zuhinkte.
Jetzt war sein Entsetzen unverstellt. Mit dem Eifer eines Lakaien bückte er sich nach dem Hut des Freiherrn, rieb den Schmutz ab, stammelte Entschuldigungen, starrte klagend gen Himmel, bürstete mit der Hand an Eberhards Hosenbein herum, derweil kam der Hund zurück, den Klumpen Fleisch im Maul, und der Metzger kam vor den Laden und drohte mit der Faust und der Metzgerlehrling steckte zwei Finger in die Zähne und tat einen gellenden Pfiff, und die Polizei erschien und Herr Carovius mußte das Fleisch bezahlen.
Sodann geleitete er den Freiherrn mit sanften Erkundigungen nach dessen Befinden in seine Wohnstube, und da Baron Eberhard etwas betäubt war von dem Fall, begehrte er, sich einige Minuten auf das Kanapee legen zu dürfen, ein Verlangen, das Herr Carovius mit einem großen Aufwand an liebevollen Seufzern und bedauernden Ausrufen billigte.
Während nun der Freiherr auf dem Kanapee lag, um seine Lebensgeister wieder zu sammeln, setzte sich Herr Carovius aus Klavier und spielte mit innigem Augenaufschlag und bedeutender Fingerfertigkeit das Rondo aus der As-dur-Sonate von Weber.
Darnach erst begannen die Verhandlungen.
[89]Benno Jordan hatte in der Prima des Gymnasiums schlimme Streiche gemacht, auch hatte er erklärt, die Tyrannei der Schule nicht länger ertragen zu wollen und zum Studieren keine Lust zu haben. Er war ein eigenwilliger Charakter, mit einem starken Hang zur Geselligkeit. Er gab viel auf seine Kleider und war eitel auf sein hübsches Gesicht.
Nach zahlreichen Unterredungen mit dem Siebzehnjährigen entschloß sich der Inspektor, ihn beim inneren Dienst der Prudentia unterzubringen. Er sprach mit dem Generalagenten darüber, und Alfons Diruf willigte ein. Benno trat seinen Posten mit einem Monatsgehalt von fünfzig Mark an.
Wenn der Inspektor abends nach Hause kam, mußte er von Lenore hören, Benno habe sich mit seinen Freunden verabredet, und sie säßen im Alfasgarten; oder in der Wolfsschlucht; oder im Café Merkur, wo an diesem Tag das Orchestrion spielte, eine damals neue Erfindung.
»Was doch jetzt für ein Geschlecht heranwächst,« sagte der Inspektor dann bekümmert; »die ganze Absicht geht aufs Genießen. Du lieber Gott, genießen! Mein Lebelang habe ich nicht genossen.«
In Sorge über Bennos Führung ging er zum Bureauchef Zittel. Das wachsbleiche Männchen äußerte sich sehr anerkennend über den Neuling. Zufrieden drückte der Inspektor dem Oberhaupt der Schreiber die Hand. Aber bald erwachte wieder die Unruhe in ihm, denn trotz der liebenswürdigen Außenseite spürte er in seinem Sohn das morsche Fundament.
Alfons Diruf war fett und finster. Er trug Anzüge nach Pariser Schnitt, und am Goldfinger seiner linken Hand befand sich ein feuerstrahlender Solitär.
Seit die Gesellschaft Prudentia die sogenannte Arbeiter-Assekuranz eingeführt hatte, standen fünfundzwanzigtausend Schreiber mehr als früher in ihrem Sold, und Diruf befehligte für seinen Teil sieben Dutzend. Diese sieben Dutzend saßen bleich und schweigsam in drei Sälen eines Hauses in der Fürther Straße, indes er selbst in seinem Privatkabinett weilte, das dem Boudoir einer Modedame glich, blaue Damastvorhänge, eine badende Nymphe von Thumann hatte und nach Moschus roch.
Drei- bis viermal im Verlauf eines Tages verließ er das schöne Retiro und wandelte mit der Miene tiefen Ekels durch die Säle. Da duckten sich alle Köpfe, alle Hände huschten flinker über das Papier, alle Füße hörten auf, zu scharren, und jedes Flüstern erstarb.
Es hatte den Anschein, als verachte er sein Amt, aber in Wahrheit liebte er es. Er liebte die Schreiber um ihres sklavischen Gehorsams und ihrer verhungerten Gesichter willen. Er liebte sie dafür, daß sie jeden Morgen pünktlich kamen, jeden Abend müde gingen und Tag um Tag, Jahr um Jahr dasaßen und schrieben, schrieben, schrieben.
Er liebte die Inspektoren dafür, daß sie Tag um Tag und Jahr um Jahr sich einem elenden Lohn zuliebe plagten. Er liebte die Hunderte von Agenten und Unteragenten, die es der Gesellschaft möglich machten, täglich Hunderte von Policen auszustellen. Er liebte ihre schmutzigen Kleider und Stiefel; ihre provisionslüsternen Blicke, ihre doppelzüngigen Reden und ihre traurigen Physiognomien.
Das Lockmittel der Arbeiter-Assekuranz waren kleine Versicherungssummen und kleine Prämien. Dadurch sollte der [91] kleine Mann zur Sparsamkeit erzogen werden; die Regel aber war, daß der kleine Mann zu spät, wenn er sich durch Vertrag gebunden hatte, erfahren mußte, daß der Agent mehr versprochen hatte, als die Gesellschaft halten konnte. Er verlor den Glauben, der karge Wochenlohn ließ ihm nicht immer so viel übrig, daß er die Prämie regelmäßig zu zahlen vermochte, mit jeder Woche wurde es schwerer, das Versäumnis nachzuholen, und endlich hatte die Police keine Wirkungskraft mehr. Alles Geld, das er gezahlt hatte, war verfallen.
So gelangte die Gesellschaft in den Besitz von Millionen. Es waren die Pfennige der Ärmsten, aus denen sich diese Millionen ansammelten; die Pfennige der Ärmsten, die die Dividenden in die Höhe trieben, das Heer der Schreiber beständig vergrößerten und die Beutel der Agenten füllten.
Die Agenten wurden unter dem Abschaum der bürgerlichen Welt geworben. Da waren Bankrotteure und verbummelte Studenten, Spieler und Trinker, Invaliden und Armenhäusler, vom Unglück Verfolgte und vom Verbrechen Gezeichnete. Keiner war zu gering, keiner zu schlecht.
Weil jedoch Alfons Diruf sah, daß es dem Ruf der Gesellschaft förderlich war, wenn er einige angesehene Bürger neben den Auswürflingen hatte, so ging er hin und warb in eigener Person Werber. Er kam auch zu Jason Philipp Schimmelweis.
»Es ist eine Goldgrube,« sagte er; »Sie arbeiten für einen idealen Zweck und haben einen sehr realen Nutzen. Ideale, die einem nichts eintragen, sind ohnehin blödsinnig.« Und er blies den Rauch seiner Havannazigarre durch die Nüstern.
Jason Philipp begriff. Es war unnötig, dem Volksmann und dem Politiker in ihm noch besonders zu schmeicheln. Er lief sich für die Arbeiter-Assekuranz die Beine müd, und Alfons Diruf liebte nun auch den sozialistischen Buchhändler in seiner Art.
Da sah aber Inspektor Jordan, daß die zahllosen Provisionstiger [92] ihm sein Arbeitsfeld verwüsteten und seine Kunden im wohlhabenden Bürgertum mißtrauisch machten. Er erlahmte, und das Direktorium sandte wegen seiner abnehmenden Leistungsfähigkeit an Alfons Diruf tadelnde Memoranden.
Daniel war seiner Mansarde und der Bürstenmacherin Hadebusch überdrüssig geworden und kündigte das Logis. Frau Hadebusch, in einer Duftwolke von gesottenem Kraut stehend, zeterte über die Undankbarkeit der Welt. Ihr Geschrei lockte Herrn Francke und den Methodisten aus ihren warmen Löchern, auch der Bürstenmacher und der idiotische Sohn traten auf den spärlich beleuchteten Vorplatz, und Daniel stand wie ein armer Sünder vor den fünf Hogarthschen Gestalten.
Er suchte in der Marienvorstadt, aber da war alles zu teuer, dann vorm Neuen Tor, da fand er nichts, dann in Sankt Johannis, da gefiel es ihm am besten. Am späten Nachmittag kam er an ein Haus in der langen Zeile, und am Gartentor hing ein Vermietungszettel.
Er läutete an einem schmiedeeisernen Glockenzug, und ein hübsches Dienstmädchen führte ihn in ein Zimmer. Durch das Fenster konnte er in einen Garten mit alten Bäumen blicken. Ein ältliches Fräulein kam und lächelte über sein Wohlgefallen an dem Zimmer.
»Ich muß erst mit meiner Schwester sprechen,« flüsterte sie auf seine Frage nach dem Preis.
Sie rief in den Flur, da kam die Schwester, ein ebenso ältliches und ebenso freundliches Fräulein. Sie hielten flüsternd Rat und erklärten dann, sie müßten Albertine fragen. Albertine war die dritte Schwester, und die erste trippelte zur Türe und rief mit gespitzten Lippen den Namen so geziert [93] in den langen Flur wie den der zweiten, die Jasmine hieß.
Albertine war die jüngste von den Dreien, etwa vierzig Jahre alt. Doch sie hatte vergessen, und auch Jasmine und Salome hatten es vergessen, zwanzig vom Kalender zu streichen; sie zeigten sich alle drei noch in der ersten jugendlichen Anmut.
Errötend betrachtete Albertine den jungen Mann, und ihre Schamhaftigkeit bewirkte, daß die zwei Schwestern gleichfalls erröteten. Sie sagte zu Daniel, sie seien die Schwestern Rüdiger. Darauf schwieg sie und schaute zu Boden, als ob sie damit ihr ganzes Schicksal verraten hatte. Dann sagte sie, sie hätten sich entschlossen, das Zimmer einem vertrauenswürdigen Herrn zu überlassen, weil kürzlich in der Nachbarschaft verschiedentliche Diebstähle vorgekommen seien und sie außer dem Gärtnerburschen noch die schützende Gegenwart eines Mannes wünschten. Sie hatten schon einige Leute abgewiesen, deren Gesicht und Benehmen ihnen mißfielen, denn ohne sich vorher zu verständigen, waren sie stets und über alles der gleichen Meinung.
Nun fragte Fräulein Salome, welchen Beruf der junge Herr ausübe. Daniel erwiderte, er sei Musiker. Ein Ach der Überraschung tönte ihm aus den drei Kehlen entgegen. Ob er ein Sänger sei oder ein Geiger? fragte Fräulein Jasmine. Keines von beiden, er sei Komponist, oder wolle es wenigstens werden.
Da vergeistigten sich die Blicke der drei Damen, und sie sahen einander so ähnlich wie Drillinge. Ein schaffender Künstler also? Ja, wenn sie es so ausdrücken wollten, ein schaffender Künstler, versetzte Daniel trocken.
Sie trippelten in die Ecke wie die Spatzen und hielten nun Rat zu dreien. Fräulein Salome, zur Sprecherin erkoren, wollte wissen, ob ein monatlicher Zins von zwölf Mark eine zu hohe Forderung sei. Nein, die Forderung sei nicht [94] zu hoch, antwortete Daniel, ohne sich zu besinnen, und drückte den drei Schwestern die Hände. Fräulein Jasmine fügte hinzu, daß es dem Herrn freistehe, sich des Klaviers zu bedienen, welches im Erdgeschoß untergebracht sei und nur gestimmt werden müsse. Daniel drückte ihr noch einmal und mit besonderer Wärme die Hand. Aus Freude war er täppisch zutraulich geworden.
Ehe er das Haus verließ, stellte er sich im Garten unter einen Baum. Endlich wieder ein Baum für mich, dachte er. In der Krone sang eine frühe Amsel. Das Dienstmädchen Meta schaute vom Tor aus, wo sie wartete, erstaunt herüber.
Fräulein Albertine sagte zu ihren Schwestern: »Er sieht interessant aus, aber er hat schlechte Manieren.«
»Seine Kleider sind schmutzig, man muß sie reinigen,« sagte Fräulein Salome.
»Künstler legen kein Gewicht auf Äußerlichkeiten,« erklärte Fräulein Jasmine sinnend.
»Ein großer Irrtum,« widersprach Fräulein Salome gedankenvoll; »Er war stets wie aus dem Ei geschält. Erinnert ihr euch?«
Die beiden andern nickten. Hierauf wandelten sie Arm in Arm über die Gartenwege.
Daniel stand auf dem Obstmarkt vor dem Gänsemännchen-Brunnen und verzehrte ein paar Äpfel.
Die Sonne schien, und er bemerkte, daß der Schatten der Brunnenfigur langsam unter ihm wegrückte, gegen die Kirche hin. Es machte ihn traurig, zu sehen, daß die Zeit verging und wie sie verging. Als er sich aber umdrehte und das bronzene Männchen so gleichmütig und zuversichtlich mit seinen zwei Gänsen unter den Armen stehen sah, mußte er lachen.
[95] Was ihn lachen machte, war einesteils die Ruhe des Männchens, dies Abwarten und beständige Da-Sein, andernteils der Gedanke, daß einer so zufrieden aussehen konnte wegen zweier Gänse.
Von einer Unterrichtsstunde nach Hause gehend, begegnete er eines Nachmittags Lenore Jordan. Er erzählte ihr von seiner neuen Wohnung und von den drei sonderbaren Wesen in dem Haus in der langen Zeile.
Lenore hatte von ihnen gehört. Sie sagte, es seien die Töchter des Geometers Rüdiger, der vor Jahr und Tag die Stadt verlassen habe, weil er einen Streit mit den Bürgern oder nur mit einer Gilde gehabt. Das Bild eines Malers sei der Anlaß gewesen, mehr wisse sie nicht, nur daß der Geometer dann bei einem Bergsturz in der Schweiz ums Leben gekommen sei. Die Schwestern aber seien Spottfiguren in der Stadt und zeigten sich außerhalb des Hauses fast nur, wenn sie an bestimmten Tagen auf den nahgelegenen Johanniskirchhof gingen, um das Grab jenes Malers zu schmücken.
Daniel hörte kaum zu. Sie standen bei der Sebalderkirche, und die Glocken fingen an zu läuten. »Prachtvoll,« murmelte er, »aufsteigender Dreiklang in A.«
Lenore erkundigte sich, wie es Daniel gehe und blickte in sein eingefallenes Gesicht mit Bedauern. Ihr starker, blauer Blick war ihm unbehaglich, und er wunderte sich, daß sie die Lider so selten senkte. Er sagte, es gehe ihm gut, und sie lächelte.
»Schauderhaft, daß man so ein Untier im Leibe hat, das immer gefüttert werden will,« sagte er. »Sonst könnte man ja durch alle Himmel stürmen und den Engeln ihre Gesänge ablauschen. Es soll nicht sein. Erst müssen sich die Flügel wund flattern, bis die Kette reißt, am Ende haben sie dann die Ätherkraft nicht mehr.«
[96] Er zog sein Gesicht zusammen, daß es den bösen Affenausdruck bekam. »Aber ich will's auskosten,« schloß er. »Will sehen, ob mich der Herrgott als Niete oder als Treffer aus dem Kasten seiner Lose zieht.« Er konnte sehr beredt sein, wenn er von sich selber sprach.
Lenore lächelte. Man mußte ein wenig Ordnung in sein Leben bringen, das war alles, was ihr nötig schien. Sie nahm sich vor, nachzusehen, wie er sich in seinem Zimmer eingerichtet hatte.
In der Tetzelstraße trafen sie den Inspektor. Als Jordan an der Seite der geliebten Tochter ging, wollte es ihm scheinen, als seien die grauen Mauern und verwitterten Steine der Häuser nicht mehr so erdenhaft und zeitenschwer. Lenore blickte aber wunderlich versunken in den Westen, wo purpurrot die Sonne unterging. In manchen Stunden regte sich's in ihr wie Heimweh nach einem schöneren Land.
Sie dachte an Italien, und ihr Geist träumte die Bilder sonniger Meeresbuchten, blühender Haine und weißer Statuen.
Daniel ging indessen gegen die Füll. Arbeiter kamen von der Vorstadt her, und in ihren müden Gesichtern wollte er seine Welt erkennen. Ach, seufzte es in ihm, ich möchte näher zu den Sternen, möchte verläßlichere Herzen kennen als auch meines ist.
Da leuchtete von Bendas Wohnung herab Bendas Fenster im Lampenlicht, und er schämte sich.
Als Lenore das erstemal Daniel besuchte, war es schon Abend. Sie hörte das Klavier und das durchdringende Krähen von Daniels Stimme von weitem. In der Tiefe des Flurs sah sie drei weiße Gestalten, eng aneinandergeschmiegt wie Hühner auf einer Stange.
[97] Es waren die Schwestern Rüdiger, die dem Schaffen des Künstlers lauschen wollten. Sie verstanden es so im niedern und im hohen Sinn, daß sie dem Schaffen lauschten. Als Lenore über dem Stiegenrand sichtbar wurde, erschraken sie und raschelten davon.
Die drei ältlichen Herzen mochten stürmisch klopfen. An diesem Abend hatten sie keine Lust mehr, Jasmine zuzuhören, an der die Reihe war, Rückerts Makamen vorzulesen.
»Es schickt sich nicht,« sagten sie immer wieder. Eine sagte es der andern, wenn sie an Lenores Kommen zu Daniel dachten: »Es schickt sich nicht.« Auch das Dienstmädchen Meta war dieser Ansicht.
Während Daniel weiterspielte und ihr bloß zunickte, fiel Lenores Blick sogleich auf die Maske der Zingarella. Sie trat hin und nahm die Maske vom Nagel an der Wand. Sie versenkte sich schweigend in den Anblick des Gebildes. Ihr Innerstes wurde berührt.
Daniel hatte sich indes vom Klavier erhoben, und ein lauter Zuruf von ihm ließ sie zusammenfahren. »In des Teufels Namen, was treiben Sie?« fuhr er sie ärgerlich an. Er nahm die Maske, die sie so leicht und bebend hielt, aus ihren Händen und hing sie mit zärtlicher Sorgfalt wieder an den Nagel.
Gleich schossen dem empfindlichen Kind die Tränen in die Augen, und sie kehrte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen. Daniel blieb mürrisch, hätte aber doch seine Grobheit gern wieder gut gemacht. Er brachte ein halbzerfetztes Buch herbei, das er wie ein Heiligtum behandelte, und erbot sich, es ihr zu leihen. Es war eine Übersetzung des schönen alten Romans Manon Lescaut.
Lenore stellte sich aber nun häufig nach Bureauschluß ein, blieb nicht lange, damit man zu Hause nicht unruhig würde, aber in der kurzen Zeit hatte sie doch immer etwas zu richten und zu ordnen, die Papiere auf dem Tisch, die Noten im Ständer.
[98] Sie lernte auch Benda kennen, und dieser gewann sie lieb. In ihrer Gegenwart wurde ihm wohl, und er begriff nicht, daß Daniel nicht ebenso empfand. Er schien gar keine Augen für Lenore zu haben. Glich er doch einem Menschen, der einen mit Eiern gefüllten Korb trägt und nur darauf achtet, daß ihm kein Ei herausfällt und zerbricht.
An manchen Abenden begleiteten die Freunde das Mädchen nach Hause. Daniel sprach immer von sich, und Benda hörte lächelnd zu, oder Benda sprach von Daniel, und Daniel hörte ernsthaft zu.
Die Leute sagten von Lenore: jetzt zieht sie schon mit Dreien herum, erst war's der Freiherr allein. Da wird man noch was erleben.
Hin und wieder fiel ein Fetzen des lumpigen Geredes auf Lenores Weg, aber sie ging arglos vorüber. Aus der gläsernen Kugel blickte sie kühl und heiter in die Welt, und sie wußte die Blicke der Verleumder nicht zu deuten.
Benda hätte Daniels Gesicht in der Finsternis zeichnen können: die runde Stirn, die spitzige, kleine, störrische Nase, den hart verkniffenen Mund, das eckige Musikantenkinn und die tiefen Gruben in den Wangen.
Er wußte nichts vom Musiker. Wie alle Gelehrten hatte er stets ein Mißtrauen gegen die übermächtigen Einflüsse der Kunst gehegt. Mit Ehrfurcht stand er vor den großen Werken, die im Gefühl der Generationen unantastbar und exemplarisch geworden sind, aber für die Schöpfungen der Mitlebenden fehlte ihm die Übung des Ohrs.
Daß es schwer war, zu verstehen und zu würdigen, war ihm bekannt; daß es bitter war, nicht verstanden und nicht gewürdigt zu werden, hatte er erfahren; daß alle Disziplinen [99] menschlicher Geistesarbeit ihre besondere opfervolle Hingabe fordern, bedurfte keines Beweises für ihn.
Der Musiker war ihm neu. Wie sah er ihn? Als einen blinden Menschen, der innerlich verbrannte. Als einen berauschten Menschen, der auf alle andern Menschen den Eindruck abstoßender Nüchternheit machte. Als einen Besessenen von einer höchst schauerlichen Einsamkeit, deren er sich nicht recht bewußt war. Als einen ungeschlachten Bauern mit den Nerven eines Entarteten.
Der Mann der Wissenschaft wollte im Musiker das Gesetz finden; eine Aufgabe, um daran zu verzweifeln. Und der Freund überschaute das Leben des Freundes; ließ im Geist die Gestalten vieler Jünglinge vorüberziehen, die er kennen gelernt hatte. Spähte nach Merkmalen der Gemeinsamkeit; suchte ein Gesetz, auch hier.
In einer Dämmerstunde las er in den Schriften des Philosophen Mainländer. Er legte das Buch beiseite und sagte zu sich selbst: die jungen Leute meiner Zeit zerfleischen sich, verwüsten sich. Welch eine grauenvolle Zeit! Regel und Maß sind verloren gegangen; jedes Vorbild wird Zerrbild; der Mensch ist völlig auf sich zurückgewiesen; die Flamme ist ohne Gefäß und droht die Hand zu verkohlen, die sie bändigen soll.
Da fand er in Daniel den Schicksalsbruder. Da wurde ihm die Musik Bruderqual. Als er den Freund zerfleischt, verwüstet sah, zuckte ihm aus dem Auge der Gorgo selbst die tiefste Erkenntnis entgegen. Sein eigenes Herz offenbarte er nicht.
In einer Nacht, als unendliche Gespräche sie ins Schweigen geführt hatten wie Schiffe, die vorm Wind in einen Hafen treiben, sagte Benda, an einen zornig-gepeinigten Ausruf Daniels anknüpfend, der am anderen Ufer dieses Schweigens erschallt war: »Man muß uneitel sein. Man darf sich niemals aus seiner inneren Aufgabe ein Vorrecht erhandeln. Man darf niemals vor dem eigenen Bild stehen bleiben. Es scheint mir, daß ein Künstler von erhabener Bescheidenheit sein muß. [100] Ohne diese Bescheidenheit, scheint mir, ist er nichts als ein mehr oder weniger wunderbares Luder.«
Daniel blickte rasch empor. Unter dem buschigen Schnurrbart Bendas waren die großen Zähne sichtbar. Er zog immer die Lippen auseinander, während er das eindringlichste Wort suchte.
Benda fuhr fort: »Schändlich ist zumeist alles, was ihr Talent nennt. Talent ist ein Flederwisch. Was von den Fingern ausgeht, ist vom Übel. Wer ein Ziel hat und dafür leiden kann, den brauchen wir. Und sonst, wie schön ist es doch! Droben ist der Himmel, unten ist die Erde, in der Mitte steht der unsterbliche Mensch.«
Daniel stand auf und reichte Benda die Hand. Es gab nichts Bezwingenderes als Bendas Händedruck. Seine Hand wurde zum Schraubstock, in dem er die fremde Hand schüttelte, bis sie kraftlos wurde. Dabei strahlten seine grauen Augen ein freudiges Wohlwollen aus.
Und sie tauschten das brüderliche Du.
Lenore brachte das Buch von Manon Lescaut zurück. Als Daniel fragte, wie es ihr gefallen habe, schwieg sie. Da er das Buch gern hatte, fing er an zu schelten.
Sie sagte: »Ich kann keine Bücher lesen, in denen so viel von Liebe die Rede ist.«
Er blickte vor sich nieder, um ihre Stimme verklingen zu lassen. Es war ein Geigenton in ihrer Stimme, dessen Zauber er sich nicht entziehen konnte. Als ihm zum Bewußtsein gekommen, was sie gesagt, lachte er kurz und meinte, das sei Ziererei. Sie schüttelte den Kopf. Da hänselte er sie wegen des Verkehrs mit dem jungen Auffenberg und fragte, ob ihr die Liebessachen auch in der Wirklichkeit so zuwider seien.
[101] Die Flammenbläue in ihren Augen zwang seinen Blick zur Erde. Die Erfahrung war ihm nicht angenehm, daß ihr Blick stärker war als der seine. Sie ging fort und ließ sich ein paar Tage nicht sehen.
Als sie wieder kam, war er einfältig genug, seinen Spott zu erneuern. Da setzte sie sich in die Sofaecke und blickte ihm forschend ins Gesicht. »Wollen wir Freunde bleiben, Daniel?« fragte sie.
Er sah sie verwundert von der Seite an; nicht etwa, weil er ihre Lieblichkeit und kraftvolle Anmut bemerkt hätte, sondern weil der Geigenton in ihrer Kehle noch tiefer und reiner klang. Aber ohne Lippenverziehen und ohne daß man die Hände in die Hosentasche steckte, war die Frage nicht zu bejahen.
Sie sagte, sie wolle sich nicht so wichtig vor ihm machen, daß sie verlange, anders als andere Mädchen von ihm betrachtet zu werden. Aber in einem Punkt wolle sie ihn bitten, ihr ein Vorrecht einzuräumen, eben um der Freundschaft willen. Er möge nicht über Liebe mit ihr sprechen, im Scherz nicht und im Ernst nicht. Es sei dieses Wort seit langen, langen Tagen für sie gleich einem Gespenst. Warum es so sei, das könne sie ihm nicht sagen, jetzt nicht, vielleicht später einmal, viel später, wenn sie beide alt geworden. Suche sie sich zu erinnern, suche sie das Halbvergessene festzuhalten, so werde alles matt und kalt in ihr, obwohl der andere vielleicht, der es zu wissen bekäme, es nicht begreifen würde. Aber es läge ihr im Blut so, und man möge sie schonen.
Ihr Gesicht drückte tiefen Ernst aus und glich einem alten Bild. Und in ihren Worten lag etwas von einem Traum.
»Wenn es sonst nichts ist, das kann ich Ihnen ruhig versprechen, Lenore,« sagte Daniel, und gerade in der Gutmütigkeit, die er jetzt zeigte, war etwas Fühlloses, als sei das Geheimnis, auf das sie bewegt hingedeutet, weit weg von seiner egoistisch beschlossenen Welt. Draußen im Garten plätscherte [102] die kleine Fontäne, und er horchte nach dem dominierenden Ton in dem Geplätscher.
Lenore wandte sich ihm nun mit ganz neuer Offenheit zu. Alles war jetzt ein wenig näher bei ihm, ihr Blick, ihre Hand und ihre Worte.
Daniel hatte eine Arbeit vollendet, ein Orchesterwerk, Vineta betitelt, und er wünschte, daß Benda die Komposition kennen lerne. Eines Abends um sechs Uhr kam Benda zu Daniel. Alles war vorbereitet, Daniel setzte sich ans Klavier. Sein Gesicht war blaß, seine glatte Oberlippe zuckte.
»Denk dir das Meer, denk einen Sturm, denk ein Boot mit Menschen, denk ein wunderbares Nordlicht am Himmel und eine versunkene Stadt, die emporsteigt, und das Meer wird ruhig, und im Licht ist eine Erscheinung, denk dir so etwas oder vielleicht was anderes, es ist ja doch falsch. Es ist Unzucht, sich was zu denken. Cis-moll.«
Er wollte beginnen, als es an der Tür klopfte und Lenore eintrat. Sie huschte still in ihre Sofaecke.
Das Stück fing mit einem rhythmisch ruhigen und klagenden Satz an, der sich plötzlich in ein tobendes Presto verwandelte, und die kaum zur Sammlung gediehene melodische Figur wurde zerfetzt wie eine Blumengirlande in einem Wassersturz. Dann flossen die nach allen Richtungen des Erdkreises auseinandergestobenen Elemente zögernd und reuevoll wieder in eine Kette, es schien, als habe sie der tolle Wirbel reicher, reiner und beseelter entlassen, und bei langsam abschwellendem, bis zu choralartig feierlicher Dehnung gemäßigtem Tempo verschmolzen sie wieder in das lieblich ernste Hauptthema, das dann mit einem arpeggierten Akkord in die Unendlichkeit hinüberströmte.
Wo das Instrument versagte, half er mit seiner Krähstimme [103] nach, und es war die unheimliche Energie des Ausdrucks, durch die er sie verhinderte, komisch zu wirken.
Bendas Augen waren in der Anstrengung des Zuhörens blicklos geworden. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob das Werk des Freundes ein gelungenes Werk sei. Was ihn überzeugte, war der Mensch, der vom Menschen ausstrahlende Magnetismus. Das Werk konnte er weder durchdringen, noch werten, es ergriff ihn aber in der Verbundenheit mit dem Phänomen des Menschen.
Daniel stand auf, taumelte gegen das Sofa, grub den Kopf in die Hände und ächzte: »Spürt ihr's denn? Spürt ihr's denn wirklich?« Er erhob sich wieder, stürzte mit zwei Schritten ans Klavier, packte die Notenblätter und warf sie auf den Boden. »Es ist ja nichts,« knirschte er, »eine elende Stümperei ist's.«
Damit warf er sich abermals hin. Lenore, in der andern Ecke des Sofas regungslos sitzend, schaute ihn mit den tiefstaunenden Augen eines Kindes an.
Benda hatte sich ans Fenster gestellt und sah in die blühenden Bäume und in den grauen Wolkenhimmel. Dann wandte er sich um. »Daß endlich etwas für dich und deine Sache geschehen muß, ist klar,« sagte er.
Lenore bewegte die Arme gegen Benda, als wollte sie ihm danken, und ihre Lippen öffneten sich halb. Als sie aber Daniel betrachtete, wagte sie es nicht, und auf einmal rief sie aus: »Mein Gott, da sind zwei Knöpfe an seiner Jacke, die hängen nur noch an einem Faden.« Und sie rannte aus dem Zimmer. Nach kurzer Weile kam sie mit Nadel und Zwirn zurück, die sie sich von Meta hatte geben lassen, setzte sich dicht an Daniels Seite und nähte die Knöpfe fest.
Benda mußte lächeln. Aber es lag in dem, was sie tat, eine wunderbare Beruhigung, als verhelfe sie dem Leben gegenüber allem Geisterspiel zu seinem Recht.
Aus früheren Zeiten kannte Benda den Theateragenten und Impresario Dörmaul. Zu Dörmaul ging er und brachte ihm Daniels Arbeit, denn der vielseitige und in viele Projekte verstrickte Emporkömmling verlegte auch musikalische Werke.
Es dauerte einige Wochen, bis ihn der Impresario wieder vor sich beschied. »Unverständliches Zeug, Originalitätshascherei,« lautete Dörmauls Urteil, »damit lockt man keinen Hund vom Ofen.«
Ein junger Mensch mit feuerroten Haaren folgte Benda aus dem Zimmer und redete ihn an. Er heiße Wurzelmann und sei selbst Musiker; er habe das Wiener Konservatorium besucht und sei von seinem dortigen Lehrer an Alexander Dörmaul empfohlen worden. Dieser gehe nämlich damit um, eine Wanderoper zu gründen, nämlich eine Truppe in Sold zu nehmen, die mit einem festen Repertoir von Spielopern durch die kleinen Städte der Provinz ziehen solle, und er werde erster Kapellmeister sein.
Er sprach im häßlichen Idiom der Juden des Ostens. Benda war in artiger Weise kalt.
Die Hauptsache kam zuletzt. »Vineta« hatte Wurzelmanns Begeisterung erweckt. Er hatte die Partitur heimlich gelesen. »Ein großes Talent, Herr Doktor, wie man es seit langem nicht erlebt hat,« sagte er.
»Was soll ich da von Herrn Dörmauls Urteil halten?« fragte Benda, weil er dem Anwesenden noch nicht recht traute und den Abwesenden gegen ihn in Schutz nehmen wollte.
»Kennen Sie Dörmaul nicht? Ich dachte, Sie kennen ihn. Wo er keine Autorität fürchtet, wird er kühn. Legen Sie ihm die neunte Symphonie ohne Titelblatt vor, und er erklärt sie Ihnen für Schund. Jede Wette.«
»Ach? ist das wirklich so?« fragte Benda bekümmert.
»Geben Sie mir die Partitur, und ich verspreche Ihnen, [105] daß ich die Leute dafür auf die Beine bringen will. Für so was muß man die Fanfare blasen.«
Benda besann sich eine Weile. Er hatte keine Neigung fürs Fanfarenblasen, und er glaubte auch nicht an die Treue derer, die das Blasen besorgten. Doch willigte er ein, da er sich nicht das Recht anmaßte, Daniel um eine Hoffnung zu verkürzen.
Es erwies sich, daß Wurzelmann nicht geflunkert hatte. Vierzehn Tage später erhielt Daniel die Nachricht, der Orchesterverein habe sich entschlossen, seine Komposition im Februar zur Aufführung zu bringen. Um der Zuhörerschaft ein reicheres Bild seines Schaffens zu geben, forderte man noch eine zweite Arbeit von ihm. Daran war kein Mangel. Vieles harrte der Vollendung.
Wurzelmann rühmte sich, den hochmögenden Herren die Türen eingerannt zu haben. Er hatte sich Gutachten der Musikprofessoren Wackerbarth und Herold verschafft, und das diplomatische Meisterstück hatte darin bestanden, daß er Andreas Döderlein als Dirigenten gewonnen hatte.
Er war unerschöpflich in Ratschlägen und voll von Plänen. Er sprach davon, daß bei der Wanderoper ein zweiter Kapellmeister notwendig sein werde, da er selbst mehr als stellvertretender Direktor zu amtieren habe. »Lassen Sie mich nur machen, lieber Nothafft,« sagte er, »Alexander Dörmaul muß tanzen, wie ich pfeife, und mein Pfiff lautet: Nothafft wird Kapellmeister oder keiner.«
Hatte er demütig begonnen, so endete er mit Vertraulichkeiten. Daniel haßte rothaarige Leute, besonders wenn sie entzündete Augen hatten und beim Sprechen speichelten.
»Er ist ein unappetitlicher Bursche, dein Wurzelmann,« sagte er zu Benda, »und daß ich ihm Dank schulde, ist hart. Et denkt, es schmeichelt mir, wenn er verächtlich von sich selber redet. Fußtritte verdient er.«
Benda schwieg. Von Wurzelmanns aufopfernden Bemühungen gerührt, hatte er ihn servule, das Knechtlein genannt. [106] Es war schön, daß einer da war, der die Blöcke aus dem Wege räumte, damit der Fuß des aus dem Dunkel Getretenen Platz zum Schreiten habe. Aber das Knechtlein war erfüllt von der Bewunderung des in Armut und Bedrückung geborenen Juden für den Genius der andern Rasse.
Benda wußte es. Ihm ekelte davor, weil es eine Tatsache war, die andern, nicht weniger lügnerischen Schwärmern als Stammeseigentümlichkeit galt.
Da nun der Sommer gekommen war, die heißen Augusttage, wanderten die beiden Freunde häufig vor die Stadt hinaus und in die Wälder gegen Feucht oder Fischbach, oder zum hohen Bühl.
An einem solchen Ausflug nahm auch Lenore teil. Es war sein, sie anzusehen, wenn sie den Duft der Blumen und der Nadelbäume, die Formen der Wolken und den Wechsel der Landschaft genoß. Da glich sie einem selig hingleitenden Vogel, der sich in den oberen Regionen vom Schmutz der unteren rein badet.
Mit verständiger Aufmerksamkeit lauschte sie den Gesprächen der Freunde. Ein leuchtender Blick, ein Hochründen der Brauen zeigte, daß sie Partei ergriff und Wort und Gegenwort sich in ihrem Sinn zurechtlegte. Wurde sie veranlaßt, eine Meinung zu äußern, so traf sie damit gewöhnlich den Nagel auf den Kopf.
Auf dem Heimweg brach die Nacht herein, der Himmel war ganz klar geworden, und die Sterne strahlten in großer Pracht. Es fielen Sternschnuppen, und Lenore meinte, so viel Wünsche habe sie gar nicht, wie sie jetzt äußern könne. Der gelehrte Benda erwiderte lächelnd, in diesen Augustnächten seien die Asteroidenschwärme unterwegs, da scheine oft das ganze [107] Firmament in lebendiger Bewegung, und man könne leicht vom Wünschen müde werden.
Lenore begehrte zu wissen, was Asteroiden seien, und er erklärte es ihr nach bestem Vermögen. Dann sprach er von den Sternbildern und von der Milchstraße und sagte ihr, daß diese aus Millionen einzelner Sterne bestehe. Er sprach auch von der Größe der Sterne, und da er sie bisweilen Sonnen oder Welten nannte, wurde sie stutzig und fragte, ob denn auch Erden darunter seien. Wie, Erden? Wie sie dies verstehe? Nun, solche Erden wie die, auf der sie selbst jetzt wandelte und lebte. Ohne Zweifel, wurde geantwortet. Und ob auf diesen Erden auch Bäume seien, Tiere seien? Dies sei wohl anzunehmen, auf vielen wenigstens. Und ob auch Menschen? Wahrscheinlich, lautete die Auskunft, weshalb sollte denn der unbedeutende Ball, der sie trage, einen Vorteil haben? Wenn nicht Menschen im irdischen Verstand, so doch Wesen mit Vernunft und Gefühl.
»Es können also solche Geschöpfe wie Sie und Daniel und ich da oben existieren?«
»Gewiß.«
»Und auf all den Sternen gibt es vielleicht zahllose Völker und Menschheiten, von denen wir nichts wissen, nichts ahnen?«
»Gewiß.«
Da setzte sich Lenore auf einen Meilenstein am Weg, schaute mit zuckenden Lippen vor sich hin und brach plötzlich in Tränen aus. Benda nahm ihre Hand und streichelte sie beruhigend.
»Sie tun mir alle so leid,« schluchzte Lenore, blickte hinauf und lächelte nun unter Tränen. Benda hätte am liebsten Daniels Arm gepackt und ihm zugerufen: nun schau sie dir doch mal an! Daniel schaute sie wohl an, aber er sah sie nicht.
An einem Abend im Oktober trat der Inspektor Jordan aus einem Haus in der Breitegasse, knöpfte frierend seinen Mantel zu und ging mit hastigen Schritten durch ein Verbindungsgäßchen, das so eng war, als seien die Häuser mit einem großen Messer durchschnitten worden, gegen die Karolinenstraße. Es war spät, und er hatte Hunger. Da ihm einfiel, daß Gertrud vielleicht nichts Warmes mehr für ihn zu essen hatte, ging er in eine Wirtschaft.
Zwei Stunden hatte er damit zugebracht, einen reichen Hopfenhändler zum Abschluß einer Versicherung zu bewegen. Der Mann hatte sich immer wieder die Vorteile erklären lassen, hatte immer wieder die Tabellen studiert und sich nicht entschließen können. Dann war ihm sein Abendessen aufgetragen worden. Da saß er, zufriedend schmatzend, und von der Serviette, die er um den dicken Nacken gebunden hatte, starrten zwei Zipfel rechts und links empor wie zwei lange, weiße Ohren. Es hatte den Inspektor in seinem sozialen Bewußtsein gekränkt, daß der Mann sich sogar die höfliche Phrase einer Einladung hatte ersparen zu können geglaubt.
In der kleinen Bierkneipe, in die der Inspektor trat, saßen einige Leute an einem Tisch, darunter der Friseur Bonengel, von dem Jordan erkannt und gegrüßt wurde. Er nahm im Hintergrund des Raumes Platz und bestellte bei der häßlichen und schmutzigen Kellnerin ein paar Würste mit Kraut.
Der Friseur erzählte unflätige Anekdoten; als die Kellnerin das Essen brachte, kicherte sie und sagte: »Das ist einer, der Bonengel, das ist einer.«
Der Inspektor begann hastig zu essen, aber unversehens verging ihm die Lust. Er schob den Teller beiseite, stützte den Kopf in die Hand und schaute still in die Rauchschwaden, die in der dicken Luft unbeweglich standen.
Ihm war, als könne er das Tagewerk nicht mehr vollbringen, [109] das er morgen und übermorgen und an all den weiterhin kommenden Tagen leisten sollte. Von einem Ende der Stadt bis zum andern rennen; immer dieselben hundertmal durchmessenen Straßen auf und ab; Stiegen hinauf und Stiegen hinunter! Immer wieder dieselben Fragen beantworten, dieselben Behauptungen aufstellen, dieselben Einwände widerlegen, täglich und immer wieder dieselbe Sache mit denselben Worten anpreisen, dasselbe Interesse heucheln, dasselbe Mißtrauen mit denselben Gründen bekämpfen, den Leuten immer wieder zur Last fallen und ihren häuslichen Frieden stören, und immer wieder zu neuer Anstrengung gepeitscht werden, immer wieder die Strafpredigten dieses nicht zu sättigenden, nicht zu rührenden Aktien-Ungeheuers und seines Statthalters Diruf anhören zu müssen, wahrlich, es war nicht mehr zu ertragen, es ging wider die Würde eines Mannes von seinen Jahren.
Er schämte sich vor sich selbst. Er war furchtbar müde.
Er gedachte seines vergangenen Lebens. Wie er sich aus der Armut seiner Jugend emporgearbeitet hatte, und es ihm gelungen war, ein geachteter Kaufmann zu werden. Das war in Ulm gewesen, und da hatte er die blonde Agnes geheiratet, die Lokomotivführerstochter.
Aber weshalb war er nicht zu Wohlstand gekommen? Viele, die ihm nachstanden an Klugheit, an Fleiß und an Manierlichkeit, waren vermögliche Leute geworden, nur er nicht. Dreimal hatte der Bankrott gedroht, dreimal hatten ihn Freunde gerettet. Dann hatte sich ihm ein Gesellschafter angetragen, war mit einigem Kapital in die Firma eingetreten, und das Geschäft war wieder flott gegangen.
Doch zeigte es sich, daß dieser Mensch keine Treue und kein Gewissen hatte. »Jordan ist mein Hemmschuh,« sagte er zu den Kunden, »Jordan versteht nichts, Jordan kann nicht rechnen.« Und der Gesellschafter ruhte nicht eher, als bis Jordan mit einer Abfindungssumme die Firma verlassen hatte.
[110] Dann hatte er sich da versucht und dort versucht, acht oder neun Jahre lang. »Sorg dich nicht, Jordan,« hatte Agnes gesagt, »es wird schon werden.« Aber es wurde nicht. Was er auch anpacken mochte, es war am falschen Ende angepackt, zur unrechten Stunde, mit unrechten Leuten.
Es konnte nicht werden. Nicht nur, weil seine Hand zu schwer war, und vielleicht auch sein Sinn zu redlich, sondern weil er sich von einer Schimäre hatte narren lassen.
Von frühen Jahren an hatte er einen Traum gehegt, und alle seine Unternehmungen hatten darauf hingezielt, den Traum wirklich zu machen. Es war unmöglich gewesen; er hatte nie so viel Geld erübrigen können. Und wenn er den Lieblingswunsch mit Agnes besprochen hatte, wenn er geschwärmt hatte von der Zeit, wo er seinem eigentlichen Beruf würde leben können, hatte sie ihn ermutigt und mit ihm die Wege beraten. Aber es schien ihm jetzt, als hätte sie immer gewußt, daß er bloß träumte und hätte großmütig darauf verzichtet, ihn aus dem Traum zu wecken.
Von frühen Jahren an war sein Gedanke gewesen, eine Puppenfabrik zu bauen. Weshalb nun gerade eine Puppenfabrik? Hielt er es für besonders ersprießlich, Puppen zu machen? Glaubte er damit besondere Ehren, besonderen Reichtum zu gewinnen? Keineswegs. Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum er gerade dieses erstrebte.
Es hatte ihn stets bedünken wollen, als ob die Welt der Puppen eine für sich bestehende Welt sei. Es hatte etwas Zauberisches für ihn gehabt, wenn er sich ausmalen konnte, welche Gesichter, welche Kleider, welche Haare er für die verschieden gestalteten, großen und kleinen Puppen erfinden würde. Puppen von mannigfachem Reiz bevölkerten seine Phantasie; Fürstinnen und Priesterinnen, Fischerinnen und Meerjungfrauen; Schäfer und Schäferinnen; Kasperle und lustige Teufel; solche mit Köpfen aus Porzellan und andere mit Köpfen aus Wachs, bei denen die Farbe des Lebens bis [111] zur Vollendung nachgeahmt werden konnte, und die echte Menschenhaare hatten; solche, die die Trachten fremder Völkerschaften trugen, und andere, die wie Märchenfiguren gekleidet waren, Feen und Gnomen, ein Aladdin, ein Harun al Raschid, ein morgenländischer Derwisch.
Als er zum letztenmal seinen Wohnort gewechselt hatte, war seine Wahl auf Nürnberg gefallen, weil es ihn dorthin zog, wo die Puppenindustrie in ihrer Blüte stand.
Dann war Agnes gestorben, die drei Kinder waren ihm geblieben, und für die mußte er arbeiten. Für sich selbst durfte er jetzt kein Glück und Gelingen mehr hoffen, und da war die Puppenfabrik ganz und gar Schimäre geworden. Nur noch ein Ziel hatte er, nämlich für jede seiner Töchter zehntausend Mark zurück zulegen, damit sie gegen die ärgste Not gesichert seien, wenn er einmal nicht mehr war. Der Junge, der konnte sich selber helfen.
Aber bis zum heutigen Tag hatte er kaum die Hälfte dieser Summe auf die Bank geben können. Und wenn er nun um seine Stelle kam, wenn die Gebrechlichkeit des Alters ihn hinderte, das Brot zu verdienen, wenn er schließlich gezwungen wurde, die Ersparnisse anzugreifen, die er in so vielen Jahren und unter so vielen Entbehrungen gesammelt hatte, wie sollte er dann den Mädchen gegenübertreten, was für ein Lebensabend stand ihm dann bevor?
»Der Schlack hatte sich aber im Keller verkrochen, und als ihm die Frau seine Hosen bringen wollte, waren sie ins Mehlfaß gefallen,« erzählte der Friseur Bonengel.
Die Zuhörer meckerten, die Kellnerin kreischte.
Auf dem Nachhauseweg hörte der Inspektor durch das Pfeifen des Windes hindurch noch immer die dem Klappern einer Schere ähnliche Stimme des Friseurs.
Es war ihm jedes Mal unbehaglich, bei Nacht die Treppe des schmalen, alten Hauses hinaufzusteigen. Das Holz krachte, als ob es brechen wollte, auch schien es ihm bisweilen, als kämen [112] ihm blinde Menschen entgegen. Im ersten Stock wohnte nämlich ein Augenarzt, und er hatte oft Blinde gesehen.
Auf dem Tisch seines Zimmers lag ein Brief. Der Umschlag trug den Vordruck: Generalagentur der Prudentia. Er ging eine Weile auf und ab, ehe er die Hülle zerriß. Es war die Kündigung seines Postens.
Um jene Zeit wuchs Friedrich Bendas Verstimmung. Er sah, daß er als Privatmann sich der Hilfsmittel begeben mußte, deren er für seinen Forscherberuf bedurfte, und es schien ihm, als sei er verurteilt, seine Fähigkeiten in ewiger Dunkelheit zu begraben.
Er brach die meisten seiner bisherigen Beziehungen ab, auch die brieflichen. Wenn ihn Bekannte grüßten, blickte er zur Seite. Sein Ehrgefühl war aufs tiefste verwundet, er war auf dem Weg, auf dem man die Selbstachtung verliert.
Daniel war der einzige Mensch, der davon nichts bemerkte. Vielleicht hatte er sich in den Gedanken eingelebt, Bendas Existenz sei eine freundlich geregelte, und es genügte ihm der Anblick, den die bürgerliche Wohlhabenheit des Hausstandes bot, um ihn an ein sorgenloses Dasein des Freundes glauben zu lassen; jedenfalls fragte er nie, und es fiel ihm nicht auf, wenn der Gefährte so vieler Stunden mit umdüstertem Antlitz vor ihm saß.
Benda lächelte über diese Unschuld, denn für etwas Schlimmeres nahm er es nicht. Weit entfernt, bitter darüber zu denken, faßte er den Vorsatz, den so tief in sich selbst webenden Menschen mit seinen Angelegenheiten gänzlich zu verschonen. Er konnte aber nicht hindern, daß sein Schmerz, wie auch das Verlangen, seine unwürdige Lage zu beenden, die Schranken der Zurückhaltung bisweilen durchbrachen.
[113] An einem trüben Tag, spätnachmittags, holte Benda den Freund ab, der eben von einer Unterrichtsstunde nach Hause gekommen war. Sie beschlossen, ein wenig spazieren zu gehen und dann bei Benda zu Abend zu essen.
Im Flur begegneten ihnen die Schwestern Rüdiger, die von ihrer täglichen Wanderung durch den Garten zurückkehrten. Benda grüßte mit seiner altertümlichen Artigkeit, Daniel berührte mürrisch kaum den Hutrand. Die Schwestern stellten sich in einer Reihe auf wie beim Kotillon und dankten holdselig. Fräulein Jasmine ließ eine verspätete Rose aus der Hand fallen, und als Benda die Rose aufhob, preßte das Fräulein die Hand gegen den kaum der Rede werten Busen und dankte abermals holdselig.
Als sie auf der Straße waren, sagte Benda in mitleidigem Ton: »Drei zarte Wesen; hausen in ihrer Einsamkeit als rechte Vestalinnen und hüten ein heiliges Feuer.«
Daniel lachte. »Ein heiliges Feuer gar? Meinst du die Geschichte mit dem Maler?«
»Ja, die mein ich, und es war kein gewöhnlicher Maler, mußt du wissen. Erst kürzlich hab ich mir die ganze Sache erzählen lassen. Anselm Feuerbach hieß der Maler.«
Daniel wußte nichts von Anselm Feuerbach, empfand aber das Inhaltsvolle eines Namens, der kraft einer geheimnisvollen Magie wie eine schöne Glocke an sein Ohr schlug. »Was war es denn mit ihm?« fragte er.
Die Geschichte lautete wie folgt: Als Anselm Feuerbach vier Jahre vor seinem Tod, vor sechs Jahren also, zum letztenmal nach Nürnberg kam, um seine Mutter zu besuchen, da kränkelte er schon an Körper und Gemüt und war der Menschen satt, war von ewiger Plage und Mißkennung verstört. Aber einige Bürger erinnerten sich seines Ruhms, der in der deutschen Luft dunkel und heimatlos schwebte, und die Handelskammer bestellte bei ihm ein Bild für ihren Sitzungssaal im neuen Justizpalast. Er malte das Bild, den Kaiser [114] Ludwig, wie er den Nürnbergern das Privilegium für freies Gewerbe erteilt. Als nun das Bild fertig war, zeigten sich die Herren sehr unzufrieden, denn sie hatten etwas ganz anderes erwartet, irgendeine öde Krelingsche Schilderei, und nicht so ein vornehmes und reines Werk. Zudem war der Raum knapp, eine Handbreit Leinwand mußte in die Mauer gelassen werden, und das Licht war ganz elend. Da machte die Kammer Schwierigkeiten mit der Bezahlung, in dem häßlichen Streit ergriff der Geometer Rüdiger, der längst schon ein leidenschaftlicher Anhänger Feuerbachs war, die Partei des Malers, und es kam so weit, daß er die Stadt mit dem Schwur verließ, nie mehr zurückzukehren. Seine Töchter aber hatten alle drei den Meister Anselm seit ihrer frühesten Jugend geliebt, wo er als Gast im Hause des Vaters geweilt hatte.
»Freilich, wenn irgendein Mann liebenswert gewesen ist, so war er es,« endete Benda die Geschichte. »Willst du ihn sehen? So komm.«
Sie befanden sich in der Nähe des Johanniskirchhofs. Das Tor war noch offen, und Daniel folgte dem voranschreitenden Benda. Der wanderte eine Weile auf den schmalen Gräberpfaden, deutete stumm auf einen flachen Stein, auf welchem der Name Albrecht Dürers zu lesen war, und dann standen sie an Feuerbachs Grab. Eine schon geschwärzte Bronzeplatte zeigte den Kopf des Malers im Profil. Ein Lorbeerkranz lag darunter, dessen halb verwelkte Blätter im sachten Wind bebten.
»Was für ein Leben hat der Mann geführt!« sagte Benda leise; »und was für einen Tod ist er gestorben! Den Tod eines hinausgejagten Hundes.«
Als sie gegen die Stadt gingen, dämmerte es. Daniel hatte den Hut vom Kopf genommen und schritt mit fernhin gerichtetem Blick an Bendas Seite. Dieser aber war aufgewühlt wie selten.
»Ein deutsches Leben, ein deutscher Tod,« stieß er hervor. [115] »Er streckt die Hand aus, um zu geben, und es wird ihm hineingespuckt. Er gibt und gibt und gibt, und sie nehmen, nehmen, nehmen, ohne Dank, ja, mit Hohn. Sie achten nur die Vetternschaft, sie verkuppeln das Mikroskop mit dem Katechismus und die Philosophie mit der Polizei. Ohne jeden Anstand, ohne humane Übereinkunft; sie beschließen es, sie tun es. Es ist für mich kein Platz in Deutschland mehr. Ich gehe.«
»Du gehst? Wohin gehst du?« fragte Daniel treuherzig erstaunt. Benda biß sich auf die Lippen und schwieg.
Sie waren zur Füll gekommen. Als sie in Bendas Arbeitszimmer traten, brachte dieser einen mächtigen Atlas herbei, schlug die Karte von Afrika auf und deutete in die Mitte des Erdteils.
»Siehst du die großen weißen Flecken hier? Da ist weder Fluß noch Berg eingezeichnet. Es sind Gebiete, die noch keines Europäers Fuß betreten hat. Dorthin geh ich.« Er lächelte sanft.
»Wirklich? wann denn?« fragte Daniel, voll Unbehagen darüber, daß er den Freund verlieren sollte.
»Es ist noch unbestimmt, aber es wird sein. Dort habe ich zu tun. Ich brauche Luft, Erde, Himmel, das freie Tier und die freie Pflanze.«
Auf der Schwelle des Zimmers erschien Bendas Mutter, eine ziemlich große, gebrechlich gehende Frau mit scharfen Zügen und tiefliegenden Augen.
Sie schaute ihren Sohn an, sodann Daniel, zuletzt fielen ihre Blicke auf den Atlas und blieben darauf ruhen mit einem Ausdruck des Grauens und der Angst.
Daniel wußte nichts mehr zu sagen, und Benda, immer still in sich hineinlächelnd, fing von andern Dingen zu sprechen an.
Beim Tode ihrer Mutter war Gertrud Jordan neun Jahre alt gewesen. In der Nacht war sie in das Sterbezimmer geschlichen und hatte drei Stunden am Lager der Toten zugebracht. Vielleicht war es seit jener Nacht, daß sie sich der Welt und den Menschen verschlossen hatte. Als sie von dannen ging, hob die Uhr zum Schlag aus, und in der Ferne krähte ein Hahn.
Warum tickst du, Uhr? fragte sie laut, warum krähst du, Hahn? Und wieder: wer läßt dich ticken, Uhr, wer läßt dich krähen, Hahn?
Sie wuchs auf, und niemand wußte eigentlich etwas von ihr. Selbst ihr Vater konnte ihr nicht nahe kommen und wußte nicht, wie sie in ihrem Innern beschaffen war. Sie verkehrte nicht mit Altersgenossinnen. Ihr dunkler Blick erglühte zornig, wenn sie das sinnlich-sinnlose Gelächter der Mädchen vernahm.
Bei der ersten Kommunion stürzte sie zusammen und wurde ohnmächtig weggetragen. Jordan brachte sie nach Pommersfelden zu seiner Schwester, der Bezirksarztenswitwe Kupferschmied. Nach einer Woche kehrte sie allein zurück und in zerrütteter Gemütsverfassung. Sie hatte zugesehen, wie ein Kalb geschlachtet worden war. Dieser Anblick hatte sie beinahe wahnsinnig gemacht.
Von ihrem fünfzehnten Jahr an hatte sie es durchgesetzt, daß sie eine eigene Kammer zum Schlafen erhielt. Als sie sechzehn alt war, begehrte sie, daß die Magd entlassen werde, und nun kochte sie selbst und führte die Wirtschaft. War sie mit den häuslichen Arbeiten fertig, so setzte sie sich an ihren Stickrahmen.
Benjamin Dorn war durch ihren Vater ins Haus gekommen. Daß Lenore sich über ihn lustig machte, nahm sie für ihn ein. Er erschien ihr nicht als Mann, er erinnerte sie an die schmächtigen [117] Engel, die sie stickte. Er brachte ihr seine Traktate und Erbauungsschriften, aber sie verstand die Sprache nicht. Dann führte er sie zu den Zusammenkünften der Methodisten, aber die geräuschvolle Zerknirschung ängstigte sie, und nach wenigen Malen war sie nicht mehr zu bewegen, hinzugehen. Er empfahl ihr das Lesen der Bibel, aber sie vermochte auch in der Bibel nichts zu finden, was sie hätte beruhigen können. Ihr war es, als habe sie eine Wunde in ihrem Innern, die beständig blutete und sich niemals schloß. Als sie sich längst von Benjamin Dorn und seiner billigen Frömmigkeit abgewandt hatte, war dieser noch immer der Meinung, sie habe acht auf ihn und schaue zu ihm empor. Doch wußte sie es einzurichten, daß er nur selten mit ihr sprechen konnte.
Der Gottesdienst in der protestantischen Kirche erschien ihr wie eine Versammlung von Händlern, die, anstatt wie an Wochentagen untereinander, an Sonntagen mit dem Himmel ein Geschäft abschließen. Sie vermißte die Würde, bei den Predigten wurde sie nicht warm, die Zeremonien stimmten sie nicht andächtig.
Nirgends und von keinem Menschen vernahm sie ein nachhallendes, ein erleuchtendes Wort. Es war die Nüchternheit einer ganzen Zeit, die sie bis in die Adern hinein spürte, die Verflachung einer ganzen Welt. Und wenn sie ihr Herz wärmen wollte, wenn sie sich fürchtete vor der öden Luft und dem öden Tag, ging sie heimlich in die Frauenkirche oder in die Sankt Josephskirche, wo man den Raum Gottes feierlicher schmückte, wo viele Lichter angezündet waren, die Gebete geheimnisvoller klangen, der Priester ergriffener schien, der Andächtige schaudern konnte.
Und doch haßte sie alles äußerlich Schöne, haßte sogar die schöne Natur als ein den Menschen zur Verlockung und zur Betörung Hingesetztes. Liebte auch nichts an ihrer eigenen Person, weder ihr Gesicht, noch ihre Stimme; erschreckend war ihr die eigene tiefe Stimme; weder ihre Haare, noch ihre Hände.
[118] An einem Winterabend warf sie einen goldenen Ring, der aus dem Nachlaß der Mutter stammte, und den ihr der Vater gegeben hatte, in den Brunnenschacht. Dann beugte sie sich hinüber und sah in die Finsternis hinab wie von einer Bürde befreit.
Oftmals wollte Lenore der Schwester vertrauend nahen und fühlte sich immer zurückgestoßen. Wenn auch Gertrud wenig mit Menschen sprach, so gelangte doch alles Gerede zu ihr, das über Lenore ging, und sie schämte sich für die Schwester. Sie mochte Lenore nicht mehr anschauen, sie faßte einen Widerwillen gegen sie und konnte sich kaum entschließen, ihr den Gruß zurückzugeben. Der Verirrten Vorhaltungen zu machen, dazu fehlte ihr das Wort, sie war des Wortes nur in geringem Grade mächtig, sie mußte alles in sich hineinwürgen, Unrecht und Schmerz. So härmte sie sich um Lenores willen und wurde zugleich immer erregter und wilder, als locke sie etwas am Tun der Schwester, und sie konnte häufig keinen Schlaf finden.
Ihre Unruhe war so groß, daß sie nicht lange mehr am Stickrahmen sitzen blieb und überhaupt keine Arbeit mehr richtig zu Ende brachte. Es trieb sie hinaus, und war sie draußen, so trieb es sie wieder heim. Das Herz klopfte ihr, wenn sie allein im Zimmer war, und war der Vater oder der Bruder oder Lenore da, so hielt sie deren Gegenwart nicht aus und flüchtete in ihre Kammer. Wenn es heiß war, schloß sie die Fenster, wenn es kalt war, lehnte sie sich hinaus. Wenn es still war, wurde ihr bange, wenn es laut war, sehnte sie sich nach Ruhe. Sie hatte kein Gebet, es war alles so dumpf in ihr, sie spürte die Verkettungen der Stunde als etwas Grausames, sie wünschte Jahre überschlagen zu können, wie man viele Seiten eines quälenden Buches überschlägt, und wußte sie keinen Ausweg mehr, so eilte sie in die Frauenkirche und warf sich vor den Altar hin und blieb regungslos, das Gesicht verhüllt, bis die Seele wieder stiller war.
Es drängte sie zu Lenore hin, sie konnte sich nicht dagegen [119] wehren, nicht bloß, weil sie wachsam sein und Unheil verhüten wollte; es war etwas Schauriges, eine grauenvolle Neugier, und bisweilen folgte sie der Schwester heimlich und sah einmal von ferne, daß sie mit einem Manne ging, der auf sie gewartet hatte. Da vermochte sie sich nicht mehr von der Stelle zu rühren, und Lenore gewahrte sie.
Am andern Tag aber kam Lenore von selbst zu ihr und sprach mit anmutiger Offenheit über ihre Beziehung zu Eberhard von Auffenberg. Was sie von seinem Schicksal wußte, darüber schwieg sie; sie deutete nur an, daß er sehr unglücklich sei. Sie erzählte, wie sie ihn im vorigen Winter beim Eisfest auf dem Dutzendteich kennen gelernt; wie er an ihr hänge, wie zart und rücksichtsvoll er sich stets gegen sie betragen habe, wie gern sie ihm Freundschaft erweise und wie sehr er ihrer Freundschaft bedürftig sei.
Darauf schwieg Gertrud lange, endlich sagte sie mit jener tiefen Stimme, die klang, als ob sie aus Fülle geborsten wäre: »Entweder müßt ihr heiraten, oder ihr dürft euch nicht mehr sehen. Was du tust, ist ein Verbrechen.«
»Ein Verbrechen?« erwiderte Lenore erstaunt; »wieso denn?«
»Frag nur dein Gewissen,« war die mit gesenkten Augen gegebene Antwort.
»Mein Gewissen ist aber ganz ruhig.«
»Dann hast du eben keins,« sagte Gertrud hart. »Du lügst und läßt dich belügen. Du bist in der Schlechtigkeit drinnen, da ist keine Rettung. Wie die unreinen Blicke von dem Mann und seine häßlichen Gedanken und die von den andern an dir sind! Du bist ja über und über befleckt. Du weißt es ja nicht, ich aber weiß es.«
Sie stand auf, wobei sie den Stuhl geräuschvoll mit den Kniekehlen zurückstieß und schaute Lenore mit ihren unheimlichen, schwarzen Augen an. »Sprich mir nie wieder davon,« flüsterte sie mit zitternden Lippen, »nie wieder.« Damit ging sie hinaus.
[120] Da empfand Lenore etwas wie Abscheu vor der Schwester. Von einer geheimnisvollen Ahnung bewegt, spürte sie in Gertrud die ihr vom Schicksal bestimmte Widersacherin.
Als der Herbst anfing, kalt zu werden, kam Daniel wieder häufig zu Jordans hinauf. Obwohl er nun zu Hause selbst einen warmen Ofen hatte, erinnerte er sich gern des gemütlichen Winkels vom vorigen Jahr. Er besaß eine Anhänglichkeit für Dinge und Räume, die größer war als die für Menschen.
Den Inspektor traf er nur selten, der war jetzt immer unterwegs, da er ohne feste Stellung für verschiedene Gesellschaften tätig war; Benno kam nach den Bureaustunden bloß heim, um sich in seinem Zimmer zu rasieren und für den Abend so elegant wie möglich zu machen. Mit Gertrud wollte er nicht allein sein, deshalb stellte er sich gewöhnlich erst nach sechs Uhr ein, wenn Lenore schon zu Hause war. Da er wußte, daß Lenore seit einiger Zeit eifrig Französisch und Englisch lernte und diese Abendstunden ihr unentbehrlich waren, bat er sie, sich nicht stören zu lassen. Er behauptete, er finde es am angenehmsten, ruhig sitzen zu können und nicht sprechen zu müssen. Nach einer Stunde oder nach zweien ging er mit einem undeutlich gemurmelten Gruß wieder fort.
Bisweilen hatte er ein Buch mit und las. Erhob er den Blick, so sah er die über das Schreibheft gebeugte Gestalt Lenores, ihre vom Lampenlicht goldig durchleuchteten Haare, die über dem Scheitel und an den Schläfen noch in feinen Fäden blitzten, und den entschlossen verpreßten Mund mit den lieblich hinabgebogenen Ecken. Dann sah er Gertrud, die jetzt die Haare nicht mehr lose trug, sondern in einem dichten Knoten über dem Nacken, auch kein grünes Kleid[121] mehr, sondern ein braunes, welches vorne eine Reihe großer, glänzend schwarzer Knöpfe hatte.
Manchmal flog ein Wort von Lenore zu ihm, und er erwiderte es; manchmal spann sich das eine Wort zu einem Geplänkel aus. Lenore hänselte, und er war grob; oder er spottete, und Lenore hielt eine kleine Strafpredigt. Da hatte Gertrud einen ratlos staunenden Blick, und sie kehrte das Gesicht gegen die Fensterscheibe. Mit Absicht blieb sie unbeschäftigt, mit Absicht verschob sie ihre häuslichen Obliegenheiten; der Gedanke, daß die beiden allein im Zimmer weilten, war ihr unerträglich.
Was Daniel tat und sagte, ja sogar, wie er ging und saß und stand, wie er die Hände in die Hosentaschen steckte und die Lippen fletschte, alles das erregte Furcht und Scham in ihr. Sie fühlte sich beleidigt durch jede seiner Gebärden. Seine Freimütigkeit erschien ihr als freche Anmaßung, seine Launenhaftigkeit als böswillige Unvernunft, seine nachlässigen Manieren und seine Schmähsucht wie der Hohn eines Teufels.
Da geschah es, daß er einmal eine gallige Bemerkung über die Mucker fallen ließ, die den lieben Gott für einen Sittenwächter und jeden angefressenen Pfarrherrn für einen Erzengel nehmen. Mit einem Ruck erhob sich Gertrud und starrte ihn an. Er hielt dem Blick stand und zuckte die Achseln. »Menschen ohne Glauben sind schlimmer als ansteckende Krankheiten,« flüsterte sie.
Daniel lachte. Dann verfinsterte sich sein Gesicht, und er fragte, was sie denn Glauben nenne? Ob sie der Meinung sei, daß der Glaube im Lippendienst bestehe? Sie antwortete mit geducktem Kopf, sie könne über das, was ihr heilig sei, nicht mit jemand reden, der sich von aller Religion losgesagt habe. Da flammte Daniel auf und nannte ihre Reden lästerlich; ob sie sich wohl schon irgendwelche Mühe mit ihm gegeben habe, daß sie mit ihrem Urteil so rasch fertig geworden sei? Und ob sie denn so genau wisse, ob ihr sogenannter Glaube [122] etwas Besseres sei als sein sogenannter Unglaube? Woher sie denn das Maß nehme und den Mut und die Sicherheit? Und ob sie sein Inneres kenne, und ob sie beim lieben Gott Audienz gehabt habe?
Er lachte wieder, pfiff dann und ging fort.
Gertrud blieb eine Weile stehen und schaute zu Boden. Lenore hatte das Kinn auf die Hand gestützt und sah sie mitleidig an. Plötzlich begann Gertrud am ganzen Leib zu zittern und streckte, ohne den Blick zu heben, ihren Arm gegen Lenore aus. Lenore erschrak, aber sie wußte nicht, was diese anschuldigende Bewegung zu bedeuten hatte.
Und das nächstemal, als Daniel auf seinem Ofenplatz saß, fing er, aus tiefem Schweigen heraus, auf einmal an, über Religion zu sprechen. In vorgesetztem Trotz; wie aus einem Hinterhalt, aus dem man Pfeile sendet; mit berechneter Bosheit und kalter Auflehnung; als ein Geschlagener und Gejagter, einer, der der himmlischen Regierung noch weniger vorgibt als der irdischen. So saß er da, eine leibhaftige Blasphemie, und hatte wieder sein Affengesicht.
Doch Lenore fühlte, daß er sich und seinen Gott verleugnete, und zwar mit viel Gewalt. Sie trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter; derweil schritt Gertrud mit leichenblasser Miene an ihr und Daniel vorüber und zeigte sich an diesem Abend nicht mehr. An diesem nicht und an den folgenden nicht. Sie mied jetzt seine Gegenwart.
In einer höchst wunderlichen Sekunde, nicht länger hatte es gedauert, war Daniels Blick, indes sich das Mädchen erhob, auf dem Umriß ihrer Beine heften geblieben. In dieser Sekunde wurde ihm bewußt, daß sie ein Weib war, und er ein Mann. In dieser Sekunde nahm er das Äußere ihres Körpers wahr, aber ohne die verkleidende Hülle. Ja, er dachte sie nackt; eine einzige Sekunde lang, aber er dachte sie nackt; und alles, was sie gesprochen hatte, wie auch alles, was sie tat und sagte, fiel als Kleiderhülle von ihr ab.
[123] Da war es ihm, als könne er zum ersten Male sehen, und als sehe er den Körper der Welt.
Ihr Bild folgte ihm nach; er sträubte sich gegen die Beunruhigung. Es war ihm dergleichen noch nie passiert; er rief das Bild auf, um es mit kühlem Sinn zu zerstören, es wich nicht, und als er Gertrud eines Tages beim schönen Brunnen begegnete, blieb er wie versteinert stehen und vergaß zu grüßen.
Es war Mitte Dezember, ein klarer Frosttag. Lenore wäre nach Tisch gerne aufs Eis gegangen. Sie war eine treffliche Schlittschuhläuferin und in der ganzen Stadt dafür berühmt. Eine unbezähmbare Lebens- und Freiheitslust durchpulste ihren Körper; es dünkte sie jämmerlich, daß sie sich in der stickigen Ofenluft sollte zu den Schreibern setzen und schreiben.
Indessen ging sie hin und schrieb wie täglich bei den Schreibern, und die Augen des Herrn Zittel hinter den Brillengläsern erschienen ihr wie zwei grüne Giftfläschchen. Es gelang ihr die Arbeit nicht, träg schlich die Zeit hin, träger noch als Herr Diruf durch die Säle. Lenore hob den Kopf, ihr war, als ruhe sein finsterer Blick auf ihr, und im Bewußtsein ihrer Pflichtversäumnis errötete sie.
Endlich schlug es sechs, lärmend standen die Schreiber auf, doch Lenore wartete wie immer, bis es leer war, denn sie liebte es nicht, sich unter sie zu mischen. Da humpelte Benjamin Dorn herein. »Fräulein Jordan soll zum Chef kommen,« rief er und bog den langen Hals wie ein Schwan. Lenore wunderte sich; es gab nichts, was zwischen ihr und Herrn Diruf zu besprechen war. Vielleicht ist es Bennos wegen, dachte sie.
Alfons Diruf saß an seinem Schreibtisch, als sie eintrat. Er schrieb noch eine Zeile, dann richtete er den Blick starr auf [124] sie. Es war etwas in diesem Blick, was ihr das Blut aus den Wangen trieb. Unwillkürlich schaute sie an sich herab und spürte ihre Haut.
»Sie haben mich rufen lassen,« sagte sie.
»Ja, ich habe Sie rufen lassen,« sagte Herr Diruf und machte einen müden Versuch, zu lächeln.
Es entstand wieder eine Pause. Beunruhigt blickte Lenore von einem Gegenstand zum andern, bald auf die badende Nymphe an der Wand, bald auf die Vorhänge aus Damast, bald auf den chinesischen Lampenschirm.
»Nun, Schätzchen,« sagte Herr Diruf, und aus dem Lächeln wurde eine Art von Krampf; »wir sind nicht übel; beim Bart des Propheten; wir haben alles an der rechten Stelle. He?«
Lenore warf den Kopf auf. Sie glaubte nicht gut gehört zu haben. »Sie haben mich rufen lassen,« wiederholte sie mit lauter Stimme.
Diruf legte die flache Hand auf den Bord des Schreibtischs. Der Solitär schleuderte Funken. »Ich kann euch alle zertrümmern,« sagte er und schob die Hand ein wenig nach vorwärts, gegen Lenore hin. »Das Bürschchen da draußen, Ihr Bruder, ist ein heimlicher Filou. Ich kann ihn über sich selber purzeln lassen, wenn ich will.« Er schob die fette Hand abermals ein Stück vorwärts, als wäre sie eine gefährliche Maschine und der Solitär eine zur Warnung daran befestigte Laterne. »Ich kann euch alle tanzen lassen, sobald es mir beliebt. He, Schätzchen?Capito? Comprenez-vous?«
Mit einem namenlosen Erstaunen blickte Lenore in Alfons Dirufs Pflaumenaugen.
Da erhob sich Diruf, trat an ihre Seite und legte den Arm um ihre Schultern. »Ist jener ein genäschiger Kater, den man vom Weg locken kann, so sei du eine schnurrende Miezekatz,« sagte er mit einer gräßlichen Zärtlichkeit in der Stimme und hielt zugleich Lenore so fest, daß sie sich minutenlang [125] nicht rühren konnte. »Ruhig, Schätzchen! Ruhig, mein kleiner Busen! Ruhig, du Satan!«
Aber da rieselte ihr der heiße und kalte Schauder bis ins Mark; die Berührung wirkte auf sie wie etwas Ungeheures, in schwersten Träumen nie so schrecklich Geahntes; ein Ruck, als gelte es alles, Leib und Leben, und sie war frei. Mit einem Gesicht, das weiß flammte, stand sie da und lächelte dennoch; ein seltsames Lächeln war es, ganz außerhalb der Grenzen dessen, was sonst so genannt wird, und Alfons Diruf war plötzlich nicht mehr fett und finster, sondern er war wie ausgeblasen, zunichte geworden und stierte dumm vor sich hin, als er sich allein fand.
Lenore eilte durch die Gassen, und auf einmal fand sie, daß sie in der langen Zeile ging. Dorthin hatte sie aber nicht gehen wollen, und sie kehrte wieder um. Da gewahrte Benda, der eben zu Daniel wollte, die hastig Schreitende, erkannte sie im Schein einer Gaslampe, blieb stehen, als sie an ihm vorüberging und schaute ihr betroffen nach.
Zu Hause angelangt, sank sie in der Wohnstube erschöpft aufs Sofa. Um sich vor der Erinnerung an die vergangene Stunde zu retten, flüchtete sie in ihre Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem südlichen Land. Sie sehnte sich mit solchem Schmerz und solcher Lust, daß ihr Antlitz wie im Fieber glänzte. Aber die gläserne Kugel hatte einen Sprung bekommen.
Als es kurz vor acht Uhr läutete, sagte sie zu Gertrud: »Wenn es Daniel ist, schick ihn fort, ich kann heut niemand sehen.«
»Bist du krank?« fragte Gertrud eigentümlich streng.
»Ich weiß es nicht, ich will niemand sehen,« sagte Lenore und lächelte wieder wie im Zimmer Dirufs.
Es war wirklich Daniel. Benda hatte ihm gesagt, daß et Lenore gesehen habe, unten vor dem Haus, und als er erfuhr, daß sie nicht bei Daniel gewesen, nahm seine Besorgnis zu. »Da ist etwas nicht in Ordnung,« meinte er, »du mußt zu [126] ihr gehen.« Und nachdem sie noch eine Weile geplaudert hatten, begleitete er Daniel bis zum Egydienplatz, um sicher zu sein, daß er sich nach Lenore erkundigen würde.
Gertrud öffnete die Gittertür. »Lenore will nicht, daß Sie hineinkommen,« sagte sie mit einem Schimmer von Freude in den Augen.
»Warum nicht? Was ist geschehen?«
»Sie will es nicht,« sagte die Einsilbige und blickte in das Licht des Flurlämpchens.
»Ist sie krank?«
»Nein!«
»Dann soll sie mir selber sagen, daß sie's nicht will.«
»Gehn Sie!« befahl Gertrud und warf den Kopf zurück.
Ihr düsteres Auge verfing sich in seinem Blick, und sie standen einander gegenüber wie zwei Wettläufer, die von verschiedenen Seiten an dasselbe Ziel kommen. Dann drehte sich Daniel schweigend um und ging die Stiege hinunter. Gertrud blieb noch eine Weile stehen, und ihr Kopf sank immer tiefer auf die Brust. Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht, und durch ihren Körper lief ein Erbeben.
Bevor Lenore schlafen ging, schrieb sie einen Brief an den Bureauchef Zittel, worin sie ihren sofortigen Austritt aus dem Dienst der Prudentia anmeldete.
Im Bette liegend, konnte sie keinen Schlummer finden. Sie sah sich auf dem Eis, wie sie kühne und neuartige Figuren lief; Zuschauer standen bewundernd im weiten Bogen. Sie sah das Meer mit Fischerbooten und farbigen Segeln und sah Gärten voller Rosen.
Der Vater und Benno waren längst zu Hause. Von der Kirche drüben schlug es zwölf, dann eins, dann zwei.
[127] Da hörte sie Schritte in der Wohnung, eine Tür wurde auf- und zugemacht, dann war es wieder still, dann erschallten wieder die Schritte. Sie verließ das Bett, ging zur Tür und lauschte. Von nebenan, aus der Wohnstube, drang ein tiefer Seufzer an ihr Ohr. Leise öffnete sie die Tür und schaute durch den Spalt hinein.
Am offenen Fenster stand Gertrud; sie war im Hemd und bloßfüßig. Über dem Platz draußen schien der Mond, und der Schnee glitzerte kalt auf den Dächern. Die geisterhafte Beleuchtung machte auch das Gesicht des Mädchens geisterhaft, und das lose hängende Haar sah schwarz wie Ebenholz aus.
Lenore lief ins Zimmer und schloß das Fenster. »Was tust du, Gertrud!« rief sie erschrocken, »willst du dir den Ton holen?«
Gertruds schlanker Körper zitterte vor Frost. Ihre Zehen waren krampfhaft eingebogen. »Ja,« antwortete sie dumpf, »das möcht ich.«
»Das möchtest du?« versetzte Lenore, ebenfalls vor Kälte schlotternd, »und der Vater? Denkst du an ihn nicht? Soll er sich noch mehr abhärmen? Was fehlt dir, du Verrückte?«
»Ich bin eine Sünderin, Lenore,« schrie Gertrud, stürzte auf die Knie und umklammerte Lenores Hüften. »Ich bin eine Sünderin.«
»So? was für eine Sünde hast du denn begangen?« fragte Lenore und beugte sich ängstlich nieder.
»Warum bin ich in dem Haus da!« stöhnte Gertrud und wies um sich, »in dem Gefängnis da!« und sie faßte sich an ihre Brust. »Es ist etwas Böses über mich gekommen, böse, sündige Gedanken. Schau mich nicht an, Lenore, schau mich nicht an!«
Ihre Stimme war zu einem Kreischen geworden, entsetzt wich Lenore zurück, und Gertrud fiel mit der Stirn gegen [128] den Boden. Die Haare bedeckten den gekrümmten, zuckenden Rücken.
Da öffnete sich die Tür, die zum Schlafzimmer des Inspektors führte, und er selbst kam mit einer brennenden Kerze herein. In Ermangelung eines Schlafrocks hatte er einen karierten Schal um die Schultern geworfen, dessen Fransen um die Knie baumelten, und auf seinem Kopf saß eine weiße Zipfelmütze.
Verstört musterte er die beiden Mädchen und wollte fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Er hatte in bedrängten Lagen eine Art, düster zu schmunzeln, die in Lenore das innigste Mitleid erweckte. »Es ist nichts, Vater,« stammelte sie mit einer schamhaften Gebärde, die ihn bat, sich zu entfernen, »Gertrud hat Magenschmerzen. Sie hat nur in der Hausapotheke nachsehen wollen, ob Tropfen da sind. Geh nur, Vater, ich bring sie schon wieder zu Bett.«
»Da werd ich doch zum Doktor gehen, Kind, oder Benno wecken, daß er es tut,« sagte Jordan.
»Nein, Vater, 's ist nicht nötig, geh nur, geh.«
Er verstand die Ungeduld Lenores und zog sich gehorsam zurück. Die Kerzenflamme schirmte er mit der Hand, und sein riesiger Schatten schwankte wie ein Tier hinter ihm her.
»Steh auf, Gertrud,« sagte Lenore, »steh auf und komm mit mir.«
Gertrud ließ sich in ihre Kammer führen. Als sie schon eine Weile im Bette lag, pochte es an der Tür, und Jordans Stimme fragte, wie sie sich befinde. Lenore beruhigte ihn.
Bis der Mond hinter dem Kirchendach verschwunden war, blieb Lenore an Gertruds Bett sitzen und hielt deren große, stumme Hand in ihrer Hand. Sie hatte den Mantel umgetan, gleichwohl fror sie. Während Gertrud mit offenen, stummgewordenen Augen dalag, zeigte das bewegliche, jede Veränderung der Seele treu spiegelnde Antlitz Lenores eine unendliche Folge ernster Gedanken. Als es nun finster wurde,[129] wandte Gertrud den Kopf gegen Lenore hin und sagte weich: »Leg dich zu mir, Lenore. Seh ich dich schlafen, dann kam ich vielleicht auch schlafen.«
Lenore warf den Mantel ab und schlüpfte unter die Decke. Nach kurzer Zeit schlummerten sie alle beide, dicht aneinander geschmiegt.
[130]Daniel gewann Anhänger. Die vom Knechtlein eroberten Mäzene waren nicht Anhänger zu heißen; es waren Patrioten, die es erbaulich fanden, daß aus dem fränkischen Herzland ein erdgebürtiger Meister erstehen sollte. Sie interessierten sich für die Person ihres Schützlings wenig.
Daniels Anhänger waren junge Leute.
Der Professor Herold war ein wunderlicher Mann. Er genoß einen Ruf weit über die Grenzen der Provinz hinaus, aber eben seiner Wunderlichkeit wegen mochte er die Provinz nicht lassen. Den musikbeflissenen Söhnen und Töchtern der ansässigen Bürger gab er seinen ganzen Sarkasmus zu kosten, und sein Bemühen war darauf gerichtet, ihnen die Lust an der Pfuscherei zu verleiden. Es gelang in keinem Fall, das Klavierspielen gehörte zur Bildung, und in den Kaufmannsfamilien war Bildung geschätzt.
Es kam aber auch allerlei Volk von weither zu Professor Herold, angelockt durch seinen Namen. Als er die Vineta-Partitur gelesen hatte, sagte er zu zweien von diesen: »Geht hin und bringt mir den Kerl, tot oder lebendig.« Da brachten sie ihn.
Die zwei kamen öfter zu Daniel, dann andere, Professor Wackerbarths und Professor Döderleins Schüler. Bisweilen hatte er in der Kneipe Zusammenkünfte mit ihnen. Wir wollen sie die Langmähnigen nennen, oder die Marmorbleichen; viele hatten Ähnlichkeit mit Schlangenbändigern. Sie waren fast ausnahmslos sehr dumm, hatten aber alle große Rosinen im Kopf.
Es waren auch junge Mädchen dabei; wir wollen sie die Schmachtäugigen nennen, oder die Traumverlorenen. Daniel war ihnen abgeneigt. Die Langmähnigen schätzte er ebenfalls wenig.
[131] Von dieser Abneigung sprach er einmal zum Alten, wie Professor Herold kurzweg hieß. Er schnappte wie ein bissiger Hund, strich die weißen Borsten auf seinem ungeheuren Schädel zurück und sagte: »Da haben Sie aber eine Entdeckung gemacht, Sie Originalmännlein! Wissen Sie denn nicht, daß gerade die Musik das allernichtswürdigste Gesindel in ihren Zauberkreis zieht? Item, daß sie eine Ausrede ist für jede Versäumnis von Menschenpflichten? Item, daß der wollüstige Dunst, den sie über die Städte breitet, eine allgemeine Auszehrung der Herzen zur Folge hat? Item, daß von fünfhundert sogenannten Künstlern vierhundertneunundneunzig bloße Krüppelgarde unseres Herrgotts sind? Leitsatz: Wer zur Musik nicht das allerreinste Feuer bringt, Urtiefenfeuer, dessen Blut verwandelt sie in Leim, dessen Geist in einen Kehrichthaufen.«
Damit schob er Daniel zur Tür hinaus, weil er an seinen Bilderchen malen wollte. Es hingen an den Wänden seiner Stube viele Bilderchen, die er in seinen Mußestunden verfertigte, schlechte kleine Bilderchen, auf die er stolz war. Sie stellten Szenen aus dem Landleben dar.
Der Impresario Dörmaul gab in der Neujahrsnacht ein Festessen im Schwänlein, zu welchem Daniel eingeladen war. Der Impresario Dörmaul zeigte sich Daniel gnädig gesinnt. Er sagte, er habe die Begabung des hoffnungsvollen jungen Mannes beim Anblick der ersten Note erkannt. Er versprach, die Komposition Vineta, sowie die andere, inzwischen beendete, die sich nürnbergische Serenade nannte, in seinen Verlag zu nehmen. Auch schien er gewillt, die Anstellung bei der Wanderoper ernstlich in Betracht zu ziehen.
Zu dem Festmahle kamen die Professoren Herold und [132] Wackerbarth, ferner Wurzelmann, einige von den Langmähnigen und einige von den Traumverlorenen. Andreas Döderlein hatte sein Erscheinen für eine spätere Stunde zugesagt. Er trat fünf Minuten vor Mitternacht in die weit aufgerissene Türe, feierlich wie das neue Jahr in Person.
Er ging auf Daniel zu und bot ihm die Rechte.
»Siehe da, unser Benjamin, unser Johannes, um nicht zu sagen unser Daniel,« redete er ihn an. »Gratulor, junger Stern! Was vermelden die Annalen von Andreas Döderleins Spürnase? Damals in Bayreuth, als man noch Wein auf Flaschen zog, hat er nur hingerochen und wußte schon Bescheid. Kann es geleugnet werden, Benjamin?«
Es wurde nicht geleugnet. Daniel ließ Gnade für Recht ergehen, und der mächtige Mann warf seinen Wetterkragen von den Schultern, als sei es ein Hermelin, dessen er sich entledigte, bevor er sich unter die gemeinen Sterblichen mischte.
Professor Wackerbarth hatte eine Frau, die ihn prügelte und ihm nichts zu essen gab. Er erachtete die Gelegenheit für günstig, sich einmal satt zu essen und lustig zu sein. Es war eine kümmerliche Lustigkeit.
Einer von den Langmähnigen sang das Champagnerlied, und Wurzelmann hielt eine witzige Rede. Döderlein gab zu verstehen: man lasse die Mäuse tanzen, man lasse die Flöhe hüpfen. Als eine von den Traumverlorenen den Davidsbündlermarsch spielte, der nach den Vorschriften von Bayreuth nicht zur wahren Musik gerechnet werden konnte, rief er: »Gebt mir Lethe, meine Söhne,« womit er den Punsch meinte.
Auch Daniel trank Lethe. Er umarmte den alten Herold, drückte Andreas Döderleins Hand und versuchte, mit Wurzelmann einen Walzer zu tanzen. Er war nicht betrunken, er war nur glücklich.
Dann wurde es ihm zu enge hier, er nahm Hut und Mantel und eilte ins Freie.
[133] Die Luft war lau, es wehte Föhnwind. Himmel oben, Himmel unten, die Häuser standen auf Wolken. Jeder Atemzug machte nach dem nächsten durstig. Da, ein Erker, so schön, daß man hätte knien mögen; ein Brunnen, so fremd und lauschig wie etwas Erdichtetes; die Brückenbögen und das matt spiegelnde Wasser; zwei Türme spinnwebenzart.
Er jubelte stumm: Welt, bist du es wirklich? meine Welt, und ich lebe? Meine Welt, mein Jahr, meine Zeit, und ich darin, ich selbst!
Er stand auf dem Egydienplatz und schaute hinauf zu den Jordanschen Fenstern. Alle Fenster waren schwarz.
Gern hätte er gerufen, aber der Name, der sich auf seine Lippen drängte, flößte ihm Angst ein. Die leidenschaftliche Wallung wollte seine Brust sprengen.
Er mußte noch etwas mit sich anfangen, mußte reden, mußte fragen und eine Stimme hören. So eilte er zur Füll und rief unter Bendas Fenstern Bendas Namen. Die Uhren schlugen drei.
Endlich wurde ein Vorhang aufgerollt und Bendas dickliche Gestalt zeigte sich am offenen Fenster. »Daniel, du? Was ist geschehen?«
»Nichts ist geschehen. Das Jahr will ich dir bringen.«
»Ob du mir damit was Gutes bringst? Geh heim und leg dich aufs Ohr.«
»Willst mich nicht hinauflassen, Friedrich? Reden wir noch ein wenig vom Glück!«
»Sei nicht übermütig. Wir könnten's verreden.«
»Philister! Gib mir wenigstens deinen Segen.«
»Den hast du. Jetzt geh nur, Nachtgeist, und laß die Leute schlafen.«
Da öffnete sich noch ein Fenster, im Erdgeschoß, und des [134] Herrn Carovius wüste Bettphysiognomie starrte am Haus empor, starrte gegen den Ruhestörer auf der Straße, und mit einem grimmig feixenden Laut, rachsüchtig die Faust schwingend, schloß der entrüstete Mann das Fenster wieder.
Abermals trieb es Daniel zum Egydienplatz hin, abermals schaute er zu den Fenstern hinauf, fast flehend. Der innere Sturm wurde wilder. Lange Zeit noch rannte er durch die Gassen, und erst gegen fünf Uhr kam er heim.
Durch den dunklen Flur gehend, gewahrte er oben an der kleinen Treppe ein Licht. Meta trug es, die schon aufgestanden war, um zur Früharbeit zu gehen. Er zögerte, er sah sie an und mit drei Sätzen war er bei ihr droben.
»So spät?« flüsterte sie ahnungsvoll verlegen und nestelte mit der Linken an den Knöpfen ihres schlechtgeschlossenen Gewandes.
»Daß ich noch einen lebendigen Menschen fassen kann heute,« stieß er hervor.
Sie wehrte sich, als er sie in ihre Kammer ziehen wollte, bog den Leib zurück und umpreßte sein Handgelenk. Das Licht trug sie noch immer.
»Wie mir zumut ist, Meta! Wüßtest du's! Ich brauch dich, halt mich fest mit deinen Armen.«
Da sträubte sie sich nicht mehr. Vielleicht war auch sie nicht ohne Wunsch. Vielleicht war es eine Stunde, wo die Natur gebieterischer sprach als sonst. Vielleicht litt sie an der Einsamkeit unter den drei alten Jungfern. Es war noch finstere Nacht, und für sie sollte es schon Tag sein, der erste im Jahr, den sie festlich empfand. Sie gab nach.
Sie war unverdorben; sie wußte nicht, was sie auf sich nahm. Heimlich war ihr der Mensch nie gewesen, aber jetzt spürte sie das gleichgeartete Geschöpf, und sie gab nach.
So kehrte Daniel zur Erde zurück, nachdem er mit ungeheurer Begierde an die Pforten der Götter gepocht hatte. Die Götter lächelten tiefsinnig, denn sie hatten beschlossen, aus dieser Stunde ein besonderes Schicksal wachsen zu lassen.
In Gostenhof fand eine Versammlung der sozialdemokratischen Partei statt, in welcher zu der Kanzlerrede über das Unfallversicherungsgesetz Stellung genommen werden sollte.
Als erster Redner betrat der Abgeordnete Störbecker die Tribüne, aber er hatte eine zu leise Stimme und was er sagte, verhallte fast ungehört.
Ihm folgte Jason Philipp Schimmelweis. Er klagte die Regierung mit heftigen Worten an. Der Vertreter der Regierung ermahnte zur Mäßigung, und Jason Philipp kräftigte sich durch einen Schluck Bier. Sodann schleuderte er den ganzen Zorn seines volksfreundlichen Herzens gegen die verantwortliche Person des Trägers der Reichsgeschäfte. Er nannte Bismarcks Namen nicht, aber er sprach von einem Popanz. Er riß ihm die Glorie vom Haupt, schwor, ihn eines Tages als Verräter entlarven zu wollen, hieß seinen Ruhm eine Lügengeburt und seine Taten Schandmale des Jahrhunderts.
Der wilde Haß des rundlich kleinen Mannes entzündete die Gemüter, und ein Tumult von Beifall umbrauste Jason Philipp, als er mit scharlachrotem Gesicht auf seinen Platz zurückkehrte.
Aber die anwesenden Führer der Partei verhielten sich eigentümlich still. Es dauerte nicht lange, so kam der Abgeordnete Störbecker mit zwei Genossen und ersuchte Jason Philipp um eine Unterredung. Er folgte ihnen in ein Seitenzimmer. Von der Meinung gehoben, daß man ihm eine dankbare Anerkennung ausdrücken wolle, lächelte er eitel und liebkoste mit den Fingern seinen Bart.
»Was gibt's, ihr Herren? Weshalb so bedenklich? Hab ich mich zu weit vorgewagt? Ich nehme alles auf mich, aber seien Sie ruhig, man hat jetzt Angst vor uns, die Luft riecht brenzlig, die Franzosen stänkern wieder.«
Nein, Genosse Schimmelweis, du sollst dich rechtfertigen. Du bist ein Proteus, Genosse Schimmelweis; deine rechte [136] Hand weiß nicht, was deine linke tut; du treibst Schindluder mit uns; du pflügst im Gärtlein der Witwe; du predigst Wasser und säufst Wein; du hast dich mit den Aussaugern des Volks verschworen; du hast gemeinsame Sache mit den Leuten von der Prudentia gemacht und füllst bei dem großen Massenbetrug deinen Beutel; von früh bis abends bist du unterwegs und bereicherst dich mit den Pfennigen des Arbeiters. Praktiken, Jason Philipp Schimmelweis, Praktiken. Entsage dem Bündnis mit der Prudentia, oder wir stoßen dich aus unsrer Mitte.
Da erst zeigte sich Jason Philipp Schimmelweis im Glanz seiner Beredsamkeit. Seine Hand sei rein, die linke wie auch die rechte; wirke er für eine Sache, so sei es eine gute Sache; Drohungen könnten ihn nicht einschüchtern; Jason Philipp Schimmelweis sei nicht gesonnen, sich einer Diktatur zu beugen, welche die Maske der Freiheit und Gleichheit trage; wolle man den Skandal, so werde man ihn haben, man werde Jason Philipp Schimmelweis gerüstet treffen; Jason Philipp Schimmelweis finde überall in der Welt offene Türen.
Hiermit machte er kehrt und ließ die Genossen stehen. Auf dem Nachhauseweg zwang ihn die Erbitterung zu fortwährendem zornigen Gemurmel.
Wie ein Schiffer, der stürmisch gewordene Meere flieht, steuerte er sein Fahrzeug nach andern, gastlichen Gestaden, und drei Tage später ging er zum Freiherrn Siegmund von Auffenberg, um dem Führer der liberalen Partei in aller Form seine Dienste anzubieten.
Fünfunddreißig Minuten, nach der Uhr gezählt, mußte er im Vorzimmer warten. Er stellte bittere Betrachtungen an über die Verkümmerung des Gleichheitsgefühls bei den [137] besitzenden Klassen. Ein richtiger Rebell, verleugnete er sich selbst dort nicht, wo er Verrat übte.
Als er endlich in das Arbeitszimmer des Barons geführt wurde, war er nicht geblendet von dem Luxus der Möbel, der Teppiche, der Ölgemälde; nicht untertanenhaft gedrückt von dem erlauchten Wesen des Freiherrn. Er setzte sich ungezwungen, Bein neben Bein, auf einen Stuhl, nahm weder Notiz von einem französisch schwatzenden Papagei, noch von einem mit Leckerbissen beladenen Frühstückstisch, sondern brachte sein Anliegen mit geziemender Schlichtheit vor.
»Sehr schön,« sagte der Freiherr, »sehr schön. Ich glaube, Sie brauchen die Schlachtfront gar nicht wesentlich zu verändern. Einer von den gewissenlosen Umstürzlern waren Sie ja nie. Sie haben Familie, Sie haben ein Heim, Ihre Verhältnisse sind geregelt, und im Grunde Ihres Herzens lieben Sie die Ordnung. Ich habe Sie längst erwartet. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, Sie mußten zu uns kommen.«
Jason Philipp errötete vor Vergnügen. In der Haltung eines Lohnkutschers, der ein Trinkgeld einsteckt, antwortete er: »Sehr verbunden, Herr Baron.«
»In einem Punkt sind wir ja sicherlich einig,« fuhr Herr von Auffenberg fort, »und im wichtigsten, will mir scheinen –«
»Gewiß, gewiß,« fiel ihm Jason Philipp in die Rede, »Sie spielen natürlich auf den Kampf gegen Bismarck an, Herr Baron. Ja, darin sind wir, will ich hoffen, vollkommen einig. Da stell ich meinen Mann. Eid und Handschlag! Diesen Ritter von der Finsternis könnte ich kalten Blutes auf der Folter winseln sehen.«
Herr von Auffenberg nahm die temperamentvolle Erklärung mit etwas dünnem Lächeln auf. »Nur nicht so gewalttätig, Verehrtester,« sagte er. Er griff nach einem Riechfläschchen und hielt es an die Nase, wobei er die Augen schloß. Dann ging er mit den Händen auf dem Rücken ein paarmal durch das Zimmer.
[138] Was er dann sprach, war ihm geläufig wie das Abc, und während Jason Philipp begeistert auf seinen Mund starrte, dachte der Baron an ganz andere Dinge, die mit seiner Rede ganz und gar keinen Zusammenhang hatten.
»Derselbe Mann, der das neue Reich mit Hilfe einer liberalen Gesetzgebung wohnlich machen woll te, der den alten Streit zwischen Kaiser und Papst rühmlich zu Ende zu führen versprach, derselbe Mann ist jetzt am Werke, Stück für Stück der liberalen Traditionen zu zerstören und den römischen Oberpriester als Friedensbringer anzurufen. Was der Kanzler tun konnte, um dem deutschen Freisinn den Todesstoß zu versetzen, hat er getan. Die Reaktion hat nicht davor zurückgebebt, an Stelle des Kulturkampfes einen schändlichen Klassen- und Rassenhaß wachzurufen und bis zu blutigen Ausschreitungen großzusäugen, um angesichts ihrer Verbrechen die eigenen Kinder zu ächten und zu verstoßen.«
»Dépêche-toi, mon bon garçon,« krächzte der Papagei.
»Ich bin glücklich darüber, den Mächten der Unordnung eine Beute entrissen und dem Staat einen Bürger gewonnen zu haben, mein lieber Herr Schimmelweis. Doch ist es ratsam, daß Sie sich in der nächsten Zeit etwas im Hintergrund halten. Man wird Ihren Gesinnungswechsel zum Gegenstand lärmender Angriffe machen und das könnte der Sache schaden.«
Zu Hause erzählte Jason Philipp, wie er mit offenen Armen empfangen worden sei, was der Baron gesagt, was er, Jason Philipp, geantwortet, wie sie sich in weittragende Erörterungen eingelassen und daß diese Zusammenkunft später einmal zu den historisch bedeutsamen gerechnet werden würde.
Was aber waren die eigentlichen Gedanken des alten Freiherrn, während er politische Reden hielt?
[139] Immer die nämlichen. Der nämliche Ingrimm fraß unaufhörlich an seinem Herzen.
Unaufhörlich dachte er an seinen Sohn, an die Verachtung, die er von ihm erfahren hatte und die er noch täglich, stündlich dadurch erfuhr, daß sich Eberhard seiner Macht entzog.
Er konnte es nicht verwinden, daß er so viele Millionen angesammelt hatte und daß Eberhard aller menschlichen Voraussicht nach und den Gesetzen zufolge eines Tages einen Teil dieser Millionen besitzen werde. Er wußte von der Armut wenig; aber sein haßerfüllter Geist träumte von nichts anderm als von der Genugtuung, den mißratenen Sproß seines Namens und Blutes der Armut preisgeben zu können. So wollte er sich rächen, so wollte er strafen.
Aber er fand keinen Weg hierzu; das Gesetz hinderte ihn daran.
Der Gedanke, daß sein Reichtum täglich, stündlich sich vermehrte, daß die Millionen immer neue Millionen zeugten, ohne daß er den Finger rührte, ohne daß er die Flut zu hemmen vermochte, und daß infolgedessen der Anteil des treulosen, aufrührerischen und glühend gehaßten Sohnes täglich und stündlich größer wurde, dieser Gedanke vergiftete seine Ruhe, lähmte seine Kraft, beraubte ihn aller Freuden und verdüsterte sein Leben.
Ein neuer Midas, verwandelte er alles, was er anrührte in Gold, und je mehr Gold entstand, je düsterer wurde sein Leben, je rachsüchtiger sein Gemüt.
Die Töne eines Klaviers drangen zu ihm. Es war seine Frau, die spielte; sie spielte Lieder ohne Worte von Mendelssohn. Er schüttelte sich wie vor Ekel. Von allem Widerwärtigen war ihm Musik das Widerwärtigste.
»Dépêche-toi, mon bon garçon,« krächzte der Papagei.
Oft geschah es, daß während Jason Philipps Abwesenheit ärmlich gekleidete Menschen in den Laden kamen und von Therese das Geld zurück verlangten, das sie für die Versicherung gezahlt hatten.
Einige gebärdeten sich erregt, als sie von Therese abgewiesen wurden und sie ihnen sagte, es sei ihres Mannes Angelegenheit, sie befasse sich mit seinen Agenturgeschäften nicht. Ein Schlossergeselle hatte den Kommis Zwanziger, der herbeigeeilt war, um die Prinzipalin zu beschützen, mit der Faust traktiert; ein Goldschläger aus Fürth hatte dermaßen gelärmt, daß die Polizei geholt werden mußte; eine Faßbinderswitwe, die unter großen Entbehrungen ein Jahr die Prämien gezahlt und die Weiterzahlung nur verabsäumt hatte, weil sie im Spital gelegen war, stürzte in epileptischen Krämpfen zu Boden.
Es kam so weit, daß Therese vor jedem unbekannten Gesicht erschrak. Sie atmete auf, wenn ein Tag vergangen war, ohne sonderliches Übel gebracht zu haben, doch zitterte sie dann schon vor dem nächsten.
Was sie mehr als alles beunruhigte, war das unerklärliche Verschwinden kleiner Geldbeträge, das sie seit einiger Zeit bemerkte. Einmal war ein Mann in den Laden gekommen und hatte seine Monatsrate für ein Lieferungswerk, einen Taler, auf den Zahltisch gelegt. Der Mann ging fort, sie schloß hinter ihm die Tür, weil sie einen Blick auf die Straße werfen wollte, wo eben ein starkes Schneegestöber herrschte. Als sie an das Pult zurückkehrte, war der Taler verschwunden. Sie fragte, wo der Taler sei; Jason Philipp, der dem Kommis Zwanziger Bücher auf die Leiter reichte, wurde so grob, als ob sie ihn bezichtigt hätte. Sie zählte in der Kasse nach, zählte und rechnete; umsonst; der Taler war verschwunden.
Sie hatte vergessen oder nicht beachtet, daß Philippine [141] im Laden gewesen war, ihrem Vater das Vesperbrot gebracht hatte und in ihren Filzschuhen unhörbar wieder hinausgegangen war.
Ein andermal fehlten ihr Nickelmünzen aus ihrem Börschen. Ein drittes Mal forderte ein Spezereiwarenhändler eine Schuld von drei Mark, die sie längst bezahlt zu haben sicher war. Sie war sicher, daß sie das Geld Philippine gegeben hatte, damit sie es zahlen solle. Und sie rief Philippine herbei. Die aber leugnete mit solcher Stirn, daß Therese irre wurde und schweigend das Geld hergab.
Sie hatte die Magd beargwöhnt, sie hatte den Kommis beargwöhnt; sie hatte selbst Jason Philipp beargwöhnt, daß er auf Schleichwegen sich einiges Wirtshausgeld verschaffen wollte, und sie hatte Philippine beargwöhnt. Aber sie fand keine Beweise, und ihr unablässiges Spähen und Forschen fruchtete nicht. Dann hörten die Diebstähle wieder auf.
Denn Philippine, welche die Diebin war, fürchtete sich vor der Entdeckung und wählte einen gefahrloseren Weg, sich zu bereichern. Sie stahl Bücher und verkaufte sie beim Trödler. Sie war schlau genug, nur solche Bücher zu beseitigen, die schon lange Zeit in den Regalen gelegen waren, auch ging sie nicht stets zu demselben Trödler, sondern immer zu einem andern.
Das Geld aber, das sie heimlich und gierig wie eine Dohle zusammentrug, versteckte sie auf dem Dachboden des Hauses. In der Mauer neben dem Kamin war ein Ziegelstein locker, den nahm sie heraus, die Höhlung hatte sie nach und nach vergrößert und wenn sie ihren Raub untergebracht hatte, stellte sie ein Brettchen davor und schob den Stein wieder in das Loch.
War dann kein Laut zu hören, der sie verscheuchte, so überließ sie sich mit gefalteten Händen ihren Betrachtungen, und auf ihrem stumpfen Gesicht malte sich ein böser und fanatischer Traum.
Eines Abends im Februar saßen Therese und Philippine wäscheflickend bei der Lampe, als Jason Philipp ins Zimmer trat und sich mit verschmitzter Miene die Hände rieb.
Da es Therese nicht der Mühe wert fand, ihn nach der Ursache seiner guten Laune zu fragen, lachte er plötzlich auf und sagte: »Jetzt können wir einpacken, meine Liebe. Ich les' es schon gedruckt: das große Licht oder die beschämten Verwandten. Rührendes Tableau, dargestellt von Herrn Daniel Nothafft und der Familie Schimmelweis.«
»Ich versteh dich nicht; du redest schon wieder wie ein Hanswurst,« antwortete Therese.
»In einem Konzert werden Sachen von Daniel gespielt,« belehrte Philippine mit ihrer harten, alten Stimme die Mutter.
»Woher weißt denn du das?« fragte Therese mißtrauisch.
»Habs in der Zeitung gelesen.«
»Im Saal der Harmoniegesellschaft soll das Wunder vor sich gehen,« bestätigte Jason Philipp mit einer rätselhaften Schadenfreude. »Am Donnerstag ist öffentliche Probe und ich werde mir's nicht nehmen lassen, dabei zu sein. Der Musikalienhändler Zierfuß hat mir zwei Karten gegeben, und wenn du Lust hast, kannst du auch zusehen, wie man aus einem Tagedieb eine Lokalgröße macht.«
»Ich?« erwiderte Therese verächtlich erstaunt, »keinen Schritt vors Haus. Was scheren mich eure Dummheiten.«
»Aber die Herren werden sich schneiden, die Herren werden sich gewaltig schneiden,« fuhr Jason Philipp drohend fort, »es gibt noch einen gesunden Menschenverstand in der Welt, es gibt noch Mittel gegen gemeingefährliche Schwindler.«
Da erhob Philippine mit jähem Entschluß den Kopf. »Derf ich mit dir gehen, Vatter?« fragte sie, und ihre Ohren wurden glühend rot.
Es war mehr als eine Bitte. Jason Philipp stutzte über [143] den verwilderten Blick des Mädchens. »Gut,« sagte er und sah über Thereses stummen Widerstand hinweg, »aber versorg dich auch mit einem Pfeiflein, damit du ordentlich pfeifen kannst.«
Er sank behaglich ächzend auf einen Stuhl und streckte die Beine aus. Philippine kniete nieder und zog ihm die Stiefel von den Füßen, worauf er in die bereitstehenden Pantoffeln schlüpfte, die in roter Stickerei einen Spruch trugen. Auf dem linken stand: dem Müden, auf dem rechten: zum Trost.
Lenore hatte ihrem Vater verschwiegen, aus welchem Grund sie ihre Stellung bei Alfons Diruf verlassen hatte. Der Inspektor erkundigte sich auch nicht weiter darnach, als er bemerkt hatte, daß es Lenore unangenehm war, davon zu sprechen. Ihm ahnte nichts Gutes, und wenn er schwieg, geschah es auch aus Furcht vor seinem eigenen Zorn und Schmerz.
Indes hatte Lenore Beschäftigung gefunden. Eine Schulkameradin, die sie ehedem gut leiden gemocht, Martha Degen, die Tochter des Zuckerbäckers, hatte den Notar Rübsam geheiratet, einen alten Mann übrigens. Lenore kam einigemal ins Haus, da der Inspektor auch seit langen Jahren mit dem Notar befreundet war, und im Gespräch ergab es sich, daß der Notar eine Hilfskraft für Schreibarbeiten brauchte. Da in der Kanzlei des Notars kein Platz war, durfte sie die Schreibereien zu Hause besorgen.
Außerdem war sie durch Friedrich Benda an den Archivrat Bock empfohlen worden, welcher ein weitläufiges Werk über nürnbergische Geschichte abfaßte, und sie sollte nun die verhudelten Handschriften des Archivrats ins Reine bringen.
Ein mühevolles Ding, aber dabei erfuhr sie doch mancherlei, [144] ihr durstiger Geist saugte Nahrung auch aus dürrem Boden.
Ihr Verlangen wurde wach, das Stückwissen zu ergänzen, sie bat Benda um dies und jenes Buch, und wenn sie den Tag über fleißig die Feder geführt hatte, las sie oftmals bis in die späte Nacht.
Es blieb aber nichts außen hängen an ihr, so daß sie es mühselig mitschleppen mußte. Es wurde ihr alles zum Wesen.
Lange hatte sich Daniel nicht sehen lassen. Er hatte bei den Proben zu tun, die von Wurzelmann geleitet wurden. Professor Döderlein sollte nur das eingeübte Orchester übernehmen. Außer Daniels Kompositionen stand die dritte Leonoren-Ouvertüre auf dem Programm und Wurzelmann nannte dies einen guten Vorspann.
Häufig wurde Daniel auch vom Impresario Dörmaul gerufen; die Wanderoper sollte im März ihre Reisen antreten und es war vieles zu besprechen. Der Vertrag, den er dann unterschrieb, verpflichtete ihn für drei Jahre gegen ein Gehalt von sechshundert Mark für das Jahr.
Ein paar Tage vor der Generalprobe kam er zu Jordans und brachte drei Karten, eine für den Inspektor und zwei für die Schwestern. Die Generalprobe war wie ein Konzertabend für sich, und es waren über hundert Personen dazu geladen worden.
Der Inspektor war eben im Begriff auszugehen. »Das ist aber fein,« sagte er, »das ist riesig fein, daß ich wieder mal Musik hören kann. Da freu ich mich ja ganz außerordentlich drauf. Als junger Bursche, ja, da bin ich manchmal ins Konzert gegangen. Das ist lang her und wenn man's denkt, spürt man erst, wie alt man geworden ist. Die Jahre hängen wie Mühlsteine an einem. Nun, ich dank Ihnen, Daniel, dank Ihnen wärmstens.«
Auch Lenores Freude war groß. Als ihr Vater fort war, bemerkte sie, daß Daniels Augen Gertrud suchten, die bei seinem Kommen das Zimmer verlassen hatte. Sie öffnete [145] die Tür und rief hinaus: »Gertrud, komm schnell! eine Überraschung!«
Nach einer kleinen Weile kam Gertrud.
»Ein Billett für dich, für Daniels Konzert,« sagte Lenore strahlend und hielt ihr die grüne Karte hin.
Gertrud schaute Lenore an und wollte auch Daniel anschauen, aber ihr schwerer Blick, von unten emportauchend, streifte ihn nur und kehrte wie gepeinigt wieder zurück. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte langsam: »Ein Konzertbillett? Für mich? Für mich, Lenore? Ist das dein Ernst?« Abermals schüttelte sie den Kopf, erstaunt und unwillig. Hierauf ging sie zum Fenster, lehnte den Arm ans Kreuz und preßte die Stirn dagegen.
Daniel verfolgte sie mit Blicken voll glühendem Zorn. »Man kann Schafe zu einer Schlachtbank treiben,« sagte er, »man kann Räuber und Diebe in eine Fronfeste sperren, man kann Aussätzige ins Lazarett transportieren, aber man kann einen fühlenden Menschen nicht zum Anhören von Musik zwingen.«
Er schwieg und es blieb still. Gequält durch die Empfindung, daß Daniels Blick an ihrem Rücken haftete, kehrte sich Gertrud um, ging zum Ofen, setzte sich dort hin und legte die Wange an die Kacheln.
Mit zwei Schritten stand Daniel dicht vor ihr und stieß heraus: »Wenn ich es aber fordere, daß Sie gehen? Wenn zum Beispiel meine Ruhe davon abhängt, oder etwas, was vielleicht für die Welt wichtig ist? Trost, Befreiung, Besserung? Und wenn ich es deshalb fordere, was dann?«
Aus Gertruds Zügen war alle Farbe gewichen. Eine Sekunde lang weilte ihr Blick auf seinem Gesicht, hierauf wandte sie den Kopf zur Seite, zog wie frierend die Schultern in die Höhe und stammelte: »Dann ... dann gehe ich. Ja, dann gehe ich. Obwohl ich's bereuen werde ... sicher bereuen werde.«
[146] Mit großen, immer größer werdenden Augen hatte Lenore alles dies vernommen. Als sie Daniel anschaute, lag eine gütige, schmelzende Feuchtigkeit in ihrem Blick und sie lächelte.
Daniel war aber auf einmal verdrießlich geworden. Er murmelte einen Gruß und ging. Lenore trat ans Fenster und sah ihm nach, wie er über den Platz rannte, den Hut mit beiden Händen vor dem Sturmwind schützend.
»Komischer Kerl,« sagte sie leise, »komischer Kerl.«
Dann erhob sie das Auge zu den Wolken, deren eilige Flucht über das Kirchendach ihr gefiel.
Die dritte Fidelio-Ouvertüre sollte erst im eigentlichen Abendkonzert an der Spitze des Programms stehen. Sie bot nach Döderleins Meinung keine Schwierigkeiten; die Generalprobe war vornehmlich den Werken des Neulings gewidmet. Sein Taktstock gab das Zeichen zum Beginn, und es wurde ruhig im Saal.
Mit einem Zusammenspiel der Bläser setzte die nürnbergische Serenade ein. Es war ein kräftiges und burschikoses Thema, das dann die Geigen übernahmen, um es launisch zu zerpflücken und allmählich in das Bereich der Träumerei zu führen. Da wurde die Nacht lebendig, da surrte ein süßer Sommerwind, da tanzten Leuchtkäfer; gotische Dome erhoben sich in der schwülen Dunkelheit, und kleinbürgerliche Gestalten krochen in verwinkelten Gassen; ein Ruf großer Vergangenheit und Mahnung der Zukunft schallten in das Behagen an der Gegenwart, Heroisches mischte sich mit Scherzhaftem, Fantastisches mit Burleskem, die Romantik fand ihr Widerspiel, alles im Fluß echter Melodie, schlank im Bau, reizend in der Gliederung.
Die Fachmusiker waren sattsam verwundert, und ihre [147] Verwunderung gewann in den damaligen Berichten einen starken Ausdruck. Freilich wurde das anerkennende Wort getrübt durch das häßliche Ende, das die Generalprobe nehmen sollte, aber ein Mann von innerer Unabhängigkeit, den beklagenswerte Schicksale aus einem bedeutenden Wirkungskreis in den beschränkten der Provinz geworfen hatten, schrieb wie folgt: »Dieser Künstler hätte wohl das Vermögen, ein Wahr- und Flammenzeichen in unserer Zeit zu werden. Ihn bildete die Natur, ihn erzog sein Stern. Verleihe ihm doch der Himmel die Kraft und die Geduld, die zur zweiten höheren Menschwerdung eines Künstlers unerläßlich sind! Ließe er ihn doch nicht zu frühe nach den reifenden Früchten langen und im Taumel der niedrigen Leidenschaften die Stimme seines Herzens überhören, damit der Flug, dem sich der Azur des Ruhmes aufgetan, nicht wieder sich herunter wende in die Nacht.«
Derselbe Kenner erklärte die Komposition Vineta für minder erfindungsreich und ihre Instrumentation an einer anfängerhaften Magerkeit krankend. Trotzdem fand auch dieses Stück vielen Beifall. Der Impresario Dörmaul klatschte, daß ihm der Schweiß ausbrach. Wurzelmann war wie besessen. Der alte Herold lachte über das ganze Gesicht. Die Langmähnigen konnten sich zwar des Neides nicht entschlagen, kargten jedoch nicht mit ihrem Jubel.
Aber wie war es Herrn Carovius ums Herz! Der Speichel schmeckte ihm bitter, der Leib tat ihm weh, und als sich Andreas Döderlein dankend verneigte, stieß er eine höhnische Lache aus. Und Jason Philipp Schimmelweis! Ihm wäre wohler gewesen, wenn das Händegeklatsch von ebensovielen Ohrfeigen hergerührt hätte, die er dem Schandbuben insgeheim zudachte. Das Unterste der Welt war zu oberst gekehrt, er faßte sich an die Stirn, er schüttelte den Kopf, es lag ihm nahe zu rufen: ihr Betrüger! ihr Betrogenen! hört mich doch, ich kenne ja den Menschen, der euch am Narrenseil führt! [148] Und er wartete, ob sich das Mißverständnis, der große Schwindel, nicht am Ende doch aufklären würde. Er wartete nicht umsonst.
Schon nach der Serenade war dem Inspektor Jordan die fieberhafte Blässe Gertruds aufgefallen. Er fragte, ob sie sich krank fühle, sie gab keine Antwort. Während des zweiten Stückes preßte sie beständig und wie im Krampf die Hände gegen die Brust. Ihre Augen waren bald erloschen, bald lohten sie in einem unheimlichen Feuer. Unmittelbar nachdem das Stück zu Ende war, wandte sie sich an ihren Vater und bat ihn, er möge sie nach Hause begleiten. Der Inspektor erschrak, die Umsitzenden wurden aufmerksam und betrachteten mitleidig das bleiche Gesicht des jungen Mädchens. Lenore wollte gleichfalls aufbrechen, aber Gertrud flüsterte ihr herrisch zu, sie solle bleiben. Mit Gertruds Gemütsart hinlänglich bekannt, dachte sie an einen vorübergehenden Anfall und beruhigte sich dabei.
Daniel stand gerade mit Benda und Wurzelmann an der Türe. Er war sehr erregt, und die beiden bemühten sich, seine gegen Andreas Döderlein geäußerte Erbitterung zu beschwichtigen. »Der Mann versteht vom Handwerk nichts,« knirschte er und wies alle Beschönigungsversuche zurück; »von dem, was ich gemacht habe, sind nur Trümmer übrig. Er verschleppt die Tempi, hält keine Bindung, zertrampelt jedes Piano, steigert nicht, retardiert nicht, es ist ein Jammer, ich halt's nicht aus, so können die Sachen öffentlich nicht gespielt werden.«
Da gingen Gertrud und der Inspektor rasch und ohne Gruß vorbei. Daniel stutzte. Der entseelte Ausdruck in Gertruds fahlem Gesicht ängstigte ihn. Zugleich fühlte er, als ob ein Hammerschlag ihn getroffen hätte, daß sein Schicksal an dieses Wesen unauflöslich gekettet war. Ihr Schritt, ihr Auge, ihr Mund, alles war wie in ihm selber drinnen, und der Zorn darüber, daß sie ohne Gruß vorbeiging, fremd, verschlossen [149] und feindselig auch jetzt, nach dieser Stunde, verdunkelte seinen Geist. Von da an war er nicht mehr Herr seiner Handlungen.
Wie nun die Beethovensche Tonflut in ihrer hochgewaltigen Wildheit aus dem Orchester emporstürmen sollte und statt dessen ein verworrenes, trübes Getöse erklang, wurde er von einer großen Unruhe er griffen. Näher als bei dem eigenen ging es ihm, das fremde Gebilde verunstaltet zu sehen, dessen zarte Seele und Titanenwuchs ihm vertraut war wie sonst nur wenige Dinge auf der Welt. Das Trompetensolo erschallte nicht aus scheinbar geisterhafter Ferne, sondern nah und platt. Er fing an zu zittern. Und als das wehvoll ruhige Andante von der rohen Lenkerhand seines Maßes beraubt wurde und im Gemeinen zerflatterte, da ertrug er es nicht mehr. Er stürzte aufs Podium, umklammerte den Arm des Dirigenten mit Eisenfingern und schrie ihn an: »Genug jetzt! So verfährt man nicht mit einem Götterwerk!«
Die Leute erhoben sich von ihren Sitzen. Die Instrumente verstummten plötzlich, nur ein Cello wimmerte noch. Andreas Döderlein prallte zurück, starrte den tollen Menschen mit aufgerissenem Mund an, legte den Taktstock auf das Notenpult und stammelte: »Beim Zeus, das ist unerhört.« Die Musiker verließen ihre Plätze und umringten den Unbegreiflichen, der Tumult im Publikum wurde immer größer, es wurde gefragt, gedroht, beruhigt, geschimpft, und oben stand noch immer, mit geducktem Kopf und gekrümmtem Rücken, zornig und rachsüchtig, Daniel.
Ein wenig später saß Andreas Döderlein am Tisch des Künstlerzimmers. Seine Haltung glich der des Kaisers Barbarossa im Kyffhäuser. Er hatte gegründeten Anlaß, schmerzliche Betrachtungen über die Verkommenheit und Pietätlosigkeit der Jugend zu äußern. Es war überflüssig, darauf hinzuweisen, daß ein Mensch, der einer solchen Tat fähig war, aus den Reihen derer, die Rücksicht und Hilfe [150] beanspruchen konnten, ausgestoßen werden mußte. Die würdigen Herren vom Orchesterverein waren derselben Meinung. Die Jahrbücher der Geschichte wußten nichts von einem ähnlichen Ereignis. Milde Augen blitzten, graue Bärte bebten. Die Beratung war kurz, der Spruch gerecht. Ein Vorstandsmitglied erschien als Sendbote vor Daniel und teilte ihm mit, daß man sich entschlossen habe, seine Kompositionen vom Programm zu entfernen. Die Nachricht verbreitete sich rasch.
Wer war seliger als Jason Philipp Schimmelweis?
Er glich einem Menschen, der gesättigt von einem Tisch aufsteht, an welchem zu hungern er lebhaft hatte fürchten müssen. Auf dem Heimweg pfiff er und lachte er in angemessenen Pausen.
»Da sieht man's,« sagte er zu seiner schweigend neben ihm herschreitenden Tochter, »da sieht man's wieder: aus Unrat kann kein Rat werden und aus Nothafft kein Glückhafft. Esel bleibt Esel, Lüderjahn bleibt Lüderjahn und Faulenzerei endet mit Schimpf und Schande. Der Teufel hat eben doch einen kurzen Fangstrick; ist die Lotterwirtschaft auch noch so dicke, seine Rekruten müssen Order parieren. Das wird ein Fressen für Muttern. Das wollen wir ihr mal brühwarm bestellen.«
Und Philippine, so wie sie den ganzen Abend hindurch nicht den Blick vom Erdboden erhoben hatte, schien auch jetzt nicht zu wissen, daß ringsum Häuser und Menschen waren. Sie war eine Geschlagene; sie wollte es sein. Sie hatte viel zu verbergen, ihre junge Brust war eine Hölle, aber ihr häßliches, mürrisches und altes Gesicht war tot und leer wie ein Stein.
Herr Carovius wartete am Tor. Erst als alle andern Leute sich verlaufen hatten, kamen Daniel, Benda, Wurzelmann und Lenore. Daniels Radmantel flatterte im Wind, den Hut hatte er tief in die Stirn gedrückt. Herr Carovius vertrat ihm den Weg.
[151] »Ein Heldenstreich, mein lieber Nothafft!« gilfte er. »Umarmen müßte man Sie. Von heute ab können Sie auf mich zählen. Na, stehen Sie mal still, Sie menschgewordener Orkan! Freilich, was dero Musik anlangt, da geh ich nicht mit, da steckt mir zu viel Schnettereteng drin und zu wenig Infernalisches. Aber machen Sie nur den Döderleins den Garaus und ich bin Ihr Mann. Nicht als ob ich Sie einladen wollte, mich anzupumpen, beileibe nicht; bin selber nur ein armer Musikant; aber sonst steh ich in allem zu Diensten. Geruhsame Nacht allerseits und gewöhnen Sie sich das Schnettereteng ab.«
Er kicherte und lief davon. Daniel sah ihm etwas bestürzt nach. Wurzelmann lachte und meinte, so einen Kauz habe er noch nie gesehen. Alle vier standen eine bängliche Weile, und es fiel Schnee, mit Regen untermischt. Von Benda gefragt, wohin er gehen wolle, antwortete Daniel, er wolle nach Hause. Was er denn allein zu Hause wolle? das sei nichts heute, er möge mit ihm kommen. Nein, erwiderte Daniel, er läge heut jedem auf der Brust, sei sich selber im Weg. »Wie ist's, Knechtlein?« wandte er sich an Wurzelmann, »wollen wir kneipen?«
Wurzelmann erklärte verlegen, daß er nicht frei sei, und es war etwas Widriges in der Art, wie er sich ausredete.
»Ach, Sie mit Ihren albernen Weibergeschichten!« sagte Daniel verdrießlich; »aber es ist mir egal, wohin Sie gehn, ich geh einfach mit.«
»Das werden Sie nicht tun, Daniel!« rief Lenore. Und als Daniel sie erstaunt ansah, fuhr sie errötend fort: »mit zu seinen Weibern gehen ...«
Die drei jungen Leute lachten und in ihrer Verwirrung lachte Lenore mit.
»Wie tragisch Sie sind, kleine Lenore,« spottete Daniel; »was verlangen Sie denn? Denken Sie, das geht so bei mir: die Träne quillt, die Erde hat mich wieder?«
[152] »Lassen Sie ihn,« flüsterte Benda dem Mädchen zu, »er hat recht. Nur kein künstliches Licht in diese Finsternis. Sie dient ihm, und er muß damit fertig werden.«
Lenore schaute Benda groß an. »Finsternis? wieso denn? Da wär ja das Feuer nur ein Irrwisch gewesen,« sagte sie, und ihre Augen strahlten stolz, »ich seh ihn voller Licht.«
Daniel hatte ihre Worte vernommen. »Wirklich, Lenore?« fragte er mit Gier.
Sie nickte. »Wirklich, Daniel.«
»Dafür dürfen Sie sich was von mir ausbitten.«
»Dann bitt' ich, daß Sie und Benda mit zu uns kommen. Der Vater wird sich freuen, und was zu essen gibt's auch.«
»Schön, das läßt sich hören. Addio, Wurzelmann. Einen Gruß an die Damen. Du gehst doch mit, Friedrich?«
Benda machte erst noch einige artige Umstände, bevor er sich bereit erklärte.
»Es hat Ihnen also gefallen, Lenore?« fragte Daniel, während sie die Straße hinuntergingen.
Lenore schwieg. Dieses Schweigen hatte plötzlich, er wußte kaum warum, etwas Ergreifendes für Daniel. Aber er vergaß den Eindruck schnell, den es geübt. Und es dauerte lange Zeit, es dauerte Jahre, bis er sich wieder daran erinnerte.
Der Inspektor hatte Gertrud am Arm nach Hause geführt und es rücksichtsvoll vermieden, sie durch irgendwelche Frage zu beunruhigen. In der Wohnstube zündete er die Lampe an, hierauf war er dem Mädchen beim Ausziehen der Jacke behilflich.
»Wie geht's?« forschte er freundlich, »schon besser?«
Gertrud wandte sich ab und setzte sich auf einen Stuhl.
»Jetzt werden wir einen heißen Tee kochen,« fuhr der alte [153] Mann fort, »dann wird sich das Kind ins Bett legen, und morgen früh sind wir wieder wohlauf. Gelt?«
Gertrud erhob sich. »Vater!« preßte sie hervor und suchte mit der Hand das Tischbrett zur Stütze.
»Gertrud! was hast du?« rief Jordan entsetzt.
Sie machte eine eigentümlich schleifende Bewegung mit dem Oberkörper und ein kraftloses Lächeln zuckte über ihr Gesicht. Auf einmal brach sie in ein Schluchzen aus und lief in ihre Kammer. Der Inspektor vernahm, wie sie zuriegelte, schaute versorgt vor sich hin und schlich nach einer Weile auf den Fußspitzen zur Türe.
Er hatte die Hände unter dem Kinn verschränkt und hörte, wie Gertrud weinte. Es war ein gleichmäßiges und rührendes, nicht so sehr schmerzerfülltes, als ausatmendes Weinen.
Indem der Inspektor das einsame, unfrohe und undurchdringliche Leben dieser Tochter an seinem Geiste vorüberziehen ließ, wurde er sich mit einigem Erstaunen bewußt, daß sie heute zum erstenmal wirkliche Musik gehört habe. Ist denn das möglich? fragte er sich, entsann sich aber keines Falles, der ihn an dieser Tatsache zweifeln ließ.
Er sagte sich ungefähr: gewiß hat die ihr völlig unbekannte Süßigkeit und Kraft, die im Zusammenspiel der Geigen enthalten ist, der Wohlklang des Orchesters und die Schönheit der Melodie mit einer so verhängnisvollen Unmittelbarkeit auf sie gewirkt wie das Sonnenlicht auf einen Menschen, dem der Star gestochen ist. Ihre Seele hat Hunger gelitten, so muß es wohl sein; sie hat zu viel um das Unbegreifliche und Ungreifbare gerungen.
Man muß sie weinen lassen, riet ihm der Instinkt der Liebe; es ist gut, daß sie weint, es wird ihr wohl tun. Er rückte einen Stuhl in die Nähe der Türe, setzte sich hin und wartete. Als sie endlich still wurde, war ihm das Herz leichter.
Lenore hatte sich nicht getäuscht, der Inspektor freute sich wirklich mit Daniel und Benda. »Ich bin ganz stolz auf Sie,« sagte er zu Daniel, »und daß Sie heute noch zu mir kommen, das rechn' ich Ihnen hoch an.«
»Wären Sie eine halbe Stunde länger geblieben, so würden Sie vielleicht anders reden,« erwiderte Daniel.
In aller Kürze berichtete Lenore ihrem Vater, was sich im Konzertsaal ereignet hatte. Der Inspektor lauschte verwundert und heftete einen forschenden Blick auf Daniel. »Mußte es sein?« fragte er stirnrunzelnd.
»Jawohl, es mußte sein,« versetzte Daniel.
»Wenn es sein hat müssen, dann ist es gut, daß es war,« lautete die gelassene Antwort.
Lenore nahm die Hand ihres Vaters, deren Rücken große, gelbe Flecken hatte, und küßte sie. Dann deckte sie den Tisch und richtete alles zur Mahlzeit her, wobei sie fröhlich aus- und einging und in der Küche das Wasser zum Tee auf den Kocher stellte. Nach Gertrud hatte sie sich gleich erkundigt, der Inspektor hatte sich jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht näher äußern wollen und was er sagte, gab keinen Anlaß zu Befürchtungen.
Endlich konnten sich alle zu Tisch setzen. Lenore war sehr zufrieden, die drei ihr lieben Menschen hier vereinigt zu sehen, und ihr Gemüt war voll Dankbarkeit gegen alle. Aber sie hatte auch Hunger und aß vier Butterbrote hintereinander. Als sie bemerkte, daß Daniel nicht zugriff, trat sie hinter seinen Stuhl, beugte den Kopf so weit nieder, daß ihre Haare seine Schläfe kitzelten und sagte: »Geniert er sich vielleicht? Oder sind die Würste nicht nach seinem Geschmack? Will er was anderes haben?«
Daniel wich ärgerlich mit dem Kopf aus; jedoch im Grund war ihm die Berührung des Mädchens angenehm, ja beinahe [155] erlösend, da seine Gedanken immer wieder eigensinnig zu jener Flüchtenden zurückkehrten, deren Gegenwart er vermißte, ohne sie herbeizuwünschen.
Benda sprach über die politischen Veränderungen, die durch den Tod Gambettas zu besorgen waren; der Inspektor, als ein Mann, der allen das Vaterland betreffenden Angelegenheiten lebendige Teilnahme widmete, wußte über die zwischen Deutschland und Frankreich herrschende Spannung einige wahre und humane Worte zu sagen, da öffnete sich Gertruds Kammertüre und Gertrud trat auf die Schwelle.
Ein tiefes Schweigen entstand und alle blickten nach ihr hin.
Sonderbarerweise hatte sie ein anderes Kleid an als im Konzert; es war das grüne, in welchem Daniel sie zum erstenmal gesehen. Doch der Inspektor und Lenore beachteten dies kaum; sie waren durch den veränderten Ausdruck in Gertruds Gesicht aufs äußerste betroffen. Auch Daniel war erstaunt und konnte den Blick nicht abwenden.
Das Gesicht war weicher, freier und heller. Die Unruhe, die es stets wie ein trüber Schleier umgeben hatte, war daraus gewichen. Sogar die Form schien eine andere geworden, die Brauen schienen höher gewölbt, das Oval der Wangen schien zarter.
Sie lehnte sich an den Pfosten der Türe; auch den Kopf lehnte sie an. Der herabhängende linke Arm hatte etwas unnennbar Lässiges, die rechte Hand war an die Brust gedrückt; so betrachtete sie die um den Tisch Sitzenden mit schüchternem und sanftem Lächeln.
Im ersten Augenblick glaubte der Inspektor, sie habe den Verstand verloren. Er sprang auf und eilte zu ihr hin. Aber sie reichte ihm die Hand und ließ sich willig an den Tisch führen.
Plötzlich heftete sie den Blick stumm auf Daniel. Der erhob sich unwillkürlich und packte die Lehne seines Stuhles. Er verfärbte sich und zog die Mundwinkel nervös in die Höhe. [156] Aber als Gertrud ihre Hand aus der des Vaters löste und sie ihm reichte, als er die Hand genommen hatte und sein Auge, machtvoll angezogen, dem ihren begegnete, wich der beklemmende Druck, denn was er in ihren Augen las, war eine rückhaltlose und unwiderrufliche Übergabe ihrer ganzen Person. Da wurde auch sein Blick sanft und dankbar und hatte einen schwärmerischen Glanz.
Der sinnliche Zauber war es nicht allein, der ihn zur Erwiderung eines vor der Welt kundgegebenen Gefühles zwang; tiefer berührte ihn, daß sie so kam, wie sie kam, als eine Reuige und Bekehrte. Tiefer berührte ihn die erhabene Gewißheit, die sie ihm schenkte, daß er eine Seele zu verwandeln und zu erneuen vermocht hatte.
Es kettete ihn diese Gewißheit fester an Gertrud als ihr Blick, ihr Antlitz und ihr Leib. Und er sah jetzt das alles, den Blick, das Antlitz und den Leib.
Der Inspektor ahnte. Ihm war, als müsse er das Mädchen in die Arme nehmen und mit ihr fliehen. Bilder künftigen Unheils umringten ihn, und die Hoffnung, die er eben noch für Gertrud gehegt, war vernichtet.
Benda starrte schweigend auf seinen Teller. Desungeachtet, wie wenn er noch andere Augen besäße als die wirklichen, nahm er wahr, daß Lenores Hände und Lippen zitterten, daß sie von Sekunde zu Sekunde bleicher wurde, daß sie bald den Vater, bald die Schwester, bald Daniel ungläubig ansah, daß sie zuletzt, von einer Art Mattigkeit befallen, sich aus dem Kreis des Lampenlichts stahl und sich im Erker auf einen Schemel setzte.
Aber als dann alle wieder Platz genommen hatten, Gertrud zwischen Benda und ihrem Vater, kam auch Lenore herbei und setzte sich still neben Daniel. Sie hörte nicht auf, Gertrud mit atemloser Verwunderung zu mustern. Und Gertrud lächelte wie vorhin an der Türe, schüchtern und leidenschaftlich.
Es kam kein ersprießliches Gespräch mehr in Gang, daher [157] dünkte es Benda am besten, den Freund zum Aufbruch zu mahnen. Sie dankten dem Inspektor für die freundliche Bewirtung und verabschiedeten sich. Jordan geleitete sie hinunter und sperrte ihnen das Tor auf. Als er zurückkehrte, ging Lenore gerade in ihr Zimmer. »Nun, Lenore, kein Gutenachtgruß für mich?« rief er ihr nach.
Sie drehte sich um, nickte bloß und schloß die Türe.
Gertrud saß noch am Tisch. Während der Inspektor in der Stube auf- und abwanderte, eilte sie plötzlich in seinen Weg, zwang ihn, stehen zu bleiben, warf die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf die Stirn. Das hatte sie nie zuvor getan.
Auch sie war schlafen gegangen. Den Inspektor bedrängte ein ungewohntes Gefühl der Verlassenheit. Er hörte, wie die Gattertür auf- und wieder zugesperrt wurde und wie Schritte schallten. Es war Benno, der endlich nach Hause kam. Jordan erwartete, daß sein Sohn noch hereinkommen werde, da er ja durch die Spalten der Türe das Licht sehen mußte. Aber Benno trug offenbar kein Verlangen, den Vater zu sehen, er ging in seine am andern Ende des Flurs gelegene Kammer und schlug die Türe zu wie ein Hausknecht.
Jedes ist in seiner Kammer, dachte der Inspektor, und von keinem weiß ich etwas.
Er schüttelte den Kopf, nahm die Hängelampe aus der Tragschale und verließ, sie vorsichtig haltend, das Zimmer.
Lenore hatte Eberhard von Auffenberg schon einige Wochen nicht gesehen, da schickte er ihr ein Kärtchen und bat um eine Zusammenkunft. Der Ort war ein für allemal derselbe, die Brücke am Tiergärtnertor, und als die Dämmerung [158] eingebrochen war, begab sie sich dorthin. Es war ein lauer Märzabend, die Luft war ohne Wind, der Himmel bedeckt.
Sie wanderten den Burgberg hinauf und als sie oben an der Brüstung standen, sagte Lenore mit leisem Lachen: »Jetzt weiß ich vom Ungeredeten genug, nun reden Sie was.«
»Es tut wohl, mit Ihnen zu schweigen,« erwiderte Eberhard gedrückt.
Voll unbehaglicher Ahnung suchte sich Lenore eines der vielen hundert Lichter aus, die in der Tiefe neblig flimmerten und hielt den Blick hartnäckig darauf gerichtet.
»Wenn ich mich in dieser Stunde an Sie wende,« begann endlich der junge Freiherr, »so geschieht es gewissermaßen wie ein Appell an die letzte und höchste Instanz. Meine Erwartungen vom Leben sind vernichtet bis auf eine einzige. Es steht bei Ihnen, Lenore, ob ich ein unnützer Parasit der menschlichen Gesellschaft sein soll oder ein Mann, der sein Quantum Glück durch ein gleichwertiges Quantum Arbeit zu bezahlen entschlossen ist. Ich biete Ihnen alles, was ich zu bieten habe. Es ist wenig, aber ich biete es ohne zu feilschen und für immer. Nur Sie allein können mich noch retten. Dies wollte, ich Ihnen sagen.«
Er schaute in die Wolken und lehnte sich auf seinen Spazierstock, den er hinter dem Rücken hielt.
»Ich habe Ihnen verboten, davon zu sprechen,« flüsterte Lenore in tiefem Schrecken; »Sie haben mir Ihr Wort gegeben.«
»Ich gab das Wort aus Liebe, ich brech es aus Liebe,« entgegnete Eberhard. »Ich sage mir, daß solch ein Wort eine Kinderei ist, wenn es sich um den Aufbau oder um den Einsturz einer Existenz handelt. Sind Sie hierüber anderer Ansicht, so verzeihen Sie mir. Ich hätte mich eben dann geirrt.«
Lenore schüttelte traurig den Kopf.
»Mein Plan war, daß wir nach England reisten und uns [159] dort trauen ließen,« fuhr Eberhard fort; »es ist für mich unmöglich, hier zu heiraten, weil mir vor dieser Stadt ekelt; es ist unmöglich, weil meine Familie sich vielleicht Rechte anmaßen würde, die ihr nicht mehr zukommen und die ich bekämpfen müßte, wovor mir gleichfalls ekelt; und es ist unmöglich, weil –« hier stockte er und preßte die Lippen aufeinander.
Lenore sah ihn neugierig an. Seine pedantische Aufzählung der Hindernisse wie auch die unerwartete Romantik seines Vorhabens belustigte sie. Als sie aber den Ausdruck des Grams in seinen Zügen gewahrte, empfand sie Mitleid. Sie trat einen Schritt auf ihn zu; da ergriff er ihre Hand, beugte sich hastig herab und drückte seinen Mund auf ihre Finger. Mit jäher Bewegung zog sie die Hand zurück.
»Fatale Umstände haben mich in eine äußerst demütigende Abhängigkeit gebracht, die ich von mir schütteln muß, wenn ich nicht darunter erliegen soll,« sagte Eberhard gepreßt. »Ich war unerfahren. Ich bin getäuscht worden. Es ist eine Person im Spiel, die den Namen eines Menschen kaum verdient; ein Ungeheuer im Gewand eines honetten Bürgers. Ich weiß nicht mehr ein noch aus, Lenore. Ich muß fort von hier. In einem andern Land finde ich vielleicht Kraft und geistige Klarheit wieder. Mit Ihnen würde ich allem trotzen können. Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.«
Lenore ließ den Kopf sinken. Die Verzweiflung des sonst so zurückhaltenden Freundes ging ihr nah. Um ihren Mund zuckte es, als sie mühsam Worte fand.
»Ich kann nicht heiraten, Eberhard,« hauchte sie; »wahrhaftig, ich kann nicht. Ich habe Sie ja nicht an mich gelockt, Sie dürfen mir keinen Vorwurf machen, von allem Anfang an wollt ich jeden Zweifel darüber aus der Welt schaffen. Ich kann nicht, ich kann nicht.«
Fünf oder sechs Minuten verflossen in einem Schweigen, welches durch die gedämpften Geräusche von Menschenstimmen [160] und Fahrzeugen, aus der Tiefe der Stadt empordringend, zerstückt wurde. In dem Erbarmen, das Lenore fühlte, ward sie sich der Härte erst bewußt, die in ihrer unbedingten Weigerung lag, und indem sie Eberhard mutig und fest anblickte, sagte sie: »Es ist nicht Eigensinn, Eberhard; auch keine dumme Angst und Einbildung, auch nicht, weil ich Sie nicht genug schätzte. Ich schätze Sie sehr hoch. Aber in mir muß etwas Unnatürliches sein, denn sehen Sie, mir graut vor der Ehe. Mir graut davor, mit einem Mann zu leben. So gern ich Sie habe, aber wenn Sie mich nur anrühren wie vorhin, als Sie meine Hand geküßt haben, schüttelt mich das Grauen von oben bis unten.«
Eberhard maß sie mit einem düster verwunderten Blick.
Sie aber fuhr fort: »Es ist in mir seit meiner Kindheit. Vielleicht bin ich damit geboren, so wie andere mit einem Körperfehler, vielleicht ist es seit einem bestimmten Tag, daß ich so bin. Es war im Herbst, an einem Abend. In Pappenheim war es, wo damals meine Tante Kupferschmied wohnte. Meine Schwester Gertrud und ich gingen in einem großen Obstgarten spazieren, da kamen wir zu einer Dornenhecke und an der Dornenhecke saß eine alte Frau. Mein Vater und meine Tante waren weit von uns weg und da sagte die alte Frau zu meiner Schwester, die etwa sieben Jahr zählte: nimm dich in acht vor dem, was singt und klingt. Und zu mir sagte sie: hüte dich vor Leibesfrucht. Am andern Tag wurde die Frau tot unter der Hecke gefunden; sie war über neunzig Jahre alt und fünfzig Jahre lang war sie als Kräuterweib im Altmühltal herumgezogen. Ich hab natürlich damals keine Ahnung gehabt, was das ist, eine Leibesfrucht; aber das Wort ist mir im Herzen steckengeblieben wie ein Pfeil. Es ist mit mir aufgewachsen und als ich einmal wußte, was damit gemeint ist, war es ein Bild neben dem Bild des Todes. Nun dürfen Sie nicht glauben, daß ich deswegen in einer häßlichen Furcht herumgehe. O nein. Mich gelüstet's [161] eben nicht. Es zwingt mich nicht. Zwingt's mich, was frag ich dann nach Tod und Sterben! Dann lach ich über die Alte unter der Hecke und tu, was ich muß.«
Bei den letzten Worten hatte ihr Gesicht einen wunderbar reinen und phantasievollen Ausdruck angenommen und Eberhard vermochte kein Auge von ihr zu wenden. Es gibt Märchenwesen auf dieser widerlich platten Erde, dachte er, verwunschene Prinzessinnen, geheimnisvolle Melusinen. In gewohnheitsmäßigem Unglauben kräuselte er die Lippen, doch verwandelte sich die offene, werbende Zuneigung für das Mädchen von nun ab in eine verheerende Leidenschaft.
Er war stolz, und Mann genug, sich zu verschließen; um so quälender war ihm das dunkle Wissen von dem Dasein der gläsernen Kugel, dieses Geistergehäuses, in welchem, so nah, so fern, das liebliche Geschöpf unangreifbar wohnte und wohin keine Flamme der Liebe dringen zu können schien.
»Sie geben mir also den Laufpaß?« fragte er.
»Jedenfalls ist es ratsam, daß wir uns vorläufig nicht mehr sehen.«
»Ratsam für mich, meinen Sie. Und vorläufig? Wie soll ich das deuten?«
»Sagen wir, fünf Jahre.«
»Warum gerade fünf Jahre? Warum nicht zwanzig? Warum nicht fünfzig? Es wäre dasselbe.«
»Es ist mir so, als ob fünf Jahre eine richtige Zeit wären, Eberhard.«
»Fünf Jahre! Und jedes hat zwölfmal dreißig, zweiundfünfzig mal sieben Tage. Da verliert man ja den Verstand mit lauter Arithmetik.«
»Es muß sein,« erwiderte Lenore sanft und bestimmt. »Verändert werd' ich mich ja nicht haben nach den fünf Jahren. Und eben, wenn ich noch die gleiche bin, wollen wir wieder darüber sprechen. Ich darf mich ja nicht aus der Menschenwelt hinausstellen für alle Zeit. Mein Vater sagt oft: was zu [162] Ostern wie ein Verhängnis aussieht, ist zu Pfingsten Grillenfängerei. Da will ich denn auf Pfingsten warten und mei nen Freund nicht vergessen.«
Sie streckte ihm lächelnd die Hand hin.
Er schüttelte den Kopf. »Die Hand nehm ich nicht,« sagte er, »damit Ihnen nicht wieder graut. Leben Sie wohl, Lenore.«
»Auch Sie, Eberhard, leben Sie wohl.«
Eberhard schritt der abschüssigen Straße zu. Plötzlich drehte er sich um und sagte: »Noch eins, Lenore, jener Musikus, Nothafft heißt er doch? er ist mit Ihrer Schwester verlobt, wie?«
»Ja; Gertrud und Daniel, die werden über Jahr und Tag heiraten. Aber daß davon irgend jemand weiß –?«
»Der Musikus war so unvorsichtig, während einer Kneiperei sein Glas zu erheben und wie ein betrunkener Tambur sich selbst den Namen Gertrud zuzurufen. Eine Zeit lang hat man Ihren Namen mit seinem genannt. Nun, es ist besser so. Ich liebe die Künstler nicht. Ich kann sie nicht einmal achten, diese indiskreten Heißblüter. Gute Nacht, Lenore.«
Damit verschwand er in der Dunkelheit.
[163]Es war an einem Abend, als Daniel zu Benda ging, um Abschied zu nehmen für lange Zeit.
Wie er in das Tor treten wollte, sah er den Hund des Herrn Carovius mit gefletschten Zähnen dastehen, und die blutunterlaufenen Augen der Dogge waren auf ein etwa zehnjähriges Mädchen geheftet, welches ebenfalls ins Haus wollte, aber aus Furcht vor dem Hund keinen Schritt zu tun wagte. Das Tier hatte seine Kette hinter sich hergeschleift und knurrte unheildrohend.
Entschlossen nahm Daniel das Kind bei der Hand und führte es ein paar Schritte abseits, nachdem er die Dogge durch einen Zuruf eingeschüchtert hatte. »Wer bist du?« fragte er das Mädchen.
»Dorothea Döderlein,« war die Antwort.
»Ei,« machte Daniel und mußte plötzlich lachen, denn das Mädchen hatte eine possierliche Altklugheit im Ton. Aber es war ein sehr hübsches Kind. Aus der dunklen Kapuze schaute ein schlau lächelndes Gesichtchen, und der Sammetmantel mit großen Perlmutterknöpfen umhüllte eine zierliche Gestalt.
»Du gehörst schon lange ins Bett, Dorothea,« sagte Daniel; »wenn der Nachtwächter kommt, was soll er von dir denken? Der packt dich beim Schlafittchen und sperrt dich ins Gefängnis.«
Dorothea belehrte ihn über die Ursache ihrer abendlichen Vereinsamung. Sie war bei einer Schulfreundin gewesen, und die Magd, die sie abgeholt, hatte vor dem Hinaufgehen noch einen Laib Brot aus der Bäckerei mitnehmen wollen. Nun schilderte sie ihr Zusammentreffen mit dem Hund so kokett überlegen, daß sich Daniel über den Gegensatz zwischen[164] dieser Aufschneiderei und der Schlotterangst, in der er sie angetroffen, höchlichst ergötzte.
»Du bist eine kleine Schwindlerin, Dorothea,« sagte Daniel und erinnerte sich wieder der bösen Empfindung, die sie in ihm erregt, als er sie vor Jahren zum erstenmal gesehen.
Indessen kam die Magd mit dem Brotlaib daher, blickte verwundert auf das schwatzende Paar und bemächtigte sich des Kindes mit schuldbewußter Eile. Den Hund Cäsar trieb sie mit gellenden Schreien vom Haustor weg, und als er über die Straße lief, blickte Dorothea mit triumphierender Miene zu Daniel zurück, als hätte sie ihm nun bewiesen, daß sie keine Furcht vor dem Hund hegte.
Frau Benda öffnete und schloß stumm die Türe, als er geläutet hatte und ging stumm in ihr Zimmer. Sie hatte eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Sohn gehabt, der ihr mitgeteilt hatte, er werde noch vor Ablauf des Frühjahrs, dem Ruf einer gelehrten Körperschaft folgend, nach England übersiedeln. Sie war reisemüde geworden, ihr bangte vor jedem Wechsel des Orts, die Trennung von Friedrich dünkte ihr unerträglich, und in seiner Flucht aus dem Vaterland sah sie einen endgültigen und zu frühen Verzicht auf die Aussichten, die sich ihm noch bieten konnten.
Es war ihre feste Überzeugung, daß die Menschen das Unrecht, welches sie ihm gegenüber begangen, einsehen und wieder gut machen würden, und sie wollte, daß er Geduld üben und warten solle, bis man ihm Genugtuung gab. Außerdem kannte sie seine Pläne und zitterte vor den Gefahren, denen er freiwillig und, so schien es ihr, ohne praktische Eignung entgegen gehen wollte.
Aber sein Entschluß war unerschütterlich. Daß er ihn vor [165] Daniel geheim hielt, ja nicht einmal andeutete, war in der sonderbaren Einseitigkeit begründet, zu der das Verhältnis beider gediehen war.
Lachend erzählte Daniel von seiner Begegnung mit der kleinen Dorothea. »Die sieht mir ganz darnach aus, als wollte sie dem großen Döderlein noch zu schaffen machen,« sagte er.
»Du hast ihm übel mitgespielt, dem großen Döderlein,« antwortete Benda; »in der Nacht nach der Generalprobe hörte ich ihn stundenlang unter meinem Schlafzimmer auf- und abgehen.«
»Dich dauert er wohl gar?«
»Wär ich du, ich ginge hin und leistete dem Mann Abbitte.«
»Ist das dein Ernst?« wallte Daniel auf. Und als Benda schwieg, fuhr er ruhiger fort: »Eigentlich sollt ich ihm ja dankbar sein, das ist wahr. Ich bin durch ihn schneller zu der Einsicht gekommen, daß es zwei mißlungene Machwerke waren, die ich an die Sonne hängen wollte. Mögen sie mich nur niederschmeißen, ich steh schon wieder auf, wenn ich die ganze Erde in mich hineingeschluckt hab.«
Benda lächelte gütig. »Ja, ja, du stirbst bei jedem Sturz und wirst bei jedem Aufschwung neu geboren,« sagte er. »Das ist schön. Ein Döderlein aber kann sich nicht mehr erheben, wenn ihn die Mitwelt fallen läßt. So einer lebt ausschließlich von der Meinung der andern. Was dir Idee ist, ist sein Verderben; was dir Lust ist, Wollust, ist sein Tod.«
»Immerhin,« murrte Daniel; »wozu ist er nütze?«
»Dem Geist der Natur, dem Geiste Gottes sind die Begriffe Schädlichkeit und Nützlichkeit fremd,« erwiderte Benda versonnen. »Er lebt, damit ist alles gesagt. Ich für meine Person hätte am wenigsten Ursache, einen Döderlein vor dir rein zu waschen.« Er hielt einige Sekunden inne und atmete tief. »Ich kann nicht deutlicher sein, das Wort will mir nicht über die Lippen,« sprach er mit trüber Miene weiter, »aber der [166] Mann hat an ... an einer Frau ein Verbrechen begangen, so tückisch, so raffiniert und so naiv zugleich, daß er jede Brandmarkung verdient und durch keine genug bestraft wäre.«
»Siehst du,« rief Daniel, »also nicht bloß ein schlechter Musikant! Es ist ja immer so. Und alle sind so. O, diese schlafröckigen, nieselnden, sauersüßen, grinsenden, kuppelnden, neunmalklugen Leutchen um und um! Das Blut gerinnt einem, wenn man ihnen zusieht. Und das ganze lange Leben lang soll man Spießruten laufen durch ihre Gassen!«
»Freilich,« bestätigte Benda mit gesenktem Kopf, »es ist ein zäher Giftbrei; rührst du mit dem Finger daran, so hält er dich fest und saugt dir das Mark aus den Knochen. Aber du redest doch vorläufig ohne exakte Kenntnis des einschlägigen Materials, wie wir uns in der Wissenschaft ausdrücken. Als ich während meines Studiums der Pflanzen- und Tierzelle zur Erkenntnis kam, daß eine sogenannte Urzeugung ein Ding der Unmöglichkeit sei und ich die Ansicht in einem Kreis von Fachgelehrten vortrug, wurde ich ausgelacht. Heute steht es so, daß man sich dieser Wahrheit nicht mehr verschließen kann. Einem meiner früheren Freunde war es gelungen, gewisse Verbindungen der Essigsäure kristallisiert auf künstlichem Weg herzustellen. Als er diese große Entdeckung verkündete, rief ihm einer der versammelten Herren zu: Geben Sie acht, Doktorchen, daß Ihnen die Amidosteinchen nicht aus dem Käfig laufen. So niedrig und so würdelos begegnen uns diejenigen, von denen wir glauben sollen, daß sie mit uns zu demselben Ziele streben. Aber du! verwirft dich die Welt, so hast du immer noch, was dir niemand entwenden kann. Ich muß mich gedulden, bis ein Richter das Urteil über mich fällt, durch das ich verdammt oder erlöst werde. Zwischen dir und mir ist ein Unterschied wie zwischen dem Samen, der, in die Erde gesenkt, emporschießt, mag es stürmen oder mag die Sonne scheinen, und einer Ware, die im Magazin verschimmelt, weil sie keinen Käufer findet.«
[167] Er stand auf und sagte das Wort: »Du bist der Glücklichere von uns beiden, daher darf ich der Barmherzigere sein.«
Daniel fand kein Gegenwort, das trösten konnte.
Als er nach Hause ging, gedachte er der Treue und steten, stillen Hilfe, die er von Benda genossen; er gedachte der Zartheit und beständigen Rücksicht des Freundes; er gedachte besonders jener außerordentlichen Artigkeit, die so groß war, daß Benda zum Beispiel mitten im Lachen über einen Scherz offenen Mundes innehielt, wenn man wieder zu sprechen begann, um durchaus nichts von dem zu verlieren, was der andere sagte.
Er blieb stehen; es war ihm, als hätte er versäumt, eine versichernde, herzliche und unvergeßbare Kraft in den letzten Händedruck zu legen. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Aber man kehrt nicht um; es kann keiner umkehren.
Die Maske der Zingarella wollte Daniel nicht mit auf seine Fahrten nehmen. Das zerbrechliche Material den groben Zufällen eines Wanderlebens auszusetzen schien ihm nicht liebevoll gehandelt, daher hatte er Lenore versprochen, ihr die Maske zu bringen und sie für die Dauer seiner Abwesenheit bei Jordans zu lassen.
Lenore öffnete ihm die Tür, und er trat ins Zimmer. Gertrud erhob sich von ihrem Platz am Tisch und schritt ihm entgegen. Ihr Gesicht zeigte stets, wenn sie ihn sah, dieselbe Hingabe, dieselbe Bereitschaft, dieselbe Unterwürfigkeit.
Daniel ging zum Tisch, packte die Maske aus dem Zeitungspapier und hielt sie gegen das Lampenlicht.
»Wie schön!« rief Gertrud aus, deren Sinn jetzt durch den Anblick jedes das Gefühl ergreifenden Gegenstandes entzückt wurde.
[168] »Also nimm es nur, Gertrud,« sagte Lenore, die mit ihren beiden Ellbogen auf der Tischplatte lehnte. »Behalt es nur bei dir,« fuhr sie gepreßt fort, als Gertrud fragend Daniel ansah.
»Aber wollt' er's nicht uns beiden geben?« versetzte Gertrud mit begehrlichem Lächeln.
»Ach nein, um mich wollt er sich nur herumreden,« versicherte Lenore.
»Lenore, ich weiß nicht, wie mir's mit dir geht,« wandte sich Daniel halb verwirrt, halb ungestüm zu ihr und stockte plötzlich, als die feurige Bläue ihrer Augen voll auf ihn fiel.
»Du?« flüsterte sie erstaunt, »du?«
»Ja, du!« wiederholte er nachdrücklich. »Später darf ich's ja vor aller Welt sagen, und heute klingt's doppelt wahr. Du bist mir wie eine Schwester.«
Er hatte die Maske weggelegt und reichte Lenore die linke Hand, dann, erst zaudernd, hierauf mit sehr entschlossener Gebärde Gertrud die rechte.
Lenore richtete sich gerade, nahm die Maske der Zingarella und hielt sie vor ihr Gesicht. »Brüderlein!« rief sie neckend, und das süße, fahle Steingesicht war wunderlich anzuschauen über dem Körper, der von Leben zuckte.
Und Gertrud, eine Sekunde lang verging sie in Daniels Blick, ein Seufzer, tief wie das Meer, klang in ihrer Brust, dann lag sie in seinem Arm. Er küßte sie stumm, mit finster verzogener Stirn.
»Brüderlein!« tönte es hinter der Maske, doch nicht mehr neckend, eher wie Klage und Weh, »Brüderlein.«
Daniel hatte längst schon die Stadt verlassen, da begegnete Lenore am Gräslein Herrn Carovius. Er zwang sie, stehenzubleiben, benahm sich möglichst vertraulich, sprach so laut, [169] daß die Vorübergehenden grinsten, und erkundigte sich nach dem jungen Meister, womit Daniel gemeint war.
Schließlich erzählte er, daß der »gute Eberhard«, wie er den Freiherrn von Auffenberg nannte, für ein paar Monate nach München gereist und dort unter allerlei Spiritisten- und Theosophenvolk geraten sei.
»Ist auch eine Manier, sich auszutoben,« feixte er. »Vor Zeiten sind die jungen Adligen auf die europäische Turnee gezogen, um ihre Bildung zu vollenden und allerlei Abenteuerchen zu bestehen. Heutzutage werden sie Federfuchser oder betreiben das Tischrücken. Die Menschheit kommt immermehr herunter, mein reizendes Fräuleinchen; es ist kein erhebender Anblick, so eine Blüte der Nation aus der Nähe zu betrachten. Faul, sag ich Ihnen, faul wie überwintertes Obst. Drum gibt es kein größeres Vergnügen, als solch einen Burschen tanzen zu lassen. Man spielt auf, er tanzt; man pfeift, er apportiert. Ein Hochgenuß!«
Er lachte hysterisch und bekam einen Hustenanfall, wobei sich das von seinem Zwicker herabhängende schwarze Schnürchen an einem Knopf seines Mantels verwickelte und der Zwicker von der Nase fiel. Kurzsichtig ungeschickt mühte er sich mit seinen mageren Fingerchen an Schnur und Knopf, da half ihm Lenore und brachte mit einem Handgriff alles wieder in Ordnung.
Die Überraschung raubte Herrn Carovius die Sprache. Er glaubte der Unbefangenheit und Natürlichkeit des Mädchens nicht; er vermutete eine Falle dahinter, einen Hohn, eine Verderbnis. Er glaubte es nicht, daß irgendein Mensch ihm aus freiem Willen in einer Bedrängnis beistehen könnte.
Und plötzlich schämte er sich; schämte sich seiner selbst; zog die Brauen weit in die Höhe und lächelte einfältig; warf einen Blick von beinahe hündischer Zärtlichkeit auf Lenore und eilte ohne Wort und Gruß spornstreichs über die Straße, um alsbald hinter einer Ecke zu verschwinden.
An einem Nachmittag in der letzten Augustwoche schickten die Schwestern Rüdiger ihren Gärtnerburschen zu Lenore und ließen sie bitten, sie möge so schnell wie möglich zu ihnen kommen. In der Meinung, es sei Daniel ein Unglück zugestoßen, von dem man die Damen in Kenntnis gesetzt, überlegte Lenore nicht lange. Eine Viertelstunde später trat sie in das Zimmer der Schwestern.
Es bot sich ihr ein mitleidswürdiger Anblick. Jede der drei Schwestern saß in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne; die Arme einer jeden hingen schlaff herab; da die Jalousien niedergelassen waren, sahen die Köpfe im Dämmerlicht mumienhaft aus. Seltsam wirkten dazu die Medea, die Iphigenie und die Römerin, Nachbildungen der Gemälde ihres Abgotts, die an den Wänden hingen.
Lenores Gruß wurde nicht beantwortet; sie wagte nicht, sich von der Tür zu entfernen, und das Schweigen, das sie empfing, endete erst, als sie sich zu einer Frage entschloß.
Fräulein Jasmine zog ein Taschentüchlein hervor und betupfte damit ihre Augen. Fräulein Salome blickte im Kreis herum wie auf dem Theater der Vorsitzende eines Femgerichts, und sprach: »Wir Einsamen und von der Welt Vergessenen haben Sie gerufen, um Sie von einer Schandtat zu unterrichten, die in unserem unschuldigen Heim begangen worden ist, einer Schandtat, so beispiellos, so himmelschreiend, daß wir seit heute morgen, wo wir das Gräßliche erfuhren, zitternd hier sitzen und vergeblich nach einem klaren Gedanken ringen.«
Fräulein Jasmine und Fräulein Albertine nickten trüb vor sich hin.
»Können wir die Unselige von uns stoßen?« fuhr Fräulein Salome fort, »können wir das, meine Schwestern? Nein. Können wir sie noch bei uns dulden? Nein. Was sollen wir [171] also tun? Sie ist eine Waise; sie steht allein da, von ihrem ruchlosen Verführer der Schande ausgeliefert; was sollen wir tun?«
»Und Sie,« wandte sich nun Fräulein Salome an Lenore, »Sie, die Sie durch Bande, deren Beschaffenheit sich unserm Urteil entzieht, mit jenem höchst begabten Scheusal verknüpft sind, Sie sollen uns einen Weg aus dem Labyrinth unseres Kummers zeigen.«
»Wenn ich nur wüßte, wovon Sie reden,« antwortete Lenore, der eine Last vom Herzen fiel, als sie der Grundlosigkeit ihrer ersten Besorgnis inne wurde. »Sie meinen wahrscheinlich Daniel Nothafft mit dem Scheusal. Was hat er denn verbrochen?«
Fräulein Salome war entrüstet über diesen leichten Ton. Sie richtete sich steif empor und sagte mit strafender Wucht: »Er hat unsere Dienstmagd zu seiner Lustdirne erniedrigt, und die Folgen sind nicht mehr zu verbergen. Begreifen Sie jetzt?«
Lenore stieß ein leises Ach aus und errötete bis in die Haarwurzeln. In ihrer Verlegenheit öffnete sie den Mund zum Lachen, war aber dem Weinen nahe.
Langsam bahnte sich ihr verdunkeltes Gefühl den Weg zu Daniel, und als sein Bild aufstieg, kehrte sie sich ekelnd ab. Dieses wollte sie nicht hingehen lassen; es war zu schlaff, zu klein, zu eigensüchtig. Eh sie es recht bedacht, hatte sie ihm als Weib verziehen; sie schauderte, schlug die Augen empor und war wieder ganz heiter, ganz in ihrer Gewalt.
Das Femgericht hatte indessen die Stillversunkene mit strengen Blicken gemustert. »Wo hält sich Herr Nothafft gegenwärtig auf?« fragte Fräulein Salome.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte Lenore, »es ist über drei Wochen, daß er nicht mehr geschrieben hat.«
»Wir müssen aber fordern, daß Sie ihn schleunigst von dem Zustand des Frauenzimmers benachrichtigen, denn solange [172] die Person im Haus ist, können wir nicht Schlaf noch Ruhe finden.«
»Es tut mir leid, daß Sie sich die Geschichte so zu Herzen nehmen,« sagte Lenore, »und sie ist ja auch unangenehm. Aber ich habe kein Recht, mich da hineinzumischen, kein Recht und keine Lust.«
Die drei Schwestern nahmen diese Erklärung mit verzweifeltem Händeringen auf. Eher den Tod, sagten sie, als mit dem Wüstling noch einmal in Verkehr treten; eher wollten sie jede Marter erdulden, als ihn rufen, ihn sehen zu müssen. Sie sprachen durcheinander; sie drohten Lenore und flehten sie an; Jasmine erzählte mit angehaltenem Atem, wie Meta vor sie hingestürzt sei und alles gebeichtet habe; Albertine beteuerte, daß sie auf der weiten Erde niemand hätten, der ihnen in dieser grausamen Lage raten und helfen könne, und Salome sagte, es bliebe ihnen nichts anderes übrig, als das elende Geschöpf auf die Straße zu stoßen.
Lenore schwieg. Sie hatte die Augen auf das Medeenbild gerichtet und dachte angestrengt nach. Endlich hatte sie ihren Entschluß gefaßt. Sie fragte, ob sie mit Meta sprechen könne. Ängstlich und hoffnungsvoll erkundigte sich Fräulein Salome, was sie vorhabe. Sie entgegnete, sie werde den Damen später ihre Absicht mitteilen; da wies ihr Fräulein Jasmine den Weg zur Kammer der Magd.
Finstere Verwunderung malte sich in Metas Zügen, als sie Lenores ansichtig wurde.
Sie saß mit einer Näharbeit am offenen Fenster der Mansarde, erhob sich und blickte stumm in das ernst befangene Antlitz des schönen Mädchens. Es rührte Lenore, die jugendliche Gestalt mit dem hohen Leib zu sehen, dennoch konnte sie eine Regung des Grauens nicht bewältigen.
Bei den ersten Worten Lenores fing Meta zu schluchzen an. Lenore tröstete sie und fragte, zu wem sie gehen wolle, wenn ihre Zeit herangekommen sei.
[173] »Es gibt solche Anstalten,« murmelte die Magd in ihre vor das Gesicht gehaltene Schürze, »da kann man hin.«
Lenore setzte sich auf den Bettrand neben sie. Der erst bedrückt Lauschenden, zuletzt dankbar Willigen entwickelte sie nun ihren Plan mit einer Zartheit und Schonung, als spräche sie zu einer verwöhnten Dame, mit einer silberhellen Lebendigkeit, als handle es sich um einen übermütigen Streich.
Die Magd, gepeinigt durch die ätherisch-unmenschliche Zimperlichkeit ihrer Dienstgeberinnen, dem Manne grollend, der sie einem unsicheren Los preisgegeben hatte, ankämpfend gegen die Vorwürfe ihres Gewissens, wurde bei Lenores Worten weich wie Wachs und unterwarf sich gehorsam.
Die gespannt harrenden Schwestern Rüdiger konnten von Lenore nichts weiter erfahren, als daß sie mit Meta abreisen würde, und daß diese mit allem einverstanden sei, was Lenore zu tun für geboten erachtet habe.
Lenores Plan bestand darin, die Schwangere zu Daniels Mutter nach Eschenbach zu bringen.
Sie wußte von dem Zerwürfnis zwischen Daniel und seiner Mutter. Sie wußte, daß die beiden sich voreinander verborgen hielten, daß Daniels Trotz einen Liebesmangel wähnte rächen zu müssen. Hinter dem Bild des hassenden und unduldsamen Sohnes sah sie das einer alten Frau, die in verschwiegener Sorge sich einsam grämt.
Schon oft hatte sie sich schmerzlichem Mitgefühl hingegeben, wenn die Gedanken mit der unbekannten Mutter des Freundes beschäftigt waren. Jetzt schien es ihr, als könne sie eine Sendbotin sein; als müsse sie die Verlassene hier zu der Verlassenen dort führen, die werdende Mutter zu jener, die zu klagen Grund hatte, daß sie es gewesen war.
[174] Es schien ihr, als müsse sie dadurch ein Band von neuem knüpfen, welches nicht einmal durch Verbrechen, um wieviel weniger durch Unverstand und Laune zerrissen werden durfte; und es schien ihr, daß Daniel zu sühnen habe, hier wie dort; daß sie selbst, in dem Bewußtsein, das Rechte zu tun, keinen Einwand zu scheuen, keine Abrechnung zu fürchten habe.
Sie erwog auch die praktischen Umstände. Meta konnte draußen leichterdings ihr Brot verdienen, konnte der Frau behilflich sein oder bei den Bauern tagelöhnern.
Wenn dann das Kind da war, hatte Daniels Mutter junges Leben vor Augen, und ihre Sehnsucht würde sich mildern, ihre Bitterkeit geringer werden beim Anblick eines Menschen aus Daniels Blut.
Zu Hause sagte Lenore, sie wolle mit einer ehemaligen Schulkameradin einen Ausflug in die Ansbacher Gegend machen. Sie studierte den Fahrplan und schrieb an Meta eine Postkarte mit dem Geheiß, sich um acht Uhr früh am Bahnhof einzufinden.
Der Inspektor billigte Lenores Absicht; er warnte sie nur vor Strolchen und vor kaltem Trunk. Gertrud aber war nicht völlig ohne Arg. Sie witterte etwas in der Luft, ungesprochene Worte, die auf Daniel Bezug hatten, da ihre Gedanken immerfort bei ihm waren.
Kam ein Brief von ihm, was selten geschah, so ließ sie ihn stundenlang uneröffnet liegen und dichtete herrliche Offenbarungen einer Liebe hinein, für die ihr selbst jeder Ausdruck fehlte. Aber in einer Art von mondsüchtigem Entzücken machte sie eine geträumte, innere Musik daraus.
Las sie den Brief, so genügte ihr seine Schrift, auch das Papier schon, auf dem seine Hand geruht hatte. Stillschweigend ordnete sie sich dem Gesetz seiner Natur unter, das ihm nicht erlaubte, überschwenglich oder mitteilfreudig zu sein. Jeder seiner trockenen Berichte wurde für sie zum Evangelium, [175] aber ihre Antworten waren in gleicher Trockenheit gehalten und ließen die hingeschmolzene Seele kaum ahnen.
Sie spürte, daß Lenore log und daß die Lüge mit Daniel im Zusammenhang stand. Daher trat sie in der Nacht an Lenores Bett, weckte sie auf und fragte sanft: »Ist ihm etwas geschehen, Lenore?«
Doch ehe Lenore antworten konnte, beschwichtigt allein durch die erstaunte Miene der Schwester und sich selber zürnend, daß sie Lenore, die sie jetzt mehr und mehr schätzen lernte, eine Verstellung zugetraut, entfloh sie wieder.
Wie sie ihn liebt, dachte Lenore und drückte das Gesicht lächelnd in die Kissen.
»Da beim Brunnen warten Sie auf mich,« sagte Lenore zu ihrer Begleiterin, als sie um die Mittagsstunde über den Marktplatz in Eschenbach schritten. »Wenn alles besprochen ist, hol ich Sie.«
Der Postillon zeigte ihr das Häuschen der Witwe Nothafft.
Eine Frau mit strengem Gesicht und auffallend großen braunen Augen erkundigte sich nach ihrem Begehr, als sie in den Kramladen trat, in dem es nach Essig und nach Käse roch.
Lenore erwiderte schüchtern, sie wolle ein paar Minuten ungestört mit ihr reden.
Der tiefe Ernst in Mariannes Zügen, der einem unheilbaren Leiden mehr als etwas anderm ähnelte, wich nicht. Sie schloß die Ladentür zu und führte Lenore in die Wohnstube. Schweigend deutete sie auf einen Stuhl und nahm selber Platz.
Über dem Ledersofa hing das Bild Gottfried Nothaffts. Lenore betrachtete es lange.
»Mütterchen,« begann sie endlich leise und legte ihre Hand auf Mariannes Knie, »ich bring Ihnen was von Daniel.«
[176] Marianne zuckte zusammen. »Gutes oder Schlechtes?« fragte sie. Seit zweiundzwanzig Monaten hatte sie nichts von Daniel gehört. »Wer sind Sie?« fragte sie weiter, »was haben Sie mit ihm zu tun?«
Lenore mußte acht haben, die empfindliche und sehr beleidigte Frau nicht durch ein unbesonnenes Wort zu erzürnen. Mit aller Vorsicht, deren sie fähig war, brachte sie ihr ungewöhnliches Anliegen zur Sprache.
Und siehe da, das Ungewöhnliche wurde zum Alltäglichen, so wie das Natürliche wundersam schien. Lenore schilderte Daniels Drangsale und seinen Aufstieg, prahlte treuherzig mit seinem Talent, mit der Begeisterung derer, die an ihn glaubten, mit seinem künftigen Ruhm und wollte jede Schuld Daniels, auch die gegen die Mutter, getilgt wissen.
Nachdenklich rückblickend, begriff da Marianne vieles, eigene Versäumnis, und was sie an Daniel zuvor nicht hatte würdigen können. Vieles begriff sie, nur dieses Mädchen nicht. War es schon eigen, daß eine Fremde kommen mußte, um ihr zu sagen, wer Daniel war und was er den Menschen bedeutete, so war es ganz und gar unerklärlich, daß sie noch eine mitbrachte, die die Geliebte desselben Mannes war, dem sie sich bis auf den Grund des Herzens ergeben zeigte.
Lenore las die Gedanken von Mariannes Augen ab, und es wurde ihr ein wenig besinnlicher zumute. Auch ihr fiel es ein, sich zu fragen: was bin ich ihm denn? Was ist er mir?
Sie wußte keine befriedigende Antwort. Freundin? Freund? ja; es war nur ein bißchen zu viel Ruhe in den zwei Worten. Bruder? Gefährte? Darin lag innigere Verbundenheit. Brüderlein! hatte sie ihm einmal zugerufen, hinter der Maske hervor. Also: Schwesterlein hinter der Maske?
Ja, so sollte es sein: Schwesterlein hinter der Maske. Sie mußte ein Versteck haben für so manches, was sie dunkel empfand, heller nicht empfinden wollte. Ein gebändigtes Herz, ein gefangenes Herz, es glüht auf, es kühlt ab, man hebt's [177] empor, man drückt's hinunter, wie das Geschick es will. Immer geduldig bleiben, das war das Wichtige, und nichts verraten. Schwesterlein hinter der Maske, so sollte es sein.
Marianne sagte: »Kind, das hat Ihnen Gott eingegeben, daß Sie gekommen sind, um mir Nachrichten von ihm zu bringen. Da will ich denn wieder Blumen ins Fenster stellen wie vor Zeiten und das Haustor offen lassen, damit die Schwalben wieder ein Nest drin bauen. Vielleicht gedenkt er dann auch wieder an seine Mutter.«
Dann verlangte sie Meta zu sehen. Lenore ging und kehrte nach kurzer Weile mit ihrem Schützling zurück. Mitleidig und streng betrachtete Marianne die Schwangere, die ein verstörtes Wesen zeigte und auf jede Frage eine ungereimte Antwort gab. Sie könne wohl bei ihr wohnen, sagte Marianne, doch müsse sie arbeiten, denn im Hause sei kein Überfluß. Das Mädchen berief sich auf seine vier Dienstjahre und daß es ihr an Fleiß und Willigkeit nie gefehlt. Darauf ermahnte Marianne sie zur Verschwiegenheit, die Leute im Orte seien neugierig, sie dürfe nicht plaudern und sich von keinem ausfragen lassen, sonst sei ihres Bleibens nicht.
Als dies vorüber war, verabschiedete sich Lenore. Eine Mahlzeit zu nehmen weigerte sie sich standhaft. Marianne dachte, sie habe Eile, die Rückpost zu benutzen, und geleitete sie über den Platz. Sie versprachen einander zu schreiben, und ehe Lenore in die wacklige Kutsche stieg, küßte Marianne das blühende Geschöpf auf die Wange.
Sie schaute dem Wagen nach, bis er durchs Stadttor gefahren war. Ein betrunkener Bauer stieß sie an, der Hufschmied rief ihr einen Gruß zu, die Doktorsfrau lehnte aus dem Fenster und erkundigte sich, wer der städtische Zierbengel gewesen sei, Marianne hörte nichts und ging langsam ihrer Behausung zu.
So kam es, daß fünf Wochen später eine Tochter Daniels unter Mariannes Dach das Licht der Welt erblickte.
Von seiner Geburt an war Marianne dem Kinde zugeneigt, während sie vorher mit Widerwillen seiner gedacht hatte. Es war ein feines Kreatürchen, zartgliedrig, schmalhäuptig, eigentümlich menschenhaft in seinen frühesten Lebensäußerungen und eine edle Art mit Entschiedenheit verkündend.
Die Eschenbacher staunten. Wo kommt das Kind her? fragten sie; wer ist die Mutter? wer der Vater? Das Standesamtsregister nannte eine Meta Steinhäger als Mutter der unehelich geborenen Eva Steinhäger. Der Vater sei unbekannt, hieß es.
Aber die Witwe Nothafft wußte vermutlich Näheres. Deshalb kamen die alten und die jungen Frauen häufiger als früher in Mariannes Laden. Sie wollten in Erfahrung bringen, wie das Kleinchen gedieh, ob es die Milch gut verdaue, ob es schon zahne, ob es deutsch reden werde oder eine ausländische Sprache und Ähnliches mehr.
Um sich Ruhe zu verschaffen, sagte Marianne, die Meta Steinhäger sei eine arme Anverwandte, und sie habe das Kind in Kost und Pflege übernommen. Sie konnte diese Mär um so leichter in Umlauf setzen, als sich Meta fast gar nicht um den Säugling kümmerte. Kurz nach der Entbindung war sie zu einem Bäcker nach Dinkelsbühl in Dienst gegangen und kam höchstens einmal im Monat herüber. Das Kind war ihr gleichgültig. Ein Geselle jenes Bäckers vergaffte sich in sie, er wollte sie heiraten und mit ihr nach Amerika auswandern.
Um Weihnachten wurden sie getraut und bald danach verließen sie das Land. Marianne war dessen froh; nun gehörte das Kind ihr allein.
Obgleich die Leute sich allmählich an das Dasein ihrer [179] jungen Mitbürgerin gewöhnten, war und blieb Eva das geheimnisvolle Kind von Eschenbach.
Nie Wanderoper zog durch die kleinen Städte, deren es zwischen Donau und Main und Saale und Neckar die Fülle gibt, und die Dauer ihres jeweiligen Aufenthaltes hing natürlich von der Teilnahme des Publikums ab.
»Die Provinz ist das verzauberte Dornröschen,« sagte der Impresario Dörmaul zu Wurzelmann und Daniel, »die Provinz schläft noch, und ihr müßt sie wecken, indem ihr den Kuß der Muse auf ihre Stirn drückt.«
Aber der Impresario hielt dabei die Taschen zu; die Prinzen, die das Dornröschen aus dem Schlummer reißen sollten, hatten nicht die Mittel zu einem standesgemäßen Auftreten, und um ihren Hofstaat sah es auch ziemlich windig aus.
Der Tenor hatte den Zenith des Lebens längst überschritten, und sein Schmerbauch tat der Glaubhaftigkeit der Heldenfiguren, die er zu spielen hatte, großen Abbruch. Der Buffo war ein unverbesserlicher Säufer und wurde wegen nächtlicher Exzesse von der Polizei oftmals hinter Schloß und Riegel gesetzt. Der Bariton führte mit Hilfe zweier Winkeladvokaten einen Erbschaftsprozeß, und aus Ärger über die Finten der Gegenpartei versagte ihm oft die Stimme. Die Sopranistin lag stets mit sämtlichen Kollegen in Zank und Hader, und die Altistin war ein ränkesüchtiger Teufel ohne Talent. Daneben gab es noch ein Dutzend Eleven und Elevinnen, die sich langweilten, Schabernack trieben, Hungerlöhne bezogen und nichts gelernt hatten.
Auch die Orchestermitglieder waren traurige Gestalten. Nicht selten hatte einer oder der andere sein Instrument ins Pfandhaus getragen; einmal mußte eine Vorstellung abgesagt [180] werden, weil sich die Geiger bei einer Dorfkirchweih verspäteten, wo sie zum Tanz aufspielten, um ihr kümmerliches Einkommen zu verbessern. Der Inspizient, der zugleich Kulissenschieber, Souffleur, Billettverkäufer und Besucher der Zeitungsredaktionen war, zeigte sich keinem dieser Ämter gewachsen und ergriff im zweiten Jahr mit einer Elevin und einer Tageseinnahme die Flucht.
Einmal waren die Kostüme an einen falschen Ort geschickt worden, und es mußte »die weiße Dame« in Lodenkitteln, verschossenen Sammetröcken, schmierigen Kattunblusen und Pariser Pölsterchen gespielt werden.
Ein anderes Mal bestand in der Oper »Martha oder der Markt zu Richmond« die Volksmenge aus einer übelgelaunten jungen Dame, einem Kellner, den man aus einer Heringsbraterei geholt hatte und dem Pförtner eines Waisenhauses, da das Chorpersonal wegen versäumter Lohnauszahlung den Dienst verweigerte.
In Karlstadt mußte der letzte Akt der »lustigen Weiber von Windsor« unaufgeführt bleiben, weil in der Pause zwischen Frau Flut und Falstaff eine Prügelei entstanden war und jene Dame dem unglücklichen Sänger einen Hautlappen aus der Nase gekratzt hatte.
Wenn die musikalische Wanderschmiere, wie der stellvertretende Direktor Wurzelmann seine Truppe nannte, desungeachtet leidliche Einnahmen erzielte, war es den übermenschlichen Anstrengungen Daniels zu danken. Wurzelmann war beständig in Liebeleien verstrickt, führte eine verderbte Günstlingswirtschaft ein und ergab sich immer mehr der Trägheit.
Daniel mußte die Musiker zu den Proben aus ihren Betten ziehen; Daniel mußte korrepetieren; Daniel mußte am Dirigentenpult mitsingen, wenn der Chor zu dünn klang; Daniel mußte Rollen verteilen, widersetzliche Frauenzimmer bändigen, hirnlos brüllende Dilettanten dem Gefüge eines Werkes [181] unterordnen, das er selbst meist verabscheute; mußte Anfänger drillen, Partituren kürzen, Stimmen transponieren, mit kläglich unzureichenden Kräften Wirkungen hervorzaubern und von morgens früh bis abends spät gegen Schmähsucht, Fahrlässigkeit und Unfähigkeit im Kampfe liegen.
Es liebte ihn keiner dafür. Sie fürchteten ihn bloß. Sie schworen ihm Rache, aber sie duckten sich. Er hatte eine Art, sie kalt zu behandeln, daß sie sich wie Verbrecher erschienen. Er hatte einen Blick eisiger Geringschätzung, unter dem sich die Faust des Getroffenen ballte. Aber sie ordneten sich knirschend einer Macht unter, die ihnen unheimlich dünkte, die jedoch in nichts anderm bestand, als daß er seine Pflicht erfüllte und sie die ihre nicht.
Am Ende jedes Vierteljahres trat der Impresario Dörmaul auf den Plan, um den Rechnungsabschluß persönlich vorzunehmen. Seine Anwesenheit wurde durch eine Musteraufführung von »Fra Diavola« oder der »Regimentstochter,« oder von »Froufrou« gefeiert. Der Buffo betrank sich nicht, der Bariton ruhte von den Strapazen seines Prozesses, die Altistin hatte ein holdes Lächeln für das beifallslustige Haus, die Sopranistin war friedfertig wie eine Mine nach der Explosion, von den Choristen war keiner im Wirtshaus geblieben, und da Wurzelmann dirigierte, und das Orchester nicht den Basiliskenblick des Kapellmeisters Nothafft auf sich brennen fühlte, bewegte es sich freier im Takt und brachte einen weit gefälligeren Ohrenschmaus hervor als sonst.
Der Impresario Dörmaul kargte nicht mit seiner Anerkennung. »Bravo Wurzelmann!« rief er, »noch ein Jährlein geschuftet, und ich bringe Sie ans Königliche Opernhaus.«
»Auch der Nothafft soll zu Amt und Würden kom men,« sagte er, »obwohl ich die Dummheit begangen habe, seine Kompositionen zu drucken und die ganze Makulatur in meinen Magazinen liegt wie ein Pfund Backsteinkäse in einem kranken Magen.«
[182] Der Impresario Dörmaul trug schwarz und weiß karierte Hosen von überseeischem Schnitt, eine Weste, die wie eine Tapete aus gepreßtem Leder aussah und über der eine schwere goldene Kette mit zahllosen Anhängseln baumelte, einen Gehrock, der bis zu den Waden reichte, eine ziegelrote Krawatte mit einem Diamanten, so groß wie der Kohinor und so falsch wie Aprilsonne, und einen grauseidenen Zylinder, den er nur vor Geheimräten, Generälen und Polizeipräsidenten lüpfte.
Einem so beschaffenen Mann wagte Daniel zu erwidern: »Hätten Sie Käse gegessen, so hätten Sie ihn wenigstens verdaut. Ihre vollen Magazine sind mir noch lieber als mancher Kopf, der leer bleiben würde, auch wenn man die Matthäuspassion hineinstopfen würde.«
Der Impresario Dörmaul entschloß sich, zu lachen. »Oho, mein Bester,« sagte er und schob den Zylinder weit zurück, »Sie blähen sich. Nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht platzen. Als Hänschen hinterm Ofen saß, da war er stolz vor Grütze, doch wie er auf die Straße ging, da fiel er in die Pfütze.«
Das Knechtlein kicherte. Daniel wußte längst, daß das Knechtlein gegen ihn wühlte. In aller Unschuld, denn Halbseelen können bewundern und verraten zugleich.
»Der Neid ist meine einzige Tugend,« sagte Wurzelmann ganz offen, »ich bin ein Genie des Neides.«
Daniel war solchem Zynismus nicht gewachsen; Wurzelmann machte ihn dumm. Aber er brauchte ihn; er hatte keinen anderen Menschen, mit dem er von sich und seiner Arbeit sprechen konnte. Denn trotz der Überbürdung, die sein Amt mit sich brachte, gelang es ihm, täglich einige Stunden für sich zu erobern, und gerade der Druck von allen Seiten trieb die Flamme hoch hinan.
In jenen Jahren zog er die Grenzen, um Herr in seinem Bezirk zu werden. Er wandte sich zum Lied; er wählte die gebändigten und klaren Formen der Kammermusik; er studierte mit unablässigem Bemühen die alten Meister und entnahm [183] ihren Schöpfungen die Regel, die gegen Willkür und Verwilderung als ein Damm zu errichten war.
Er verhehlte es sich keineswegs, daß er dadurch den Menschen den Weg zu sich erschwerte und vielleicht für immer Verzicht leistete auf Lohn und Erfolg und auf die Erleichterungen des Daseins, die den Gefühlsschwelgern sicher sind.
Wenn er nun mit Wurzelmann spät nachts in einem Wirtshauszimmer saß und ihm Notenblatt um Notenblatt reichte, auch wohl zur Verdeutlichung eine Stimme sang, eine Begleitung lebhaft ausmalte, die Führung einer Melodie rühmte, die Besonderheit eines Rhythmus erklärte, dann staunte das Knechtlein und wehrte sich. Es war ihm alles das gar zu gründlich neu. Bewies Daniel, daß das Neue nicht neu, daß bloß die zerrütteten Seelen des Jahrhunderts die Kraft verloren hatten, ungebrochene Linien in ihrer Reinheit aufzunehmen, so machte sich Wurzelmann zum Befürworter moderner Freiheit und sagte, es müsse dem einzelnen alles verstattet sein, was er durch sein Können zu rechtfertigen vermöge.
Am Widerpart war Daniel nichts gelegen. Als ob nicht im bewährt schönen Gefäß der reichste Inhalt, des Lebens ganze Fülle zu bieten wäre! Geize er denn damit? War Weh und Glück, zum Schaudern nah, durch die Gebundenheit minder vernehmlich? Welch eine vertrackte Bosheit liegt darin, wie so ein Mensch sich zusperrt, dachte Daniel; aus Herrschsucht mag er nicht fühlen und aus Witzigkeit nicht denken.
Und so zogen sie von Ort zu Ort, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Die Wanderoper hatte nun schon ihre festen Überlieferungen, ihre skandalöse Chronik, ihre eingeübten Lockmittel, ihre Stammgäste, ihre bevorzugten und ihre gemiedenen Stätten.
Das Lokalblatt brachte einen Begrüßungsartikel; die jungen Leute standen auf der Straße, um die Damen des Theaters [184] lüstern zu begaffen; der Major a.D. kaufte einen Sperrsitz für die erste Vorstellung; der Barbier trug seine Dienste an; das Professorenkollegium der Lateinschule hielt Versammlungen ab, in denen beraten wurde, ob den Schülern der Besuch der Oper erlaubt werden konnte; der christliche Gesellenverein erhob Einspruch gegen die nackten Schultern der Sängerinnen; die Mitglieder des adligen Kasinos rümpften die Nasen über die Leistungen der Truppe; die Polizei wollte die Bretterbude oder den Hotelsaal, in welchem gespielt wurde, feuergefährlich finden; die Frau Bergrätin verliebte sich in den Bariton, und ihr Gatte nahm einige Schurken in Sold, die den gefeierten Künstler von der Galerie herunter auszischten; die Nörgler forderten mehr Lustigkeit, »Zar und Zimmermann« war ihnen zu langweilig, die »Stumme von Portici« zu abgedroschen; sie wünschten »Madame Angot« und »Orpheus in der Unterwelt«.
Es war immer etwas los.
Und es graute Daniel vor diesen Menschen, vor ihren Geschäften, ihren Vergnügungen und den Kadavern ihrer Ideale. Es graute ihm vor ihrem Lachen und vor ihrer Trübseligkeit, vor den Stuben, aus denen sie krochen, vor den Spionen an ihren Fenstern, vor ihren Metzgerläden und Gasthäusern und Zeitungen, vor ihren Sonntagen und ihren Werktagen. Die Welt rückte ihm hart auf den Leib; er mußte jetzt den Menschen ins Gesicht sehen, und sie zwangen ihn, daß er mit ihnen feilschte, um Geld, um Worte, um Gefühle und um Ideen.
Aber auch anderes lernte er sehen; die Wälder an den Ufern des Mains; die weithingedehnten Triften der Frankenhöhe; die schwermütigen Ebenen des mittleren Landes; das formenreiche Kleingebirge des Jura; die alten Städte mit ihren Mauern und Domen und finsteren Gassen und verödeten Schlössern. Da war dann beschwichtigende Luft zwischen ihm und den Menschen, da sah er die Alten und die Jungen, die Schönen und die Häßlichen, die Heiteren und die Traurigen, [185] die Armen und die Reichen so fern und still, und sie gaben ihm von ihrem Reichtum und von ihrer Armut, von ihrer Jugend und von ihrem Alter, von ihrer Schönheit und von ihrer Häßlichkeit, von ihrer Freude und von ihrem Schmerz gleicherweise.
Und das Land gab ihm die Wälder, die Wiesen, die Bäche und Ströme, die Wolken, die Vögel und alles, was unter der Erde ist.
Es war im Winter, da kam die Truppe nach Ansbach und sollte im ehemaligen Theater der Markgrafen spielen. Der »Freischütz« sollte in Szene gehen; Daniel hatte mit seinen Musikern mehr als sonst geprobt.
Aber es wütete ein heftiger Schneesturm an jenem Tage, darum waren kaum zwei Dutzend Personen in die Vorstellung gekommen.
Wie in diesem Raum die Geigen anders klangen, wie die Stimmen von selbst Maß und Ruhe gewannen! Daniel hatte auch sein Orchester derart bezaubert, daß es ihm gehorchte wie ein einziges Instrument.
Nach dem letzten Akt trat ein weißhaariger Mann auf ihn zu und drückte ihm glücklich und dankbar lächelnd die Hand. Es war der Kantor Spindler.
Daniel begleitete ihn nach Hause, und sie redeten viel von der Vergangenheit und von der Zukunft, von Menschen und von Werken. Sie konnten kein Ende finden, und das Schneegestöber störte sie nicht. Auch an den folgenden Tagen waren sie viel beisammen, aber am Ende der Woche wurde der Kantor krank und mußte sich zu Bett legen.
Als Daniel eines Morgens in die Wohnung seines alten Freundes kam, erfuhr er, daß der Kantor in der Nacht plötzlich gestorben sei. Es war ein sanfter Tod gewesen.
[186] Am dritten Tage darauf folgte Daniel dem Leichenzug, und als er den Kirchhof verlassen hatte, nur wenige Leute hatten gleich ihm dem Kantor die letzte Ehre erwiesen, ging er bis zum Abend über die verschneiten Felder.
In derselben Nacht begann er in seinem ärmlichen Quartier die Komposition von Goethes »Harzreise im Winter«. Es war dies eines der tiefsten und seltsamsten Werke, die je ein Musiker ersonnen hat, aber es mußte das Schicksal der meisten Schöpfungen Daniels teilen, die durch ein tragisches Verhängnis der Nachwelt entzogen worden sind.
Im Frühling des Jahres 1886 zog die Truppe nordwärts ins Hessische, dann ins Thüringische, gastierte in einigen Städten des Spessart und der Rhön, und die Einnahmen wurden immer schlechter. Der Impresario Dörmaul hatte sich seit dem Herbst nicht mehr blicken lassen, die Gagen waren im Rückstand und Wurzelmann prophezeite der Wanderoper ein baldiges Ende mit Schrecken.
In der Stadt Ochsenfurt war ein längerer Aufenthalt geplant, und die Sänger und Musiker knüpften daran ihre letzten Hoffnungen, obschon man gerade im heißesten Juni war und der muffig düstere Raum, in welchem gespielt werden sollte, auch enthusiastischen Freunden des Theaters die Lust raubte, das Einerlei des landstädtischen Treibens durch einen Kunstgenuß zu unterbrechen.
Der Besuch wurde von Tag zu Tag geringer, bald war nicht mehr Geld genug in der Kasse, daß man die Reise fortsetzen konnte, zu allem Übel bekam der Tenor den Typhus, die andern Sänger weigerten sich, aufzutreten, wenn sie nicht bezahlt würden, Daniel schrieb an den Impresario Dörmaul und erhielt keine Antwort, Wurzelmann, statt zu helfen, schürte die[187] leicht aufschäumenden Geister schadenfroh zu Lärm und Feindseligkeit, alle forderten ihr Recht von Daniel, belagerten ihn im Gasthaus, wo er wohnte und brachten es so weit, daß sich die ganze Stadt mit ihren Mißlichkeiten beschäftigte.
Da geschah es eines Nachmittags, daß ein stattlicher Herr von fünf- bis sechsundfünfzig Jahren in Daniels Zimmer trat und sich ihm als der Gutsbesitzer Sylvester von Erfft vorstellte. Sein Anliegen war folgendes.
Wie alljährlich, befand sich auch heuer der Kanzler des Deutschen Reiches im benachbarten Bade Kissingen zur Kur. Herr von Erfft hatte seine Bekanntschaft gemacht, und der Fürst, ein passionierter Landwirt, hatte den Wunsch geäußert, die Güter des Herrn von Erfft zu besichtigen, da ihm deren Verwaltung als mustergültig gerühmt worden war. Um nun die Anwesenheit des hohen Gastes würdig zu feiern, hatte man beschlossen, allem billigen Illuminations- und Hurrawesen zu entsagen und dafür in einem Rokokopavillon, der zum Erfftschen Schlosse gehörte, die »Hochzeit des Figaro« aufzuführen.
»Es ist dies eine Idee meiner Frau,« bemerkte Herr von Erfft. »Einige adlige Herren und Damen unseres Kreises wollen die Partien singen, meine Tochter Silvia, die zwei Jahre in Mailand bei Gallifati gewesen ist, wird die Rolle des Pagen übernehmen, aber was uns noch fehlt, ist ein geschultes Orchester. Deshalb komme ich zu Ihnen, Herr Kapellmeister, und bitte Sie, mit Ihren Musikern bei uns zu spielen.«
Daniel, dem das freie und freundliche Wesen des Herrn von Erfft sehr gefiel, konnte keine Zusage geben, da er sich durch die Hilflosigkeit der ihm anvertrauten Theatergesellschaft noch an Ort und Stelle für gebunden erachtete. Herr von Erfft erkundigte sich des näheren nach den Ursachen seines Bedenkens und fragte dann, ob er seine Hilfe annehmen wolle. »Gern,« erwiderte Daniel, »aber es wird nichts nützen; unser Prinzipal ist ein hartgesottener Sünder.«
[188] Herr von Erfft ging mit Daniel zum Bürgermeister, und eine halbe Stunde später war eine amtliche Depesche an den Impresario unterwegs. Sie war kräftig genug gefaßt, um einem Staatsbürger Respekt einzuflößen, wies auf die bedrohlichen Zustände hin, die unter der Truppe eingerissen waren und heischte gebieterisch Abhilfe.
Der Impresario Dörmaul bekam Angst, und er sandte telegraphisch die Geldsumme, die erforderlich war. In einem gleichzeitigen Erlaß an Wurzelmann erklärte er die Wanderoper für aufgelöst; die meisten Verträge waren ohnehin abgelaufen, und diejenigen Mitglieder der Truppe, die noch Ansprüche zu stellen hatten, wurden vertröstet.
Daniel war also frei. Wurzelmann sagte zu ihm, als sie sich trennten: »Aus Ihnen wird nie was Rechtes werden, Nothafft. Ich habe mich in Ihnen getäuscht. Sie haben viel zu viel Gewissen. Mit der Moral verfertigt man nicht einmal Kinder, viel weniger Werke. Der Sumpf ist weich, der Gipfel felsig. Begehen Sie eine großartige Schweinerei, damit Zug in die Geschichte kommt.«
Daniel legte die Hand auf seine Schulter, sah ihn mit kalten Augen an und sagte: »Judas.«
»Schön, meinetwegen Judas,« antwortete Wurzelmann. »Ich bin nicht dafür geboren, ans Kreuz genagelt zu werden. Ich bin mehr für die Feste mit den Pharisäern.«
Er hatte beim »Phönix«, einer großen musikalischen Zeitschrift, eine Anstellung als Kritiker gefunden.
Daniel fand die Leute vom Orchester für den Ausflug nach Erfft freudig bereit. Sie bekamen dort Unterkunft in einem Wirtshaus, Daniel selbst wohnte im Schloß. Die Proben wurden mit Ernst und Eifer geführt; obwohl der Name des großen Kanzlers noch von den Wolken der Zeitlichkeit, vom Haß der Gegner, von Kleingeist und Mißverstand umdüstert war, fühlten alle diese jungen Menschen die Gewalt des Unsterblichen und waren von dem Gedanken beglückt, ihm in [189] einer erdichteten Welt und für eine flüchtige Stunde etwas sein und bedeuten zu dürfen.
Unermüdlich war Agathe von Erfft, die Gutsherrin, im Herbeischaffen von Kostümen, in der Beseitigung technischer Hindernisse und in der Bewirtung ihrer Gäste. Die vierundzwanzigjährige Silvia hatte weder die Kraft der Mutter, noch die Liebenswürdigkeit des Vaters ererbt; sie war zart und verschlossen. Desungeachtet vermochte sie in die Rolle des Cherubin viel Anmut und Schelmerei zu legen, was als ein unvermuteter Reichtum ihrer Natur sogar ihre Eltern überraschte. Zudem war ihre Stimme weich und von reiner Bildung, und Daniel, seit Jahren an die mittelmäßigen Leistungen verdorbener Kehlen gewöhnt, nickte zufrieden, wenn sie sang.
Die andern Teilnehmer behandelte er durchaus nicht glimpflicher als die Sänger und Sängerinnen von der Wanderoper; sie mußten seine Grobheit und Bissigkeit mit guter Manier ertragen. Herr von Erfft, der bei allen Proben zugegen war, beobachtete ihn oft mit ruhiger Verwunderung, und wenn ein zu arg Gescholtener bei ihm Klage führte, antwortete er: »Laßt den Mann gewähren, der versteht sein Geschäft; es gibt nicht viele von der Sorte.«
Nur eben Silvia war es, die von ihm geschont wurde. Als Herr von Erfft den Namen zum ersten Male genannt, hatte er aufgehorcht, und als er sie sah, wußte er, daß er sie schon einmal gesehen hatte. Es war damals auf seiner Wanderschaft gewesen, da war er draußen vor dem Parktor gestanden, und man hatte sie gerufen. Dessen zu gedenken war ihm jetzt seltsam. Er war nun bei ihr und ihr doch nicht weniger fremd als damals.
Aber was ihn zu dem schönen Mädchen hinzog, hatte nichts mit dieser zufälligen Fügung zu schaffen. Auch hatte sein Gefühl keine sinnliche Gebundenheit. Es war eine traumhafte Sympathie, ähnlich der suchenden Erinnerung an ein vergessenes Glück. Es war eine dunklere und quälendere Empfindung [190] als diejenige, die ihn an Gertrud unverbrüchlich fesselte, mehr Leid als Lust, mehr Unruhe als Bewußtsein.
Ganz in der Tiefe schlief es, dies Vergessene; hinweggespült war es von den Lebenswogen. Und nicht Silvia selber war es, nicht sie selbst. Eine Bewegung der Hand vielleicht; woher kannte er die Bewegung? Ein Zurückbiegen des Kopfes, ein stolzer, blauer Blick, woher kannte er es nur?
Vergessen, vergessen ....
Während alles im besten Zuge war, während man die Gebäude schmückte und die Zimmer des Herrenhauses instand setzte, traf die Nachricht vom Tod des Königs Ludwig ein. Die Zeitungen waren schwarz gerändert und brachten viele Einzelheiten über das Unglück am Starnbergersee. Wie überall im Land war die Trauer über das furchtbare Schicksal des Monarchen auch in der Familie des Herrn von Erfft aufrichtig und anhaltend.
Von einer Theateraufführung konnte natürlich die Rede nicht mehr sein; der Kanzler hatte seinen Besuch abgesagt, und die jungen Herrschaften, die sich gerade zur Probe versammelt hatten, kehrten still wieder heim. Herr von Erfft händigte Daniel eine beträchtliche Vergütung für die Musiker ein und bat ihn selbst, den er nicht wie einen Handlanger verabschieden wollte, noch ein paar Tage auf dem Gut zu bleiben.
Daniel weigerte sich nicht, hatte er doch bis jetzt mit keinem Gedanken überlegt, wohin er seine Schritte lenken sollte.
Nachdem er das Geschenk des Herrn von Erfft unter die Musiker verteilt und die Leute entlassen hatte, wanderte er in den Wald. In einem Dorfe verzehrte er ein karges Mittagsmahl und schweifte dann umher, bis es Abend wurde. Als [191] er zurückkehrte, saßen seine Wirte noch um den Tisch. Er versäumte es, sich zu entschuldigen, Frau Agathe lächelte ihrem Gatten belustigt zu und gab Befehl, daß dem Herrn Kapellmeister nachserviert werde; Silvia hatte ein Buch in der Hand und las.
Ziemlich bedrückt nippte Daniel nur von den Speisen, und als die Hausfrau sich erhob und durchs Fenster in den gewitterigen Himmel schaute, ging er ins Nebenzimmer und setzte sich an den Flügel.
Er begann zu spielen. Es war Schuberts Lied an Silvia. Als die stürmisch-innige Melodie verhallt war, knüpfte er eine Variation daran, hierauf eine zweite, eine dritte, eine vierte; schwermütig die eine, jubilierend die andere, sinnend die dritte, schwärmerisch suchend die vierte. Jede war ein Hymnus an das Vergessene.
Herr von Erfft und Agathe standen in der offenen Türe, Silvia hatte sich unfern von ihm auf ein Taburett gesetzt und blickte in anmutiger Entrücktheit zu Boden.
Er brach jäh ab, als wolle er damit Beifall und Dank verhindern, Sylvester von Erfft nahm ihm gegenüber Platz und fragte freundlich, ob er für die nächste Zeit bestimmte Pläne habe.
»Ich gehe nach Nürnberg zurück und werde heiraten,« sagte Daniel. »Ich habe eine Braut. Sie wartet auf mich. Schon lange.«
Ob er nicht die frühzeitige Ehefessel fürchte? erkundigte sich Herr von Erfft, aber Daniel entgegnete kurz, er brauche einen Menschen zwischen sich und der Welt.
»So etwas wie einen Puffer,« warf Frau Agathe spöttisch hin. Daniel schaute ihr unwillig ins Gesicht.
»Puffer? nein, oder doch, wenn ein Schutzengel einen vor Püffen bewahrt,« sagte er noch barscher.
»Weshalb wollen Sie sich gerade in Nürnberg niederlassen, einer Stadt von so einseitig kommerzieller Richtung?« fuhr [192] Herr von Erfft mit fast ängstlicher Behutsamkeit zu fragen fort. »Würde Ihr Leben nicht in einer der großen Metropolen der Kunst gesicherter sein?«
»Es geht nicht an, den Vater von seiner Tochter ganz zu trennen,« antwortete Daniel plötzlich mit unerwarteter Offenheit. »Es geht nicht an. Auch kann man den alten Mann nicht mehr aus seiner Umgebung reißen; dort ist er nun einmal verwachsen. Und ich will nicht länger allein bleiben. Irgendein Herz braucht jeder, und der Bergmann gräbt leichter im Schacht, wenn er weiß, daß droben sein Weib die Suppe kocht. Auf die Suppe bin ich freilich nicht versessen, auf das Seelchen nur, das Seelchen, das einem gehört.«
Er drehte sich um und schlug breit einen Moll-Akkord an.
»Und wäre auch alles anders,« begann er wieder und zog das Gesicht in bizarre Falten, »mich zög's nicht nach Ihren Metropolen. Was wäre dort zu suchen? Kameraderien? Hab genug davon erfahren. Am Handwerk lern ich zu Hause. Ich kann die Meister aller Zeiten in meine Stube bitten. Ruhm und Geld finden den Weg zu mir, wenn sie wollen. Die Morgenröte wird nur von den Schläfern übersehen und echte Musik nur von den Tauben überhört. Das übrige steht bei Gott und nicht bei den Menschen.«
Zum zweitenmal schlug er den Akkord an, jetzt in Dur.
Mit sichtlicher Freude und Teilnahme ruhten die Blicke des Herrn von Erfft und seiner Frau auf ihm. Silvia flüsterte ihrer Mutter etwas zu, diese nickte und sagte zu Daniel: »Eine meiner Schwestern lebt in Nürnberg, die Freifrau Clotilde von Auffenberg. Sie war von Jugend an eine enthusiastische Verehrerin guter Musik, und wenn ich Ihnen einen Empfehlungsbrief an sie mitgebe, würden Sie gewiß mit offenen Armen aufgenommen. Freilich ist sie kränklich, und ein schweres Verhängnis schwebt über ihrem Leben, aber sie hat Herz und ist verläßlich in ihren Neigungen.«
Daniel sah vor sich nieder. Er dachte an Gertrud und an [193] die Zukunft mit ihr und murmelte ein paar Worte des Dankes. Frau von Erfft setzte sich gleich an den Schreibtisch und schrieb einen ausführlichen Brief an ihre Schwester. Als sie fertig war, überreichte sie ihn Daniel mit gütigem Lächeln.
Am andern Morgen verließ er Schloß Erfft mit dem Bedauern, mit dem man von einem Wohnsitz des Friedens und von edlen Freunden scheidet.
In den Straßen Nürnbergs hingen schwarze Fahnen. Es regnete. Daniel bezog ein billiges Zimmer im Bären.
Die Dämmerung war eingebrochen, als er sich auf den Weg zu Jordans begab. Im Haustor stieß er mit Benno zusammen. Er erkannte den stutzerhaft gekleideten Menschen nicht und wollte vorübergehen. Aber Benno blieb mit lautem Lachen stehen.
»Ei, der Herr Kapellmeister!« rief er, und das blasse, trotz seiner zwanzig Jahre bereits verlebte Gesicht zeigte einen gewissen Hohn, »nur Vorsicht, mein Lieber, damit die Gertrud nicht in Ohnmacht fällt.«
Daniel fragte, ob alle gesund seien. An Gesundheit fehle es nicht, wohl aber an kleiner Münze, versetzte Benno lachend; mit dem Vater sei nicht mehr viel los, der komme auf keinen grünen Zweig mehr; na ja, das Alter, die Konkurrenz, die bösen Zeiten. Ob Lenore zu Hause sei, fragte Daniel. Nein, die sei mit der Notarin Rübsam nach Pommersfelden gefahren und wolle ein paar Wochen dort bleiben. »Nun muß ich mich aber sputen,« brach Benno das Gespräch ab, »meine Vereinsbrüder warten auf mich.«
»Potzblitz, Vereinsbrüder haben Sie auch?«
»Natürlich, das ist doch die Würze des Daseins. Heute haben wir einen geschäftsfreien Tag; Königsbegräbnis. Gott befohlen, Herr Kapellmeister.«
[194] Daniel läutete oben, und Gertrud öffnete die Türe. Es war dunkel, jeder gewahrte nur die Umrisse des andern.
»Du bist's, Daniel,« flüsterte sie seligmatt, näherte sich ihm und lehnte das Gesicht an seine Schulter.
Daniel wunderte sich, daß seine Pulse so gleichmäßig klopften. Noch gestern hatte ihm der Gedanke an dieses Wiedersehen den Atem benommen. Nun hielt er Gertrud im Arm und wunderte sich über seine Ruhe.
In der Stube führte er sie unter die Lampe und schaute mit ernster Aufmerksamkeit lange in ihr Gesicht. Unter seinem sonderbar grausamen Blick erbleichte sie.
Dann ergriff er ihre Hand, zog sie auf das Sofa neben sich und entwickelte ihr den Plan, den er gefaßt. Sie hatte keine andern Wünsche als die seinen. Er wollte zwischen heute und vier Wochen heiraten; gut, sie würden heiraten.
Er fand die grenzenlos Ergebene wieder, die er verlassen. Ihr Auge erschütterte ihn, in dem ein schicksalsvoller Gehorsam leuchtete. Sie hatte kein feiges Bedenken. Ihre kühle Hand zuckte nicht in seiner; mit ihrer Hand lag ihre Seele, ihr ganzes Leben in seiner Hand. Er wollte Zweifel in ihr erwecken und sprach mutlos von seinen Aussichten, auch daß er wenig Hoffnung habe, mit seinen Arbeiten die Anerkennung der Welt zu erringen.
»Wozu Anerkennung?« fragte sie; »sie können doch nichts von dir wegnehmen, und was sie dir geben, ist Gewinn.«
Da schwieg er, und das Gefühl von ihrem Wert schwebte wie ein feuriges Meteor durch den Himmel seines Daseins.
Die Eröffnung, daß sie in der Stadt bleiben würden, machte sie glücklich, des Vaters wegen. Sie sagte, am Egydienplatz sei eine kleine Wohnung zu vermieten, drei Zimmer in einem stillen Haus. Sie traten ans Fenster, und Gertrud zeigte ihm das Haus. Es war näher bei der Kirche, an der Biegung des Platzes.
Der heimkehrende Inspektor bewillkommnete Daniel mit [195] langem Händeschütteln. Er war grau geworden, ging gebückter denn früher, und sein Anzug wies Spuren der Vernachlässigung auf.
Als er erfahren, was Daniel und Gertrud beschlossen hatten, schüttelte er den Kopf. »Kinder, es ist ein Unglücksjahr,« sagte er; »eilt's euch denn gar so, wo ihr doch noch ein blutjunges Volk seid?«
»Wären wir weniger jung, so hätten wir weniger Mut dazu,« antwortete Daniel.
Der Inspektor setzte sich und stützte die Stirn auf die Hand. Nach einer Weile sagte er, vor drei Jahren habe er noch bare achttausend Mark auf der Bank liegen gehabt, aber die ungünstigen Umstände hätten ihn dann gezwungen, sich des Kapitals zur Bestreitung des täglichen Unterhalts zu bedienen und jetzt sei kaum ein Drittel mehr davon übrig. Zweitausend Mark sei alles, was er Gertrud als Mitgift geben könne, und damit müßten sich die beiden zurecht finden.
»Mehr braucht's auch nicht,« erwiderte Daniel, »hab nicht so viel zu erhoffen gewagt. Nun hab ich keine Sorgen mehr, mag kommen, was will.«
Eine Fledermaus flog durchs offene Fenster und huschte ohne Laut wieder hinaus. Der Regen hatte aufgehört; nur in den Röhren und Rinnen sickerte und plätscherte es noch. Es war etwas Banges in der Luft des Juniabends.
Von Benda hatte Daniel in der ersten Zeit einige spärliche Nachrichten aus England erhalten; seit anderthalb Jahren hatte er nichts mehr von ihm gehört. Aber als Lenore im Juli aus Pommersfelden zurückkehrte, sagte sie ihm, daß im April ein Brief Bendas an ihre Adresse gelangt sei und daß sie ihm diesen Brief nach Naumburg geschickt habe. Doch [196] der Brief hatte ihn nicht erreicht, und die Nachforschungen, die er jetzt anstellte, blieben vergebens.
Bendas Mutter war nicht in der Stadt. Sie lebte bei Verwandten in Worms, hatte aber die Wohnung im Haus des Herrn Carovius behalten.
Frau von Auffenberg weilte im Emser Bad und sollte erst im September zurückkehren. So knüpfte Daniel frühere Beziehungen wieder an, und es gelang ihm, einige Unterrichtsstunden zu bekommen, die ihm vorläufig einen kleinen Verdienst sicherten.
Die Tage forderten viel äußerliche Geschäftigkeit von ihm, der er nicht gewachsen war. Er hatte geglaubt, man könne heiraten, wie man in einen Laden geht, um etwas zu kaufen, ohne Lärm und ohne Aufenthalt. Er hatte hundert Launen, hundert Einwände, hundert Grimassen. Die Wohnung am Egydienplatz war gemietet worden; es erbitterte ihn, daß man, um mit einer geliebten Person zu leben, Tische, Betten, Stühle, Schränke, Lampen, Gläser, Teller, Kehrichtfässer, Wassereimer, Fensterpolster und tausenderlei Krimskrams haben mußte.
Es wurde in der Stadt viel über die bevorstehende Hochzeit geredet, und die Leute sagten, sie begriffen den Inspektor Jordan nicht. Der Mann muß arg heruntergekommen sein, hieß es, daß er seine Tochter einem Bettelmusikanten gibt.
Daniel fand alles schwer, alles war letztes Gericht für ihn. Eine Melodie fraß an seinem Herzen, ehe sie ihre reinste Form gewonnen hatte. Die Freiheit rief mit Himmelstönen; die stille Verlobte rief zur Kameradschaft. Die Aufgabe, der er sich geweiht, heischte Einsamkeit, dann riß ihn wieder das Blut hin, und er wurde weich und wild.
So stürzte er oft zu Jordans hinauf, trat mit wirren Haaren in die Stube, wo die beiden Schwestern emsig an Gertruds Ausstattung nähten, setzte sich hin, sprach kein Wort und wartete, bis Gertrud kam und ihm die Hand auf die Stirn [197] legte. Er stieß sie zurück, aber das Mädchen lächelte sanft. Manchmal jedoch zog er sie an den Armen zu sich herab, dann lächelte Lenore, – schamhaft, als ertrüge sie nicht den Anblick Liebender.
Es war ein gebrauchter Stutzflügel gekauft worden, der einstweilen in der Wohnstube des Inspektors stand. An manchen Abendstunden spielte Daniel. Die Schwestern hörten zu. Gertrud glich einer Schlummernden, der alle Wünsche in Erfüllung gegangen sind und die ruht, geisterhaft beglückt ruht. Lenore aber wachte; wachte und sann.
Der Tag der Trauung kam. Morgens um halb zehn Uhr erschien Daniel in der Inspektorswohnung, im Gehrock und Zylinderhut, verdrossen und verrucht anzuschauen, ein Bild des Jammers.
Der Weltmann Benno war genötigt, das Zimmer zu verlassen und fiel draußen vor Lachen auf eine Wäschetruhe. Er billigte diese Heirat nicht; er schämte sich ihrer vor seinen Freunden.
Gertrud trug einen einfachen Straßenanzug und einen der kleinen Jung-Frauenhüte, welche die Mode vorschrieb. Sie saß am Tisch und schaute mit großen Augen vor sich hin.
Lenore trat mit einem Myrtenkranz ins Zimmer. »Den sollst du aufsetzen, Gertrud,« sagte sie, »nur zum Schein für uns, damit man doch das Gefühl hat, du bist eine Braut. Sonst ist's ja gar zu nüchtern mit eurem Standesamt.«
»Wo hast du den Kranz her?« fragte der Inspektor.
»In einer Kiste hab ich ihn gefunden; es ist Mutters Brautkranz.«
»Ach, ist es Mutters Brautkranz? wirklich?« murmelte der Inspektor und betrachtete den Kranz, der vergilbt war.
[198] »Setz ihn doch mal auf,« bat Lenore wieder, aber Gertrud, mit einem Blick auf Daniel, weigerte sich.
Da ging Lenore zum Spiegel und setzte sich selbst den Kranz aufs Haar.
»Tu das nicht, Kind,« warnte der Inspektor, wehmütig lächelnd; »das abergläubische Volk sagt, man muß Jungfer bleiben, wenn man den Kranz einer andern trägt.«
»So bleib ich eben Jungfer und bleib's gern,« erwiderte Lenore.
Sie drehte sich vom Spiegel halb unbewußt zu Daniel. Das Blond ihrer Wimpern erschien fast grau, das Rot der Lippen wurde durch das Lächeln in viele Teilchen zerstückelt, und der Hals war wie etwas Flüssiges und zugleich Entkörpertes.
Daniel sah dies alles. Sein Blick umfaßte die Undinengestalt des Mädchens. Ihm war, als habe er sie in den Tagen seit ihrer Rückkehr überhaupt nicht gesehen; als habe er nicht gesehen, daß sie reifer, schöner, süßer geworden war. Auf einmal verspürte er einen Schrecken, daß ihm die Knie wankten. Wie ein Blitz durchschoß es ihn: da ist es ja, was ich vergessen hatte! da ist das Antlitz, die Figur, das Auge, die Bewegung, da steht es lebendig vor mir, und ich Narr, ich unsäglicher Narr, war mit Blindheit geschlagen!
Gertrud ahnte dumpf den unheilvollen Vorgang. Sie erhob sich und schaute Daniel entsetzt an. Er aber eilte zu ihr hin, als ob er flüchte, und packte ihre Hände. Lenore, im Glauben, sie habe durch ein Wort oder eine Gebärde Daniels Mißfallen erregt, riß den Myrtenkranz vom Haupt.
Der Inspektor hatte diesen Geschehnissen keine Beachtung geschenkt. Sein ruheloses Auf- und Abwandern endend, zog er die Uhr und sagte, es sei wohl an der Zeit, daß man gehen müsse. Lenore, die schon den ganzen Morgen über ein geheimniskrämerisches Wesen gezeigt hatte, bat um Geduld, und ehe man sie nach dem Grund fragen konnte, läutete es, und sie lief hinaus.
[199] Mit strahlender Miene kehrte sie zurück, und Marianne Nothafft folgte ihr. Mühsam hielt sich Marianne gefaßt und sah sich halb schüchtern, halb forschend im Kreise um.
Mutter und Sohn standen stumm vor einander. Das war Lenores Werk.
Marianne sagte, sie wohne bei ihrer Schwester Therese. Den Abend zuvor war sie gekommen, heute wollte sie wieder nach Hause zurückkehren.
»Ich bin froh, Mutter, daß du da bist,« sagte Daniel mit erstickter Stimme.
Marianne legte ihre Hände auf seinen Scheitel, hierauf schritt sie zu Gertrud und tat ein Gleiches bei ihr.
Nach der Trauung bewirtete der Inspektor seine Kinder und Marianne. Am Nachmittag fuhren sie alle in zwei bestellten Kutschen auf den Schmausenbuk. Daniel hatte seine Mutter noch nie so heiter gesehen, aber durch keine Bitte war sie zu bewegen, ihren Aufenthalt zu verlängern, und während des Redens darüber wurden zwischen ihr und Lenore vertraute Blicke getauscht.
Als der Abend angebrochen war, begaben sich Daniel und Gertrud in ihr Heim.
Es ist Nacht geworden. Verlassen liegt der altertümliche Platz. Vom Kirchturm hat es elf Uhr geschlagen, die Lichter in den Fenstern verlöschen eins nach dem andern.
Da kommt eine Gestalt von der Laufergasse herauf, späht scheu vor sich, hinter sich und bleibt vor dem schmalen Gebäude stehen, in welchem Daniel und Gertrud wohnen. Ist es ein weibliches Geschöpf, oder nicht vielmehr ein unheimlicher Gnom? Die Gewänder schlottern nachlässig an dem plumpen Körper, ein verbogener Strohhut überdacht das verwildert [200] aussehende Gesicht; die Schultern sind emporgezogen, die Fäuste geballt, die Augen wie verglast.
Plötzlich erschallt ein Schrei. Die Person eilt gegen die Kirche, stürzt auf die Knie und ihre Zähne beißen in ohnmächtiger Raserei in die Holzstange des Geländers. Erst nach einer geraumen Weile erhebt sie sich wieder, starrt mit verzerrten Lippen noch einmal zu den Fenstern hinauf und entfernt sich schleppenden Schrittes.
Es war Philippine Schimmelweis. Sie trieb sich bis zum Morgengrauen in den Gassen herum.
[201]Die im Reichstag beschlossene Verlängerung des Sozialistengesetzes, sowie die zu gewärtigende neue Heeresvorlage erregten in vielen Teilen des Landes eine bedrohliche Gärung.
Im Oktober wollten die Sozialdemokraten einen allgemeinen Umzug durch die Straßen veranstalten, die Polizei jedoch verbot dies. Am Abend des Verbots standen die Regimenter feldmarschmäßig gerüstet in den Kasernen, und in der Stadt herrschte eine gedrückte Stimmung. In Wöhrd und Plobenhof kam es zu Aufläufen, und in den engen Gassen der inneren Stadt drängten sich Tausende von Arbeitern gegen das Rathaus.
Bisweilen erhob sich aus der schweigenden Masse ein langgezogener Pfiff, und von der Hauptwache schallte dumpfer Trommelwirbel herüber.
Unter denen, die von der Königsstraße herunterkamen, befand sich der Arbeiter Wachsmuth. In der Nähe des Schimmelweisschen Ladens angelangt, führte er aufreizende Reden gegen das ehemalige Mitglied der Partei, und seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Ein Schlossergesell, der durch die Prudentia zu Schaden gebracht worden war, stieß wütende Beschimpfungen gegen den Buchhändler aus.
Vor dem erleuchteten Auslagefenster staute sich die Menge. Wachsmuth stand an der Tür und schrie, der Verräter müsse heut noch an einem Laternenpfahl baumeln. Ein Stein flog über die Köpfe, die Glasscheibe brach in Scherben, und gleich darauf stürmte ein Dutzend Kerle in den Laden. Wo [205] der Bluthund sei, wo der Aussauger sei, brüllten sie; haben wollten sie ihn; einen Denkzettel wollten sie ihm geben.
Ehe Therese antworten konnte, schwirrten bereits Fetzen von Büchern und Zeitschriften umher, wurden Broschüren unter schmutzigen Stiefeln zertrampelt; Arme streckten sich nach den Regalen, aufgestapelte Stöße fielen zusammen. Zwanziger war auf die Leiter gestiegen und heulte; Therese stand gespensterhaft neben ihrem Kassatisch, und durch die hintere Tür war Philippine eingetreten und blickte, ein tückisches und überraschtes Lächeln auf den Lippen, ohne Schrecken in den Tumult. Da erschallte die Signalpfeife der Polizisten. Mit der Schnelligkeit eines Atemzuges wandten sich die Aufrührer zur Flucht.
Als Therese zur Besinnung kam, war der Laden leer; auch die Gasse draußen war leer wie zur Mitternacht. Nach einer Weile erschienen die Polizeidiener, und später drängten sich Neugierige an der Schwelle und bestaunten den Schauplatz der Verwüstung.
Jason Philipp hatte das Unheil kommen gesehen und war rechtzeitig aus dem Laden in die Wohnung geflüchtet. Er hatte sogar die Zimmertüre zugesperrt und war zähneklappernd auf einen Stuhl gesunken.
Jetzt kam er wieder herunter und trat den Gerichtspersonen, die sich indessen eingefunden hatten, mit schmerzlicher Würde entgegen. Er sagte: »Das von einem Volk, für welches ich Gut und Blut geopfert habe.«
Zwanziger war in seiner Zeugenaussage von prahlerischer Ausführlichkeit. Philippine blickte ihn unter den Simpelfransen, die ihr tief in die Stirn hingen, mit giftiger Verachtung an und murmelte: »Ekelhafter Feigling.«
Als Jason Philipp später vom Wirtshaus heim kam, sagte er: »Es ist ein verhängnisvoller Wahn, zu glauben, daß die Menschheit ohne Knute regiert werden kann.« Und er schob die gestickten Pantoffeln (»dem Müden zum Trost«) an die [206] Füße. Die Pantoffeln waren bedeutend gealtert und Jason Philipp selbst war gealtert. In seinem Bart schimmerten silberweiße Haare.
Therese überrechnete den Schaden, den der Pöbel angerichtet. Sie fühlte, daß es mit Jason Philipps Glück zu Ende ging.
Ausgestreckt im Bette liegend, sagte Jason Philipp: »Ich habe demnächst ein ernstes Wörtlein mit dem Baron Auffenberg zu reden. Entweder die freisinnige Partei entschließt sich zu einem energischen Schritt gegen den Übermut der untern Klassen, oder ich bin ihr Mann gewesen.«
»Wieviel Maß Vier hast du getrunken?« fragte Therese aus den Kissen.
»Zwei.«
»Das ist sicher gelogen.«
»Möglich, daß es drei waren,« versetzte Jason Philipp gähnend, »aber deswegen einen Mann wie mich der Lüge zu beschuldigen, das bringt nur eine so ungebildete Frau wie du fertig.«
Da blies Therese die Kerze aus.
Der Baron Siegmund von Auffenberg war von München zurückgekehrt, wo er eine Konferenz mit dem Minister gehabt hatte.
Er hatte außerdem mit vielen andern Leuten gesprochen und sich beständig herablassend, jovial und witzig gezeigt, denn seine Liebenswürdigkeit im Umgang war beinahe sprichwörtlich.
Jetzt saß er mit düsterem Gesicht am Kamin, und keiner von denen, die noch vor wenigen Stunden durch seine Plauderkunst entzückt worden waren, hätte ihn so wiedererkannt.
[207] Die Stille und Einsamkeit peinigte ihn. Eine Gewalt, der er nicht mehr widerstreben konnte, zog ihn zu seiner Frau. Seit sieben Wochen hatte er sie nicht einmal gesehen, obwohl er in demselben Haus lebte wie sie.
Es zog ihn hin, weil er wissen wollte, ob sie eine Nachricht erhalten hatte von ihm, dessen Namen er nicht denken mochte, von dem Sohn, dem Feind, dem Erben. Nicht als ob er hätte fragen wollen; in ihr Gesicht wollte er schauen und darin lesen. Da niemand in seiner Umgebung von Eberhard zu sprechen wagte, war er auf Vermutungen angewiesen und auf die Feinheit seines Spürsinns. Er durfte die Begierde nicht merken lassen, mit der er darauf lauerte, daß ihm endlich einer den Untergang des Verhaßten ankündigen würde.
Sechs Jahre waren verflossen und noch immer vernahm er die freche Stimme, von der er das Ungeheuerliche hatte hören müssen, das ihn aus der Dämmerung seiner Selbstgenügsamkeit und Selbstfreude gerissen hatte; das Wort, welches keine Seelennot in der Heimlichkeit seines Schlafzimmers ihm entgegengeworfen und das ihm alle Genüsse des Daseins für alle Zeiten verbittert hatte.
»Dépêche-toi, mon bon garçon,« schnarrte nebenan der Papagei.
Der Baron erhob sich und schritt zu den Gemächern seiner Frau. Die Baronin erschrak, als sie ihn eintreten sah. Sie lag auf einem Polstersessel, das Haupt von Kissen gestützt, über den Beinen eine schwere, indische Decke.
Sie hatte ein breites, aufgeschwemmtes Gesicht mit dicken Lippen und außerordentlich großen schwarzen Augen von krankhaftem Glanz. In ihrer Jugend hatte sie für schön gegolten, aber von dieser Schönheit war nichts mehr übrig als eine gewisse Frische der Haut und die würdevolle Haltung der geborenen Weltdame.
Sie schickte ihre Zofe hinaus und schaute ihren Gatten schweigend an. Als sie die jesuitisch freundlichen Falten in [208] seinem Gesicht bemerkte, vermittelst welcher er dessen wahres Gepräge verbarg, steigerte sich die Angst in ihrem Blick.
»Du hast heute noch gar nicht musiziert,« begann er mit süßer Stimme; »da ist einem zumut, als fehle dem Haus etwas. Du sollst dich ja sehr vervollkommnet haben, höre ich; du sollst dir einen neuen künstlerischen Beirat zugelegt haben. Emilie hat es mir erzählt.«
Emilie war die an den Rittmeister Graf Urlich verheiratete Tochter des Ehepaars.
In den Augen der Freifrau war ein Ausdruck wie bei einem angeketteten Tier, dem man sich mit dem Schlachtbeil nähert. Die schmiegsame Glätte des Mannes, von dem sie seit fünfundzwanzig Jahren nur Brutalität und Hohn hinzunehmen gehabt, und der ihr die schlimmste Erniedrigung nicht erspart hatte, wenn kein Lauscher nah gewesen, war ihr qualvoll.
»Was willst du von mir, Siegmund?« stieß sie zitternd hervor.
Der Baron trat dicht vor sie hin, kniff die Lippen zusammen und schaute sie mit einem furchtbaren Blick zehn bis zwölf Sekunden lang fest an.
Da packte sie mit ihren beiden Händen seinen linken Arm. »Was ist mit Eberhard?« schrie sie. »Du weißt etwas von ihm! Sag mir alles!«
Der Baron schüttelte ihre Hände mit einer Bewegung des Widerwillens ab und wandte sich kalt zum Gehen.
»O du,« stammelte die Frau, sinnlos vor Schmerz und zum erstenmal im Leben entschlossen, ihm zu sagen, was in tausend Stunden des Schreckens und der Bedrängnis ihr Herz verbrannt hatte, »du Unmensch, warum denn hat dich das Schicksal auf meinen Weg geführt! Wo in der Welt ist noch ein Weib, dem ein solches Los beschieden ist! Die ohne Freude, ohne Liebe, ohne Achtung, ohne Freiheit und ohne Ruhe sich hinschleppt, den Menschen eine Last und sich selber [209] am meisten! Die in Sammet und Seide geht und sich täglich den Tod wünscht; die von allen für glücklich gehalten wird, weil der Teufel, der sie martert, alle mit seiner Falschheit betrügt; die ihrer Kinder beraubt worden ist, schmählich beraubt; denn ist nicht meine Tochter die Gefangene und Konkubine eines halbwahnsinnigen Strebers, und mein Sohn, ist er mir nicht genommen worden durch die Niedertracht, die man gegen seine Schwester geübt hat und durch das jämmerliche Schauspiel, das ihm meine Schwäche bot? Wo gibt es, großer Gott, noch ein solches Leben auf der weiten Erde!«
Sie warf sich auf die Brust und wühlte das Gesicht in die Polster.
Der Freiherr war überrascht von der fieberhaften Beredsamkeit einer Frau, an deren stumme Geduld er sich so gewöhnt hatte wie an das gleichmäßige Pendeln einer Wanduhr. Er war gespannt, wie sich die ihm neue Erscheinung weiter entwickeln würde, und deshalb blieb er an der Türe stehen.
Aber während er kühl und abwartend dastand und sein hageres Gesicht Hohn und Verwunderung ausdrückte, verspürte er plötzlich einen peinigenden Überdruß vor seiner eigenen Person. Es war der Überdruß eines Mannes, dessen Wünsche stets erfüllt, dessen Gelüste stets befriedigt worden waren; der die Menschen nur als hab- und zwecksüchtige Bittsteller kannte, der der Herr seiner Freunde, der Tyrann seiner Diener, der Mittelpunkt jeder Geselligkeit gewesen war, vor dem alles zurückwich, alles sich beugte, alles nickte, alles gefügig wurde und der nichts entbehrt hatte als das Gefühl der Entbehrung.
»Ich verkenne nicht,« fing er langsam zu sprechen an, als hielte er eine Rede vor seinen Wählern, »ich verkenne nicht, daß unsere Ehe keine segensreichen Früchte getragen hat. Es bedarf deiner Deklamationen nicht, um mich davon zu [210] überzeugen. Wir heirateten, weil die Umstände günstig waren. Wir hatten Ursache, den Entschluß zu bereuen. Lohnt es sich, die Ursache zu untersuchen? Ich bin ein Mensch ohne sentimentale Bedürfnisse. Ich bin es in einem solchen Grad, daß mir bei andern jede Rührung, jeder Überschwang, jede Unhärte eine tödliche Abneigung einflößt. Schlimm genug, daß die politische Laufbahn mich nötigte, in dieser Beziehung dem allgemeinen Hang der Masse entgegenzukommen. Ich heuchelte mit vollem Bewußtsein, um so mehr war ich in meinem Privatleben bemüht, alle Gefühle zu verbergen.«
»Es ist leicht, etwas zu verbergen, was man nicht besitzt,« kam es bitter von den Lippen der Freifrau.
»Möglich; es zeugt aber von wenig Takt, wenn der Reiche den Armen durch Verschwendung beständig aufreizt. Und das hast du getan. Du hast auf einen Besitz, über dessen Wert ich nicht streiten will, einen Nachdruck gelegt, der meine Verachtung herausforderte. Es war dir ein Vergnügen, zu weinen, wenn ein Sperling von einer Katze gefressen wurde. Ein ordinärer Zeitungsroman konnte dein geistiges Gleichgewicht zerstören. Du warst immer aufgelöst, immer in Ekstase, gleichviel, ob es sich um das erste Veilchen, um ein Gewitter, um einen verdorbenen Braten, um eine Halsentzündung oder um ein Gedicht handelte. Du hattest immer große Worte im Mund, und ich war der großen Worte müde. Du merktest nicht, wie mein Mißtrauen gegen alle Äußerungen dieser sogenannten Gefühle in Kälte, in Ungeduld und in Haß überging. Dann kam die Musik. Was dir anfangs eine Zerstreuung gewesen war, die man billigen konnte oder nicht, wurde allmählich die Entschädigung für ein tätiges Leben und für alle Mängel deines Charakters. Du hast dich der Musik hingegeben wie eine Dirne, die den er sten anständigen Liebhaber findet,« – die Freifrau zuckte, als hätte ein Peitschenhieb ihren Rücken getroffen, – »ja, wie eine Dirne, [211] wie eine Dirne,« wiederholte er bleich, mit funkelnden Augen; »da zeigte sich deine ganze Verwahrlosung und Haltlosigkeit, dein wurmhaftes Kleben an unbestimmten Zuständen und deine Unfähigkeit zur Disziplin. Bin ich ein Teufel für dich geworden, so hat mich deine Musik dazu gemacht; nur deine Musik. Jetzt weißt du es.«
»Das also,« flüsterte die Freifrau mit stockendem Atem. »Hast du mir denn etwas anderes übrig gelassenes die Musik? Hast du nicht wie ein Tiger in meinem Leben gehaust? Aber es ist ja nicht wahr,« schrie sie auf, »so schlecht bist du nicht, sonst würde ich selbst zur Lüge vor dem ewigen Richter, und daß ich Kinder von dir empfangen habe, wäre wider die Natur. Geh hinaus, damit ich noch glauben kann, es ist nicht wahr.«
Der Baron rührte sich nicht.
In namenloser Erregung und so schnell als es ihr verfetteter Körper erlaubte, richtete sich die Freifrau empor. »Ich kenne dich besser,« sagte sie mit bebenden Lippen; »ich ahne, was dich umhertreibt, ich spüre, was dich nicht ruhen läßt. Du bist nicht der, der du zu sein vorgibst, du bist nicht der kalte Unempfindliche. In deiner Brust ist eine Stelle, wo du zu treffen gewesen bist, und dort bist du getroffen wor den. Dort blutest du, Mann! Und wenn wir alle, ich und deine Tochter und deine Brüder und deine Freunde und deine feigen Kreaturen, wenn wir dir auch so gleichgültig und so lästig wie Fliegen sind, einer hat dich verwunden können und das nagt an dir. Und weißt du, warum er dich verwunden konnte? Weil du ihn geliebt hast. Sieh mich an und leugne. Du hast ihn geliebt, deinen Sohn, du hast ihn vergöttert, und daß er deine Liebe fortgeworfen hat, daß sie ihm nichts wert war, diese Liebe, die auf den zertrümmerten Existenzen seiner Mutter und seiner Schwester blühte, das ist das Leiden, das an deine Stirn geschrieben ist. Und daß du leidest, daran leidest, das ist meine Rache.«
[212] Der Baron antwortete mit keiner Silbe, mit keinem Blick. Sein Unterkiefer schob sich leer kauend von links nach rechts; das Gesicht schien einzutrocknen und plötzlich um Jahre älter zu werden. Die aus ihren Hinterhalten gescheuchte Frau stand noch immer wie eine entflammte Sibylle da, als er sich schweigend umdrehte und das Zimmer verließ.
»Es ist ihre Rache, daß ich leide,« murmelte er draußen wie geistesabwesend vor sich hin. »Leide ich wirklich?« fragte er sich.
Er schraubte eine Gasflamme ab, die über einer Konsole brannte. Ja, ich leide, bekannte er widerwillig, ich leide. Mit schlürfenden Schritten ging er an der Wand entlang und kam in einen Raum, in welchem es hell war. Denselben Überdruß, den ihm vorhin seine Person eingeflößt, empfand er nun beim Anblick der geschnitzten Sessel, der bemalten Porzellane, der kostbaren Tapeten und der goldgerahmten Ölgemälde.
Er trug Verlangen nach einfacheren Dingen. Ihn verlangte nach kahlen Mauern, nach einem Strohlager, nach trockenem Brot, nach Kargheit und Strenge. Es war nicht zum erstenmal, daß sein erschöpfter Organismus in dem Gedanken einer klösterlichen Abgeschiedenheit Trost suchte. Längst war dieser Protestant, Nachkomme eines uralten Geschlechts von Protestanten, des protestantischen Wesens müde und betrachtete die römische Kirche als die heilsamere und begnadetere.
Aber der Wandel der Gesinnung war sein sorgfältig behütetes Geheimnis und mußte Geheimnis bleiben, bis er, der Zuchtlose, der Sohn seiner Mutter, den begangenen Frevel gesühnt haben würde. Darauf zu harren, war sein Entschluß, und wie ein Hypnotiseur durch innere Sammlung das Medium unterwirft, wähnte er, den Eintritt dieses Ereignisses beschleunigen zu können, wenn er ihm eine ausschließliche Herrschaft über seinen Geist einräumte.
Als Eberhard von Auffenberg das elterliche Haus verlassen hatte, um sich auf eigene Füße zu stellen, war er hilflos wie ein Kind, das in einer Menschenmenge die Hand des erwachsenen Führers verliert.
Er fragte sich: was soll ich tun? Er hatte niemals gearbeitet. Er hatte an einigen Universitäten studiert, wie so viele andre junge Leute studieren, d.h. er hatte mit Müh und Not eine Anzahl von Prüfungen bestanden.
Das Leben hatte ihm keine Aufgaben gegeben und er besaß so wenig Ehrgeiz, daß er jeden Ehrgeizigen für einen Verrückten hielt. Die geringste praktische Leistung bot ihm unüberwindliche Schwierigkeiten, und es war ihm in seiner Freiheit traurig zumute.
Leute zu finden, die ihm auf seinen Namen Geld geborgt hätten, wäre nicht schwer gewesen. Aber er wollte nicht Schulden machen, von denen sein Vater hätte Kunde erhalten können, da wäre ja die ganze feierliche Lösung eines unwürdigen Verhältnisses Spiel und Phrase geworden.
Mit seinem künftigen Erbteil durfte er rechnen; und er rechnete damit, wenn auch in diese Rechnung der Tod des Vaters eingeschlossen werden mußte. Er brauchte einen vertrauenswürdigen Helfer und glaubte ihn in Herrn Carovius gefunden zu haben.
»Zwei Leute wie Sie und ich werden sich nicht auf unnötige Formalitäten versteifen,« sagte Herr Carovius. »Mir genügt Ihr Gesicht und Ihre Unterschrift auf einem Stück Papier. Zehn Prozent bringen wir gleich in Abzug, damit meine Auslagen gedeckt sind, das Geld ist heutzutage teuer. Ich gebe Ihnen Rentenpapiere; das Rentenpapier steht fünfundachtzig im Kurs, leider. Die Börse ist ein bißchen krank, aber der kleine Verlust spielt ja bei Ihnen keine Rolle.«
Für zehntausend Mark, die er schuldete, empfing Eberhard [214] siebentausendsechshundertfünfzig an Barwert. Nach weniger als einem Jahr war er abermals ohne Geld und verlangte von Herrn Carovius zwanzigtausend Mark. Herr Carovius sagte, er habe eine so große Summe nicht flüssig und müsse erst einen Geldgeber suchen.
Eberhard erwiderte grämlich, er möge das nach seinem Gutdünken halten, nur bitte er sich aus, daß vor einem Dritten sein Name nicht genannt werde. Ein paar Tage später berichtete Herr Carovius von haarspalterischen Verhandlungen, von unbescheidenen Provisionen, die von einer Mittelsperson begehrt würden und von Wechseln, die ausgestellt werden müßten. Er schwor, daß ihm das Talent zu dergleichen Verrichtungen fehle, die er nur übernommen habe, weil er sich von einer fast närrisch zu heißenden Affektion für seinen jungen Freund erfaßt fühle.
Eberhard blieb ungerührt. Der aalhaft bewegliche Mann mit der piepsenden Stimme gefiel ihm nicht, ach, ganz und gar nicht, eher fing er an, ihn zu fürchten, und diese Furcht stieg im selben Maß, in dem er sich im Netz verstrickte.
Die zwanzigtausend Mark wurden gegen einen Zinsfuß von fünfunddreißig Prozent beschafft. Die Wechsel zu unterschreiben weigerte sich Eberhard anfangs; erst als Herr Carovius beteuerte, sie seien nicht für den Umlauf bestimmt, man könne sie später mit neuen Darlehen ohne Mühe einlösen und sie lägen in seinem Kassaschrank so ruhig wie die Gebeine der Auffenbergschen Ahnen in ihren Sarkophagen, gab der von solchem Wortschwall Ermüdete nach.
Mit jedem Federzug, den er tat, spürte er die Gefahr wachsen. Aber er war zu träg, um sich zu schützen, er war zu vornehm, um sich in kleinliche Erörterungen einzulassen, und er war nicht imstande, sich Einschränkungen aufzuerlegen.
Die unterschriebenen Wechsel wurden mahnend vorgezeigt; neue Darlehen beseitigten sie. Die neuen Darlehen erzeugten neue Wechsel; diese wurden prolongiert. Die Prolongation [215] verursachte Kosten; ein unheimlicher Namenlos wurde ins Vertrauen gezogen, der Hypotheken aufnahm, Diamanten an Geldesstatt gab und minderwertige Börsenpapiere verkaufte. Als die Schuldenlast eine gewisse Höhe erreicht hatte, forderte Herr Carovius, daß der junge Freiherr sein Leben versichern lasse. Eberhard mußte willfahren; die Prämie war sehr hoch. Nach Verlauf von drei Jahren hatte Eberhard jeden Überblick verloren. Das Geld, das er bekam, verbrauchte er in gewohnter Weise, fragte nicht um die Bedingungen, wußte nicht, wohin all dies führen, wie es enden sollte und wand sich vor Abscheu bei den täppischen Annäherungen, den boshaften Stichelreden und den von Zeit zu Zeit geäußerten Drohungen des Herrn Carovius.
Wie abgeschmackt sein Lächeln war, wie leer einmal und wie tiefsinnig dann wieder sein Gespräch! Er maßte sich die unverschämte Freiheit an, bei Eberhard ein- und auszugehen, so oft es ihm paßte. Er langweilte ihn mit der Besprechung philosophischer Systeme oder mit erbärmlichem Klatsch über seine Mitbürger. Er bewachte ihn Tag und Nacht.
Er folgte ihm auf der Straße, schrie: »Herr Baron! Herr Baron!« und schwenkte den Hut. Seine Besorgnis für Eberhards Wohlbefinden glich der eines Kerkermeisters. An einem Winterabend lag Eberhard fiebernd zu Bett. Herr Carovius lief zum Arzt und verbrachte dann die ganze Nacht im Zimmer des Kranken, ohne sich um dessen ausdrücklichen Wunsch, daß er ihn allein lassen möge, zu kümmern. »Soll ich nicht an Ihre Frau Mutter schreiben?« fragte er zärtlich, als am Morgen das Fieber noch nicht gefallen war. Mit einem Wutschrei sprang Eberhard aus dem Bett und Herr Carovius ergriff die Flucht.
Herr Carovius liebte es, zu wehklagen. Er rannte um den Tisch herum und jammerte, er sei ruiniert. Er schleppte das Kontobuch herbei, addierte die Ziffern und rief: »Noch zwei Jahre so gewirtschaftet, lieber Baron, und mir blüht das [216] Armenhaus.« Dann verlangte er Deckung, neue Sicherheiten, neue Versprechungen und legte zur Unterschrift einen Schein über die Gesamtsumme vor, der aber von dem Wirrsal der Zinsenberechnungen, Provisionen, Vergütungen und Wuchergelder nichts ahnen ließ. Herr Carovius selbst konnte sich nicht mehr zurechtfinden, denn es hatte sich auf sein Betreiben ein Konsortium stiller Hintermänner gebildet, denen er seinerseits verschuldet war, und die seinen Eifer im Dienst des jungen Freiherrn nach Kräften ausbeuteten.
»Was ist's denn mit den Weiberlein?« fragte Herr Carovius zu anderer Stunde wieder, »was wär's denn mit einem kleinen Abenteuer?« Und er merkte, daß es im Leben des jungen Freiherrn ein Geheimnis gab; er merkte es und war wütend, daß er das Geheimnis nicht ergründen konnte.
Eines Tages kam er dazu, als Eberhard seinen Koffer packte. »Wohin, Verehrtester?« krähte er erschrocken. Eberhard antwortete, er wolle in die Schweiz reisen. »In die Schweiz? Was wollen Sie denn dort machen? Ich lasse Sie nicht fort,« sagte Herr Carovius. Eberhard musterte ihn kalt. Herr Carovius verlegte sich aufs Bitten; umsonst, Eberhard reiste. Er suchte Einsamkeit, die Einsamkeit quälte ihn, er kehrte zurück, um abermals wegzureisen, er kehrte wieder zurück und hatte das Gespräch mit Lenore, das ihm die letzte Hoffnung raubte, da ging er nach München und wurde in das Treiben einer Spiritistengemeinde gezogen.
Seelische Müdigkeit beraubte ihn des Widerstandes; es war etwas zerbrochen in ihm. Eine angeborene Zweifelsucht hinderte ihn nicht, sich einem Einfluß hinzugeben, der seiner Natur ursprünglich noch fremder gewesen war als die pöbelhafte Geschäftigkeit der Alltagswelt. Mit eingeschläfertem Urteil schürfte er in einem Bezirk, wo das Trugbild und die oberflächliche Bezauberung herrscht, nach Quellen des Lebens.
Herr Carovius aber besoldete einen Spion, der den Freiherrn nicht aus den Augen lassen durfte und über alle seine [217] Schritte Bericht erstatten mußte. Brauchte Eberhard Geld, dann war er gezwungen, zu Herrn Carovius zu kommen. Dann stand Herr Carovius schon eine Stunde vor Ankunft den Zuges auf dem Bahnhof und benahm sich so auffallend, daß die Amtspersonen und die Reisenden über ihn lachten. War der Erwartete endlich eingetroffen, so schwätzte Herr Carovius vor Freude lauter Unsinn und trippelte erregt rings um ihn herum.
Es könnte demnach scheinen, als hätte Herr Carovius eine redliche Liebe für den jungen Freiherrn empfunden. Und er liebte ihn in der Tat.
Er liebte Eberhard wie ein Spieler die Karten liebt, oder auch wie das Feuer die Kohle liebt. Er idealisierte ihn; er träumte von ihm; er atmete gern die Luft, die jener atmete; er sah in ihm einen Auserwählten, er dichtete ihm heldenhafte Züge an und war entzückt von der adeligen Unnahbarkeit seines Schützlings.
Er liebte ihn mit Haß, mit der Freude an der Vernichtung, und diese Haßliebe war zum Mittelpunkt seiner Gedanken und Gefühle geworden, in ihr drückte sich alles aus, was ihn von den Menschen schied und was ihn an den Menschen lockte. Sie beherrschte ihn unbedingt bis zu dem Zeitpunkt, wo eine zweite, ebenso furchtbare, ebenso lächerliche Leidenschaft sich ihr zugesellte.
Daniel hatte lange gezögert, den Empfehlungsbrief der Frau von Erfft zu benutzen. Da bat ihn Gertrud, zur Baronin Auffenberg zu gehen. »Geh ich dir zuliebe, so rächt sich's an dir,« sagte er.
»Wenn ich dein Weigern verstünde, wollt ich nicht bitten,« antwortete sie erschrocken.
»Dort in Erfft hab ich so viel gewonnen,« sagte er, »so [218] viel Menschenwärme, die mir neu war, daß ich keinen Zweck dahinter setzen mag. Verstehst du jetzt?« Sie nickte.
»Aber Muß ist stärker als Mag,« schloß er und ging.
Die Freifrau nahm sich mit Entschiedenheit seiner Sache an. Am Stadttheater war die Stelle eines zweiten Kapellmeisters frei geworden, und sie bewarb sich für Daniel darum. Man versprach, ihrem Wunsch zu willfahren, doch hinterrücks wurden Ränke gesponnen, und wenn sie mahnte, wurde sie gleißnerisch vertröstet. Sie wunderte sich, eine Feindseligkeit anzutreffen, die sich wie auf Verabredung von allen Seiten gegen den jungen Musiker kehrte. Keiner der Widersacher ließ sich sehen oder hören; es war das erstemal, daß sie handelnd mit der Welt zusammenstieß, und ihre Entrüstung über die Feigheit und Falschheit hatte etwas Rührendes.
Endlich, nach einer langen und für sie demütigenden Unterredung mit dem Allerweltsmakler Alexander Dörmaul, wurde ihr das Engagement Daniels für das nächste Frühjahr zugesagt.
Die Freifrau nahm indessen Stunden bei Daniel. Es war ihr Wunsch, mit dem Bestand guter Klavierwerke vertraut gemacht und über ihre Art faßlich belehrt zu werden.
Es dauerte lange, bis sie sich an seine mürrische Strenge gewöhnt hatte. Ihr war, als zerre er sie aus einem wohlig lauen Bad in kalte Zugluft; sie verlangte nach ihren Dämmerungen zurück, nach ihren Auflösungen, nach ihren wehleidigen Stimmungen.
Einmal wagte sie einen entzückten Ausruf, als er einen fugierten Satz trocken erklärte. Da schlug er den Klavierdeckel unter ihren Händen zu und sagte: »Adieu, Frau Baronin.« Er kam erst wieder, als sie ihn durch einen Brief zu kommen bat.
Verdorbener Saft, vergebliche Mühe, dachte er, ohne doch die menschliche Würdigkeit der Freifrau zu übersehen. Die acht Stunden im Monat waren ihm eine bittere Plage; [219] trotzdem fand er sich mit zwanzig Mark für die Stunde zu hoch bezahlt und sagte es auch. Der Verdacht, daß man ihm ein Almosen reichen wolle, machte ihn im höchsten Grade unliebenswürdig.
Ein Diener erlaubte sich eine freche Vertraulichkeit; da packte er den Menschen am Kragen und schüttelte ihn, daß er blau im Gesicht wurde. Er war sehnig wie ein Jaguar und im Zorn äußerst zu fürchten. Die Freifrau mußte den Diener entlassen.
Einst zeigte ihm die Freifrau ein altertümliches Glas aus Bergkristall, welches schön bemalt war. Indem er es bewundernd anblickte, ließ er es fallen und das Gefäß zerbrach. Er war zerknirscht wie ein Schuljunge, und die alte Dame mußte ihn mit vielen Überredungskünsten beruhigen. Da spielte er ihr zum Dank den ganzen Karneval von Schumann vor, den sie über alles liebte.
Man konnte ihn jeden Vormittag über die Fleischbrücke eilen sehen. Er ging stets rasch; die Schöße seines Mantels flogen. Er hatte stets die Mundwinkel auseinander gezogen und die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt. Sein Blick war zur Erde gerichtet; im dichtesten Gedränge schien er allein zu sein. Die umgebogene Hutkrempe verbarg die Stirn; seine schlenkernden Arme glichen den Flügelstümpfen eines Pinguins.
Wenn er bisweilen stillestand und mit einem horchenden Ausdruck im Gesicht schaute, ohne zu sehen, sammelten sich Gassenjungen um ihn und grinsten. Einmal fragte ein kleiner Knabe seine Mutter: »Sag Mutter, wer ist das uralte Männlein dorten?«
So müssen wir ihn denken, an diesem Punkt seines Lebens, vor den Gewitterjahren seines Lebens; so eilig, so abgekehrt, so mürrisch, so trocken scheinend, so von Phantasie und Begierde durch den engen Kreis seines Werktags gejagt, so jung und so uralt; so müssen wir ihn denken.
Die Wohnung von Daniel und Gertrud hatte drei Zimmer. Zwei lagen gegen die Straße und eines, das Schlafzimmer, lag gegen den düstern Hof.
Mit geringen Mitteln, aber mit Lust und Fleiß hatte Gertrud alles getan, um die Räume zu schmücken. Obgleich die Decken niedrig waren und die alten Mauern massig wuchteten, boten die Stuben einen freundlichen Anblick.
In Daniels Arbeitszimmer war der Stutzflügel das beherrschende Möbelstück. Fuchsienstöcke auf dem Sims gaben der Kargheit einen idyllischen Rahmen. Die Mutter hatte ihm das Ölporträt seines Vaters zum Geschenk gemacht; von seinem Platz über dem Sofa schaute das ernste Antlitz Gottfried Nothaffts auf den Sohn, und es schien, als wende er bisweilen den Blick fragend zur Totenmaske der Zingarella, die ihm gegenüber ihr unendliches Geisterlächeln an den Schatten des Raumes verlor.
Gertrud mußte alle häuslichen Arbeiten selbst machen, denn eine Magd konnten sie nicht halten. Sie hatte aber auch in den Jahren von Daniels Abwesenheit das Notenschreiben erlernt. Der Provisor Seelenfromm, der beim Apotheker Pflaum bedienstet war, hatte sie darin unterrichtet. Er war ein Vetter der Notarin Rübsam, und sie hatte seine Bekanntschaft durch Lenore gemacht. In seinen Mußestunden komponierte er kleine Walzer und Militärmärsche und widmete sie den Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses. Auch Gertrud widmete er eine Komposition, betitelt Feenzauber, eine Gavotte.
Als Daniel von ihrer Fertigkeit erfuhr, schlug er vor Erstaunen die Hände zusammen. Das seltsame Wesen sah in einem Glücksrausch zu ihm empor. »Ich will dir helfen,« sagte sie, und sie schrieb seine Notenschriften ins Reine.
Auf der Straße gehend, schloß sie bisweilen die Augen. [221] Eine Tonfolge zog an ihr vorüber, deren eigentümliche Sprache sie erst in diesem Augenblick verstand. Während sie mit einem Marktweib um den Preis des Gemüses handelte, war ihr Inneres voll Gesang.
Bestimmte Töne und Tonverbindungen traten figürlich vor ihr Auge. So zum Beispiel glich das zweigestrichene B des Basses einer schwarzverschleierten Frau; das E der Mittellage einem Jüngling, der die Arme dehnte. In den Akkorden, Harmonien und harmonischen Verwandlungen wurden diese Gestalten von einer Bewegung erfaßt, die sich nach dem Charakter der Komposition richtete. Ein Zug trauernder Gestalten zwischen Wolken und Sternen; wilde Tiere, die von berittenen Jägern gehetzt werden; Mädchen, welche Blumen aus den Fenstern eines Palastes werfen; Männer und Frauen, die verzweiflungsvoll umschlungen in einen Abgrund stürzen; Weinende und Lachende, Ringer und Ballspieler, Tanzpaare und Traubenpflücker. Die Fermate erschien ihr als ein Mensch, der nackt aus einem Schachte steigt, eine brennende Fackel in der Faust; der Triller als ein Vogel, der ängstlich um sein Nest flattert.
In Daniels Schöpfungen ging ihr alles nah, waren alle Bilder farbig, alle Gestalten wie voll Blut. Blieben sie tot und fern, so stockte ihr Mitgefühl, ja ihr Gesicht wurde leer und müde, und ohne daß sie ein Wort miteinander gesprochen hatten, wußte Daniel, daß er irre gegangen war. Dieses aber schmiedete ihn wie mit Ketten an das junge Weib, das von Gott eingesetzt schien als sein lebendiges Gewissen und als unfehlbare, wenn auch stumme Richterin.
Er haßte sie, wenn ihr Gefühl schwieg; hatte er sich dann nach tiefer Einkehr überzeugt, daß ihr Gefühl im Rechte war, dann hätte er die unbekannte Macht anbeten mögen, die ihm so unerbittlich seine Wege wies.
Der Kantor Spindler hatte eine schöne Harfe besessen, die hatte er in seinem Testament Daniel vermacht. Die Harfe war [222] damals in Ansbach bei der alten Wirtschafterin des Kantors geblieben, erst nach seiner Heirat hatte sich Daniel des Geschenkes wieder erinnert und die Harfe wurde ihm zugeschickt.
Sie stand in der Wohnstube, Gertrud hatte sie von Anfang an gern betrachtet. Die Harfe lockte sie und einmal setzte sie sich hin und suchte Töne auf den Saiten. Ganz leise strich sie mit den Fingern über die Saiten und war vom Wohlklang entzückt. Allmählich fand sie das Gesetz; eine angeborene Gabe machte ihr das Instrument untertan und sie vermochte auf ihm auszudrücken, was in stillen und einsamen Stunden sehnsüchtig in ihr drängte.
Sie spielte meist sehr leise, suchte keine gebundene Melodie, weil sich das Wesen der Harfe am schönsten in träumerischen Harmonien offenbarte. Die Töne zogen in den Flur und auf die Stiege und empfingen Daniel, wenn er das alte Haus betrat.
Kam er in die Stube, so saß Gertrud im Winkel beim Ofen, hatte die Harfe zwischen den Knien und lächelte geheimnisvoll in sich hinein, während ihre Hände gleich fremd von ihr losgelösten Wesen Akkorde suchten, Klänge, die seine eigenen waren und die sie in ihre Traumwelt übertragen wollte.
Des Wortes war sie noch weniger mächtig als vordem. Schmerzliches Erstaunen ergriff sie, als sie bemerkte, daß Daniels Geist im täglichen Verkehr nicht hinter die Hülle drang, in der sie lebte.
Er sagte sich: sie ist zu schwer. Er verstummte gegen sie.
»Das finstere Haus drückt dich,« äußerte er unbehaglich, wenn sie hilflos lächelte.
»Laß uns wettlaufen,« bat er auf einer Landpartie und bezeichnete einen vom Blitz getroffenen Baum als Ziel.
[223] Sie lief so schnell ihre Füße konnten. Zehn Meter vor dem Baum brach sie zusammen. Er trug sie auf die Wiese.
»Wie schwer du bist,« sagte er.
»Zu schwer für dich?« hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen. Er zuckte die Achseln.
Da entwand sie sich ihm, sprang empor und rannte wunderbar geschwind eine fast doppelt so lange Strecke als die war, die er vorhin bemessen hatte. Sie fiel nicht mehr, sie wollte nicht, durfte nicht fallen.
In Stößen atmend, leichenblaß, wartete sie, bis er heran gekommen war. Aber er hatte keine Zärtlichkeit, er schalt nur. Arm in Arm gingen sie weiter; Gertrud suchte seine Hand, und als er sie ihr überließ, preßte sie sie an ihre Brust.
Erschrocken schaute Daniel in ihr Gesicht, in dem ihr Gedanke wie mit Feuerbuchstaben geschrieben stand: wir gehören einander für Zeit und Ewigkeit.
Dies war ihr Glaubensbekenntnis.
Sie lag schlaflos, spät in der Nacht. Sie hörte, wie er in die Küche ging und Wasser zum Trinken holte, dann kehrte er wieder in seine Stube zurück. Er hatte ihr verboten, an die Türe zu schleichen und zu fragen, ob er nicht bald käme, wenn es auch noch so spät wurde.
Dann lag er neben ihr, den Kopf auf den Arm gestützt und sah sie an mit Augen ohne Irdischkeit. Mann, wo sind deine Augen? hätte sie rufen mögen. Und sie wußte doch, wo; wußte auch, daß man die Mondsüchtigen durch Zuruf gefährdet.
In einer andern Nacht hatte er sein Werk nicht fördern können, kauerte stundenlang auf dem Bettrand und stierte voll Selbsthaß in die Flamme der Lampe. Gertrud fühlte, [224] wie er gegen sich wütete und mit Wollust seine Zweifel nährte. Sie war nicht fähig, zu sprechen.
Ein Verleger hatte ihm eine Arbeit zurückgeschickt und ihn mit platten Höflichkeiten vertröstet. Da redete er wegwerfend von seinem Talent, hoffnungslos von seinen Aussichten und bitter von der Welt, die ihn zu einem Leben in beständiger Dunkelheit verdammen werde.
Sie konnte ihn nur anschauen; nur anschauen.
Ihm war aber des Anschauens zu viel. Ein frisches, kräftiges Wort hätte ihm besser gedient, so glaubte er.
Sie maß die Arbeit nicht am Lohn, Entbehrung nicht an der Hoffnung; sie maß auch Daniels Liebe nicht an seinen Liebesbeweisen, weder an zärtlichen Äußerungen noch an Umarmungen. Sie wartete auf ihn mit großer Geduld. Mit der Zeit machte ihn diese Geduld verdrießlich. »Etwas mehr Rührigkeit stünde dir nicht übel an,« sagte er einmal und wies ihre schüchtern bittende Gebärde zurück.
Er sah sich nun umfriedet, er hatte ein Heim, er hatte einen Menschen, der für ihn sorgte, sein Essen bereitete, seine Wäsche wusch, sein Leben treulich regelte, und er hätte dafür dankbar sein müssen. Er war es auch, er war dankbar, aber er konnte es nicht zeigen; er war es, wenn er allein war, doch in Gertruds Nähe verwandelte sich der Dank in Trotz. War er fern von ihr, so freute er sich auf die Rückkehr und malte sich ihre Freude aus. War er bei ihr, so übte er stille Kritik und wollte alles an ihr anders haben.
Die Kanzleirätin im ersten Stock beklagte sich, daß Gertrud sie nicht gegrüßt habe. »Sei doch freundlich mit den Nachbarn,« schalt er. Am nächsten Sonntag gingen sie zusammen aus, die Kanzleirätin kam ihnen entgegen, und Gertrud grüßte sie. »So ergeben brauchst du nicht zu lächeln,« murrte er. Da dachte sie lange darüber nach, wie man grüßen müsse, ohne die Leute zu verletzen und ohne Daniel zu ärgern. Sie wurde befangen und fürchtete sein Urteil.
[225] An solchen Tagen versalzte sie die Suppe, nichts ging ihr von der Hand und aus lauter Beflissenheit, pünktlich zu sein, verfehlte sie die Zeit. Wie grausam war es dann, wenn er schwieg, wenn er wortlos in seine Stube ging. Ohne Regung saß sie da und lauschte; zitterte, wenn er sich erhob, um ans Klavier zu treten und ein Motiv zu erproben, sah gespannt in sein Gesicht, wenn er wieder hereinkam. Und es geschah dann wohl, daß er sich zu ihr setzte und plötzlich gütig war. Von seinem Leben erzählte, von seiner Heimat, von seinem Vater und seiner Mutter. Da hätte sie jedes seiner Worte zweimal hören mögen und jeden seiner Blicke trinken. Da wurde sein Auge ruhig und seine reizbaren Hände lagen still auf den Knien. Da nahm sein zuckendes, eckiges, von Wettern überstürmtes Gesicht einen Ausdruck der Trauer an, der es verschönte.
Und wenn sie Kopfschmerzen hatte oder müde war, äußerte sich seine Besorgnis in rührender Weise. Auf den Fußspitzen ging er dann umher und schloß die Türen mit Behutsamkeit. Bellte ein Hund auf der Straße, so stürzte er ans Fenster und schaute wütend hinaus. Und am Abend half er ihr beim Auskleiden und brachte ihr, was sie verlangte, ans Bett.
Auch war es seltsam, daß er sie nicht gern allein ausgehen ließ. Seine Unruhe, wenn sie fort und er zu Hause war, hatte etwas Kindliches. Sie schien ihm ohne seine Gegenwart von Gefahren umdroht und am liebsten hätte er sie eingesperrt und gefangen gehalten, um sicher zu sein, daß sie in Sicherheit war. Dies machte sie schwächer und von ihm über alle Maßen abhängig, während er einem Menschen glich, der mit Angst und Qual das an sich preßt, was er errungen hat; es an sich preßt, weil es sein einziger Besitz ist, dieses wohl; aber auch darum es umklammert, um nicht hindenken zu müssen an ein anderes, Kostbareres, das er verloren hat.
Einmal kam er zu Gertrud, als sie die Harfe spielte, schlang [226] die Arme um sie, schaute ihr wild und finster ins Gesicht und stammelte: »Du, ich liebe dich, liebe dich.« Es war das erstemal, daß er dieses ewige Wort sagte, und sie wurde bleich, erst vor Glück, dann vor Schrecken. Denn in seinem Ton lag eher Haß als Liebe.
Er meinte, der Umgang mit wahlverwandten Männern könne ihn über manche schlimme Stunde bringen. Aber als er nach solchen Männern zu suchen begann, wurde die Stadt zur Einöde.
Der Provisor Seelenfromm kam einige Male ins Haus. Daniel war unduldsam und auffahrend gegen den scheuen Menschen, der einen hohen Respekt vor ihm an den Tag legte und Gertrud stumm verehrte. Ein junger Architekt, der bei der Renovierung der Sebalderkirche beschäftigt war und die Musik liebte, hatte Daniels Gefallen erweckt, aber der Mann hatte die leidige Gewohnheit, beim Reden hie und da mit der Zunge zu schnalzen, das machte Daniel rasend, sie hatten einen Wortwechsel darüber und trennten sich im Zorn. Dauernder war die Beziehung zu einem Franzosen namens Rivière, der für einige Jahre in der Stadt Aufenthalt genommen hatte, weil er ein Buch über Caspar Hauser schreiben wollte. Er hatte ihn bei Frau von Auffenberg kennen gelernt und sich ihm angeschlossen, weil er ihn an Friedrich Benda erinnerte.
Monsieur Rivière liebte es, wenn Daniel am Klavier phantasierte; er verstand so wenig Deutsch, daß er Daniels Bissigkeiten höflich belächelte und bei seinen Wutausbrüchen ängstlich auf seinen Mund starrte. Er hatte eine Warze auf der Wange und trug Sommer und Winter hindurch einen Strohhut. Er kochte sich seine Mahlzeiten selbst, denn es war [227] seine fixe Idee, daß man ihn wegen seiner Forschungen über das Leben Caspar Hausers vergiften wolle.
Wenn der Provisor und Monsieur Rivière an Sonntagabenden in der Stube saßen, griff Daniel bisweilen nach einem Band E.T.A. Hoffmann oder Brentano, nur um im Bogen einer fremden Welt Ruhe zu gewinnen, um nicht weinen zu müssen beim Anblick der unbewegten Menschengesichter und las vor, bis seine Stimme heiser wurde.
Da heftete Gertrud tiefe Blicke auf ihn und stellte sich die Frage, wie ein Mann, dessen Leben die Musik war, das Paradies des Herzens und des Geistes, so dumpf, so zerstört, so umwölkt sein könne. Sie begriff die Pein, in der er schuf; sie ahnte die labyrintische Verschlingung seiner inneren Schicksale, aber ihr Gemüt erkrankte im Mitfühlen und sie wünschte, wünschte es glühend, mehr Glauben und mehr Freude in seine Seele pflanzen zu können.
Sie ging mit sich zu Rate und es wollte ihr scheinen, daß er in der Zeit, wo er mit Lenore viel verkehrt, gläubiger und froher gewesen war. Sie sah Lenore mit ganz anderen Augen an als früher; nicht allein, weil sie in der Schwester die Urheberin ihres Glückes erblickte, sondern auch, weil durch die Verwandlung ihres Wesens dort Liebe und Erleuchtung entstanden war, wo früher Argwohn und Unwissenheit geherrscht hatten.
Sie schrieb Lenore diejenigen Kräfte zu, die ihr mangelten, Überlegenheit und aneifernde Gewalt, ein Spielenkönnen, das den Ernst versüßte und das Schwere leichter machte, Helligkeit des Wortes und Zartheit der Hand. In den Grübeleien ihrer vielen einsamen Stunden erschien ihr Lenore als die einzige, die ihr helfen konnte, und sie ging in die Wohnung des Vaters, um Lenore zu fragen, weshalb sie so selten komme.
»Ich geh nicht gern zu euch hinüber, Daniel ist so unfreundlich mit mir,« sagte Lenore.
Gertrud antwortete, er sei unfreundlich gegen alle Menschen, [228] auch gegen sie selbst, und sie möge sich doch daran nicht kehren. Sie wisse genau, daß er Lenore gern habe, vielleicht sei er seinerseits gekränkt, weil sie nicht mehr kam.
Lenore ließ sich überreden und kam nun wieder häufiger zu Daniel und Gertrud. Aber wenn es auch nicht gerade den Anschein hatte, daß Daniel ihr auswich, so redete er doch nur das Notwendige mit ihr und ergriff gern einen Vorwand, das Zimmer zu verlassen, wenn sie da war. Lenore fühlte es, und es tat ihr weh.
Eines Morgens kehrte Gertrud vom Markt zurück und trug schwer an ihrem Einkaufskorb. Als sie ins Haus trat, hörte sie, daß Daniel spielte. Sie hörte sogleich, daß es kein Phantasieren war, sondern ein zusammenhängendes Gebilde, dessen Töne ihr unbekannt waren.
Während sie die Stiege hinauf ging, spürte sie kaum mehr die Schwere des Korbes, und oben schlich sie in die Wohnstube und lauschte. Aber es zog sie näher und näher ans Klavier; Daniel merkte es nicht, als sie in sein Zimmer trat und sich auf einen Stuhl setzte; er war ganz versunken und wandte den wunderbar erfüllten Blick nicht ab von den beschriebenen Notenblättern auf dem Klavier.
Es waren die Entwürfe zur »Harzreise im Winter«. Seit anderthalb Jahren, seit er sie in Ansbach niedergeschrieben, hatte er sie liegen lassen und nicht mehr daran gearbeitet. Plötzlich war das Feuer wieder aufgeflammt und in Schöpferglut konnte er das Unverbundene binden, das Angedeutete gestalten.
Immer wieder begann er einen Teil von neuem und suchte Brücken, bald hier, bald dort, griff zum Bleistift, schrieb Noten hin, suchte wieder, sang und lächelte sonderbar irr und beglückt, wenn auf den Blättern ein Motiv in abgerundeter [229] Form erschien. Und Gertrud wurde noch näher gezwungen; in ihrer Ergriffenheit kauerte sie sich dicht neben ihm auf den Boden, am liebsten hätte sie in das Instrument hineinkriechen mögen, um ihre ganze Seele in den Saiten mit austönen zu lassen, und als Daniel geendet hatte, legte sie ihre Stirn auf seinen Schenkel und ihre heißen Hände langten nach ihm empor.
Daniel erschrak, denn er erinnerte sich einer Stunde, wo ein anderes Weib die Stirn auf seinen Schenkel gelegt hatte, und da fiel plötzlich sein Blick an die Wand, dorthin, wo die Maske der Zingarella hing. Er ward sich des Zusammenhangs nicht bewußt, hier war keine Brücke, zu verschieden war das Antlitz von seinem Urbild, aber mit einem leisen Schauer ahnte er doch rätselvolle Verknüpfungen und glaubte einen Herüberruf von jenseitigen Gestaden zu vernehmen.
Still legte er seine Hand auf Gertruds Haar, und ihr war es, als habe sie damit sein Versprechen erhalten, daß dieses Werk ihr zu eigen gehöre, daß er es für sie schuf, es aus ihrem Herzen genommen habe und ihrem Herzen zurückschenken werde.
Der Musikalienhändler Zierfuß hatte Karten zu einem Konzert geschickt. Daniel mochte nicht gehen, und so bat Gertrud ihre Schwester, daß sie mit ihr gehen solle. Daniel holte die beiden vom Konzert ab.
Da sagte ihm Lenore auf der Straße, daß sie am Nachmittag einen für ihn bestimmten Brief mit dem Londoner Poststempel bekommen habe.
»Von Benda?« fragte Daniel rasch.
»Die Schrift ist Bendas Schrift,« erwiderte Lenore. »Ich wollt ihn dir eben bringen, da hat mich Gertrud abgeholt. Warte vorm Haus, dann bring ich ihn herunter.«
[230] »So iß mit uns zu Abend,« forderte Gertrud die Schwester auf und sah Daniel unsicher an.
»Wenns Daniel recht ist –?«
»Keine Flausen, Lenore, es ist mir recht,« sagte Daniel.
Eine Viertelstunde später saß Daniel bei der Lampe und las Bendas Brief.
Zuvörderst teilte ihm der Freund mit, daß er sich an einer wissenschaftlichen Expedition beteiligen werde, deren Arbeitsfeld das Kongogebiet sei und die sich gleichsam im Kielwasser der zur Aufsuchung Emin Paschas ausgerüsteten Stanleyschen Expedition halten werde.
»Dieser Brief ist also ein Abschiedsbrief, mein lieber Freund, es gilt einen Abschied für Jahre, vielleicht fürs Leben. Ich fühle mich wie neu geboren. Ich habe wieder Augen, und die Ideen, die mein Hirn hervorbringt, sind nicht mehr zum Erstickungstod im Morast der verbrüderten Sippe verurteilt. Die Arbeit im Laboratorium einer gigantischen Natur wird mich die erlittene Niedertracht und Ungerechtigkeit vergessen lassen; Hunger und Durst, Krankheit und Gefahren sind leichter zu ertragen als die Wirkungen jener zivilisierten Laster, die den Körper schonen, indes sie Seele und Geist verderben.«
Weiterhin hieß es: »An die Heimat binden mich nur noch zwei Menschen, meine Mutter und du. Vergegenwärtige ich mir dein Bild, so kommt eine stolze Stimmung über mich und jede Stunde, die wir zusammen verbracht haben, ist meinem Gedächtnis unverwischbar eingeprägt. Aber es gibt da einen heiklen Punkt, einen Gewissenspunkt; nenn es meinetwegen einen Span, nenn es, wie du willst, faß es auf, wie du willst, ich hab mich nun einmal donquichotisch festgerannt und muß den Posten verteidigen.«
Kopfschüttelnd las Daniel weiter. Von seiner Verheiratung wußte Benda noch nichts. Er schien sogar nicht einmal zu wissen, daß Daniel und Gertrud verlobt gewesen. Oder wenn [231] er es gewußt hatte, schien er es vergessen zu haben. Oder wenn er es nicht vergessen hatte, schien ihm das Vergessen wünschenswert.
Daniel traute seinen Augen nicht, als er zu der Stelle kam: »Meine größte Angst war stets, du könntest an Lenore vorübergehen. Ich war zu feig, diese Angst zu äußern, und diese Feigheit hab ich mir ohne Unterlaß zum Vorwurf gemacht. Jetzt, da ich scheide, soll es nicht mit dem Gefühl eines Versäumnisses geschehn.«
Ums Himmelswillen, dachte Daniel, was tut er mir an!
»Ich habe es oft im Stillen bewundert, es war wie die Befriedigung bei einem chemischen Experiment, wenn die Reaktion der Stoffe sich in der erwarteten Weise vollzieht: was sie spricht, ist dein Wort, was du empfindest, ist ihr Gesetz.«
Er sieht Gespenster, bäumte sich Daniel auf, verwirrt mir meinen Faden. Wozu? wozu?
»Sei nicht achtlos! Zerstampf mir nicht die wunderbare Blüte! Das Mädchen ist von seltener Art, von der seltensten. Man braucht das ganze Herz mit seiner ganzen Güte, um sie zu ahnen und zu fassen. Kommen meine Worte aber zu spät, so zerreiß dieses Blatt und denk es aus deinem Geist und aus der Welt wieder fort.«
»Komm und iß, Lenore,« sagte Gertrud, die mit einer Schüssel voll marinierter Heringe ins Zimmer trat.
Lenore saß auf dem Sofa und blickte Daniel, der in Gedanken versunken war, forschend an.
Daniel schaute empor und betrachtete die beiden, als seien sie Gestalten einer Halluzination. Die eine im rostbraunen Kleid, die andere im dunkelblauen, wie Moll und Dur. Nebeneinander stehend beide, und doch so fern von einander, die Endpunkte seiner Welt.
»Was schreibt denn Benda?« fragte Gertrud zaghaft.
»Denkt euch nur, er geht nach Afrika,« antwortete Daniel mit einer Stimme, als löge er. »Kurios, nicht wahr? Zur Stunde ist er vielleicht schon auf dem Meer.«
Während in seiner Miene die Furcht war, als könnten die sich nähernden Schwestern erraten, was er von dem Inhalt des Briefes verschweigen mußte, las er vor, was er mitteilen durfte.
»Warum liest du denn nicht weiter?« erkundigte sich Lenore, als er abbrach.
Sie beugte sich über den Tisch, um wißbegierig in den Brief zu schauen, dabei verwickelten sich ihre Haare in der Metallverzierung der Hängelampe. Gertrud erhob sich, um sie zu befreien.
Daniel hatte die Hand über den Brief gelegt und schaute Lenore drohend an. Das gefesselte Mädchen, seinem Blick begegnend, kämpfte zwischen Lachen und Verdruß, und es war ihm unbehaglich, ihre Augen so nah vor sich zu sehen.
»Weißt du nicht, daß sich das nicht paßt?« fragte er. »Wir haben vielleicht ein Geheimnis, Benda und ich.«
»Ich hab gedacht, Benda läßt mich grüßen,« erwiderte Lenore und errötete beschämt.
Da hielt Daniel den Brief über den Zylinder der Lampe, wartete, bis er Feuer fing, und warf ihn dann auf den Boden, wo er verbrannte.
»Es ist schon spät, der Vater wartet,« sagte Lenore, als sie in aller Eile gegessen hatte.
»Ich begleite dich hinüber,« erklärte Daniel. Überrascht von so ungewohnter Ritterlichkeit schaute ihn Lenore an. Er blickte finster drein und sie verwunderte sich noch mehr. »Ich kann auch allein gehen, Daniel,« sagte sie ernst; »brauchst dich nicht zu inkommodieren.«
[233] »Inkommodieren, Lenore? Was soll denn das wieder heißen? Bist du auch von der Sorte, die keinen Ton halten kann und das Pedal tritt, wo die Empfindung versagt?«
Lenore schwieg.
»Zieh deinen Mantel an, Daniel,« bat Gertrud im Flur, »es weht ein kalter Wind.«
Sie wollte ihm den Mantel umhängen, aber er warf ihn ärgerlich auf die Truhe.
Schweigend ging er neben Lenore über den menschenleeren Platz.
Sie hatte schon den Schlüssel ins Torschloß gesteckt, da schaute sie bekümmert auf. »Daniel, was ist denn mit dir?« fragte sie. »Wenn ich dich anseh, wird mir angst und bange. Was hab ich denn verbrochen, daß du jetzt immer so häßlich gegen mich bist?«
»Laß das, Lenore, ich bitt dich, laß es sein,« sagte er mit rauher Stimme. Aber der Blick, den sie auf ihn geheftet hielt, war streng und unerbittlich prüfend, so wenig mädchenhaft, so stark und kühn, daß ihm plötzlich weich ums Herz wurde. »Geh noch ein Weilchen mit mir auf und ab,« bat er.
Lange redeten sie nichts, bis endlich Lenore fragte, was er arbeite. Nur zögernd gab er Bescheid, aber auf einmal flammten die Worte. Er sagte, oft sei ihm zumut, als ringe er in der Finsternis mit Kobolden. Was zu tiefst aus der Seele gequollen, sei so schwer an Laut und Zunge und ersterbe ihm in der Mühe um die Form. Ihm könne nichts gedeihen als das Entrückte, das Erdentbundene, dessen Melodie noch in keiner Menschenbrust Widerhall finde. Deshalb erscheine er oft so haltlos und unglücklich ins Schweifen gewiesen, denn je herrischer die Ordnung sei, unter die er Geist und Phantasie gestellt, je verlorener treibe sein leibliches Teil im Chaos der Werktagswelt. Den Himmel trage er nur als Traum in sich, unter den Menschen sei für ihn die Hölle. Und wie tot alles um ihn liege, ein Kirchhof; sein beherztestes Leben [234] werde allgemach zu Schatten und Ungestalt entfleischt, aber daß er grausam sei gegen die Menschen, spüre er wohl, denn jene lebten ja auch, unschuldiger als er und nützlicher.
»Aber du hast doch eine, die dich hält,« wagte Lenore einzuwerfen, »du hast doch Gertrud.«
Darauf antwortete er nicht. Sie wartete, daß er antworten solle, und als sie begriffen hatte, daß er nicht antworten würde, lächelte sie zu ihm hinüber wie mit einem letzten Versuch, ihn zu einer Bestätigung zu bewegen. Dann schwand die Ruhe aus ihren Zügen; jedesmal, wenn sie an einer Laterne vorbeigingen, drehte sie den Kopf zur Seite.
»Sie ist vor Gott dein Weib,« sagte sie endlich leise und mit wundersamer Feierlichkeit.
Daniel horchte bestürzt auf. In den Wind hinein redend, entgegnete er: »Die Oberstimme, Lenore; ein Vogel, der in den Bäumen zwitschert. Vor Gott mein Weib! Aber in den Wurzeln heult der Baß. Ein teuflisches Tremolo; hörst du's?«
Er lachte toll und sein Gesicht war ihr mit gebleckten Zähnen zugewandt, sie aber packte beschwörend seinen Arm.
Da drückte er die Hand wider die Stirn und sagte: »Der Brief, Lenore, der Brief ...«
»Siehst du, ich hab's ja gleich gewußt, Daniel, der Brief. Was steht denn in dem Brief?«
»Das kann ich nicht sagen,« antwortete er, »sonst purzelt mir die süße Oberstimme in den finstern Baß, da wär's um sie geschehen.«
Lenore schaute ihn erstaunt an, so närrisch war er ihr noch nie erschienen.
»Paß auf,« fuhr er fort und legte seinen Arm in den ihren, »ich hab ein Lied komponiert, das geht so.« Und er sang zu Versen von Eichendorff eine Melodie von zarter Schwermut. »Weil jetzo alles stille ist und alle Menschen schlafen, mein Seel' das ewige Licht begrüßt, ruht wie ein Schiff im Hafen.«
[235] Sie standen wieder bei der Haustüre; aus dem Weilchen waren zwei Stunden geworden und Lenore sagte ihm gute Nacht.
Ungern stieg er die Treppe zu seiner Wohnung empor.
Gertrud saß im Vorplatz auf der Truhe. Mit dem Mantel, den er vorhin von sich geworfen, hatte sie ihre Beine bedeckt, der Rücken war an die Mauer gelehnt, der Kopf auf die Schulter gesunken und so schlief sie, ohne bei seinem Kommen zu erwachen. Neben ihr auf der Truhe stand die bis aufs Metall herabgebrannte Kerze und flackerte nur noch mit letzten Zuckungen, welche das Antlitz der Schläferin durch rasch wechselnde Schlagschatten fremdartig leidend machten.
»Vor Gott mein Weib,« murmelte Daniel, und erst, als die Kerze verlöscht war, weckte er Gertrud auf und sie gingen in der Finsternis in die Schlafkammer.
[236]Daniel wollte einmal Lenore beim Schlittschuhlaufen zusehn, und so ging er aufs Maxfeld zu einer Stunde, wo er sie dort wußte.
Er gewahrte sie bald und freute sich, wenn sie vorüberschwebte, und runzelte die Stirn, wenn sie sich im Gedränge verlor. Es folgten ihr die Gymnasiasten mit feiger Aufdringlichkeit, und ein Student, der eine rote Mütze trug, fiel auf den Bauch, während er sich vor ihr verbeugte.
Zwei Offiziere, in deren Mitte sie lief, hemmten die beseelte Grazie ihrer Bewegung, und als sie wieder allein die schönen Bogen zog, entdeckte sie endlich Daniel und kam heran. Sie lächelte vertraut, plauderte ein wenig, glitt rückwärts im Kreis um ihn herum, lachte ausgelassen über seine Ungeduld, daß sie nicht stehen blieb, warf ihm ihren Muff wie einen Ball zu, forderte, daß er ihn zurückwerfe und beschrieb, indes der Muff hoch oben war und sie die Arme ausstreckte, ihn zu fangen, eine kunstreiche Figur.
Das Bild, das sie ihm darbot, erfüllte ihn mit Ehrfurcht vor der Harmonie ihres Wesens.
Sie gingen nun häufig um die Dämmerstunde vor die Stadt und auf die Burg. Als Gertrud sah, daß Daniel und Lenore wieder gut miteinander waren, freute sie sich.
Als sie einmal auf die Burg gingen, erzählte Lenore, daß sie oben von Eberhard von Auffenberg Abschied genommen. Sie wußte noch jedes seiner Worte, und was sie selbst gesagt, bekannte sie offen. Die Geschichte mit dem alten Kräuterweib [237] entlockte Daniel keinen Spott. Er blieb stehen und sagte: »Menschenskind, geistere du nicht; vergreif dich nicht an deiner schönen Wirklichkeit.«
»Sprich nicht so,« erwiderte Lenore, »ich mag's nicht, wenn mich dein Blick, wie eben jetzt, zum Frauenzimmer macht.«
Sie gingen in die Sebalderkirche und entzückten sich an den erzgegossenen Figürchen des Sebaldergrabs. Auch ins Germanische Museum gingen sie, verirrten sich gern in den zahllosen öden Gängen, standen still vor den alten Bildern, wurden nicht müde, die alten Spielwaren, die alten Globen, die alten Küchen, die alten Rüstungen zu beschauen.
Lenores größtes Vergnügen war aber, in den engen Gassen zu wandern; von einem Tor in den Hof zu spähen, wo eine verwitterte Statue stand; vor dem Schaufenster eines Althändlers zu verweilen und Brokatstoffe, silberne Ketten, Ringe mit bunten Steinen, gravierte Zinnteller und seltene Uhren zu betrachten. Da fiel ihr allerlei Schalkhaftes ein, und um jeden Wunsch dichtete sie ein kleines Märchen. Der dürftigste Anlaß genügte, und ihr Geist flog in ein Wunderland, als ob die Fabeln und Legenden, die das Volk seit Jahrhunderten von Herdfeuer zu Herdfeuer getragen, in ihm ein bewahrtes Leben führten.
Der Schneider, der mit untergeschlagenen Beinen auf dem Tisch hockte; der Schmied, der auf das glühende Eisen hämmerte; der Gaukler, der mit dressierten Affen durch die Stadt zog; der jüdische Hausierer, der Schlotfeger, der einbeinige Veteran, ein verschlumptes Weib, das aus einem Kellerloch lugte, ein Spinnengewebe im Mauerwinkel, an all das knüpfte sie bestimmte Vorstellungen von gruseliger oder lustiger Art. Was sie anschaute, war immer wie zum erstenmal angeschaut. Die Dinge und Menschen, von denen sie sprach, schienen einen Augenblick früher noch nicht vorhanden gewesen. Darum war sie niemals mißgelaunt, nie gelangweilt, nie faul und matt.
Aber irgend etwas war Daniel rätselhaft an ihr. Er wußte [238] nur nicht, was. Reichte sie ihm die Hand, so dünkte es ihm, als gäbe sie nur zum Schein die Hand. Forderte er im Gespräch ihren Blick, so schlug sie wohl das Auge zu ihm empor, doch war es, als zerspalte sich ihr Blick und fließe rechts und links an ihm vorbei. Schritt sie ihm gleich so nah, daß ihre Arme sich berührten, so hatte er doch das Gefühl, als könne er sie nicht fassen, wenn er wollte.
Er kämpfte gegen die Verlockung, die darin lag.
Ihre Gegenwart adelte seinen Ehrgeiz und verscheuchte seine Grillen. Sie schenkte ihm die schöngestaltete Wolke, den Baum, der sich mit jungem Laub schmückte, den Mond, der sich über die Dächer erhob, die ganze Erde schenkte sie ihm, über die er friedlos hastete.
Er hatte kein Arg. Er ahnte nichts vom Schicksal. Und Lenore hatte keine Scheu vor ihm und fürchtete ebenfalls keine Gefahr.
An einem Sonntagnachmittag im April wanderten sie über Land. Gertrud litt seit einigen Wochen an beständiger Müdigkeit und konnte nicht mitgehen.
Lenore war eine treffliche Fußgängerin, und es bereitete Daniel einen Genuß, mit ihr in gleichem, starkem Schritt dahinzueilen. Die rasche Bewegung steigerte seine Empfänglichkeit für die wechselnden Landschaftsbilder, ganz anders als bei den Spaziergängen mit der bedächtigen und gern selbstvergessen schmachtenden Gertrud.
Nach einer Stunde trübte sich der blaue Himmel, die Sonne hörte auf zu scheinen und große Tropfen begannen zu fallen. Lenore hatte weder Schirm noch Mantel mitgenommen und ging rascher. Bei einiger Bemühung konnten sie das hinter dem Wald gelegene Gasthaus erreichen und sich dort vor dem ärgsten Unwetter in Schutz bringen.
[239] Als sie in dem Gedränge vieler Leute, die über die Landstraße zu demselben Asyl geflüchtet waren, in den Flur des Wirtshauses schlüpften, öffneten sich die Schleusen des Himmels und ein Wolkenbruch stürzte nieder. Lenore, die erhitzt war, wollte nicht in der Zugluft stehen bleiben, und sie gingen daher in den Saal, der so voller Menschen war, daß sie lange nach einem Platz suchen mußten. Eine Arbeiterfamilie, Mann und Frau und vier kränklich aussehende Kinder, rückte willig zusammen, die beiden jüngsten Knaben überließen ihnen ihre Stühle und suchten sich zwei andere.
Die tiefziehenden Wolken hatten eine verfrühte Dunkelheit verursacht, und es wurden Öllampen angezündet, deren Qualm sich mit den übrigen schlechten Ausdünstungen vermischte. Ein paar Dorfmusiker bliesen ein unnennbares Stück, und den Kindern des Arbeiters leuchteten die Augen. Weil sie so artig und bläßlich dasaßen, strich Lenore jedem ein Butterbrot. Die Frau bedankte sich schön, und mit dem Mann, der sich als Aufseher in einer Spiegelglasfabrik zu erkennen gab, ließ sich Daniel in eine Unterhaltung über die Not der Zeit ein.
Plötzlich gewahrte er an einem unfernen Tisch eine bekannte Physiognomie, die dann zur Seite wich, um in dem brandigen Zwielicht einer zweiten, ebenfalls bekannten Raum zu schaffen, hierauf einer dritten und einer vierten. Es sah gespenstisch aus, und erst nach einer Weile wußte er, wohin die Leute gehörten.
Herr Hadebusch und Frau Hadebusch, Herr Francke und Herr Benjamin Dorn hatten sich einen vergnügten Sonntag gemacht. Die Bürstenmachersgattin strahlte, als sie ihren ehemaligen Mieter entdeckt hatte. Sie nickte, sie blinzelte, sie faltete gerührt die Hände, und Herr Hadebusch erhob prostbietend sein Bierglas.
Es mußte ein Mißverständnis in bezug auf die Person Lenores obwalten; sicherlich hielten sie Lenore für Daniels Frau. Dieses Mißverständnis schien dann durch den Methodisten, [240] der den Schwanenhals gierig reckte, aufgeklärt zu werden. Zwar blinzelte und nickte das dämonische Weib noch immer, aber mit einem klagenden Ausdruck im Gesicht. Ihr Maul war geöffnet, und die Hauer im Oberkiefer starrten unheilvoll aus dem schwarzen Schlund.
Der Schwanenhals des Methodisten schraubte sich so verwegen und pittoresk über alle andern Köpfe, daß Lenore nicht umhin konnte, seinen Eigentümer zu bemerken. Sie runzelte die Stirn und sah Daniel fragend an.
Sie schaute im Kreis herum und gewahrte überall Leute aus der Stadt, die sie teils mit Namen, teils von häufigen Begegnungen kannte. Ein Ladenfräulein aus der Ludwigstraße; einen pockennarbigen Kommis aus einer Kolonialwarenhandlung; die würdige Vorsteherin eines Kindergartens; einen Beamten von der Sparkasse; den Hutmacher von der Ecke am Marktplatz samt seiner verwachsenen Tochter; den Feldwebel, der stets salutierte, wenn er ihren Weg kreuzte.
Alle diese Leute waren im Sonntagsstaat und sahen sorglos und gutmütig aus. Aber sobald ihre Blicke sich gegen sie richteten, war etwas Böses in ihren Mienen. Die flackernden Flammen übermalten die Gesichter unheimlich, leichte Trunkenheit machte die trägen und schmutzigen Gedanken leserlich, und voll Sorge blickte Lenore zu Daniel auf, als müsse sie sich an seine größere Erfahrung und Überlegenheit wenden.
Es tat ihm leid um sie und leid um sich. Er wußte, was ihrer und seiner harrte. Sah er in die Höllenbreughelsche Versammlung, in der trotz Kneip- und Festtagslaune dunkle Gelüste jeder Art, verkrüppelte Leidenschaften, geheimnisvoller Neid und geheimnisvolle Rachgier etwas wie Blutgeruch verbreiteten, so konnte er sich keiner Täuschung hingeben über das, was ihnen bevorstand. Lenore zu schonen und zu schützen, eher von ihr zu lassen, als schuldig daran werden, daß das Kinderlächeln auf ihren Lippen erstarb, dies glaubte er im stillen sich und ihr versprechen zu können.
[241] Die Arbeiterfamilie war aufgebrochen, und da es nicht mehr regnete, entfernten sich auch die meisten andern Gäste bald. In einem Raum über dem Saal wurde getanzt. Die Lampen klirrten, und man hörte nur das Brummen einer Baßgeige. Daniel schrieb mit dem Bleistift Noten auf den Tisch; Lenore beugte sich herzu, sah ihn fragend an und verfiel dann wieder, so wie er, in träumerisches Sinnen.
Keines trug nach den Worten des andern Verlangen; sie unterhielten sich stumm und wurden durch eine unwiderstehliche Gewalt innerlich zueinander hingezogen. Sie merkten nicht, daß es Abend wurde, daß der Saal sich indessen ganz geleert hatte, daß die Schankburschen die Gläser wegräumten, und daß schließlich auch die Tanzmusik verstummt war.
Wie in einer öden Höhle saßen sie Seite an Seite im halbfinstern Winkel, und als sie aus dem tiefen Schweigen emportauchten, blickten sie einander in die Augen, erst verwundert, dann in aufwallender Bestürzung.
»Was ist denn? was machen wir denn!« rief Lenore halblaut, »es ist spät, wir müssen heim.«
Der Himmel war umzogen, ein lauer Wind strich über die Ebene, auf der Landstraße standen breite Wasserlachen. Hie und da blitzte ein Licht aus der Dunkelheit, in fernen Dörfern schallte Hundegebell. Als die Chaussee in den Wald bog, reichte Daniel Lenore den Arm. Sie nahm ihn, ließ ihn aber bald wieder los. Daniel stockte im Schreiten und sagte fast zornig: »Sind wir denn verhext, alle beide? Sprich doch, Lenore.«
»Was soll ich denn sprechen?« erwiderte Lenore leise, »ich weiß nicht, was ich sprechen soll. Mir ist so bang; die Nacht ist so finster.«
»Dir ist bang? dir, Lenore? Du kennst eben nicht die Nacht. Um dich und in dir war's noch nie Nacht, und jetzt verstehst du vielleicht, wie's einem Nachtmenschen zumut ist.«
Sie antwortete nicht.
[242] »Gib mir die Hand,« bat er, »ich will dich führen.«
Sie gab ihm die Hand. Bald sahen sie die Lichter der Stadt.
Er geleitete sie ans Haus, aber statt Abschied zu nehmen, schauten sie einander wieder mit verwirrten, suchenden, hilflosen Augen an, beide bleich und stumm.
Lenore eilte in den Flur, drehte sich bei der Stiege um und winkte lächelnd wie aus einem Nebel zurück. Mit geschnürter Kehle starrte er auf die Stelle, wo die schlanke Gestalt verschwunden war.
Ohne der Zeit zu achten, ohne Müdigkeit, ohne bestimmte Gedanken, abgelöst von Pflicht und Gegenwart, wanderte er dann planlos durch die Gassen. Eine Spelunke auf der Insel Schütt sah ihn spät noch als Gast. Zusammengekauert, die Hand vor die Augen gepreßt, nicht sehend, hörend, fühlend, saß er da. Verschütteter Schnaps glitzerte auf dem Tisch wie Grind, Kartenspieler fluchten, der Wirt war betrunken.
Feuerlärm auf der Straße trieb ihn hinaus. Es brannte in der Vorstadt Schoppershof. Der Himmel war gerötet, Rieselregen fiel. Es schien Daniel, als ob die Atmosphäre von einer herzzermalmenden Unglücksahnung durchzittert sei. Über dem Laufertor wirbelte eine Funkengarbe in die Höhe.
Da stieg in grandiosem Bogen die Melodie empor, auf welche er so lange und in vielen verzweifelten Nächten geharrt, und offenbarte sich wie mitgeboren zu den Worten der Harzreise: Mit der dämmernden Fackel durchleuchtest du ihm die Furten bei Nacht, über grundlose Wege, auf öden Gefilden.
In schluchzenden Terzen, immer noch einmal zurückstrebend, senkten sich die Stimmen, und oben blieb eine einsam, in der Umkehrung fromm entrückt.
Er summte die Melodie mit bebenden Lippen laut vor sich [243] hin, als ihm im Rosental der Sokrates des neunzehnten Jahrhunderts mit seiner Bande begegnete. Diese also zigeunerten noch immer durch die Nächte.
Sie redeten alle durcheinander; ihr Wegziel war die Feuersbrunst. Unerkannt ging Daniel vorüber, da gellte die Stimme des Malers Krapotkin durchdringend: »Heil dem, was flammt! Heil den Kommenden!« Das Gelächter der Sumpfbrüder verhallte in der Ferne.
Gertrud stand oben am Treppengeländer der Wohnung, mit der Kerze in der Hand. Seit zwölf Uhr wartete sie bei der Stiege. Um elf Uhr hatte sie am Haus des Vaters angeläutet; die erschrockene Lenore hatte ihr, vom Fenster herunter, mitgeteilt, daß sie sich schon um neun Uhr von Daniel getrennt habe.
Er führte die halb entseelte Frau in die Stube. »Warte niemals auf mich, niemals,« sagte er.
Er öffnete das Fenster, wies in den glühenden Himmel hinter der Kirche, und während sie den Kopf mit geschlossenen Augen an seine Schulter lehnte, sagte er mit einer skurrilen Verzerrung seines Gesichts: »Schau hin, es brennt. Heil dem, was flammt. Heil den Kommenden.«
Lenore hatte am andern Morgen keinen Gedanken mehr für die Frage übrig, warum Daniel nicht nach Hause gegangen war.
Der Inspektor war eben mit dem Frühstück fertig, als mit Heftigkeit die Klingel gezogen wurde. Lenore ging hinaus, um zu öffnen, und kehrte alsbald mit Herrn Zittel zurück, der sich in ungewöhnlicher Aufregung befand.
»Ich komme, um mich nach Ihrem Sohn zu erkundigen, Herr Inspektor,« fing er an und hüstelte verlegen.
[244] »Nach meinem Sohn?« entgegnete Jordan erstaunt; »ich war der Meinung, Sie hätten ihm für drei Tage Urlaub gegeben.«
»Davon ist mir durchaus nichts bekannt,« sagte Herr Zittel.
»Er ist am Samstagabend nach Bamberg zu seinem Freund Gerber gefahren, um ein Stiftungsfest oder dergleichen mitzufeiern, und wir erwarten ihn erst morgen. Wenn Sie nichts davon wissen, wird ihm wohl Herr Diruf den Urlaub gegeben haben.«
Der Bureauchef preßte die Lippen zusammen. »Können Sie mir die Adresse dieses Herrn Gerber mitteilen?« fragte er. »Ich möchte telegraphieren.«
»Um Gottes willen, was ist geschehen, Herr Zittel?« rief der Inspektor erblassend.
Herr Zittel starrte mit seinen grünglitzernden Augen düster in die Luft. »Am Samstagnachmittag übergab Herr Diruf Ihrem Sohn einen Scheck über dreitausendsiebenhundert Mark mit dem Auftrag, ihn bei der Filiale der bayrischen Bank einzulösen und das Geld mir abzuliefern. Ich hatte Geschäfte und kam an dem Nachmittag nicht mehr ins Bureau. Heute nun, vor einer halben Stunde, frug mich Herr Diruf, ob ich das Geld erhalten habe. Es stellte sich heraus, daß Ihr Sohn sich am Samstag nicht mehr hatte sehen lassen, und da er auch diesen Morgen nicht gekommen ist, werden Sie unsere Unruhe begreiflich finden.«
Der Inspektor reckte sich steif in die Höhe. »Herr, soll das etwa heißen, daß man meinen Sohn einer verbrecherischen Handlung bezichtigt?« donnerte er und drückte die Knöchel der geballten Faust auf den Tisch.
Herr Zittel zuckte die Achseln. »Es ist ja möglich, daß ein Mißverständnis oder eine Nachlässigkeit vorliegt,« antwortete er; »immerhin sind die Umstände bedenklich; man muß rasch eingreifen, und wenn Sie mich im Stich lassen, muß ich polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen.«
[245] Jordans Gesicht wurde fahl. Er suchte an seinem langen schwarzen Rock aus irgendeinem Grund nach der Tasche. Der Rock hatte keine Tasche, trotzdem fuhr er mit hastigen Fingern zu suchen fort. Er wollte sprechen, aber die Zunge gehorchte ihm nicht; seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß.
Lenore umfaßte ihn mit geängstigter Zärtlichkeit. »Ruhig, Väterchen,« redete sie ihm zu, »nur nicht gleich ans Schlimmste denken. Setz dich schön hin und laß uns überlegen.« Sie wischte mit dem Taschentuch seine Stirn ab und hauchte einen Kuß darauf.
Der Inspektor fiel widerstandslos in den Sessel und blickte Lenore voll flehender Spannung in die Augen. Von der ersten Sekunde an hatte sie gewußt, was sich ereignet hatte und was kommen mußte. Aber sie durfte ihm nicht zeigen, daß sie ohne Hoffnung war und bot ihre ganze Kraft auf, um den alten Mann vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Mit Zittels Beistand verfaßte sie eine Depesche an jenen Gerber. Die als dringlich vorbezahlte Antwort sollte an die Generalagentur gelangen, und Lenore sollte zwischen elf und zwölf Uhr dorthin kommen. Sie begleitete Herrn Zittel in den Flur, und der Bureauchef sagte: »Setzen Sie alle Hebel in Bewegung, um das Geld herbeizuschaffen. Wird der Schaden sofort beglichen, so verzichtet Herr Diruf auf eine gerichtliche Verfolgung.«
Lenore wußte aber, daß eine solche Summe schwerlich zustande gebracht werden konnte. Der Vater besaß keine Ersparnisse mehr. Auch hatten seine Arbeitgeber kein Vertrauen mehr zu ihm. Er war keiner Anstrengung mehr gewachsen und der Ruhe bedürftig.
Mit freundlicher Miene betrat sie die Stube und sagte lebhaft: »So, Vater, nun wollen wir abwarten, was Benno antwortet, und damit du dich nicht vergrübelst, les' ich dir was Hübsches vor.«
Auf einem Schemel zu Füßen des Vaters sitzend, las sie [246] ihm aus einer Nummer der »Gartenlaube« die Schilderung einer Montblancbesteigung vor; und dann anderes, worauf gerade ihr Auge fiel. Während ihre helle Stimme einsam durch das Gemach schwirrte, rang sie mit Entschlüssen und lauschte auf den Pendelschlag der Uhr. Daß der Vater ebensowenig wie sie selbst den Sinn des Gelesenen aufnahm, war ihr klar.
Endlich schlug es elf Uhr. Da erhob sie sich und sagte, sie müsse in die Küche, um Feuer zu machen. Es kam an Mittagen sonst eine Bedienerin, die das Essen kochte, diese war noch nicht da. Im Flur riß Lenore ihren Strohhut vom Nagel und flog schnell wie der Wind zu Gertrud hinüber. Daniel war nicht zu Hause; Gertrud schälte Kartoffeln.
Drei Sätze, und Lenore hatte der Schwester alles gesagt. »Geh gleich mit mir und geh hinauf zum Vater,« schloß sie; »acht auf ihn, halt ihn zurück, wenn er fortgehn will, in einer halben Stunde bin ich wieder bei euch.«
Gertrud wurde von Lenore die Stiege förmlich hinuntergezerrt, und eh sie noch eine Frage stellen konnte, war Lenore verschwunden.
In der Generalagentur kam ihr Herr Zittel mit dem geöffneten Antworttelegramm entgegen. Es war von jenem Gerber, Bennos Freund, unterzeichnet und lautete: Benno Jordan ist nicht hier gewesen.
Benjamin Dorn stand hinter Herrn Zittel und trug eine Miene süßlich klagenden Bedauerns zur Schau.
»Herr Diruf läßt Sie bitten, sich zu ihm zu bemühen,« sagte der Bureauchef kalt.
Mit bleichem Gesicht trat Lenore in Dirufs Privatkanzlei. Herr Diruf schrieb an die drei Minuten weiter, ehe er von ihrer Gegenwart Kenntnis nahm. Dann öffneten sich die Pflaumenaugen träge, ein seltsam genußsüchtiges Lächeln huschte blitzschnell unter seinem Schnurrbart hervor, und er sagte: »Der Filou ist also gepurzelt. Nicht wahr?«
Lenore rührte sich nicht.
[247] »Kann die veruntreute Summe binnen vierundzwanzig Stunden ersetzt werden?« fragte der fette und finstere Fürst der Schreiber.
»Mein Vater wird tun, was menschenmöglich ist,« flüsterte Lenore gepreßt.
»Haben Sie die Güte, Ihrem Vater auszurichten, daß ich morgen Mittag um zwölf Uhr die Anzeige erstatten werde, wenn bis dahin die dreitausendsiebenhundert Mark nicht an meine Kasse bezahlt sind.«
Lenore eilte nach Hause. Nun mußte der Vater aufgerüttelt werden. Gertrud und der Inspektor saßen in einem furchtbaren Schweigen beieinander. Lenore enthüllte das nicht mehr zu verbergende Unglück.
»Mein guter Name,« stöhnte Jordan gemartert.
Vor der Schande mußte er sich retten. Die gewährte Gnadenfrist erschien ihm als ein sicheres Mittel zur Rettung. Er zweifelte nicht, daß er dienstbereite Freunde finden würde, denn er hatte ja etwas, worauf er pochen konnte: eine makellose Vergangenheit und den Ruf eines zuverlässigen Mannes.
So sagte er sich; und als er einmal den Entschluß gefaßt hatte, die Dienste der Freunde, deren er sicher zu sein wähnte, aufzurufen, schien ihm auch der schwierigste Teil seines Vorhabens überwunden. Das Leiden, zu dem ihn der tödlich getroffene Stolz, die enttäuschte und zertretene Vaterliebe verurteilte, hatte er allein zu tragen; das stand auf einem Blatt für sich.
Und er ging aus, sich an die Freunde zu wenden.
Sein erster Gang galt dem Schwager seiner Schwester, dem pensionierten Oberstleutnant Kupferschmied. Seine Schwester war vor einem halben Jahr gestorben und hatte nichts hinterlassen, [248] der Oberstleutnant jedoch war vermögend; er hatte in die Familie eines reichen Fabrikanten geheiratet. Jordans Beziehungen zu ihm waren stets angenehm gewesen, ja der alte Militär schien eine besondere Vorliebe für ihn gefaßt zu haben. Kaum vernahm er aber jetzt, was von ihm gefordert wurde, so zeigte er sich höchst aufgebracht. Er sagte, er habe das Unheil kommen gesehen; wer seine Kinder über die Verhältnisse erziehe, müsse sich nicht wundern, wenn schlechte Menschen aus ihnen würden, und nichts in der Welt könne ihn bestimmen, auch nur einen roten Heller herzugeben.
Jordan entfernte sich wortlos.
Der zweite Gang führte ihn zu seinem alten Bekannten, dem Notar Rübsam. Da vernahm er viel Bedauern, zahlreiche Ausrufe des Entsetzens, ein Ach übers andere, Klagen über die elenden Zeiten, Verwünschungen säumiger Zahler, endlose Trostsprüche und leere Ratschläge. Gestern noch sei das Geld annähernd beisammen gewesen; künftigen Monat fließe vielleicht wieder etwas ein, aber heute, gerade heute habe man die fälligen Steuern erlegen müssen, und so weiter, und so weiter.
Niedergedrückt von dem Gewicht der Demütigung, wanderte Jordan zum Dritten, einem Kaufmann namens Hornschuch, dem er einst wichtige Hilfe geleistet. Diese hatte Herr Hornschuch vergessen, nicht aber die Warnungen, die er dem Inspektor im Hinblick auf den zutage tretenden Leichtsinn des jungen Benno angeblich habe zufließen lassen. An Geld fehle es ihm selber; er habe ultimo vorigen Monats eine Hypothek kündigen müssen, und seine Frau habe sogar ihren Diamantschmuck verpfändet.
Und so ging es beim vierten, einem Baumeister, der einmal zu Jordan gesagt, er werde Hab und Gut für ihn opfern, wenn Not am Mann sei; und so beim fünften und beim sechsten und beim siebenten. Mit wehem Herzen tat Jordan schließlich das äußerste: er ging zu Diruf, um ihn zu bitten, die Frist auf [249] drei Tage zu verlängern. Aber Herr Diruf saß unnahbar auf seinem Schreibsessel. Er rauchte eine knüppeldicke Havannazigarre, der Solitär warf ein blendendes Feuerwerk, er lächelte müd, kalt und erstaunt und schüttelte den Kopf.
Als Jordan gegen Abend nach Hause kam, befanden sich Daniel und Gertrud im Zimmer. Gertrud stützte den Wankenden und brachte ihm ein Glas Wein zur Stärkung. El hatte seit dem Frühstück nichts zu sich genommen.
»Wo ist Lenore?« murmelte er, schien jedoch kein Interesse an der Antwort zu haben, sondern ließ sich auf einen Stuhl fallen und preßte den Kopf zwischen beide aufgestützte Arme.
Gertrud, die ihn erlöschen sah wie ein Licht verlischt, wurde es schwindlig vor Mitleid. Ihre letzte Hoffnung war auf Lenore gerichtet, die um fünf Uhr fortgegangen war, weil sie es unerträglich gefunden hatte, Stunde um Stunde nichtstuend auf den Vater zu warten. Bei jedem Geräusch, das im Hause erschallte, horchte sie begierig auf.
Daniel stand am Fenster und starrte in die violette Dämmerung über dem stillen Platz.
Es schlug sieben Uhr, es schlug halb acht, es schlug acht, Lenore kam nicht. Daniel fing an, erregt durch das Zimmer zu gehen. Wenn er mit dem Fuß an einen Sessel stieß, zuckte Gertrud zusammen.
Kurz nach acht Uhr ertönten Schritte auf der Stiege. Der Schlüssel kreischte im Gatterschloß, die Stubentür ging auf, und herein traten Lenore und Philippine Schimmelweis.
Alle sahen Philippine an; sogar der Inspektor heftete einen matten Blick auf sie. Daniel und Gertrud waren sehr befremdet. Daniel erkannte seine Base nicht, denn er wußte nichts von ihr und hatte sie nur einmal als Kind gesehen. Er wußte [250] nicht, wer das abschreckend aussehende Wesen war und forderte mit einem fragenden Emporheben der Brauen von Lenore eine Aufklärung.
Lenore war die einzige, die Philippine wohlwollend betrachtete, und außerdem lag in ihrer Miene eine gewisse Neugier.
Philippines ganze Erscheinung hatte etwas Monströses. Schon ihre Toilette war abenteuerlich. Der große, braune Strohhut mit dem steif in die Höhe strebenden Band war ein wenig nach hinten geschoben, damit die über die Stirn hängenden modischen Simpelfransen nicht um ihre Wirkung gebracht würden. Das grell karierte Kleid war unterhalb der Brust mit einem gelben Stoffgürtel so fest umschnürt, daß die Plumpheit des Körpers dadurch ins Lächerliche wuchs und ihn einer großen Sanduhr ähnlich machte. Die grob geschnittenen Züge hatten den Ausdruck lauernder Tücke.
Nach einigen Minuten peinlicher Stille schritt sie auf Daniel zu und zupfte ihn am Ärmel. »Gell, du weißt gar nicht, wer ich bin?« fragte sie, und ihre kleinen Augen blitzten ihn mit rätselhafter Wildheit an; »ich bin die Philippine; die Philippine Schimmelweis bin ich.«
Daniel wich vor ihr zurück. »Nun gut, was soll's?« fragte er stirnrunzelnd.
Sie folgte ihm, packte ihn abermals am Ärmel und zog ihn in eine Ecke. »Hör zu, Daniel,« lispelte sie, »mein Vater, der muß dir Geld geben, so viel du brauchst. Dein Vater nämlich hat vor vielen, vielen Jahren alles Geld, was er gehabt hat, dreitausend Taler, meinem Vater gebracht, damit er's für dich aufhebt. Verstehst? Ich hab's erhorcht, wie mein Vater mit meiner Mutter davon gesprochen hat. Das ist auch schon an die sieben Jahre her, aber ich hab mirs damals hinter die Ohren geschrieben. Mein Vater hat das Geld für sich verwendet; er denkt, er kann's behalten. Geh hin und verlang, was du haben mußt, um denen da zu helfen. Darfst mich [251] aber nicht verraten, sonst schlagen sie mich tot, verstehst? Darfst kein Sterbenswort von mir sagen, gell?«
»Ist das wahr?« entrang es sich Daniel, in dem unsäglicher Zorn mit unsäglichem Ekel kämpfte.
»Es ist wahr, Daniel, bei meiner Ehr und Seligkeit,« erwiderte Philippine, »geh nur hin; wirst schon sehen, daß es wahr ist.«
Lenore wandte während des Zwiegesprächs der beiden, aus dem kaum der Ton der Stimmen zu ihr drang, keinen Blick von ihnen ab.
Seit dem Tage, an welchem Philippine ihren Bruder Markus zum Krüppel gemacht hatte, war sie eine Geächtete im Haus ihrer Eltern gewesen.
Schwerlich hatte sie jemals Anlagen zur Güte und Heiterkeit besessen, aber die barbarische Züchtigung ihres Vaters hatte ihre Seele für immer verdunkelt und befleckt. Von ihrem zwölften Jahr an wurde ihr Geist ausschließlich vom Haß regiert.
Der Haß erweckte sie, zeugte Gedanken und Pläne in ihr, verlieh ihr Willenskraft und Kühnheit und gab ihr eine frühzeitige Reise.
Sie haßte ihren Vater, ihre Mutter und ihre Brüder.
Sie haßte das Haus und seine Stuben, das Bett, in dem sie schlief, den Tisch, an dem sie aß. Sie haßte die Leute, die in die Wohnung, die Kunden, die in den Laden kamen, die Müßigsteher am Schaufenster, den langen Zwanziger, die Bücher und die Zeitschriften.
Aber an jenem Mittag, als sie das Gespräch zwischen Vater und Mutter belauscht, hatte sich in ihrem finsteren und verwahrlosten Gemüt dem Haß eine zweite Macht beigesellt. Mit brennendem Kopf hinter der Tür stehend, hatte sie gehört, daß sie mit Daniel sollte verheiratet werden. Dieses [252] Wort hatte sich die Dreizehnjährige mit der ganzen Wildheit einer Gefesselten, mit der ganzen Verbissenheit einer Phantasielosen zu eigen gemacht.
Sie hatte darin nicht einen mehr oder weniger aussichtsvollen Plan des Vaters, sondern eine Schicksalsbotschaft hatte sie vernommen und lebte von nun an einer Idee, die Licht und Zweck in ihr Dasein brachte.
Kurz nach seiner Ankunft in Nürnberg hatte sie Daniel unter den Meßbuden auf der Insel Schütt zum erstenmal gesehen; der Vater hatte ihn ihr gezeigt. Sie wußte, daß er Musiker werden wollte; sie empfand dabei nichts. Sie wußte, daß es ihm schlecht ging; sie spürte weder Mitleid noch Bedauern. Als sie ihn später im Konzertsaal erblickte, war er ihr schon der Versprochene; er gehörte ihr; ihn zu erringen, ihn in ihre Gewalt zu bekommen, gleichviel auf welche Art, war ihr unveränderliches Trachten, ein Gefühl, in welchem sich Tierisches und Wahnsinn seltsam mischte.
Die Diebstähle, die sie entschlossen und regelmäßig verübte, häuften sich im Laufe der Jahre zu einer stattlichen Summe. Nicht frech wie Diebe sonst, wurde Philippine mit der Zeit immer vorsichtiger. Darin, eine ehrliche Miene zur Schau zu tragen, erreichte sie eine solche Meisterschaft, daß selbst Jason Philipps Argwohn, als es einmal doch zu einer strengen Untersuchung kam, durch ihr Benehmen zerstreut wurde.
Sie hoffte wohl, sich mit dem gestohlenen Geld eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern. Denn stets war sie darauf gefaßt, daß ihr die Eltern eines Tages das Haus verbieten würden. Sie war überzeugt, Vater und Mutter warteten nur auf die Gelegenheit, sich ihrer unter einem Schein von Recht zu entledigen.
Ferner hatte sie zwei Leidenschaften: eine für Süßigkeiten und eine für bunte Bänder.
Die Süßigkeiten kaufte sie am Abend; da schlich sie heimlich in den Laden des Zuckerbäckers Degen und verlangte mit [253] lüstern aufgerissenen Augen für zwanzig Pfennige gefüllte Pralinees, an denen sie bis zum Schlafengehen schleckte.
Die Bänder nähte sie zu Schleifen, um sie entweder auf dem Hut oder am Hals oder am Kleid zu tragen. Je greller eine Farbe war, je mehr gefiel sie ihr. Fragte die Mutter, woher hast du das Band? so mußte sie lügen, und obwohl sie keine Freundin hatte, überhaupt keinen Verkehr, sagte sie, dies oder jenes Mädchen schenke ihr bisweilen Bänder. Wenn der Reichtum gar zu auffällig schien, zierte sie das Kleid erst nach dem Verlassen des Hauses in irgendeinem dunklen Torweg mit dem Band.
Den Gang auf den Dachboden wagte sie höchstens einmal in der Woche. Da mußten die Brüder in der Schule und die Eltern im Laden sein. Die Angst, man könne sie ihres Schatzes berauben, machte sie von Jahr zu Jahr unsteter und drücke sich in ihrem Gesicht als ein bösartiges Mißtrauen aus.
Zitternd stieg sie die dreizehn Stufen vom Vorplatz der Wohnung zum Bodenraum empor. Daß es gerade dreizehn Stufen waren, gab den ersten Anstoß zu dem Aberglauben, dem sie sich in späterer Zeit mit wollüstigem Schaudern überließ. Hatte sie die unterste Stufe mit dem linken Fuß betreten und merkte es in der Mitte der Treppe, so kehrte sie um und verzichtete für diesen Tag auf den Anblick ihres Reichtums.
Sie fürchtete sich vor Gespenstern, Hexen und Zauberern und wurde kreideweiß, wenn eine Katze vor ihr über die Straße lief.
Therese hielt keine Magd mehr, und durch die Arbeit in der Küche wurde Philippines Teint rauh und an ihren Händen sprang die Haut. Oft entzog sie sich dem Geschirrwaschen und Tellerspülen durch die Flucht, dann keifte und schrie Therese, daß die Nachbarinnen die Köpfe zu den Fenstern herausstreckten. Da rächte sich Philippine, indem sie Bettüberzüge, Hemden und Handtücher, die im Flickkorb lagen, absichtlich beschädigte und zerriß. Sie bediente sich hierbei einer Verwünschungsformel, die sie sich erdacht hatte, und [254] die aus bedeutungsvoll klingenden, aber völlig sinnlosen Worten zusammengesetzt war.
Sie hegte den absonderlichen Wahn, daß es ihr gegeben sei, Unglück über die Menschen zu bringen. Um die Zeit, als Jason Philipp anfing, über schlechten Geschäftsgang zu klagen, verspürte Philippine eine teuflische Genugtuung. Sein Gesinnungswechsel hatte die ehemaligen Parteigenossen vertrieben und die neuen glaubten ihm nicht. Er mußte wieder zu zweideutigen Druckwerken greifen, um Geld zu verdienen, und bald war es üblich, daß die Leute verächtlich lächelten, wenn von der Schimmelweisschen Buchhandlung die Rede war. Die Arbeiter-Assekuranz warf lange nicht mehr so viel ab wie am Anfang, denn der Kredit der Prudentia und ihrer Werber war untergraben.
Es gibt ein Gesetz beim Fallen und Steigen bürgerlicher Existenzen. Von heute zu morgen veralten des einen Redlichkeit und Fleiß, veralten die Schliche und Winkelzüge des andern. So fiel der Inspektor Jordan, so ging es mit Jason Philipp Schimmelweis bergab.
Philippine schrieb dies ihrem stillen, verderblichen Wirken zu. Jedes Mißgeschick, das den Vater traf, lockerte die Kette, die sie an freier Bewegung hemmte. In verruchten Stunden träumte sie von Not und Hunger, Bankrott und Verzweiflung der Ihren. Dann brauchte sie nicht länger das Aschenbrödel zu sein, früh aufzustehen, um Holz zu spalten und den Brüdern die Stiefel zu putzen; dann war offener Weg zwischen ihr und Daniel.
Manchmal dachte sie, sie könne einfach hingehen und bei ihm bleiben. Manchmal schien es ihr, als werde er kommen und sie mitnehmen. Eines oder das andere mußte geschehen, so dachte sie.
[255] An einem Sonntagabend, es war gerade der Tag, an dem sie achtzehn Jahre alt geworden, kam ein Unteragent Jason Philipps, ein Mensch namens Pfefferkorn, in die Wohnstube und erzählte beiläufig, daß die ältere der Jordanschen Töchter seit langer Zeit mit dem Musikus Nothafft verlobt sei, daß dieses Verlöbnis geheim gehalten worden sei, daß aber nun die Hochzeit unmittelbar bevorstehe.
»Wie ich höre, ist ja der Musikus Ihr Neffe,« schloß Pfefferkorn seinen Bericht.
Jason Philipp starrte finster vor sich hin, Therese, die ihren Zichorienkaffee schlürfte, stellte die Tasse auf den Tisch und musterte ihren Mann mit geringschätzigem Blick.
Da brach Philippine in ein Gelächter aus, das allen durch Mark und Bein ging. Sie rannte aus dem Zimmer und schlug die Türe krachend hinter sich zu. »Die ist wohl nicht bei Trost,« murmelte Jason Philipp wütend.
Es kam dann jene Julinacht, in der sie ganz vom Hause fortblieb. Jason Philipp wetterte und brüllte, als sie am andern Morgen zurückkehrte, aber sie blieb stumm. Er sperrte sie sechzehn Stunden lang in den Keller; sie blieb stumm.
Hierauf verließ sie monatelang das Haus nicht mehr; wusch und frisierte sich nicht mehr; hockte in der Küche und die versträhnten Haare hingen wüst über Nacken und Schultern.
Eine verzehrende Rachgier tobte in ihrer Brust, und die Geduld, die sie wider Willen üben mußte, erstarrte nach und nach zur Miene heuchlerischen Stumpfsinns.
Plötzlich fing sie wieder an, sich zu schmücken und schlenderte an Nachmittagen durch die Straßen. Ihre geschmacklos grellen Bänder erregten Spott bei jung und alt.
Sie hatte auskundschaftet, daß Lenore Jordan häufig die Vorträge im Kulturverein besuchte. Sie ging gleichfalls dorthin, drängte sich immer dicht an Lenore heran, aber deren Aufmerksamkeit zu erregen wollte ihr lange nicht gelingen. Einmal saß sie neben Lenore; ein Wanderprediger hielt eine [256] Rede über Leichenverbrennung. Philippine zog ihr Taschentuch und drückte es an die Augen, als ob sie weine. Betroffen wandte sich Lenore zu ihr und fragte, was ihr fehle. Es sei halt gar so traurig, was der alte Herr dort oben vorbringe, antwortete Philippine. Lenore verwunderte sich, da in den Ausführungen des Redners nichts enthalten war, was traurig genannt werden oder irgendeinem Menschen Tränen entlocken konnte.
Nachher ging sie mit Philippine zusammen weg, und als ihr das häßliche Geschöpf sein Elend schilderte, wie sie von den Eltern und Brüdern Mißhandlungen erleiden müsse und niemand auf der Welt habe, der sich um sie kümmere, wurde Lenore von diesen Klagen bewegt; der Umstand, daß Philippine Daniels leibliche Base war, beschwichtigte ihren Widerwillen und sie versprach ihr, sie bisweilen zu einem Spaziergang abzuholen.
Sie hielt ihr Versprechen. Sie achtete nicht auf das Kopfschütteln der ihnen Begegnenden, wenn sie mit der vierschrötigen, marktschreierisch aufgetakelten jungen Dame in den Anlagen am Stadtgraben wandelte. Aber später zog sie es doch vor, die Promenaden, die zwei- oder dreimal jeden Monat stattfanden, in die Abendstunden zu verlegen.
Philippine wünschte es selbst. Sie deutete an, daß zwischen den Familien Nothafft und Schimmelweis eine geheimnisvolle Feindschaft herrsche und beschwor Lenore, sie möge Daniel den Verkehr mit ihr verschweigen. Es war Lenore peinlich, dies von Philippine immer von neuem gefordert zu hören. Die lauernde Art, mit der Philippine das Gespräch auf Daniel und Gertrud zu bringen suchte, hatte etwas Zudringliches; sie wollte bald dies bald jenes wissen, fragte unverschämt nach Gertruds Mitgift und verlangte schließlich, Lenore solle ihre Schwester einmal mitbringen.
Da verspürte Lenore ein heftiges Grauen vor dem Mädchen, und Bestürzung erfaßte sie, als sie trotz der Dunkelheit die megärenhafte Bosheit in Philippines Gesicht bemerkte. Eine [257] unüberhörbare Stimme warnte sie; soweit sie es ohne beleidigende Abwehr zu tun vermochte, entzog sie sich dem Umgang wieder. Hätte sie auch nicht Verschwiegenheit zugesagt, ein Gefühl, halb Furcht, halb Scham, hätte sie gehindert, vor Daniel den Namen Philippines zu nennen.
Sie ahnte nicht, daß sich Philippine im verborgenen an ihre Fersen heftete. Philippine kannte alsbald die Stunden, in denen sich Daniel und Lenore zu treffen pflegten, und folgte ihnen in bemessenem Abstand auf allen ihren Wegen. Warum sie dies tat, wußte sie kaum; es zwang sie dazu.
Und was sie bei Lenore erreicht hatte, wollte sie auch bei Gertrud erreichen. Im Metzgerladen, auf dem Buttermarkt, bei der Gemüsehändlerin, tauchte sie auf einmal auf, starrte Gertrud frech ins Gesicht, gab sich eine alberne Wichtigkeit und sagte etwa: »Gottich, Gottich, wie teuer sind heuer die Bohnen;« oder: »ein kaltes Lüftla weht, da kann man das Reißen kriegen.« Aber Gertrud war viel zu weltverloren und viel zu empfindlich gegen fremde Berührung, um so plumpe Annäherungsversuche zu beachten.
Warte nur, dachte dann Philippine ergrimmt, dein Hochmut wird dir noch heimgezahlt.
An dem für die Jordansche Familie so verhängnisvollen Montag hatte es wegen Philippines beständigen Streunens wieder einen heftigen Zank mit ihrer Mutter gegeben. Therese keifte noch, als Jason Philipp aus dem Laden heraufkam und sich erkundigte, was denn schon wieder los sei.
»Frag nicht,« rief Therese gellend, »lehr lieber deine Tochter Mores. Die Kanaille wird noch im Zuchthaus enden, das prophezei ich dir.«
Philippine verzog hämisch das Gesicht. Jason Philipp [258] schien aber heute keine Lust zu haben, als strafende Macht aufzutreten; er hatte eine Neuigkeit im Sack und strahlte.
»Da bin ich dem Hornschuch begegnet,« wandte er sich an Therese, »du kennst ihn ja, Firma Hornschuchs Erben, schwerreiche Leute übrigens, und der Mann erzählt mir, der junge Jordan hätte bei der Prudentia Geld unterschlagen und sich aus dem Staub gemacht. Ich laufe gleich auf die Generalagentur, und Zittel bestätigt es mir Wort für Wort. Beinahe viertausend Mark sind es! Der Inspektor soll das Geld ersetzen, hat aber nicht das Schwarze unterm Nagel im Vermögen und ist infolgedessen bös in der Klemme, denn Diruf droht mit dem Gericht. Diruf versteht da keinen Spaß. Was sagst du dazu?«
Therese wickelte die Hände in ihre Schürze und warf einen schrägen Blick auf Jason Philipp. Sie erriet den Grund seiner Freude und ließ schweigend den Kopf sinken.
Jason Philipp schmunzelte vor sich hin. An den Ofen gelehnt, pfiff er behaglich. Immer noch die Marseillaise, aus Vergeßlichkeit und in jahrelanger Gewöhnung.
Er hatte nicht gesehen, wie Philippine seinen Worten mit verhaltenem Atem gelauscht und wie ein schreckliches Flammen ihre Züge von innen erleuchtet hatte. Sie erhob sich und verließ mit raschelnden Schritten die Stube.
Fünf Minuten später stand sie vor dem Jordanschen Haus. Sie schickte einen kleinen Buben hinauf und ließ sagen, das Fräulein Lenore möge herunter kommen. Sie erhielt den Bescheid, Lenore sei fortgegangen. Da blieb sie am Tor stehen und wartete.
Von ihrer Qual getrieben, war Lenore zu Martha Rübsam geeilt und hatte erfahren, daß der Vater schon vor drei Stunden dort gewesen war. Aus dem verlegenen Wesen [259] der Freundin erriet sie, daß der Vater eine Bitte, und eine vergebliche Bitte, getan hatte.
Dann stand sie auf einer Hauptstraße und schaute verstört in die vorbeiflutende Menge. Alles war so grauenhaft wirklich.
Sie dachte nach. An wen sich wenden? Eine Purpurwelle schoß in ihr Gesicht, als ihr Eberhard einfiel. Unwillkürlich machte sie eine leidenschaftlich wehrende Bewegung. Der erste Strahl dieser Hoffnung war zugleich der letzte. Das Gewissen schlug ihr, doch konnte sie nicht anders; hier war ein Gefühl, unzugänglich für Gründe, gegen jeden Zuspruch zehnfach gewappnet. Er war außerdem verreist; mit einem Seufzer der Erleichterung entsann sie sich, es erfahren zu haben.
Ob Daniel nicht zur Freifrau gehen würde? Nein, es war nicht zu denken.
Sie ertrug die Stadt nicht, die Menschen nicht mehr und ging durch die Gärten der Beste aufs Feld. Sie ertrug den Himmel nicht, die weiten Blicke nicht und kehrte wieder um. Sie kam durch die Füll, trat ins Caroviussche Haus und läutete bei Frau Benda an. Sie wußte, daß die alte Dame fort war; trotzdem, wie mit verwirrten Sinnen, läutete sie viermal. Wenn doch Benda käme, wenn doch der gütige Freund in seinem Zimmer säße und zu ihr herauskäme!
Aber es rührte sich nichts. Aus dem ersten Stock drangen die Töne eines Klaviers in vollen Akkorden herauf, im Hof heulte Cäsar, der Hund.
Mit pochendem Herzen begab sie sich auf den Heimweg. Am Tor gewahrte sie Philippine.
»Hab von euerm Unglück gehört,« redete Philippine sie mit ihrer krähenden Stimme an. »Keiner kann euch helfen, nur ich.«
»Sie? Sie können helfen?« stammelte Lenore und der ganze Platz drehte sich im Kreis um sie.
[260] »Ehr und Seligkeit, ich kann's. Muß bloß mit dem Daniel sprechen. Fackeln wir nicht lang. Ist er droben?«
»Ich glaube, er ist droben. Wenn nicht, hol ich ihn.«
»Also gehn wir hinauf.«
Sie schritten zur Stiege.
Jason Philipp war zu einem gemütlichen Abend in der Gesellschaft »Schlapperatzen« geladen und benutzte die Siesta nach dem Nachtessen zur Lektüre des Leitartikels im Kurier. Darin war eine Rede Bismarcks so witzig glossiert, daß Jason Philipp einigemale ein schadenfrohes Beifallsknurren hören ließ.
Er hatte sich eine Apfelsine mitgebracht; die Frucht lag zerschnitten und mit Zucker bestreut neben ihm auf einem Teller. Von Zeit zu Zeit langte er hin, ergriff ein Stückchen, schob es in den Mund, schmatzte umständlich und leckte, wenn es verschlungen war, die Lippen. Da stierten dann beide Söhne lüstern auf seine Hand und leckten im geistigen Mitgenuß ebenfalls ihre Lippen.
Willibald stöhnte über einer algebraischen Gleichung; auf seinem grauen, finnigen Gesicht lag Unbegabtheit und üble Laune. Markus durfte seines Gebrechens halber nicht bei Lampenlicht arbeiten; er half seiner Mutter beim Linsenlesen und machte, um diese gegen Philippine aufzureizen, fortwährend giftige Bemerkungen über das Ausbleiben der Schwester.
Das letzte Stück der Apfelsine verschwand hinter Jason Philipps Bart, da bimmelte das Gatterglöckchen.
»Es ist ein Mann draußen,« sagte Markus, der hinausgegangen war und nun mit seinem einzigen Auge dumm glotzend auf der Schwelle stand.
[261] Jason Philipp reckte den Hals. Gleich darnach sprang er vom Stuhl empor. Er hatte den im halbdunkeln Flur stehenden Daniel erkannt.
»Ich habe mit dir zu sprechen,« sagte Daniel, indem er ins Zimmer trat. Er zerknüllte den Filzhut in den Händen, und die Blicke, mit denen er umherschaute, zeugten von großer Erregung.
Er sah weder Jason Philipp, noch Therese, noch einen der Knaben an. Sein Auge flog über die Wände und die geringen, unschönen und seltsam gemeinen Gegenstände, die an ihnen hingen: ein Zeitungshalter mit gestickten Bändern; ein Eckbrett, auf welchem ein Bierkrug den dicken Leib und Kopf eines Mönches darstellte; ein Öldruck mit einem in den Krieg ziehenden und von seiner zahlreichen Familie Abschied nehmenden Landwehrmann. Diese Dinge hatten für Daniel etwas wie ein unsinniger Traum. Tiefatmend bohrte er endlich seinen Blick in den Jason Philipps. Da waren viele Jahre weggewischt, da sah er sich am Brunnen in Eschenbach stehen; ringsum glühten die Steine sowie die gekreuzten Balken in den Häusermauern, und Jason Philipp hastete in scheuem Bogen erbittert vorbei, als fliehe er vor der Welt vor der Sonne, vor den Menschen und vor der Musik.
»Ich habe mit dir zu sprechen,« wiederholte er.
Therese schien es, daß sich nun ihre schlimmen Ahnungen erfüllten. Mit schlotternden Knien stand sie auf. Sie wagte nicht, in die Richtung zu schauen, wo Daniel sich befand und sie gewahrte nicht, sie spürte nur den Wink Jason Philipps, mit dem er ihr und den Knaben das Zimmer zu verlassen befahl. Sie packte Markus bei der Hand und Willibald beim Rockärmel und zwischen beiden wankte sie hinaus.
»Was gibts?« fragte Jason Philipp, verschränkte die Arme und blickte finster in den Linsenhaufen auf dem Tisch. »Du hast eine sehr, wie soll ich sagen, eine sehr eindringliche Manier. Es ist eine Manier, die einen erinnert, daß wir Gesetze gegen [262] Hausfriedensbruch haben. Deine Aktien müssen in letzter Zeit ziemlich hoch im Kurs gestiegen sein. Also was ist los?«
Er räusperte sich und trommelte mit den Fingern an die Ellenbogen der verschränkten Arme.
Daniel fühlte, wie er die Ruhe verlor; er fühlte seine eigenen Arme wie eine Gefahr; es prickelte in ihnen. Aber noch fand er kein Wort; noch dünkte ihn die Frage, die er zu stellen hatte, zu ungeheuerlich, als daß er die Furcht vor Irrtum und Übereilung ganz hätte unterdrücken können.
»Wo ist das Geld hingekommen, das dir mein Vater gegeben hat?« kam es endlich dumpf grollend über seine Lippen.
Jason Philipp entfärbte sich und seine Arme sanken herab. »Das Geld? Wo das Geld hingekommen ist? Das dein Vater –? wo es hingekommen ist?« stotterte er verworren. Er wollte Zeit gewinnen; er wollte überlegen, was er gestehen müsse, was er verbergen durfte. Ein scheuer Blick in das Gesicht Daniels verriet ihm nichts Gutes. Er fürchtete sich vor diesem mageren, muskulösen und verwegenen Gesicht.
Er fauchte vor Zorn bei dem Gedanken, der junge Mensch, für den er, Jason Philipp, einst die höchste Autorität gewesen, wolle sich unterfangen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, und in dieser Vorstellung fühlte er sich als der tadellose Ehrenmann, der er in den Augen aller seiner Mitbürger zu sein wünschte und zu sein glaubte. Zugleich würgte ihn eine unbeschreibliche Angst vor dem Verlust des Geldes, das als sein Eigentum zu betrachten er sich längst gewöhnt, mit dem er spekuliert und gearbeitet hatte und das zu einem Teil seines Wesens geworden war wie sein Haus, wie sein Geschäft, wie seine Projekte. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und prustete; die feige Furcht vor den Folgen eines Betrugs zwang ihn zu einem halben Geständnis des Betrugs, aber in seinen Worten lag auch die fieberhafte Rabulistik des Geldmenschen, der in tobender Verzweiflung um den Mammon kämpft.
»Das Geld ist da. Natürlich ist es da. Wo soll es sonst [263] sein? Was von Zinsen und Vorschüssen nach Eschenbach gewandert ist, darüber geben meine Bücher Auskunft. Meine Bücher können eingesehen werden bis auf den heutigen Tag. Ich habe es ein gutes Stück vorwärts gebracht im Leben. Wer so wie ich in der Welt dasteht, hat keinen Menschen zu scheuen. Denkst du vielleicht, Jason Philipp Schimmelweis ist so mir nichts dir nichts zum Zähneklappern zu bringen? Da müssen schon andere kommen. Wer bist du denn? Was für ein Amt hast du? was für eine Befugnis? Mit welchem Recht überfällst du mich zwischen meinen vier Wänden? Bildest dir vielleicht was auf deine Künstlerschaft ein? Deine ganze Kunst ist mir piepe. Der ganze Schnickschnack ist nicht wert, daß man darauf spuckt. Musike machen, Blödsinn. Wer braucht denn das? Ein Mensch, der was auf sich hält, treibt dergleichen höchstens am Feierabend. Mir imponierst du noch lange nicht. Bei dir rappelts im Koppe, und wenn du glaubst, daß du Geld von mir bekommst, da lach ich einfach, da verlang ich schon eine andere Frisur, da muß man mit schon eine Reverenz erweisen, und nicht so: Mutter jib mir wat fors Vergniegen. Nee, mein Lieber, nee.«
Auf Daniels Gesicht zeigte sich ein Lächeln, das Jason Philipp gräßlich erschien. Er verstummte jäh. Er beschloß, einzulenken und den Vorschlag einer kleinen Zahlung zu machen; er hoffte, sich mit ein paar hundert Mark einstweilen Ruhe verschaffen zu können.
Aber Daniel war nun seiner Sache sicher. Er gedachte des Elends, das er hatte erleiden müssen und es ward ihm heiß ums Herz. Zugleich schämte er sich für diesen Mann und empfand Ekel vor ihm.
Er sagte ruhig und fest: »Ich muß bis morgen früh um zehn Uhr dreitausendsiebenhundert Mark haben. Es handelt sich darum, eine ehrenhafte Familie vor dem Untergang zu bewahren. Wird dieser Betrag pünktlich abgeliefert, so verzichte ich auf alles übrige in gültiger Form. Das Schriftstück [264] wird in meiner Wohnung bereit liegen. Ist das Geld um zehn Uhrnicht in meinen Händen, so werden wir uns auf einem andern Schauplatz wieder treffen, vor Männern, die dir gewiß imponieren.«
Er wandte sich zum Gehen.
Jason Philipps Mund tat sich weit auf, und er drückte die Faust an das Loch. »Dreitausendsiebenhundert Mark?« röchelte er; »der Mensch ist verrückt. Komplett verrückt ist der Mensch. Mensch, Mensch, bist du verrückt?« schrie er, um Daniel aufzuhalten. »Bist du verrückt, Mensch? Willst du mich zugrunde richten? Hörst du nicht, verdammter Mensch?«
Mit Grauen schaute Daniel Jason Philipp an. Da wurde die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen und Therese stürzte herein. Ihr Gesicht war erdfahl, nur auf den Wangenknochen waren zwei kleine, kreisrunde rote Flecken sichtbar. »Du kriegst das Geld, Daniel,« heulte sie hysterisch. »Du kriegst das Geld, oder ich geh in die Pegnitz. In die Pegnitz geh ich und ersauf mich.«
»Weib!« knirschte Jason Philipp und packte sie an der Schulter.
Sie sank auf einen Stuhl, und mit den Händen in die Haare greifend fuhr sie fort: »Überall steht er, der selige Gottfried und sieht mich an. Vorm Wäscheschrank steht er und an der Speis' steht er und am Bett steht er und nickt und mahnt und hebt den Finger und hat keine Ruh im Grab und läßt mich nicht schlafen, all die Jahre her nicht schlafen.«
»Nanu, jetzt denk mal an deine Kinder!« herrschte Jason Philipp sie an.
Therese ließ die Hände in den Schoß fallen und blickte mit leeren Augen zu Boden. »Das viele schöne Geld,« klagte sie dumpf, »das viele schöne Geld.« Dann wieder, mit verzerrten Zügen und kreischend: »Aber du wirst's kriegen, Daniel, ich steh gut dafür, ich bring's dir selber.« Dann wieder klagend und leise: »Das viele, schöne Geld.«
[265] Daniel war erschüttert. Ihm schien, als habe er nie zuvor das Geld begriffen, als habe sich ihm die Bedeutung des Wortes erst in dieser Stunde und mit Thereses Stimme offenbart.
»Morgen früh um zehn Uhr also,« sagte er.
Therese nickte stumm beteuernd und erhob, wie um sich zu schützen, die Hände mit gespreizten Fingern gegen Jason Philipp. Willibald und Markus hatten sich unter die Türe gedrängt; das Gatter mußte nicht geschlossen worden sein, denn plötzlich trat auch Philippine ein, die Daniel bis zum Haus begleitet und dann auf der Straße geblieben war. Langer hatte sie nicht warten gewollt; sie war zu begierig, zu erkunden, welche Folgen ihr Verrat gehabt hatte.
Mit gespielter Unbefangenheit schaute sie umher. War es nun ihr Anblick allein, der Jason Philipps Grimm erweckte, das halb feige, halb zynische Lächeln, das um ihren Mund zuckte, oder war es die gehäufte blinde Raserei, die sich entladen wollte, oder ahnte er dunkel, was sie getan; genug, er schritt auf sie zu und schlug sie mit der geballten Faust ins Gesicht.
Sie verzog keine Miene.
Empört von der Roheit der Züchtigung, trat Daniel zwischen Jason Philipp und seine Tochter. Aber der giftige Hohn in den Augen des Mädchens erstickte sein Mitgefühl, und er kehrte sich zur Türe und ging schweigend fort.
»Das viele schöne Geld,« murmelte Therese.
Als Daniel die Nachricht zu Jordans brachte, daß das Geld am nächsten Morgen da sein würde, starrte ihn der Inspektor erst ungläubig an, dann weinte er wie ein Kind.
Lenore reichte Daniel wortlos beide Hände. Gertrud, die [266] auf dem Sofa lag, richtete sich empor, lächelte weich und sank wieder zurück. Daniel fragte, was ihr fehle und Lenore antwortete an ihrer Statt, sie fühle sich schon seit dem Nachmittag nicht wohl. »Sie muß ins Bett, sie ist müde,« fügte sie hinzu.
»Nun, so komm,« sagte Daniel und half Gertrud beim Aufstehen. Aber die Beine gehorchten ihr nicht und mit beklommener Miene schaute sie von Daniel zu Lenore.
»Macht's dir nichts aus, Väterchen, wenn ich mit hinübergehe?« wandte sich Lenore schmeichelnd an den Inspektor.
»Geh, nur, Kind,« erwiderte Jordan, »es ist gut, wenn ich jetzt ein wenig allein bin.«
Daniel und Lenore nahmen Gertrud in ihre Mitte. Auf der zweiten Stiege zur Wohnung trug Daniel seine Frau auf den Armen bis in die Schlafkammer. Sie wollte nicht leiden, daß er ihr beim Ausziehen helfe und schickte ihn hinaus. Eine Tasse heiße Milch war alles, worum sie bat.
»Es ist keine Milch da,« sagte Lenore, zu Daniel in die Wohnstube tretend. Er hielt in seinem Hin- und Herwandern inne und schaute sie wie in flüchtigem Erwachen an. »Ich lauf schnell in die Tetzelgasse und hol einen halben Liter,« erklärte sie; »ich laß die Gangtür offen, damit Gertrud nicht erschrickt, wenn ich komme.«
Sie war schon hinaus geeilt, auf einmal kehrte sie um und sagte mit freudiger Dankbarkeit, und ihre blauen Augen schwammen in seelenvollem feuchten Schimmer: »Du Lieber.«
Sein Gesicht verfinsterte sich.
Es war eine schreckliche Regelmäßigkeit in seinem Hin- und Herwandern. Die Ketten der Hängelampe klirrten. Die Flamme entsendete einen dünnen Rauchfaden, doch er merkte es nicht. Wie lang sie fortbleibt, dachte er in bewußtloser, trunkener Ungeduld und erschien sich sehr verlassen.
Er ging in den Flur und lauschte. Da schwebte ihm aus [267] der Dunkelheit das Gesicht Philippines entgegen, in der höhnischen Unbeweglichkeit, mit der sie den Faustschlag empfangen hatte. Er trat ans Geländer und setzte sich in einer Anwandlung von Schwäche und ziellosem Trotz auf die oberste Stiegentreppe. Den Kopf auf die Hand gestützt, vernahm er Thereses Worte: Das viele schöne Geld, das viele schöne Geld.
Schatten überall; überall Schatten und Nacht.
Da kam sie endlich, Lenore, mit ihrem leichten Tritt. Als sie ihn gewahrte, blieb sie stehen. Er erhob sich und streckte den Arm aus, als ob er ihr das Milchkännchen abnehmen wolle. Sie verstand es so und reichte ihm verwundert das Kännchen. Er aber stellte es auf den Treppenabsatz, wo es im Lichtschein, der aus der Stube drang, weißlich funkelte. Er zog Lenore zu sich heran, umschlang sie und küßte sie auf den Mund.
Nur noch Kreatur, nur Weib, nur Herz und Atem, nur Sehnsucht und Vergessen, für einen Augenblick Vergessen, in einem Augenblick sich selber findend und um sich wissend, schmiegte sie sich an ihn, aber ihre Hände waren zwischen seiner Brust und ihrer Brust gefaltet und schieden sie voneinander.
Dann riß sie sich los, rang die Hände, blickte an ihm empor, schmiegte sich abermals an ihn, wich wieder zurück, rang abermals die Hände, dies alles stumm, ganz stumm, mit einer fast schaurigen Anmut und Lieblichkeit.
Es war nun alles anders, als sie sich's gedacht, tief und furchtbar anders. Da verlor sie sich, da verging sie, da wurde es dunkel in ihrem zuchtvollen Herzen und sie trat in ein zweites Sein, das mit dem ersten keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte.
Sie war ihm nun verbunden und verfallen, es hatte sie gezwungen, das Gesetz war gültig geworden. Aber die gläserne Kugel war in Stücke zersplittert und sie stand da, [268] unbeschützt, ja gleichsam entblößt unter den Menschen, ihren Blicken und ihren Betastungen erreichbar und preisgegeben.
Sie ging in die Küche und wärmte die Milch. Daniel kehrte in die Stube zurück. Seine Adern klopften, seine Augen brannten. Er spürte die Zeit nicht, die verfloß, und als Lenore herein kam, begann er zu zittern.
Sie näherte sich ihm und redete ihn leidenschaftlich traurig an: »Weißt du's von Gertrud? Weißt du's nicht? Sie ist guter Hoffnung, deine Frau.«
»Ich hab's nicht gewußt,« flüsterte Daniel; »hat sie dir's gesagt?«
»Jetzt eben hat sie mir's gesagt.«
[269]Am Stammtisch im Krokodil wußte man so ziemlich alles, was bei Jordans und bei Schimmelweis vorgegangen war. Es wurden Einzelheiten erwähnt, die die Vermutung nahelegten, daß die Mauerritzen und die Schlüssellöcher in beiden Häusern Lauscher beherbergt hatten.
Einige wollten es nicht glauben, daß Jason Philipp die vom jungen Jordan unterschlagene Summe ersetzt habe; denn, meinte der Zuckerbäcker Degen, Schimmelweis habe keine leichte Hand und wer Geld von ihm bekommen wolle, müsse schlauer als schlau sein.
Er habe aber doch bezahlt, versicherte der Uhrmacher Gründlich; am Dienstag vormittag sei die Frau des Buchhändlers zu den Nothaffts gegangen. Sie habe ziemlich viel Silber in einem Sack geschleppt; als sie dann wieder zu Hause gewesen, habe sie sich niedergelegt und seitdem sei sie krank.
Da sei irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen, sagte der Postassistent Kitzler; oder man müsse annehmen, daß der Musikus Nothafft ein höchst gefährlicher Bruder sei, der es verstanden habe, seinem Onkel die Pistole auf die Brust zu setzen.
»Jetzt wird er ja gar Kapellmeister am Stadttheater,« berichtete der Redakteur Weibezahl, das jüngste Mitglied der Tafelrunde; »die Ernennung steht unmittelbar bevor.«
Soso, Kapellmeister; was Sie nicht sagen! Dies werde den Andreas Döderlein baß verdrießen.
Herr Carovius, der mit dem Munde eben am Bierglas hing, lachte, daß ihm der Trunk in die unrechte Kehle geriet und er lange husten mußte. Der Fiskalrat Korn klopfte ihm den Rücken.
Es sei aber doch fatal, daß man so unsichre Kantonisten [270] wie den Nothafft unter dem friedlichen Bürgerstand zu dulden habe, äußerte sich Herr Kleinlein, der nun schon längst Amtsrichter war. Ob es denn seine Richtigkeit habe mit den Geschichtchen, die man sich über den Musiker erzähle?
Freilich, wurde erwidert, man munkle dies und jenes. Etwas Bestimmtes sei aber nicht zu erfahren. Der Herr, Apotheker, der wisse vielleicht etwas Bestimmtes, sein Provisor verkehre bei dem Musikus.
Apotheker Pflaum gab sich den Anschein, als wisse er in der Tat Bestimmtes, dürfe aber nicht sprechen. Ja, ja, sagte er obenhin, es sei ihm mancherlei zu Ohren gelangt von leichtsinniger Wirtschaft, anrüchiger Vergangenheit und Vernachlässigung der Frau.
Ei der Tausend, Vernachlässigung der Frau? Bei so kurzer Ehe? Da sei wohl eine andere im Spiel? Wer denn? Hm, da müsse man in seinen Angaben vorsichtig sein. Warum denn vorsichtig? Nur heraus mit der Farbe, es handle sich ja auch um die Beschützung der eigenen Frauen und Töchter.
Es war etwas Unergründliches in ihrem Haß gegen den Musiker. Sie waren darin so einig, als ob er ihre Geldschränke ausgeleert, ihre Fenster eingeschlagen und ihre Würde dem öffentlichen Spott preisgegeben hätte.
Sie wußten nicht, wessen sie sich von ihm zu versehen hatten. Sie gingen an ihm vorüber wie an einer Bombe, die platzen kann.
Als Herr Carovius allein war, las er die Berichte über eine Grubenkatastrophe in Schlesien. Die Anzahl der Toten befriedigte ihn. Die Schilderung, wie die Ehefrauen der vermißten Bergleute um den Schacht standen und weinend die Namen ihrer Gatten riefen, verursachte ihm jenes angenehme [271] Gruseln, das er ebensosehr liebte wie den schwermütigen Schluß eines Chopinschen Nokturnos.
Doch konnte er den Blick nicht vergessen, mit dem der Apotheker Pflaum davon gesprochen hatte, daß Daniel Nothafft seine Frau vernachlässige. Es war ein Blick gewesen, der gleichsam durch den Spalt zwischen den Gardinen eines Schlafzimmers drang. Da ging etwas vor, da ging etwas vor.
Ziemlich lange schon hegte Herr Carovius den Argwohn, daß da etwas vorging. Zweimal war er Daniel und Lenore in der Dämmerungsstunde auf der Straße begegnet und sie hatten in einer ganz besonderen Art miteinander geplaudert. Da ging etwas vor. Es spielten sich hinter dem Rücken des Herrn Carovius Ereignisse ab, die er nicht außer acht lassen durfte.
Seit jenem Tag, wo ihm Lenore das Kettchen seines Zwickers vom Mantelknopf losgenestelt hatte, war ihm das Bild des jungen Mädchens unverwischbar eingeprägt. Noch jetzt sah er die Wölbung ihres jungen Busens vor sich, als sie den Arm aufgehoben hatte.
Anderthalb Jahre nach diesem Vorfall war es gewesen, daß er unter den Papieren Eberhards von Auffenberg einen an Lenore Jordan gerichteten, nicht abgeschickten und nicht beendeten Brief gefunden hatte. Eberhard war wegen der Verhandlungen über ein neues Darlehen nach Nürnberg gekommen, er hatte sein Hotelzimmer verlassen und Herr Carovius hatte lange auf ihn warten müssen. Diese Wartezeit hatte er benützt, um die unverschlossenen Schriftstücke des nicht sehr sorgsamen Freiherrn zu durchstöbern.
Da hatte er den Brief entdeckt. Welche Worte! welche Leidenschaft! Nie und nimmer hätte Herr Carovius dem pedantischen Griesgram solche Gefühlsmacht zugetraut. Ihm war, als habe sich ihm Eberhards verborgenste Herzenskammer aufgetan. Er war erbebt in der Wollust, die ihm das enthüllte Mysterium dieser Seele bereitete. Sie sind auch [272] Menschen, die da oben, triumphierte er, sie werfen sich weg, sie fallen auf eine glatte Fratze herein, sie verlieren ihre Haltung beim Rascheln eines Unterrocks.
Was aber den Freiherrn anging, das ging auch Herrn Carovius an. Eine Leidenschaft, die den Freiherrn erfüllte, mußte von Herrn Carovius bewacht, verstanden und am Ende auch geteilt werden.
Die Einsamkeit hatte Herrn Carovius allmählich aus dem Gleichgewicht gebracht. Verdrängte Triebe überwucherten seinen Geist. Die abenteuerlichen Geschäfte, in die er sich gestürzt, um sich der Gewalt über Eberhard zu versichern, hatten ihn nahezu ruiniert; das Netz, das er für den hilflos flatternden Vogel geflochten, hielt ihn selber umstrickt. Die Welt war ihm wie eine Haut voll Wunden, an denen sich seine neronischen Begierden stärkten; doch sie war ihm auch wie ein Teppich mit bunten Bildern, die lebendig und wirklich zu machen er die Zauberformel noch nicht gefunden hatte.
Bei den Andeutungen des Apothekers richteten sich alle seine Stacheln auf. In ihm verjährte kein Gefühl, in ihm verlosch kein Gelüst. Als er sich zu Hause zu einem Mittagsschläfchen aufs Sofa legte, tänzelte die Gestalt Lenores in reizender Verkleinerung vor seinen Augen herum. Als er am Klavier saß und Etüden spielte, stand Daniel Nothafft daneben und rügte hochmütig seinen Fingersatz. Als er am Abend aus dem Tor trat, war auf allen Ladenschildern der Namen Nothafft zu lesen, und jedes Frauenzimmer hatte Lenores Züge.
Es schien ihm auf einmal, als ob Lenore Jordan sein Eigentum sei, als ob er ein Anrecht auf sie habe. Sein Leben dünkte ihn in bemitleidenswerter Weise entbehrungsvoll. Andere hatten alles und er hatte nichts. Andere verübten Verbrechen, und sein Los war es, die Verbrechen zu notieren. Man wurde nicht satt und nicht reich davon, wenn man die Verbrechen der andern notierte.
[273] Um Mitternacht stellte er sich im Schlafrock vor den Spiegel und bis zum Morgengrauen las er in einem Roman, in dem ein Herr von fünfzig Jahren bei einer jungen Dame ein verschwiegenes Liebesglück findet. Dabei war er sich fortwährend bewußt, daß etwas vorging. Draußen in der Welt, in einem gewissen Haus am Egydienplatz ging etwas vor.
Er sah Zusammenkünfte auf finstern Stiegen, Verständigungen durch Händedrücke und ehebrecherische Signale. So machten sie es ja, so hatten Benda und Margaret es gemacht. Alter Haß wurde neu. Er trug seinen Haß in die Musik, aber auch seine Hoffnung. Die Musik sollte ihm eine Brücke schlagen zu Daniel und Lenore; er wollte ihnen seine Einsicht schenken, seine Kniffe, seine Erfahrungen, nur um dabei zu sein, wenn sie das Schauerliche begingen; nur um nicht hinter der Wand stehen zu müssen, von wesenloser Eifersucht gequält, um mitleben zu können, das Auge zu füllen, die Hand auszustrecken, die leere, die altwerdende Hand.
Ich bin, sagte er sich, vom selben Fleisch und Blut wie jener; auch in mir ist Wolfgang Amadeus Mozart. Wohl habe ich die Weiber verachtet, sagte er sich, denn verächtlich sind sie. Tritt mir aber eine in den Weg, die zu was Besserm taugt, als die Zahl der ohnedies schon wimmelnden Idioten um zwei oder drei zu vermehren, so will ich Buße tun und ihr Ritter sein.
Er schlief nicht mehr und aß nicht mehr und wußte nichts Vernünftiges mit sich anzufangen. In einer verspäteten Wut des Geschlechts, einer zweiten Pubertät, erhitzte sich seine Phantasie an einem Bildnis, das er mit allen Vollkommenheiten des Leibes und der Seele schmückte.
Da hörte er, daß ein Werk Daniels im Hause der Freiin von Auffenberg vor geladenen Gästen aufgeführt werden sollte. Er telegraphierte an Eberhard und verlangte, dieser möge ihm zu einer Einladung verhelfen. Die Antwort lautete abschlägig. In seiner Wut hätte er den Postboten [274] beinahe mißhandelt. Sodann schrieb er an Daniel, und indem er auf seine Teilnahme für dessen Schaffen pochte, bat er, unter den Zuhörern sein zu dürfen. Er bekam nun ein gedrucktes Kärtchen, worin die Freifrau die Hoffnung äußerte, ihn an einem bezeichneten Tag bei sich begrüßen zu können.
Er war im siebenten Himmel. Er beschloß, Daniel einen Besuch abzustatten und ihm zu danken.
Man müßte fort, man müßte weit weg von hier, dachte Lenore an jenem Abend, der anders gewesen war als alle andern Abende ihres Lebens.
Während sie sich kämmte, war es ihr, als müsse sie ihr Haar vom Kopf scheren, um sich häßlich zu machen. In der Nacht trat sie ans Fenster, um die Sterne zu suchen. Wenn es doch nicht geschehen wäre, wenn es doch ein Traum wäre, rief es in ihr.
Als der Morgen dämmerte, erhob sie sich. Sie eilte durch die menschenleeren Straßen vor die Stadt wie gestern. Doch es war alles anders. Baum und Busch blickten streng auf sie. Die Nebel hingen tief, aber die graue, kalte Frühe war wie ein Bad. Später brach die Sonne durch, und Himmelsschlüssel auf einer Wiese leuchteten golden. Könnt es doch ein Traum gewesen sein, flehte sie stumm.
Als sie nach Hause kam, hatte der Vater bereits die Nachricht erhalten, daß das Geld an Diruf bezahlt worden sei. Daniel hatte es hingetragen.
Der Inspektor blieb den ganzen Tag in seinem Zimmer. Auch an den folgenden Tagen ließ er sich nur beim Mittagessen sehen. Da saß er dann schweigend und mit gesenkten Augen. Bisweilen lauschte Lenore an seiner Tür. Es regte sich nichts drinnen; das Haus sang vor Ödigkeit.
[275] Jordan hatte den Hausherrn gebeten, die Wohnung, die er für seine gegenwärtigen Verhältnisse als zu geräumig und zu kostspielig bezeichnete, vor der Kündigungszeit ausbieten zu dürfen. Dies wurde bewilligt. In dem Haus, wo Daniel und Gertrud wohnten, waren zwei Dachzimmer frei, und Gertrud hatte ihrem Vater nahegelegt, sie zu beziehen. Der Inspektor war damit einverstanden.
Lenore überlegte: wenn der Vater dort hinüberzieht, könnte ich weg von ihm. Sie erfuhr von Gertrud, die jeden andern Tag kam, um den Vater zu sehen, daß Daniel endlich die Kapellmeisterstelle am Theater erhalten habe. Noch beruhigter konnte sie also ihr Vorhaben fördern, denn Schwager und Schwester lebten ja nun in geregelten Umständen.
Sie erinnerte sich an Gespräche mit Monsieur Rivière, in denen er ihr oftmals geraten hatte, nach Paris zu gehen. Seit Weihnachten, wo er zur Bescherung eingeladen gewesen, war Monsieur Rivière häufig zu Jordans gekommen, um auf Lenores Wunsch mit ihr französisch zu sprechen.
Eines nachmittags ging sie aus, um Rivière zu besuchen. Er hatte den romantischesten Platz zur Wohnung gewählt, oben beim Gärtner auf der Burg. Das Zimmer hatte einen Altan, der von Efeu und Flieder überwuchert war, und in der Tiefe bildeten die Büsche und Bäume des Stadtgrabens ein undurchdringliches grünes Gewirr. Die Frühlingsluft stürzte in Wellen herein, und während Lenore ihr Anliegen hervorbrachte, heftete sie den entzückten Blick auf einen Maiglöckchenstrauß, der in einem kupfernen Gefäß auf dem Tische stand.
Rivière nahm eine Handvoll heraus und schenkte sie ihr; es waren noch die Knollenwurzeln daran und Lenore lachte glücklich über den Duft.
Monsieur Rivière sagte, er wolle sogleich an seine Mutter nach Paris schreiben, die durch ihre Beziehungen in der Lage sei, Lenore zu nützen.
[276] Lenore trat auf den Altan. Die Welt ist schön, dachte sie und lächelte über die fruchtlosen Versuche eines kleinen Käfers, an einem senkrecht hängenden Blatt emporzuklimmen. Vielleicht war alles nur ein Traum, tröstete sie sich.
Zu Hause traf sie Daniel beim Vater. Die beiden Männer saßen in der Dunkelheit.
Lenore zündete die Lampe an. Dann füllte sie ein Glas mit Wasser und stellte die Maiglöckchen hinein.
»Daniel fragt, warum du nicht mehr hinüber kommst,« sagte der Inspektor, matt und zerstreut, wie er jetzt immer war. »Ich habe ihm mitgeteilt, daß du dich mit großen Plänen trägst. Nun, was ist denn die Meinung des Franzosen?«
Mit halber Stimme gab Lenore Auskunft.
»Geh du nur fort, Kind,« sagte Jordan. »Du bist schon lange reif für die große Welt. Das unterliegt keinem Zweifel. Da sei Gott vor, daß ich dir Hindernisse in den Weg lege.« Er stand schwerfällig auf und wandte sich zur Tür seines Zimmers. Die Klinke fassend, blieb er stehen und fuhr grüblerisch fort: »Es ist eigen, daß man so bei lebendigem Leib absterben kann. Daß man so das Gefühl haben kann: du bist nicht mehr für die Zeit. Und daß man nicht mehr mit kann, nicht mehr begreifen kann, nicht mehr weiß: ist es gut, ist es böse, was da kommt. Fürchterlich ist das, fürchterlich.«
Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer. Daniel klangen seine Worte wie Rufe aus dem Grab.
Sie hatten lange geschwiegen, er und Lenore. Plötzlich fragte er schroff: »Ist das dein Ernst mit Paris?«
»Natürlich ist es mein Ernst,« antwortete sie; »kann ich etwas anderes tun?«
Er sprang auf und starrte ihr zornig ins Gesicht. »Man muß sich vor sich selber schämen,« knirschte er; »die menschliche Sprache widert einen an. Graut dir denn nicht, wenn du denkst? Graut dir nicht vor dem Fratzending, das ihr Herz oder Gemüt nennt oder so?«
[277] »Ich versteh dich nicht, Daniel,« hauchte Lenore. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß er ihre Reue und den Entschluß, der daraus entsprungen, nicht gutheißen könne. Also war es nicht Flamme einer einmaligen Sekunde gewesen, nicht was sie bis jetzt gehofft, als Selbstanklage von ihm zu hören erwartet, was sie auch sich hätte verzeihen, vergessen dürfen? Wo war sie denn? Wo lebte sie?
»Glaubst du, ich hab ein Spiel haben wollen?« begann Daniel wieder, indem er sie von oben bis unten maß. »Glaubst du, man kann mit der heiligsten Natur spielen? Hast eine gute Schule gehabt, machst deinen Lehrmeistern Ehre. Geh nur, ich brauch dich nicht, geh nur nach Paris und laß mich verkommen.«
Er schritt zur Türe. Er kehrte wieder um. Er nahm die Lampe, die sie beim Anzünden aus der Hängeschale genommen und auf dem Tisch hatte stehen lassen. Die Lampe in der Rechten haltend, trat er dicht vor sie hin. Unwillkürlich schlössen sich ihre Augen »Ich will nur sehen, ob du's wirklich noch bist,« sagte er mit leidenschaftlicher Verachtung. »Ja, du bist's,« höhnte er, »du bist's.« Und er stellte die Lampe wieder auf den Tisch.
»Ich versteh dich nicht, Daniel,« hauchte Lenore. Ihre Blicke suchten in der Luft einen Halt.
»Das merk ich. Gute Nacht.«
»Daniel!«
Aber er war schon draußen. Die Flurtür krachte ins Schloß. Dann sang die Ödigkeit des Hauses.
Das verschossene grüne Sofa, der uralte Rauchfleck an der getünchten Decke, die fünf Stühle, kränklichen alten Männern ähnlich, der Spiegel mit dem vergoldeten Gipsengel oben, all das war so ermüdend, so lästig, wie Gestrüpp im Wald.
Brüderlein! Brüderlein!
Drei Abende in der Woche waren der Oper gewidmet, die andern Abende gehörten dem Schauspiel.
Der erste Kapellmeister war ein Herr in mittleren Jahren mit einem Lockenkopf, der das Entzücken der Backfischwelt bildete. Er war faul und ungebildet und hieß Lebrecht.
Der Direktor war ein alter Praktikus, der vom Publikum sprach wie ein respektloser Lakai von seinem Herrn. Für die Vorschläge Daniels zur Hebung des Repertoires hatte er meistens nur ein Achselzucken. Die Afrikanerin, Robert der Teufel, der Bettelstudent, Fra Diavolo, das ungefähr waren die Werke, auf deren Zugkraft er Vertrauen setzte. Sänger und Orchester waren nicht viel besser als bei der Wanderoper und die Möglichkeit, zu erziehen und anzufeuern, war noch viel geringer. Eingewurzelte Rechte und Überlieferungen der Trägheit widerstanden jeder Neuerung.
Findet man ängstliche Philister und arbeitsscheue Brotsitzer dort, wo die Kunst ihre Stimme erheben soll, so gibt es keinen Aufschwung mehr, sondern nur noch bürgerliche Pflichten. Da welkt die Blüte, da verkümmert der Traum, da muß der freigeborene Geist gegen alle Dämonen der Kleinlichkeit und Mittelmäßigkeit in Waffen stehen, oder er wird niedergeschlagen.
»Leichtverdauliche Kost, mein Lieber, das ist die Hauptsache,« sagte der Direktor.
»Was legen Sie sich so ins Zeug? Die guten Leutchen haben ja doch keinen Dunst,« sagte Herr Lebrecht.
»Seit neun Jahren sing ich an dieser Stelle Fis und werde mir nicht von einem hergelaufenen Musikanten befehlen lassen, auf einmal F zu singen,« sagte Fräulein Varini, die Primadonna, deren ungeheurer Busen für die Augen der Galerie und des Parketts ein Gegenstand des Genusses war.
»Ein Streber,« sagte der erste Geiger.
[279] »Ein Hitzkopf,« sagte das Jüngelchen, das die Pauke schlug, nachdem es bei einem falschen Einsatz von Daniel mit einer Maulschelle bedroht worden war.
Die Freifrau hatte ihm für einen Zyklus von sechzehn Liedern einen Leipziger Verleger gewonnen, der die Kompositionen auf ihre Kosten stechen ließ. Das gab die rechte Freude nicht. Es war nichts Errungenes und Bezwungenes. War ihm doch, als schenke er selbst damit; und wurde nun beschenkt; und sollte am Ende gar noch danken. Die Freifrau liebte Dank. Sie ahnte kaum, daß er nicht Wohltäter suchte, sondern Ergriffene. Die Reichen spüren die Armen nicht; die Oberen spüren die Unteren nicht.
Die Reizbarkeit seines Wesens bewahrte ihn. In der herrlichen Angst um die Sendung, die das Zeichen und der Fluch der Gesandten ist, schloß er sich aus von einer Welt, von der er Brot haben wollte; nur Brot und sonst nichts.
Als die Lieder erschienen waren, stand im »Phönix« eine Kritik, die für die Ohren der Unsachlichen sachlich klang, in Wirklichkeit aber nicht viel anderes war als ein heimtückischer Mord. Das Elaborat war mit dem Buchstaben W unterzeichnet. Wurzelmann, das Knechtlein, schoß aus dem Hinterhalt.
Andere Fachzeitungen druckten das Urteil nach. Ein halbes Dutzend Personen kaufte die Lieder, dann wurden sie vergessen.
Es war nichts zu hoffen. Nur Brot mußte beschafft werden, nur Brot.
Schwer war es oft, Arbeitsruhe zu gewinnen. Der Mai brachte kalte Tage, es mußte geheizt werden, der Ofen rauchte. Der Hafner kam, die Kacheln wurden entfernt, die Stube glich einer schmutzigen Hölle.
[280] Gertrud klopfte Zucker. »Sei mir nicht bös, Daniel, ich muß den Zucker heute klopfen.« Und sie klopfte, daß der Hammer bis ins Gehirn des gelähmt Lauschenden drang.
Die Tür kreischte in der Angel. »Du mußt sie ölen, Gertrud.« Gertrud suchte die Ölflasche in allen Winkeln und als sie sie endlich gefunden hatte, fehlte eine Feder zum Schmieren. Sie holte sich eine von der Magd der Kanzleirätin, indessen lief die Milch über, die sie zum Kochen hingestellt hatte, und der Gestank verpestete das Haus.
Es läutete. Der Schuster war es, der das Geld für die Lackstiefel haben wollte. Die Hofrätin Kirschner sowohl wie die Notarin Rübsam hatten gesagt, er könne bei der bevorstehenden Aufführung im Hause der Freifrau ohne Lackstiefel nicht erscheinen.
»Ich hab das Geld nicht, Gertrud; hast du noch so viel?«
Gertrud stöberte in ihrem Schränkchen und fand noch sechs Mark. Fünf davon gab sie dem Schuster als Abzahlung. Der Mann brummte und Daniel verbarg sich vor ihm.
Gertrud saß im Wohnzimmer und nähte an der Wäsche für das Kind. In ihrem Gesicht war ein freudiger Ausdruck. Daniel wußte wohl, daß es die Mutterfreude und -erwartung war, aber da er diese Freude nicht teilen konnte, sondern eher Furcht vor dem Erscheinen des Kindes empfand, verstimmte ihn ihr Glück.
Zwischen den Fuchsienstöcken am Fenster stand ein Rotkehlchen und guckte mit zur Seite geneigtem Kopf in die Stube. »Komm heraus,« piepste es. Und Daniel ging fort.
Er hatte sich im Caféhaus am Markt mit Monsieur Rivière verabredet. Da er Lenore nicht mehr zu Gesicht bekam, wollte er ihn fragen, wie es mit dem Pariser Projekt stehe.
Der Franzose erzählte von den Ergebnissen seiner Caspar-Hauser-Forschungen. In seinem gebrochenen Deutsch ließ er sich über den Leibes- und Seelenmord vernehmen, der an dem Findling begangen worden. »Er war ein Mensch [281] comme une étoile,« sagte er; »die Bürgerwelt hat ihn zerschmettert. Die Bürgerwelt ist die racine von alles Böse.«
Daniel brachte Lenores Namen nicht über die Lippen. Er wollte sich damit abfinden, daß sie sich ihm entzog. Er biß die Zähne zusammen und sagte sich: ich will. Aber ein Stärkeres in ihm wollte nicht. Und dieses Stärkere wurde zum Bettler. Gib mir, bettelte es, gib mir.
Die Billardbälle klapperten. Ein sammetröckiger Herr hatte einen lauten Zank mit einem schäbigen Männchen, das seit zwei Stunden die »Fliegenden Blätter« las, immer wieder von vorn anfing und bei denselben Witzen immer wieder von leisen Lachkrämpfen geschüttelt wurde.
Da Daniel schwieg und schwieg, fragte ihn Rivière nach der Harzreise und äußerte schüchtern den Wunsch, etwas zu hören. »Sans la musique, la vie est insupportable,« sagte er, »es hat etwas wie Wahnsinn.« Es gäbe Nächte, wo er ein Heft mit Schubertschen oder Brahmsschen Liedern aufschlage und Noten stammle, Melodien lalle, um nicht der Verzweiflung zu unterliegen, mit der ihn das Leben erfülle, das die Menschen führten. »Ick sollte sein Stoiker,« schloß er, »aber ick bin es nicht. In mir ist trop de musique, et c'est le contraire.«
Daniel sah ihn groß an. »Kommen Sie mit,« sagte er plötzlich, stand auf und packte ihn am Arm.
Im Flur des Hauses begegneten sie Lenore, die mit dem Tünchermeister oben in der neuen Wohnung gewesen war. Am andern Tag sollte schon der Umzug sein.
»Wieso hat sich denn das so schnell gemacht?« fragte Daniel, voll von einem unbestimmten Glück, das seine Nahrung aus Lenores sichtlicher Erregung zog.
»Zufall,« antwortete sie und vermied es, ihn anzuschauen. »Ein Hauptmann, der aus Regensburg hierher versetzt worden ist, zieht drüben ein. Es ist traurig, die guten alten Stuben verlassen zu müssen. Eine Menge Sachen holt der Trödler, [282] in den zwei Kammern oben ist kein Platz. Wie geht's der Gertrud? Kann ich ein wenig zu ihr hinauf?«
»Geh nur mit uns,« sagte Daniel steif, »du kannst zuhören, wenn du Lust hast. Ich spiele die Harzreise vor.«
»Lust? Ich hab fast ein Recht darauf; du hast es mir lang schon versprochen.«
Am Ende denkt sie, ich will sie fangen, grübelte er selbstquälerisch; besser, ich laß es ganz, als daß sie sich in ihrem dummen Weiberschädel einbildet, mein Werk soll unsere Privatgeschichten fördern. Mit gesenktem Kopf stieg er vor Rivière und Lenore die Treppe hinauf, angespannt horchend, ob nicht das Wort Paris über ihre Lippen kam. Doch sie sprachen vom Wetter.
Als sie in die Wohnstube traten, hatte Gertrud die Harfe zwischen den Knien. Aber sie spielte nicht. Ihre Hände lagen an den Saiten, ihr Kinn war auf den Rahmen gestützt. »Warum machst du denn kein Licht?« fuhr Daniel sie gereizt an.
Sie erschrak und blickte ihm aufmerksam ins Gesicht. Der Blick brachte ihm vieles zu Bewußtsein, was er in den alltäglichen Stunden seinen Gedanken unterschlug; ihr unbedingtes Fürihnsein; die edle Größe ihres Herzens, dessen Hoffen und Fürchten von seinem so abhängig war wie die Bewegung des Quecksilbers im Thermometer von der Atmosphäre; ihre stumme Opferfähigkeit bei all den tausend kleinen Dingen des Lebens; ihr verwundbares Gemüt und ihre Kraft, Wunden zu verheimlichen; ihre fast übersinnliche Gabe, mitzuschwingen, wenn sein Geist Tiefstes an Höchstes zu binden sich vermaß.
Darum erkannte er in ihrem Blick etwas wie eine ernste, ferne Warnung. Feig und ehrfürchtig zugleich, schuldbewußt und ungeduldig zugleich, ging er hin und küßte sie auf das Haar. Sie lehnte flüchtig die Stirn an seine Brust und da er die ganze Last, die sie ahnungslos ihm aufbürdete.
[283] Er sagte ihr, daß er spielen wolle. Er sagte: »Ich hab mein Bild wieder einmal verloren und will's in andern suchen.«
Gertrud bat ihn mit blassem Gesicht, hier im Wohnzimmer bleiben zu dürfen, und sie lehnte die Türe nur an.
Es liegen in den Goetheschen Versen, die den Titel »Harzreise im Winter« führen, Gedanken wie Felsblöcke und Empfindungen so schauerlich und groß wie das Flammen aufgehender Sternenwelten. Die ungeheure Schmerzgewalt, die ungeheure Erhabenheit schien sich in Daniels Werk wie von selbst in Musik verwandelt zu haben.
Wenn in der zweiten Hälfte die Motive von Menschenstimmen übernommen wurden, diese Stimmen erst einzeln aus dem brodelnden Tonmeer drängten, dann immer williger, sehnsüchtiger, offenbarender sich zum Chor sammelten, war es, als müßten sie ohne diese Befreiung in der Finsternis ersticken.
Erschütternd klang das Pianissimoraunen der Bässe, bevor der Sopran einsetzte: dem Geier gleich, der auf schweren Morgenwolken mit sanftem Fittich ruhend nach Beute schaut, schwebe mein Lied; ein Siegesruf war das Posaunensolo, das dem versunkenen Orchester neues Leben wies.
Daniel hatte große Mühe, dies alles durch Gesang, Wort und Gebärde neben seinem Spiel begreiflich zu machen.
Das Werk war voll von den Brechungen und Halbtönen, die es trotz des strengen Baues zum Kinde seiner Zeit, und mehr noch einer werdenden Zeit, stempelte. Es hatte keinerlei erschlossene Süßigkeit; es war rauh wie die Rinde der Bäume, wie alles, was mit der Zuversicht innerer Dauer geschaffen wird.
Sein Rhythmus war einförmig, nur auf Steigerung berechnet. Es hatte nichts von Verführung, nichts von Tanzgelüsten, [284] keine Billigkeit, nichts was trägem Ohr schmeichelt. Keinen Schmelz, nur Fülle und Äußerstes; die Melodie verborgen wie der Kern in harter Schale und nicht bloß verborgen, sondern zerteilt und immer wieder zerteilt; hinabgepreßt, unterirdisch gebunden, um nur ein einziges Mal überwältigend emporzusteigen, emporzujubeln: Aber den Einsamen hüll' in deine Goldwolken! umgib mit Wintergrün, bis die Rose wieder heranreift, die feuchten Haare, o Liebe, deines Dichters!
Es war um fünfundzwanzig Jahre zu früh geboren. Es hatte keine Beziehung zu den Nerven seiner Umwelt; es konnte auf keinen Verkündiger, keinen Versteher zählen, nicht weiter getragen werden durch das Wohlwollen Gleichfühlender; das Merkmal tödlicher Verlassenheit haftete ihm an; es glich einem tropischen Vogel, der an der Eisküste Grönlands ausgesetzt worden ist.
Aber für die herzlich Nahen ist ein Fluidum in der Luft, das die höhere Wahrheit vermittelt. Monsieur Rivière und Lenore saßen kaum atmend da. Lenores große Augen waren unendlich still und schlossen und öffneten sich langsam. Als Daniel zu Ende war, mit dem Taschentuch die nasse Stirn trocknete und dann die Arme schlaff hängen ließ, war es ihm, als ob der Glanz ihrer Augen bis an seine Haarspitzen dringe und sie elektrisiere.
Umgib mit Wintergrün, bis die Rose wieder heranreift, die feuchten Haare, o Liebe, deines Dichters.
»Man kann keine Vorstellung davon geben,« murmelte Daniel, »das Klavier ist wie ein spanischer Stiefel.«
Da vernahmen sie aus dem Wohnzimmer eigentümliche Laute. Sie gingen hinein und sahen Gertrud, die sehr bleich war und mit über der Brust gekreuzten Händen auf dem Sofa saß und halb wie aus dem Traum, halb wie eine Betende vor sich hinredete. Man konnte nicht verstehen, was sie sagte; sie schien abgewandt und fern.
[285] Lenore eilte zu ihr hin, Daniel betrachtete sie düster, indessen läutete es draußen und Monsieur Rivière ging hinaus. Eine gilfende Männerstimme erschallte, die Tür wurde aufgetan, und Herr Carovius trat ein.
Herr Carovius verbeugte sich nach allen Seiten. Er trug gelbe Schuhe mit Messingschnallen, schwarze Hosen, einen grünlich schimmernden Rock und eine nicht mehr ganz weiße Krawatte. Seinen Schlapphut legte er auf einen Stuhl und sagte, er bitte um Verzeihung, falls er ungelegen komme, aber er habe seinem lieben jungen Meister für die bewußte Einladung danken wollen.
»Mir scheint, mir scheint,« fügte er mit neckischem Augenzwinkern hinzu, »ich habe da in aller Unschuld eine interessante Produktion gestört. Unten vor dem Hause stehen die Leute, und ich habe mirs gleichfalls nicht versagen können, zu horchen. Es wird ja nicht abgesammelt, hihihi. Hoffentlich unterbrechen Sie das Opferfest meinetwegen nicht. Was haben Sie denn zum besten gegeben, Maestro? Doch nicht etwa die Symphonie?«
»Ja, die Symphonie,« antwortete Daniel, der aus lauter Verblüffung über das Erscheinen und das Benehmen des Herrn Carovius höflich war.
»Hat mich schon Geld gekostet, die Symphonie, mögen Sie's glauben oder nicht; einen Gehrock wie für einen Marquis, neuester Schnitt, Sammetkragen, Schöße bis an die Waden. Höchst vornehm, höchst vornehm.« Er stierte über Gertruds Kopf hinweg in die Ecke und kicherte mindestens eine Viertelminute lang.
Niemand antwortete. Alle sahen dumm und bestürzt aus.
»Mein Gott, die gesellschaftliche Pflicht,« fuhr Herr Carovius [286] fort; »man ist doch kein Hinterwäldler. Die Musik soll ja den Menschen auch äußerlich veredeln. Übrigens, es geht das Gerücht, daß es eine Symphonie mit Chören ist. Wie sind Sie denn auf den Einfall geraten? Die Lorbeeren der Neunten lassen Sie wohl nicht schlafen? Hatte mir gedacht, Sie scheren sich den Teufel um klassische Vorbilder. Man ist ja jetzt ganz auf das musikalische Säuglingsgelall versessen, Wagelaweia und so. Aber das ist nur ein Übergang, wie der Fuchs sagte, als er geschunden wurde.«
Er nahm den Zwicker ab, putzte ihn hastig, nestelte am Kettchen und setzte ihn wieder auf. Nachdem er so Zeit gewonnen hatte, begann er sich über den Verfall der Künste zu verbreiten, erkundigte sich bei Daniel, ob er etwas von einem gewissen Hugo Wolf gehört habe, der jetzt von sich reden mache und hinten im dunkelsten Österreich Lieder fabriziere wie ein Hottentott, schimpfte über einen neuen Brunnen, der auf dem Plärrer errichtet werden sollte, erzählte, daß im Kulturverein eine Grotesk-Tänzer-Pantomimenge sellschaft auftrete, daß er auf dem Herweg die Entdeckung gemacht, es gebe in der Stadt eine Leihanstalt für Kartoffelsäcke und daß in Konstantinopel eine schreckliche Feuersbrunst gewütet habe.
Dabei schaute er Daniel und Monsieur Rivière an, bald den einen, bald den andern, hielt die Knurrlaute des einen und die verlegenen Blicke des andern für ermunternd genug, um sein Geschwätz fortzusetzen, rückte an seinem Zwicker, schneuzte sich, strich die ohnehin glatten Haare noch glatter, rieb die Hände umeinander, als ob er sich in besonderer Weise angeheimelt fühle, und kicherte, wenn in seinem Redefluß eine Pause entstand.
Auf Gertrud heftete er nur hie und da einen verstohlenen Blick, der sich gleich darauf zurückzog wie der Arm eines Diebes, der sich beobachtet glaubt; Lenore schien überhaupt nicht für ihn vorhanden zu sein. Als sie endlich aufstand, gepeinigt von seinem Wesen, von der Zerstörung des eben erlebten Eindrucks [287] durch seine Gegenwart, seine herausfordernden, platten, grundlos hämischen, grundlos süßlichen Phrasen, erhob er sich gleichfalls, zog erschrocken die Uhr, bat, seinen Besuch wiederholen zu dürfen und empfahl sich mit einem lächerlich altmodischen Bückling von Gertrud, mit vertraulichem Händeschütteln von Daniel und mit unsicherer Höflichkeit von dem Franzosen. Lenore schien er wieder zu übersehen.
Draußen auf der Stiege blieb er stehen, nickte mehrmals mit dem Kopfe und sagte mit einem fast irren Grinsen in die leere Luft hinein: »Auf Wiedersehen, Schönste. Auf Wiedersehen, Allerschönste. Gehab dich wohl, mein Engel, vergiß mich nicht.«
In der Stube drinnen flüsterte Lenore beklommen: »Was war das? Was war das?«
Um Lenore beim Umzug zu helfen, stellte sich Philippine Schimmelweis ein. Zuerst befremdet, war Lenore schließlich des Beistands froh. Der Inspektor nahm kaum irgendwelchen Anteil an einem Vorgang, der ihm als letzte, alle Hoffnung vernichtende Niederlage erschien.
Auch an den folgenden Tagen kam Philippine, und allmählich wurde es ihr zur Regel, jeden Tag ein paar Stunden im Haus zu verbringen, entweder bei Lenore oder bei Gertrud unten, so lange diese in der Küche zu tun hatte. Man gewöhnte sich an ihren Anblick und duldete sie. Sie bemühte sich, geräuschlos zu sein und hatte die Miene eines Menschen, der ein wichtiges, aber noch nicht gewürdigtes Amt versieht.
Sie studierte das Haus. Sie kannte alle Räume. Am liebsten kam sie um die Dämmerungszeit. Dann sagte sie zu Lenore, sie habe auf der Treppe einen geheimnisvollen Kerl gesehen. Lenore holte die Kerze und sah nach, aber da war [288] nichts zu finden. Dennoch behauptete Philippine steif und fest, es sei einer dagestanden in einem grünen Kamisol und habe ihr eine Nase gedreht.
Der Dachboden lockte sie vornehmlich. Sie erzählte in der Nachbarschaft, daß eine Eule droben säße. Infolgedessen geschah es, daß die Kinder, die ringsum wohnten, das Haus zu fürchten begannen, und daß die Kanzleirätin im ersten Stock, durch die Gerüchte verängstigt, ihre Wohnung kündigte.
Die neue Inspektorswohnung hatte kein Schutzgitter. Man trat von der Stiege unmittelbar in Lenores Kammer, wo sie schlief und arbeitete. An diese Kammer stieß die ihres Vaters. Die Leute nannten ihn noch immer Inspektor, obwohl er keine Inspektorstelle mehr hatte.
Den ganzen Tag blieb er bei geschlossenen Fenstern in seiner engen Kammer, deren eine Wand geneigt war. Wenn ihm Lenore das Frühstück brachte oder ihn zum Mittagessen rief, das sie in der verschlagartigen, winzigen Küche aufgewärmt und in ihrem gleichfalls winzigen Stübchen angerichtet hatte, saß er am Tisch und hatte viele Blätter vor sich liegen, alte Rechnungen und alte Briefe. Und sie lagen immer in derselben Ordnung da.
Einmal trat sie unerwartet ein, ohne zu klopfen, da schloß er hastig den Schrank zu, steckte den Schlüssel in die Westentasche und versuchte in einer Weise harmlos zu lächeln, die Lenores Herz stocken ließ.
Erst wenn es dunkel war, ging er aus, und wenn er heimkehrte, trug er manchmal ein Paket unterm Arm, das er mit in seine Kammer nahm.
Anfangs war Lenore immer unruhig, wenn sie fort gehen mußte. Da bat sie Philippine, sie möge acht geben und keinen Fremden hereinlassen. Philippine hatte eine Schachtel mit Bändern in Lenores Kommode stehen; sie stellte einen Stuhl neben die Tür, die zur Kammer des Inspektors führte, und wenn ihre Hände müd waren vom Wühlen in den Bändern [289] und ihre Augen sich gesättigt hatten an der Buntfarbigkeit, preßte sie das Ohr an die Türe, um zu lauschen, was der alte Mann trieb.
Bisweilen hörte sie ihn sprechen. Es war, als rede er mit einem Menschen. Seine Stimme klang mahnend, ja auch zärtlich. Da erzitterte Philippine vor Furcht und Grauen. Einmal drückte sie die Klinke herab und wollte leise die Tür öffnen, um hineinzuspähen, aber zu ihrem Ärger war das Schloß drinnen verriegelt.
Bei Gertrud verrichtete sie kleine Handreichungen und lief zum Krämer oder zum Bäcker. Gertruds Beweglichkeit nahm zusehends ab, das Stiegensteigen fiel ihr schwer, und Philippine ersetzte ihr beinahe eine Magd. Nur solche Dienste, bei denen ihre Kleider schmutzig werden konnten, verweigerte sie. Gertruds scheue Zurückhaltung verdroß sie oft und, eines Tages fragte sie bissig: »Gell, Sie sind recht stolz? Sie mögen mich wohl nit leiden, gell?« Gertrud sah sie verwundert an und wußte keine Antwort.
Vor Daniel verkroch sich Philippine, sobald sie nur seinen Schritt hörte. Gewahrte er sie dann doch, so zuckte er die Achseln über das Gestell, wie er sie geringschätzig nannte. Aber es wollte ihm scheinen, als ob es nicht ungefährlich sei, sie schlecht zu behandeln, und als ob sie sich's verdient hätte, daß man sich ihre unerklärliche Beflissenheit, gefällig zu sein, gefallen ließ.
So überwand er sich einmal und gab ihr die Hand, zog sie aber gleich darauf erschrocken zurück, denn etwas so Glitschiges und Froschhaftes glaubte er vorher nie berührt zu haben. Philippine tat, als habe sie nichts bemerkt, doch kaum war er ins Zimmer gegangen, so wandte sie sich mit diabolisch glimmenden Augen zu Gertrud und rief mit ihrer ordinären Stimme: »Gottich, der Daniel hat's aber gnädig! Hat's der aber gnädig! Kein Wunder, daß ihn die Leut nicht ausstehen können. So gnädig!«
[290] Als sie sah, daß Gertrud die Brauen zusammenzog, drehte sie sich mit einem plumpen Schwung auf dem Absatz herum und schrie wie besessen: »Oi, Gertrud! ioi! Der Braten brennt an! Der Braten brennt an!«
Es war falscher Alarm. Der Braten schmorte ganz friedlich in der Pfanne.
An einem stürmischen Spätnachmittag im Juni kehrte Daniel von der letzten Probe zur »Harzreise« müde und verstimmt heim. Die Proben waren in einem kleinen Saal im Weyrauthersgarten abgehalten worden. Nach und nach hatte er sich mit sämtlichen Musikern und sämtlichen Sängern und Sängerinnen überworfen.
Als er auf den Egydienplatz kam, rieselte auf einmal ein Schauder über seinen Körper. Er mußte die Hand über die Augen legen und im Gehen innehalten. Er glaubte sterben zu müssen vor Sehnsucht nach etwas Jungfräulichem, das er verscherzt hatte.
Er ging die Stiegen hinauf, ging an seiner Wohnung vorüber und erklomm die finstere Treppe zur Inspektorswohnung.
Sein Blick fiel in den Bretterverschlag, in dem sich der Herd befand und das Kupfergeschirr an der Wand glänzte. Dort saß Lenore, den Arm auf das Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefem Sinnen eigentümlich kraftvoll ruhend. Ihr Gesicht war abgekehrt gegen die steile Senkung eines Daches, uraltes Fachwerk, graue Mauern, erblindete Fensterscheiben und verfallene Holzgalerien, über denen die Stille und ein wolkenbedecktes Himmelsquadrat lag.
»Guten Abend,« sagte Daniel, aus dem Dunkel in das Halbdunkel tretend; »was tust du da, Lenore, was denkst du?«
Lenore fuhr zusammen. »Ach, du bist es, Daniel? Du läßt [291] dich auch einmal sehen? Und fragst, was ich denke; gleich so neugierig! Willst in mein Zimmer kommen?«
»Nein, bleib nur,« antwortete er und hinderte sie durch eine Berührung der Schulter am Aufstehen. »Ist der Vater zu Hause?«
Sie nickte. Er zog ein schmales Bänkchen, von dem er die Kaffeemühle und einen Trichter wegnahm, an das Anricht und setzte sich in die größtmögliche Entfernung von Lenore, wobei sie einander immer noch so nahe waren, als hätten sie sich in einer Kutsche gegenüber gesessen.
»Wie geht's dir?« fragte sie befangen, mit einem Blick ohne Wärme.
»Du weißt doch, daß ich auf eine durchlöcherte Trommel schlage, Lenore.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber was die Menschen auch tun und unterlassen mögen, zwischen uns zweien muß es ins Klare kommen. Gehst du nach Paris?«
Sie schwieg und senkte den Kopf. »Ich könnte gehen, es steht nichts mehr im Weg,« sagte sie dann leise zögernd. »Doch du siehst ja ungefähr, wie ich bin. Ich bin nicht mehr so ... so wie früher. Früher hätte ich gedacht, wunder was für ein Glück das ist, jemand, dem ich mich dort anvertrauen kann und der sich für mich interessiert. Hätt mich nicht lang besonnen. Und wenn ich gehe, was wird damit klar? Und was wird klar, wenn ich bleibe? Ich hab dir schon neulich gesagt: ich versteh dich nicht, Daniel. Wie entsetzlich ist jedes Wort davon! Was willst du nur? Was soll denn daraus werden?«
»Erinnerst du dich an Bendas letzten Brief, Lenore? Du selbst hast ihn mir gebracht, und ich war nachher wie ausgewechselt. Er schrieb mir damals, wie wenn er von Gertrud nichts wüßte, ich solle nicht an dir vorübergehen. Wir beide seien füreinander bestimmt wie nichts auf der Welt, schrieb er. Du mußt dich doch erinnern, wie ich darnach war. Und [292] schon vorher, erinnerst du dich, wie du am Hochzeitstag den Myrthenkranz aufgesetzt hast? Da hab ich gewußt: alles verloren, alles hin. Aber nein, vorher noch, wie das Fräulein Sylvia von Erfft deine Haut gehabt hat, deine Gestalt, deine Haare und deine Hände! Und vorher, vorher. Wenn du im Wald mit Benda gegangen bist und ich hinterdrein, und es war mir so was Liebes, deinem Gehen zuzuschauen, nur wußt ich's nicht. Und wenn du ins Zimmer gekommen bist dort in der langen Zeile und die Gipsmaske gestreichelt hast und am Klavier gesessen bist und die Wange aus Holz gelehnt hast, wie mir das unentbehrlich war, tief drinnen unentbehrlich, nur wußt ich's nicht, wußt es nicht.«
»Es mag nun gewesen sein, wie es will, es ist eben gewesen,« erwiderte Lenore mit angehaltenem Atem, und eine Röte, die sie quälte, überflutete ihr Gesicht, um erschreckend schnell wieder der Blässe zu weichen.
»Glaubst du, ich bin einer, der sich mit Gewesenem abfindet? Jeder Mensch, Lenore, ist sich sein Glück schuldig und kann es erringen, wenn er dazu entschlossen ist. Erst, wenn er's versäumt hat, macht ihn das Schicksal zum Hund.«
»Das ists eben, was ich nicht begreife,« sagte Lenore und blickte ihm mit heiterer Freiheit ins Gesicht. »Es drückt mir ja das Herz ab, dich so im Selbstbetrug und häßlichen Trotz zu wissen. Wir beide können doch nicht eine Schlechtigkeit begehen, Daniel, das ist doch ganz unmöglich, nicht wahr?«
Erregt beugte sich Daniel näher zu ihr hin. »Weißt du denn, wo ich stehe?« fragte er, und die blauen Adern an seinen Schläfen schwollen an; »ich will dir's sagen. Ich stehe auf einem morschen Brett über einem Abgrund. Rechts und links von demselbigen Abgrund sind lauter blutgierige Wölfe. Ich habe nur die Wahl, entweder in den Abgrund hineinzuspringen oder mich von den Wölfen zerreißen zu lassen. Wenn nun so ein Wesen durch die Lüfte herunterschwebt, so ein Flügelwesen wie du, und kann einen nach oben retten, gibts da ein Bedenken?«
[293] Lenore verschränkte die Arme über der Brust und schloß die Augen halb. »Ach nein, Daniel,« sagte sie wie begütigend, »da übertreibst du wirklich. Da siehst du zu weiß und zu schwarz. Ein Flügelwesen, ich? Wo wären Flügel an mir? Und Wölfe? All die unbedeutenden närrischen Leutchen – Wölfe? Ach nein. Und blutgierig! Geh doch zu!«
»Zertritt mir nicht mein Gefühl, Lenore!« rief Daniel mit unterdrücktem Ton und leidenschaftlicher Wildheit; »zertritt mir nicht mein Gefühl, denn sonst besitz ich nichts. So kannst du nicht denken, so nicht empfinden, so lau, so flau, so gemein. Oberstimme! Oberstimme! besinn dich doch! Siehst du nicht, wie sie mir die Zähne weisen? Hörst du nicht ihr Geheul bei Tag und Nacht? Kannst du sie gut nennen oder mitleidig? Oder sind sie willig, wenn einer kommt, um gut und groß zu sein? Glaubst du an einen, an einen einzigen unter ihnen? Haben sie nicht sogar deinen süßen Namen begeifert? Ist ihnen etwas heilig von dem, was dir oder mir heilig ist? Werden sie durch deine oder meine oder irgendeines Menschen Not um Millimetersbreite von der Stelle gerückt? Klebt nicht an jedem ihrer Mäuler der Schlamm der Verleumdung? Ist ihnen nicht dein Lachen ein Dorn im Auge? Neiden sie mir nicht den bittern Bissen, um den ich mich schinde, und die Musik, die ihnen unbegreiflich ist und die sie hassen, weil sie ihnen unbegreiflich ist? Müßt ich nicht Steine klopfen oder Latrinen säubern, wenn es nach ihrer Herzenslust ginge, weil sie mir mein Leben nicht verzeihen und das, was mein Leben ausmacht –? Und das keine Wölfe? Das keine Wölfe? Sag mir, daß du vor ihnen Angst hast, sag mir, daß du sie nicht auf dich hetzen willst, aber sag mir nicht, daß du eine Schlechtigkeit begehst, wenn ich dich zu mir rufe, dich mit deinen Flügeln, und du kommst.«
Seine Arme lagen, ausgestreckt nach ihr, auf der Platte des Küchentischs und bebten bis in die Fingerspitzen.
»Die Schlechtigkeit, Daniel,« flüsterte Lenore, »die hat doch [294] nichts mit denen zu tun, die begingen wir doch gegen die höhere Sitte, gegen unser inneres Gefühl von Brauch und Ehre ...«
»Falsch,« zischte er, »falsch. Das haben sie dir weisgemacht. Das haben sie Jahrhunderte und Jahrhunderte lang in dich und deine Mutter und deine Muttersmutter und deine Urmütter hineingepredigt. Falsch. Lüge. Alles Lüge. Mit dieser Lüge stützen sie ihre Macht, schützen sie ihre Organisation. Wahrheit dagegen ist, was das Herz erfüllt, was Freude schafft, was mich weiterbringt. Wahrheit ist, was die Natur gebietet, und der Gehorsam gegen die Natur. Wahrheit ist in deinen Sinnen, Mädchen, in deinen geknebelten Sinnen, in deinem Blut und in dem Ja, das dir deine Träume sagen. Freilich weiß ich nur zu gut, daß sie ihre Lüge brauchen, denn sie müssen organisiert sein, die Wölfe, sie müssen ein Rudel sein, denn sonst sind sie nichts. Ich aber hab nur meine Wahrheit; auf meinem Brett über dem Abgrund nur meine Wahrheit.«
»Deine Wahrheit,« sagte Lenore; »deine. Das ist aber nicht meine.«
»Nicht, Lenore? Nicht deine? Wozu spräch ich dann mit dir? Und wenn alles andere Irrtum und Schwindel ist, davon bin ich überzeugt wie vom Licht meiner Augen, daß es deine ist.«
»Du kannst dich doch nicht gegen die ganze Welt stellen,« brach es aus Lenores beengter Brust, »du bist doch auch drinnen in der Welt.«
»Ja, gegen die Welt will ich mich stellen,« antwortete er, »eben dazu bin ich entschlossen. Ihre Münze zahl ich ihr zurück. So wie sie gegen mich steht, so steh ich gegen sie. Ich bin kein Verträgemacher, bin kein Händler, bin kein Bettler. Ich lebe nach meinem Gesetz. Ich muß, wo alle bloß sollen oder dürfen oder nicht dürfen. Wer das nicht faßt, mit dem hab ich nichts gemein.«
Ihr graute vor der Vermessenheit seiner Worte, doch regte [295] sich in ihr etwas wie Jubel und Stolz, und die Lust regte sich, für ihn zu sein, mit ihm zu sein. Bäumte er sich auf wider die Gewalt, die ihn vernichten mußte, so tat er es doch um ihretwillen, und so glaubte sie nicht das Recht zu haben, sich ihm zu entziehen. Was sie wunderlich beruhigte, zugleich schlaff machte und hinriß, war die Glut und die Unbeirrbarkeit seines Willens und seines Gefühls.
Aber da begegneten sich ihre Blicke, und im Auge eines jeden war der Name Gertrud zu lesen.
Gertrud stand ja lebendig zwischen ihnen; alles, was sie gesprochen hatten, war von Gertrud ausgegangen, ging zu Gertrud zurück. Daß Daniel an die Lösung seiner Ehe nicht dachte, nicht denken konnte, das wußte Lenore. Ein Kind sollte kommen; wie war es möglich, die Mutter zu verstoßen? Wie war es möglich, bei der Dürftigkeit der Umstände, Mutter und Kind dem Elend preiszugeben? Hierzu war Daniel nicht fähig, das wußte Lenore.
Doch wußte sie auch, sie kannte ihre Schwester gut genug, um dies zu wissen, daß eine Trennung von Daniel so viel hieß, wie Gertrud töten. Sie wußte ferner, daß Daniel sich in seiner Ehe für unverbrüchlich gebunden hielt, nicht nur wegen seiner Kenntnis von Gertruds Charakter, sondern auch, weil in seiner Ehe mit Gertrud etwas enthalten war, unabhängig von Leidenschaften, Einsichten und Entschlüssen, etwas, das sogar im Haß noch fesselt und in der Verzweiflung kittet.
Dies alles wußte sie. Und sie wußte, daß Daniel es wußte. Und wenn sie nun die einzig mögliche Folgerung aus seinen Worten und aus seiner Seelenverfassung zog, so wußte sie auch, was er von ihr verlangte.
Er verlangte von ihr, daß sie sich opfern solle. Darüber gab es keinen Zweifel mehr.
Wie aber opfern? In Heimlichkeit? Konnte daraus ein Glück erwachsen? Mit Gertruds Einverständnis? Konnte [296] Gertrud dies ertragen, selbst wenn sie großmütig war wie eine Heilige? Wo gab es da einen Weg? Wo drohte nicht Verwirrung, Angst und Untergang?
Sie beugte das Gesicht nieder und bedeckte es mit den Händen. Lange saß sie so. Über die Dächer draußen senkte sich die Dämmerung.
Plötzlich richtete sie sich auf, streckte ihm die Hand hinüber, lächelte mit Tränen in den Augen und sagte mit einem letzten Versuch, dem Ungeheuren zu entgehen, mit einer wunschdurchflammten Eindringlichkeit und einer ergreifenden Schelmerei in der Stimme: »Brüderlein ...«
Er schüttelte traurig den Kopf, nahm aber ihre Hand und hielt sie zart zwischen seinen beiden.
Da verdunkelte sich ihr Gesicht wie eine Landschaft beim Anbruch der Nacht. Ihr abgewandter Blick sah die Bäume eines großen Gartens, sah ein häßliches, krankes Weib unter einer Hecke und sah zwei kleine Mädchen, die sich fürchteten und zukunftsbang in die untergehende Sonne schauten.
Ein Geräusch ließ sie und Daniel zusammenfahren. Auf der Schwelle stand Philippine Schimmelweis. Ihre Augen glitzerten wie die Haut eines Reptils, das aus dem Sumpf emportaucht.
Daniel ging in seine Wohnung hinunter.
Seit neun Jahren war der Rokokosaal im Auffenbergschen Haus festlichen Veranstaltungen jeder Art verschlossen gewesen. Es hatte eines langwierigen Briefwechsels zwischen dem Sekretär des in Rom weilenden Freiherrn und dem Sekretär der Freifrau bedurft, um die Erlaubnis zur Benützung des Saales von jenem zu erlangen.
Die Entrüstung über das Nothafftsche Werk war allgemein. [297] Die Leute aus der Gesellschaft wußten sich nicht zu fassen, und die als Liebhaber und auf Empfehlung Geladenen waren gleichfalls wenig erbaut. Das Hauptvergnügen hatte darin bestanden, den Komponisten dirigieren zu sehen. Der Anblick des zappelnden, hopsenden Gesellen hatte den Konsistorialrat Zöllner vor Lachlust beinahe zum Bersten gebracht.
Der alte Graf Schlemm-Nottheim, der nicht nur eine Vorliebe für pornographische Literatur besaß, sondern auch jeden Nachmittag einen Viertelliter von Doktor Rosas Lebensbalsam trank, erklärte, das Unisono sämtlicher Schaubudeninstrumente auf dem Jahrmarkt sei eine musikalische Offenbarung gegen solche Katzenmusik; der Oberlandesgerichtsrat Braun sprach unverhohlen von einer Verschwörung wider den guten Geschmack.
Dies wurde in den Ecken ausgemacht. Um die Freifrau nicht zu beleidigen, spendeten alle ziemlich lebhaft Beifall. Dann vereinigten sich Zuhörer und Mitwirkende an einer riesigen Hufeisentafel zum Diner.
Graf Schlemm-Nottheim war der Tischherr der Freifrau und erkundigte sich bei ihr nach den verschiedenen Persönlichkeiten der Kunstwelt. Er fragte, wer die interessant schwermütige Dame neben dem Major Bellmann sei? Es sei die Frau des Komponisten. Die Frau? gar nicht übel, diese Frau; damit ließe sich leben, in der Tat. Und wer sei die dort, zwischen dem alten Herold und dem Franzosen? ein entzückendes Geschöpfchen; die habe ja Augen wie das ligurische Meer und Händchen wie eine Prinzessin. Das sei die Schwester der Frau. Die Schwester? ei, der Kuckuck, eine prächtige Familie, der Unterstützung nicht unwürdig.
Es wurden Trinksprüche ausgebracht. Der Fabrikant Ehrenreich ließ den Schöpfer der »Harzreise« leben; der Graf die anwesenden Frauen.
Peinliches Aufsehen erregte Herr Carovius. Er saß bei den Herren vom Gesangverein »Liedertafel«, die im Chor mitgesungen [298] hatten, und sie schämten sich seiner. Denn er benahm sich ungeziemend.
Es war ihm gelungen, einen Handschuh, den Lenore verloren hatte, unbemerkt aufzuheben und in seine Tasche zu stecken. Vielleicht war er deshalb von so geräuschvoller Lustigkeit. Er warf dem Fräulein Varini eine Krachmandel zu, die er vom Tafelaufsatz genommen hatte. Er ließ den feuchtseligen Blick über den Kristall-Lüster und die mit Goldleisten verzierten Wände schweifen und wurde nicht müde, den Glanz und den Reichtum des Hauses zu preisen, so, als ob er selbst zum Hause gehöre. Er hob das Weinglas und äußerte sich verzückt über Farbe und Blume des Getränks, so, als ob er die Weine des Hauses aus langer Erfahrung kenne.
Da geschah es aber, daß er bei einer heftigen Bewegung seinen Teller umstülpte, und über seine weiße Weste floß ein Bach von braunem Bratensaft. Er verstummte. Er versank in sich selbst. Er tauchte die Serviette ins Wasser und rieb und rieb. Die Lakaien kicherten. Er schloß seinen Gehrock zu und glich einem Auslagefenster in tiefer Nacht.
Noch ein anderes Phänomen bot sich den spöttischen Augen bei Lakaien. Sie bemerkten, daß der Kapellmeister Nothafft in bloßen Strümpfen an der Tafel saß. Die neuen Lackstiefel hatten ihn so unleidlich gedrückt, daß er kurzen Prozeß gemacht und sich ihrer während des Essens entledigt hatte. So standen sie herrenlos, einer rechts von seinen Füßen, einer links. Wenn die Lakaien vorübergingen, schauten sie unter den Stuhl und preßten grimmig die Lippen aufeinander, um nicht herauszuplatzen.
Der grobe Verstoß gegen den Anstand blieb auch den Nachbarn nicht verborgen. Es wurde getuschelt und gelächelt, Achseln wurden gezuckt, Köpfe geschüttelt. Da sich nun Daniel beim allgemeinen Aufstehen von der Tafel gar keine Mühe gab, seine Stiefellosigkeit zu verschleiern, sondern die lackledernen Quälgeister ohne Rücksicht auf die erstaunten Zuschauer [299] unbekümmert wieder an seinen Extremitäten befestigte, hatte er verspielt, hatte er gründlich verspielt.
Die Kunde der außerordentlichen Begebenheit wurde in den nächsten Tagen, reizvoll ausgeschmückt, von Haus zu Haus weitererzählt, drang aus den hohen Regionen in die niedrigen und erregte Stürme von Gelächter. Niemand wußte etwas über die Symphonie zu sagen, dafür war jeder aufs genaueste mit den Einzelheiten der Lackstiefel-Episode bekannt.
Auf dem Heimweg ging Daniel mit Lenore. Gertrud folgte mit Monsieur Rivière in weitem Abstand, denn sie konnte nur sehr langsam gehen.
»Wie war dir denn, Lenore?« fragte Daniel, »war dir nicht wie bei einem Fest der Leichen?«
»Lieber,« murmelte sie. Und sie gingen weiter.
Und als sie eine Weile schweigend gegangen waren, kamen sie unter einen engen Torweg. Da war es Lenore, als ertrüge sie Daniels stummes Fragen nicht mehr. Sie zog den seidenen Schal fester an ihre Wangen und flüsterte: »Laß mir Zeit. Dräng mich nicht. Laß mir Zeit.«
»Ließ ich dir nicht Zeit, du teures Herz, ich hätte den jetzigen Augenblick nicht verdient,« antwortete er.
»Ich kann nicht, ich kann nicht,« brach es verzweifelt aus ihr. Noch eine einzige Hoffnung hatte sie, einen letzten Schimmer von Hoffnung, und ihre ganze Seele drängte dorthin. Doch sie mußte schweigend handeln.
Mit Gertrud in der Wohnstube stehend, gewahrte Daniel, daß die Maske der Zingarella mit Rosenzweigen bekränzt war. Unter den jungen Blättern leuchteten Blütenknospen hervor, die wie rote Laternchen um den weißen Gips hingen. »Wer hat das gemacht?« fragte er.
[300] »Lenore war am Nachmittag da, sie hat es gemacht,« erwiderte Gertrud.
Sein flammender Blick war auf die Maske geheftet, als Gertrud ihn umschlang und in der Fülle ihrer Empfindung ausrief: »Ach, Daniel, wie herrlich ist dein Werk, wie herrlich!«
»So? Gefällt es dir? Das freut mich,« entgegnete er trocken.
»Die Menschen fassen es ja nicht,« fügte sie leise und errötend hinzu, »nur ich weiß es, nur ich, weil es mir gehört.«
Am andern Tag legte er die Partitur der »Harzreise« samt allen Stimmen in eine große, alte Truhe und sperrte sie zu. Es war wie ein Begräbnis.
In den gewundenen und finstern Gäßchen hinter der Stadtmauer stehen die kleinen Häuser mit großen Nummern und farbigen Laternen. Sie sind von einem süßlich-fauligen Geruch erfüllt und aus mühsam aufgeschmückten morschen Rumpelkammern zusammengesetzt. Durch die geschlossenen Fensterläden dringt allnächtlich gellendes Gelächter, und den Eintretenden empfangen halbnackte Scheusale und nötigen ihn auf scheusälige, mit rotem Plüsch überzogene Sessel und Sofas.
Der Bürger nennt diese Baracken Lasterhöhlen, und an die Bewohnerinnen mit den gedunsenen oder abgezehrten Körpern, den traurig oder trunken glotzenden Augen denkt er zwischen Freitag und Sonntag mit lustvollem Grauen.
Dahin lenkte Herr Carovius seine Schritte. Weil es nur ein Schatten war, den er umarmte in Stunden, wo seine von allem Gift der Erde entzündete Phantasie einen Menschenleib beschworen hatte, ergrimmte er, ging hin und kaufte sich einen Menschenleib.
Nachdem er in einem halben Dutzend dieser Häuser gewesen, [301] jubelnd begrüßt und unter unflätigen Beschimpfungen entlassen worden war, fand er schließlich, was er suchte, ein Geschöpf, dessen Abgefeimtheit noch nicht verjährt war, das noch Menschenzüge hatte und dessen Gestalt und Wesen eine Erinnerung wachzuhalten vermochte, wenn man entschlossen war, zu sehen, was man sehen wollte, und zu vergessen, was man vergessen wollte.
Sie hieß Lena. Holder Anklang an eine begehrte Wirklichkeit! Er folgte ihr aus dem Kreis der Gefährtinnen in die elende Zelle zwischen Winkelstiege und Dachwinkel. Er klimperte mit Geld und gab seine Befehle. Die Nymphe mußte ein Straßenkleid antun, einen bescheidenen Hut auf den Kopf setzen und einen Schleier über das rohgeschminkte Gesicht ziehen. Hierauf näherte er sich ihr, redete sie höflich an und küßte ihr die Hand. Niemals hatte er sich gegen irgendeine Dame draußen in der Welt so fein und zurückhaltend benommen.
Der Dirne ward es angst und sie lief davon. Sie bedurfte der Belehrung. Durch die Hüterin des Hauses ward ihr Belehrung zuteil. Denn Herr Carovius klimperte mit Geld. »Sie müssen Nachsicht haben,« sagte die Hüterin, »wir sind für so was Raffiniertes nicht eingerichtet.«
Er kam wieder. Lena war belehrt. Allmählich fand sie sich in ihre Rolle.
»Offengestanden,« sagte er zu Lena, »ich habe keine Übung in den Künsten der Liebe. Ich war zu stolz, den Kotau vor dem berockten und bemiederten Idol zu machen. Weibchen ist Weibchen, Männchen ist Männchen. Da lügen sie denn einander vor, daß jedes Weibchen ein besonderes Weibchen, jedes Männchen ein besonderes Männchen sei. Stumpfsinn.«
Die Dirne grinste.
Er ging auf und ab; der Raum erlaubte ihm nur drei Schritte nach jeder Seite. Er entsann sich des Ausdrucks, den Lenores [302] Gesicht während der Aufführung der Symphonie gezeigt, und den er aus dem Hinterhalt gierig beobachtet hatte. Er geriet in Zorn. »Du wirst dir doch nicht einbilden, daß mit solchen dilettantischen Jämmerlichkeiten ein Fortschritt erzielt wird?« keifte er. »Es ist der reine Hokuspokus. In der Kunst gibt es überhaupt keinen Fortschritt, so wenig wie es in der Bahn der Gestirne einen Fortschritt gibt. Hör mal zu!«
Und er brüllte das wuchtige Anfangsmotiv aus derSonata quasi una fantasia von Mozart. »Da–dada–da–daddaa! Ist darüber hinaus ein Fortschritt möglich? Laß dich doch nicht beschwatzen, mein Engel. Sei aufrichtig gegen dich selbst. Er hat dich narkotisiert. In deinem arglosen Herzchen ist das unterste zu oberst gekehrt. Schau mich doch an! Fürchtest du dich vor mir? Ich tue für dich, was in meinen Kräften steht. Gib mir die Hand. Sprich mit mir.«
Die Dirne mußte verlangend die Arme ausstrecken, und er nahm mit gravitätischer Umständlichkeit neben ihr Platz. Hierauf zog er die Nadel aus ihrem Hut, legte den Hut zärtlich beiseite, und sie mußte den Kopf an seine Schulter lehnen.
Dann verfiel er in träumerisches Sinnen.
»Drah' di, Madel, drah' di, morgen kommt der Mahdi.« Diesen neuesten Gassenhauer plärrend, trat Philippine zu Gertrud in die Wohnstube. Daniel war nicht zu Hause.
»Da hast,« sagte sie und warf eine Zwirnrolle auf den Tisch.
Gertrud hatte dem Drängen des Mädchens nachgegeben und duzte sie und ließ sich von ihr duzen. »Weil wir doch eigentlich Verwandte sind,« hatte Philippine gemeint.
Gertrud fürchtete sich vor Philippine, aber sie fand kein Mittel, ihre übertriebene Dienstwilligkeit abzuwehren. Was [303] sie vor keinem Menschen empfand, das empfand sie bisweilen vor Philippine: Scham über ihren Zustand.
In der Tat erblickte Philippine in Gertruds Schwangerschaft etwas Unanständiges und schaute stets auffällig in die Luft, wenn sie mit Gertrud redete.
»Nein, was die Leut unverschämt sind,« begann Philippine, nachdem sie sich auf einen Stuhl gelümmelt hatte. »Da fragt mich der Kommis im Geschäft, ob der Daniel und die Lenore was miteinander haben. Eine Frechheit, gell? Bin ihm aber schön übers Maul gefahren.«
Die Nadel in Gertruds Fingern ruhte. Es war nicht das erstemal, daß sich Philippine solche Andeutungen erlaubte. Bald kam sie und raunte Gertrud zu, Daniel sei bei Lenore droben, bald äußerte sie in heuchlerischem Mitleidston, Lenore sehe so abgehärmt aus. Dann berichtete sie von dem und jenem, der dies und jenes gesagt habe. Dann machte sie sich wieder zum Verteidiger der guten Sitte und behauptete, man dürfe die Leute nicht vor den Kopf stoßen.
Ihr drittes Wort war: die Leute. Sie selbst wisse ja ganz genau, was für ein tadelloser Charakter die Lenore sei und wie gern Daniel seine Frau habe, aber die Leute, die Leute! Und man könne ja auch nicht jedem gleich die Augen auskratzen, der einen mit zweideutigen Fragen ärgere, da würde es wenig Augen mehr in der Stadt geben.
Philippines Simpelfransen hatten eine ungewöhnliche Länge erreicht; sie verdeckten die ganze Stirn und hingen bereits bis an die Wimpern. Infolgedessen hatte der Blick, mit dem sie Gertrud betrachtete, etwas über die Maßen Tückisches. So ganz sicher ist die ihrer Sache auch nicht mehr, fuhr es ihr durch den Kopf, und mit einer plumpen und sonderbar lasterhaften Bewegung ihrer Beine machte sie sich auf dem Stuhl breiter.
»Ich glaub halt, der Daniel sollt vorsichtiger sein,« plauderte sie mit ihrer rasselnden Stimme; »das stundenlange Beisammenstecken [304] tut kein gut. Es tut kein gut, sag ich dir. Und immer auf der Lauer alle zwei, er nach ihr und sie nach ihm. Jetzt sollst es einmal wissen. Erwischt man sie, fahren sie auseinander wie Verbrecher. Seit sechs Wochen geht's so, jeden Tag und jeden Tag. Schickt sich das vielleicht? Das brauchst du dir nicht gefallen zu lassen, Gertrud,« schloß sie mit einem übel aussehenden Versuch zu einer kokett schmollenden Miene. Dann schlug sie die Augen zu Boden und blickte unschuldig drein.
Gertrud war es kalt um die Brust geworden. Ihr Vertrauen zu Daniel war unerschütterlich, aber die giftigen Reden benahmen ihr Klarheit und Ruhe. Schon daß es möglich war, so über Daniel und Lenore zu sprechen, und daß ihr die Worte fehlten, es zu verhindern, weil sie es von Anfang an mit der Gelassenheit ihres Vertrauens und der Verachtung gegen den Klatsch geduldet, bereitete ihr Schmerz.
Wie schal hätte auch jeder Einwand geklungen, wie nichtig ein Verweis! Konnte sie der böse redenden Zunge Einhalt tun mit dem Hinweis auf Daniels besondere Art? Sollte er Rechenschaft ablegen vor einer Philippine? Ein geringschätziges Lächeln glitt über ihr Gesicht.
Und doch, warum das wehe Herz? Kam es nun endlich, das Wissen um Liebesentbehrung?
Unwillkürlich fiel ihr Blick auf die Gipsmaske, die noch immer mit den längst verwelkten Rosenzweigen bekränzt war. Sie erhob sich und nahm das Blätterwerk herunter. Ihre Hand zitterte dabei, als begehe sie etwas Schlechtes.
»Geh heim, Philippine, ich brauch nichts mehr,« sagte sie.
»Oi, 's is wahrhaftig spät, ich muß fort,« rief Philippine. »Mach dir nur ja keine Gedanken, Gertrud,« tröstete sie. »Und verklag mich nicht bei deinem Mann. Der ist imstand und macht einen Mordskrawall. Wenn du mich verklagst, dann gibt's ein Unglück, das sag ich dir. Ich bin halt eine rechte [305] Gans, daß mir alles rausrutscht. Mein Maul hat kein' Balken, drum kann ich's nit halten. Also, gut' Nacht.«
Sie strich mit komischer Behutsamkeit ihren Rock glatt und ging.
Auf der Stiege plärrte sie wieder: »Drah' di, Madel, drah' di, morgen kommt der Mahdi.«
Als Daniel nach Hause kam, war es spät. Trotzdem setzte er sich in seinem Zimmer noch zur Lampe und las im Titan von Jean Paul. Nach einer Weile befreiten sich seine Gedanken von dem Buch und zogen ihre eigenen Wege. Er stand auf, ging zum Klavier, öffnete den Deckel und schlug leise einen Akkord an. Er lauschte mit geschlossenen Augen. Ihn dünkte, es rief ihn jemand. Die Nacht war schwül, die Stille unheimlich.
Noch einmal den Akkord; Glocken aus der Unterwelt. Und wenn sich die in ihrer Zartheit hinaufschwangen, durch grüngraue Nebel hinauf, und jeder Ton entsandte seine dienende Schar wie Funken, die aus einer Rakete stieben, und Gleichgeartete trafen aufeinander, und was fremd war, fiel zurück, und oben, ganz unerreichbar, berückend deutlich, doch fern wie eine Todesvision der Vollendung, die Melodie der Liebe, die Melodie von Lenore ...
Ja, es rief ihn jemand; aber aus welchem Winkel der Welt? Sein Weib? Die Ferne, die Düstere, die Wartende? Er ließ den Klavierdeckel fallen, so daß das Echo des Geräuschs von der Kirchenmauer drüben durch das offene Fenster zurückkehrte.
Er löschte die Lampe aus, betrat ohne Licht das Schlafzimmer und entkleidete sich beim Schein des Mondes. Der Rand des Vorhangs war mit schwarzen Mäandrinen geziert, [306] und diese zeichneten sich auf dem Boden des Raumes ab; gezackte Pfade und ziellos; alle die vielen Linien bestanden im Grunde nur aus einer einzigen.
Er lag im Bett, und sein Herz fing an zu klopfen. Plötzlich wußte er, ohne hingesehen zu haben, daß Gertrud nicht schlief, sondern so wie er nach oben, ins Leere, starrte. »Gertrud!« rief er.
Aus dem leisen Rascheln des Kissens schloß er, daß sie ihm das Gesicht zuwandte.
»Hörst du mich?«
»Ja, Daniel.«
»Du mußt mir raten; du mußt mir helfen. Hilf mir und deiner Schwester, sonst weiß ich nicht, was geschieht.«
Er hielt inne, um zu lauschen, doch es regte sich nichts.
»Man kann aus Rücksicht lange schweigen,« fuhr er fort; »schweigt man zu lang, so wird Lug und Trug daraus. Was soll aber die Offenheit, wenn man dem andern dadurch, nur um freie Bahn zu bekommen, das Messer in die Brust stößt? Was hilfts, zu gestehen, wenn der andere nicht begreift? Zwei verbluten schon; und der dritte soll auch verbluten, bloß damit geredet ist? Wird ohnehin zu viel geredet. Die Worte, die schauderhaften, schamlosen Worte, vor denen die unschuldige Nacht der Sinne vergeht! Und muß man denn verbluten, wenn einem immer klarer und klarer wird: das, wogegen du dich aufbäumst, sind ja nicht die ewigen Gesetze, wie kann ich Zwerg den ewigen Gesetzen etwas anhaben? Nein, es sind die gebrechlichen und wandelbaren Einrichtungen der Menschen –? Hörst du mich, Gertrud?«
Ein Ja wie ein Vogelton aus weiter Ferne antwortete ihm.
»Nun kann ich aber nimmer schweigen. Ohne dich geht der Weg nicht weiter. Ich will den Mund nicht voll nehmen, nicht von Leidenschaft und Nichtanderskönnen sprechen. Möglich, daß man immer noch anders kann, wenn man beizeiten [307] anfängt. Aber wer die Zeit wüßte! Und Leidenschaft? Es gibt gar vielerlei von der Sorte. Jeder Schwengel nennt sein Gelüstchen so. Ich hatte von keiner was gespürt, an der ein Weib die Schuld getragen. Jetzt hats mich gepackt mit Haut und Haaren. Hab mir eingebildet, ich könnte mich und dich darüber wegbringen. Verlorene Müh. Es brennt, Gertrud, es verbrennt mich, ich bin nicht mehr da, wo ich bin, mein ganzer Mensch ist umgewandelt, und wenn nicht Rat geschafft wird, geh ich zugrund.«
Eine Zeitlang blieb es totenstill; dann begann er wieder.
»Wie aber Rat schaffen? Es ist so wunderlich; seit dem das geschehen ist, weiß ich erst, was uns beide, mich und dich, zusammenhält. Da spinnen sich eben Fäden hinüber und herüber, an die keine Hand greifen darf, ohne zu verdorren, wie's in der Schrift heißt. Da ist ein Geheimnis, ein heiliges Geheimnis, und verletzt' ich's, so wär mir's, als würgt ich nicht nur das Kind in deinem Leib, sondern auch all die ungebetenen Lieder in meiner Brust. Es gibt im Leben jedes Mannes eine Frau, in der ihm die Mutter wieder jung wird, an die ihn eine unsichtbare, unzerreißbare Nabelschnur bindet, und der gegenüber seine Liebe, groß oder klein, sein Haß sogar, seine Gleichgültigkeit zum Phantom wird, wie alles, was wir austeilen, zum Phantom wird an dem, was uns ausgeteilt wird. Und es gibt eine andere Frau, die ist mein Geschöpf, die Frucht meiner Träume, die ist mein Bild, die hab ich aus meinem Blut gezeugt, die ist in mir gelegen wie der Samen in der Blüte, und die muß mein sein, wenn sie sich enthüllt hat, oder ich sterbe vor Einsamkeit und Sehnsuchtswut.«
Der maßlose Mensch drückte sein Gesicht in das Kissen und stöhnte: »Die muß mein sein, oder ich steh nimmer auf vom Bett. Aber trät ich über dich hinweg, Gertrud, so müßt ich rufen wie Faust: o, wär ich nie geboren.«
Gertrud gab keinen Laut von sich. Als nun Minute auf Minute verfloß und Daniel, ruhiger werdend, ins Zimmer [308] horchte und das Schweigen der Frau ihn mit Angst erfüllte, richtete er sich empor. Der Mond war untergegangen, es war stockfinster geworden. Daniel tastete nach Zündhölzern und machte Licht. Die brennende Kerze in der Hand, beugte er sich zu Gertrud hinüber. Sie war totenbleich. Mit weiten Augen schaute sie in die Höhe.
»Lösch das Licht aus, Daniel,« flüsterte sie, »ich muß dir was sagen.«
Er blies das Licht aus und stellte den Leuchter weg.
»Gib mir die Hand, Daniel.«
Er suchte ihre Hand, ergriff sie, die eiskalt war, und legte sie auf seine Brust.
»Darf ich bei dir bleiben, Daniel? Willst du mich bei dir dulden?«
»Dulden, Gertrud, wie denn dulden?« fragte er tonlos; »du bist mein Weib; vor Gott mein Weib,« fügte er hinzu, in dumpfer Erinnerung des Wortes einer andern.
»So will ich auch deine junggewordene Mutter sein. Wie du es willst.«
»Ja, wie denn Gertrud, wie?«
»Ich will euch helfen, dir und Lenore. An mir sollt ihr nicht verbluten. Nur laß mich da sein.«
»Das sagt sich leicht, Gertrud, aber es ist schwer.« Er schmiegte sich dicht an sie, schloß sie in seine Arme und schluchzte mit unerwarteter Heftigkeit.
»Es ist schwer. Ja, es ist schwer. Aber du darfst nicht an mir verbluten.«
Sein Kopf lag an ihrer Brust; Krämpfe schüttelten ihn, bis der Tag heraufdämmerte.
Da kam es plötzlich wie ein Schrei von Gertruds Lippen: »Ich bin ja auch eine Kreatur!«
Als er sie dann fest umschlang, murmelte sie: »Es ist schwer, aber sei nur getrost, Daniel, sei nur getrost.«
Dem Apotheker Pflaum war es zu eng in seinem Haus an der Heiligengeistkirche geworden. Er hatte in letzter Zeit mehrere Häuser besichtigt und sich schließlich für das Schimmelweissche entschieden, das zum Kauf ausgeboten war. Die Apotheke blieb vorläufig, wo sie war, auch Jason Philipp Schimmelweis behielt Laden und Wohnung. Der Apotheker wollte als Hausherr den ersten und den zweiten Stock beziehen; er hatte eine zahlreiche Familie.
An einem schönen Augustnachmittag verließen beide Herren, der Apotheker und der Buchhändler, die Kanzlei des Notars Rübsam, wohin sie sich verfügt hatten, um wegen der Umschreibung der auf dem Kaufstück lastenden Hypotheken zu verhandeln. Ein wolkenloser Himmel mit schon abendlich gefärbtem Blau strahlte über der Stadt.
Der Apotheker Pflaum sah aus wie ein Mann, der alle Kümmernisse hinter sich hat und sich seiner Sorgenlosigkeit freut. Jason Philipp Schimmelweis hingegen war verdüstert. Er sah aus wie ein Mann, der heruntergekommen ist. Auf seinem Rock glänzte ein Fettfleck. Dieser Fettfleck erzählte von häuslichen Unannehmlichkeiten; er erzählte, daß Jason Philipp eine Frau hatte, die seit Monaten krank darniederlag, ohne daß ein Arzt zu sagen wußte, an welcher Krankheit sie litt. Jason Philipp war erzürnt gegen die Frau, gegen die Krankheit, gegen die Doktoren und gegen die wachsende Verwirrung und Unordnung seiner Lebensumstände.
Als sie über den Egydienplatz gingen, warf er auf das Haus, in welchem Daniel wohnte, einen Blick unbändigen Hasses. Aber er sagte nichts, er kniff bloß die Lippen zusammen und senkte den Kopf. Dabei bemerkte er den Fettfleck auf seinem Rock und ließ ein ärgerliches Brummen hören. »Ich werde mit Ihnen gehn, Herr Apotheker, und mir ein Fläschchen Benzin mitnehmen,« wandte er sich an seinen Begleiter, [310] und seine Stimme hatte jene kaum wahrnehmbare, wenn auch widerwillige Demut, die der Arme dem Reichen gegenüber an den Tag legt.
»Schön, schön,« antwortete der Apotheker, »kommen Sie nur.« Und er blies Luft von sich, weil ihm heiß war. »Grüß Gott,« schrie er plötzlich und schwenkte den Arm, »grüß Gott! Was machen denn Sie hier?«
Der Anruf galt Herrn Carovius, der in eigentümlicher Versonnenheit vor dem Gänsemännchen-Brunnen stand.
»Ihr Diener, meine Herren,« sagte Herr Carovius.
»Ich sehe, es gibt noch Einheimische, die unsere einheimischen Kunstwerke studieren,« spöttelte der Apotheker und blieb stehen. Auch Jason Philipp blieb stehen und schaute zerstreut und verwundert auf den bronzenen jungen Mann mit den zwei Gänsen. In der Nähe spielten Knaben mit einem Ball, und als sie die drei Männer vor dem Brunnen stehen sahen, unterbrachen sie ihre Beschäftigung und stellten sich grinsend herum, wie wenn etwas Neues zu bestaunen wäre.
»Wir wissen gar nicht, was für Reichtümer wir besitzen,« sagte Herr Carovius.
»Stimmt, stimmt,« nickte der Apotheker.
»Und ich denke eben darüber nach, was für eine Bedeutung diese Gruppe haben mag,« fuhr Herr Carovius fort, »es ist etwas Musikalisches in dem Motiv, ganz unleugbar etwas Musikalisches.«
»Stimmt, stimmt,« wiederholte der Apotheker, um nach einer Pause verblüfft hinzuzusetzen: »Ja, wieso denn etwas Musikalisches?«
»Ausgerechnet etwas Musikalisches?« murrte Jason Philipp Schimmelweis, den das bloße Wort Musik in Unbehagen versetzte.
»Ja, das muß man halt kapieren,« sagte Herr Carovius spitzig und zog einen Jungen, der sich bis an sein Hosenbein gewagt hatte, am Ohr, daß er ein Jammergeschrei von sich gab.
[311] Auf einmal brach Jason Philipp Schimmelweis, nachdem er noch einen wütenden Blick auf das Monument geworfen hatte, in ein Gelächter aus. »Jetzt begreif ich,« stotterte er hustend, »Sie sind ein Fuchs, bester Herr Carovius, Sie sind ein Schlauberger.«
»Was gibts denn, meine Herren?« fragte der Apotheker, der unruhig war, weil er argwöhnte, der Heiterkeitsausbruch sei irgendwie gegen ihn gerichtet.
»Na, sehen Sie denn nicht? Verstehen Sie denn nicht?« keuchte Jason Philipp mit scharlachrotem Gesicht, »die beiden Gänse –? Das Musikalische und die beiden Gänse –? Geht Ihnen noch immer kein Licht auf?«
»Nicht im Allergeringsten,« sagte der Apotheker und bemühte sich, einen Grund zu entdecken, um mitlachen zu können.
Carovius aber hatte verstanden. Er streckte den Zeigefinger der linken Hand kerzengerade in die Luft und brach gleichfalls in ein wieherndes Gelächter aus. Er packte den Apotheker am Arm und immer in den Pausen zwischen zwei Lachsalven meckerte er: »Großartig! – Unter jedem Arm eine Gans! – Unbezahlbar! – Herr Schimmelweis, das mög Ihnen Gott vergelten! Das haben Sie ausgezeichnet gegeben.«
Nun war sich auch endlich der Apotheker über den Zusammenhang klar. Er patschte sich auf die Schenkel und rief: »Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht der beste Witz ist, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«
Jason Philipp Schimmelweis faßte sich wieder. Er drückte die Hände auf seinen Magen und sagte atemlos: »Wer hätte gedacht, daß das Gänsemännchen leibhaftig unter uns wandelt?«
»Ja, wer hätte das gedacht,« gab Herr Carovius zu. »Ein Fund! ein Kapitalschuß! Wir beschließen einfach: Gänsemännchen! Wir sind ja beschlußfähig. Wir sind ja drei. Ist doch ein alter Satz: tres faciunt collegium.«
»Und die,« stotterte Jason Philipp, mit dem Finger auf [312] die Brunnengruppe deutend, indem Lachtränen über seine runden Bäckchen flossen, »die sind auch drei, die auch!«
»Die auch, die auch, das ist wahr,« kreischte Herr Carovius.
»Eine Prise, meine Herren,« sagte der Apotheker, seine Tabaksdose ziehend.
»Nein, auf den Spaß muß ich mir eine Zigarre anstecken,« erwiderte Jason Philipp schluckernd.
»Ich denke, wir begießen die Geschichte mit einem Glas Salvator,« schlug Herr Carovius vor.
Die zwei andern erklärten sich einverstanden, und so marschierte das Kollegium über den Platz, machte bisweilen, von einem gemeinsamen Lachkrampf neuerdings bezwungen, halt und wandte sich mit vertrockneten Kehlen dem Wirtshaus zu.
Vielleicht war es nur ein Abendschatten, der den Ausdruck hervorbrachte, vielleicht eine seltsame Beseelung, aber das stolzstehende Brunnenmännchen hinter seinem Gitter schien ihnen traurig und erstaunt nachzublicken, während die spielenden Buben den ergötzlichen Zwischenfall bald vergessen hatten.
[313]Wie in einer früheren Zeit, deren sie ungern gedachten, waren Daniel und Lenore ganz in ein gegenseitiges Verstummen geraten. Oft gingen sie auf der Stiege bloß mit einem flüchtigen Nicken aneinander vorüber, und kam Lenore zur Schwester, so zog sich Daniel wortlos zurück.
Einmal kam sie, als Gertrud nicht zu Hause war. Daniel war verstockt, und Lenore brachte ebenfalls kein vernünftiges Wort über die Lippen. Er ertrug ihren Anblick nicht; ihre Blässe und die äußere Heiterkeit, die sie sich erkämpft hatte, verdächtigte er. »Es ist ein unwürdiger Zustand, Lenore,« stieß er hervor, »machen wir ein Ende.«
Ein Ende machen? Ja, wie denn? dachte Lenore. Jeder Tag schmiedete die Kette fester.
Auch Gertruds Anblick war für Daniel eine Qual. Er fühlte sich von ihr beobachtet und spürte ihre Angst um ihn. Dazu rückte das Ereignis immer näher, das sie mit dem Schimmer des Leidens umgab und der Schonung empfahl. Ihre Züge, obwohl hager und entstellt, hatten im Ausdruck etwas dunkel Verklärtes.
Als Gertrud es eine Weile mit angesehen hatte, wie er seiner Arbeit entfremdet wurde und an nichts mehr Freude hatte, beschloß sie, mit Lenore zu reden. Sie tat es ohne Vorbereitung und ohne Zartheit.
»Siehst du denn nicht, daß du ihn zugrunde richtest?« rief sie ihr zu.
»Du willst also, daß ich zugrunde gehe?« fragte Lenore überrascht und erschrocken. Sie hatte den ganzen Umfang von Gertruds Verzicht sogleich begriffen.
»Was liegt an dir?« entgegnete Gertrud hart, »wofür hebst du dich auf?«
[314] Dieses Wort brachte in Lenore alle Vorstellungen von Pflicht und Ordnung ins Wanken. Mit ungläubigen Augen schaute sie die Schwester schweigend an. Nicht mehr die glückliche und sanfte Gertrud hatte so gesprochen, sondern die von ehedem, die einsame und lieblose.
Was liegt an dir, wofür hebst du dich auf! Das hieß so viel als: mach kurzen Prozeß mit deinem Leben und spinn' die kleine Episode in seinem nicht überflüssig in die Länge.
Da faßte sich Lenore ein Herz, um das Vorhaben endlich auszuführen, das sie lange Zeit bei sich erwogen hatte und auf das sie ihre letzte Hoffnung setzte.
Eines Abends ging sie auf Daniel zu und sagte: »Ich möchte mit dir nach Eschenbach gehen, Daniel, und deine Mutter besuchen.«
»Warum möchtest du denn das?« fragte er verwundert. Er und die Mutter schrieben einander nicht, das lag nun einmal im Wesen beider und in ihrem Verhältnis; aber er wußte, daß Lenore dann und wann einen Brief aus Eschenbach erhielt und daß sie ihn beantwortete, ohne mit ihm darüber zu sprechen. Erst jetzt im Zusammenhang mit ihrer Bitte fiel ihm dieses als merkwürdig auf.
Als sie nach ein paar Tagen den Wunsch wiederholte, willfahrte er ihr, und sie vereinbarten den nächsten Sonntag für den Ausflug.
Matt und warm lag die Oktobersonne über dem Land; die Wälder flammten im Herbstlaub, die Äcker dehnten sich kahl, den Hügeln der Frankenhöhe entlang zogen Wolken als föhniger Flaum.
Sie waren bis Triesdorf mit der Bahn gefahren, dann mit dem Postwagen bis Merckendorf. Von hier aus gingen [315] sie zu Fuß. Daniel wies auf eine Gänseherde hin, die am Ufer eines abgelassenen Weihers trottete, und sagte: »Das ist unser Heimatsvogel, sein Gackgack ist unsere Musik. Es klingt aber gar nicht übel.«
Eine Bäuerin ging vorüber und bekreuzigte sich vor einem Heiligenbild. »Sonderbar, daß hier plötzlich alles katholisch ist,« sagte Lenore.
Daniel nickte und erwiderte, als sein Vater nach Eschenbach gezogen, hätten noch einige protestantische Familien dort gewohnt, die sich zum Gottesdienst zusammengetan. Später seien die meisten ausgewandert, und jetzt sei seine Mutter vielleicht noch die einzige Protestantin im ganzen Ort. Aber sie habe dadurch nie Schlimmes erfahren, und er selbst sei als Knabe häufig in die Kirche gegangen, freilich bloß, um die Orgel zu hören, doch habe niemand daran Anstoß genommen. »Immerhin ists ein anderer Schlag Menschen,« fügte er hinzu, »äußerlicher als wir und heimlicher zugleich.«
Lenore hielt den Blick auf den Kirchturm gerichtet, dessen spanisch-grünes Dach aus der Talsenkung emporstieg. Nach langem Schweigen sagte sie: »Ob es ein Bub sein wird oder ein Mädchen, Gertruds Kind? Sicherlich ein Mädchen. Eines Tages wird es auf der Welt sein und wird mich anschauen mit Augen, mit wirklichen Augen. Wie seltsam, dein Kind wird mich anschauen!«
»Was ist da zu staunen? Viele werden geboren, viele schaun einen an.«
»Und wie willst du's heißen?« fragte Lenore.
»Wenn es blond ist und blaue Augen hat wie du, soll's Eva heißen.«
»Eva!« rief Lenore aus, »nein, so kann's nicht heißen.« Sie selbst hatte damals für das Kind der Dienstmagd den Namen Eva gewählt, und daß er jetzt gerade auf diesen Namen verfiel, erschien ihr sonderbar.
»Warum denn nicht Eva?« forschte er, »da steckt wieder [316] etwas dahinter. So ein Weibsvolk hat doch immer was im Extratopf zu kochen. Heraus mit der Farbe!«
Lenore schüttelte lächelnd den Kopf. Gern hätte sie ihm alles gestanden, aber sie wußte nicht, wie er es aufnehmen würde; sie fürchtete, er werde umkehren im Zorn über ihre Listigkeit. Trat das Kind einmal vor ihn hin, dann hielt es ihn auch, das wußte sie.
Sie waren stehen geblieben und blickten über die sonneglänzende Ebene. »Wie allein wir sind,« sagte Daniel.
»Alles ist leichter hier,« antwortete Lenore gedankenvoll; »könnte man nur vergessen, woher man kommt, man könnte glücklich sein.«
»Sieben Jahre lang bin ich fort gewesen,« sagte Daniel, als sie durch das Tor schritten. Alles erschien ihm lächerlich klein, das Rathaus, die Kirche, der Platz und der Wolframsbrunnen. Auch hatte er sich die Straßen reinlicher und die Häuser wohlhabender aussehend gedacht. Als er über die drei wie Muscheln ausgebogenen Stufen am Tor hinaufstieg und in den Kramladen mit seinen Würzgerüchen trat, schwand die vergangene Zeit zu einem Nichts.
Marianne konnte vor Freude kein Wort sprechen. Sie reichte Daniel die eine, Lenore die andere Hand. Ihre erste Frage war nach Gertrud.
Aber da saß in der Stube ein vierjähriges Kind mit reichem Blondhaar und märchenhaft blauen Augen. Das Gesichtchen war von zartester Schönheit, der Körper von zartestem Bau.
»Wer ist das Kind? Wem gehört es?« fragte Daniel.
»Es ist dein eigenes Kind, Daniel,« antwortete seine Mutter.
»Mein eigenes Kind? Ja um Gott –!« Errötend und erblassend schaute er von der Mutter zu Lenore.
[317] »Dein Fleisch und Blut. Gedenkst du an Meta nicht mehr?«
»An Meta ... Also das. Und ihr, ihr habt's genommen? Und du, Lenore, hast darum gewußt? Und du, Mutter, hast's genommen?« Er setzte sich an den Tisch und verbarg sein Gesicht. »Das also war drin in dem Extratopf,« murmelte er scheu vor sich hin; »es heißt wohl am Ende gar Eva ...?«
»Ja, Eva heißt es,« flüsterte Lenore bewegt. »Geh hin zu deinem Vater, Eva, und gib ihm die Hand.«
Das Kind tat, wie ihm befohlen worden. Dann erzählte Marianne ihrem Sohn, daß Lenore es gewesen, die die Magd nach Eschenbach gebracht und daß Meta später geheiratet habe und mit ihrem Mann nach Amerika gegangen sei.
Jeder Blick und jede Miene Mariannes verriet, mit wie großer Liebe sie an dem Kind hing und daß sie es wie ihren Augapfel hütete.
Der Ring des wunderbaren Geschehens umschnürte Daniels Herz. Wo Verantwortung lag und wo Schuld, wo der Wille endete und die Fügung begann, konnte er nicht entscheiden. Dank zu äußern, war gemein; die innere Wallung zu verhehlen, schwer. Er schämte sich vor beiden Frauen; als er aber das lebendige Geschöpf anschaute, verlor die Scham ihren Sinn. Und wie hoch Lenore emporwuchs in seinen Augen, als tätiges wie als empfindendes Wesen schien sie ihm gleich verehrenswert. Beinah schauderte ihn davor, sie so nah zu wissen, und daß das, was sie getan, für ihn getan wor den, erfüllte ihn mit Demut.
Am allerseltsamsten aber war die kleine Eva. Er wurde nicht satt, sie zu betrachten und staunte über das Spiel der Natur, die sich darin gefallen hatte, aus einer plumpen Magd ein Menschenbild von adeligster Prägung entstehen zu lassen. Es war etwas himmlich Leichtes an dem Kind. Es hatte feine Hände, feine Gelenke und eine durchsichtige Stirn, deren bläuliches Geäder sich nach verschiedenen Richtungen verzweigte. Sein Lachen war die reinste Musik, und in Gang [318] und Gebärden hatte es einen Rhythmus, der hohe Versprechungen auf künftige Freiheit und Anmut gab.
Daniel führte Lenore durch das Städtchen, dann vors Tor. Es war Jahrmarkt, und es herrschte großes Gedränge. Sie kehrten daher wieder in die stillen Gassen zurück und gingen schließlich in die Kirche. Der Meßner kam; er erkannte Daniel noch und sperrte ihm den Chor auf. Daniel setzte sich an die Orgel, der Meßner trat die Bälge, Lenore nahm auf einem Bänkchen an der Wand Platz.
Daniels Augen blickten fest, die Finger griffen mit Geistergewalt in die Tasten. Es waren zwei Motive, die in freien Quinten gegeneinander drängten, sich dann vereinigten und, zu einem geworden, von den tiefen in die hohen Register zogen, von der Hölle durch die Welt zum Himmel. Ein Hymnus krönte das improvisierte Gebilde.
Lange stand er noch mit Lenore in der Stille. Unter der gewölbten Höhe atmeten die Gesänge weiter. Es dünkte beide, als fließe das Blut des einen in den Körper des andern hinüber. Früher Erlebtes schwand aus dem Gedächtnis, eine weite Reise schien hinter ihnen zu liegen, keine Stimme mahnte an die Rückkehr, sie waren von Pflicht und Angst erlöst.
Lenore sollte bei Marianne und Eva schlafen, Daniel in seinem alten Zimmer. Er zeigte es Lenore, und sie traten aus Fenster und schauten hinaus. Da gewahrten sie Eva, die drunten im Hof auf einem Holzgeländer barfüßig hintänzelte. Mit ausgestreckten Ärmchen hielt sie sich im Gleichgewicht, und die Grazie ihrer Bewegungen war so elfenhaft, daß sich Daniel und Lenore einander verwundert zulächelten.
Nach dem Abendessen ging Daniel vors Haus. Marianne und Lenore saßen eine Weile beim Fenster, hinter ihnen [319] glomm der Lampenschein. Später kamen sie ebenfalls auf die Straße und gesellten sich zu Daniel. Marianne war aber des Kindes wegen unruhig; sie meinte, es sei heute erregt gewesen und könne nach ihr rufen. »Bleibt nur draußen solang ihr wollt, ich laß die Tür halt offen,« sagte sie und kehrte um.
Da gingen Daniel und Lenore wieder auf den Jahrmarkt. Es war noch früh am Abend, doch das Gedränge war nicht mehr so dicht. Sie wanderten langsam durch die Budengasse, blieben stehen, um den Tiraden eines Ausrufers zu lauschen, oder um zuzuschauen, wie die Bauernburschen nach Figuren schossen und nach einer Glaskugel, die auf einem Wasserstrahl tanzte. Allenthalben brannten grüne und rote Lampen, vom Wall droben zischten Raketen in die Nacht, in den Wirtschaften spielten Musikanten und johlten betrunkene Zecher.
Dann kamen sie auf einen Rasenplatz, der nur durch das Licht aus einem Zirkuswägelchen beleuchtet war. Auf der Treppe des Wagens saß ein Mann in Trikot und hielt den Kopf eines schwarzen Pudels auf den Knien.
»Das waren die letzten Bewohner der Erde,« sagte Daniel, als sie den Platz überschritten hatten. Der Lärm erstarb, die bunten Lichter verschwanden.
»Wie weit willst du noch gehen?« fragte Lenore, ohne Furcht in der Stimme.
»So weit, bis ich bei dir bin,« war die rasche Antwort.
Eine Brücke zeigte sich in undeutlichem Umriß, lautlos floß das Wasser unter ihr. Der Pfad schimmerte gelblich, der Himmel war ohne Sterne. Plötzlich schien der Weg zu enden, Bäume standen da und rückten immer näher aneinander, aus der Dunkelheit wurde Finsternis, die Füße stockten.
»Wir haben einander alles gesagt,« sprach Daniel, »in Worten sind wir einander nichts mehr schuldig. Genug geschwatzt, genug gezaudert, Schmerz genug und Irrtum [320] genug; wir können nicht mehr anders, deshalb dürfen wir nicht mehr anders.«
»Sei still,« flüsterte Lenore, »ich mag dein Hadern nicht, es ist so friedlos und böse, was du redest. Gestern hab ich geträumt, du lägest auf den Knien und hättest die Hände emporgefaltet. Da liebt ich dich sehr.«
»Brauchst du Träume, um mich zu lieben, Mädchen? Ich nicht. Ich brauche dich, so wie du bist. Dreißig werd' ich jetzt, Lenore; mit dreißig wird der Mann erst wach, da gewinnt er erst die Welt. Du weißt, was in mir ruht, du ahnst es. Du weißt auch, wie ich dich brauche, du fühlst es. Du bist mein Inwendiges, bist aus meiner Musik erschaffen, ohne dich bin ich eine leere Hülse, Stückwerk, eine Geige ohne Saiten.«
»Ach Daniel, ich glaub dir's ja, und doch ist alles nicht wahr,« erwiderte Lenore und ihm dünkte, als könne er in der Finsternis ihr spöttisch-melancholisches Lächeln sehen; »irgendwo, fast möcht ich sagen in Gott, ist es nicht wahr. Und wenn wir bessere Menschen wären, Gottesmenschen, dann müßten wir verzichten. Dann wär es schön zu leben; wie über den Wolken wohnte man, froh und rein.«
»Sprichst du das aus deinem Herzen? Spricht so dein Herz, Lenore?«
»Liebster, ach Liebster! Mein Herz ist so wie deins verdunkelt und verzaubert. Ich kann ja nicht mehr von dir lassen. Ich hab mich abgefunden mit allem. Ich bin mir der ganzen Schuld in meiner Seele bewußt. Ich weiß, was ich tue und nehm es auf mich. Es nützt ja kein Sträuben mehr, über uns schlagen die Wasser zusammen. Ich meine nur, du sollst dir kein Wahnbild vorgaukeln, als ob wir damit emporgestiegen wären über andere, als ob wir uns einen Dank des Schicksals verdient hätten. Nein, Daniel, was wir tun, tun alle, die sich verlieren, tun alle, die hinuntersteigen. Laß mich bei dir sein, Liebster, küß mich, küß mich zu Tode.«
Philippine hatte Lenore versprochen, am Sonntag nach dem Inspektor zu sehen und sich um Gertrud zu kümmern.
Als sie über den Fünferplatz ging, trat sie in den Kolonialwarenladen und verlangte für drei Pfennige Heftpflaster. Sie hatte sich zu Hause an einem Nagel die Haut blutig gerissen. Der Gehilfe schnitt das Pflaster ab und fragte, was es Neues gebe.
»No, Sie Lamabaz, wollen S' das Allerneueste wissen?« schnarrte Philippine mit selbstgefälligem Grinsen.
»Je neuer, je besser,« versetzte der Gehilfe lüstern.
Philippine beugte sich über den Ladentisch und raunte: »Heut machen sie zusammen die Hochzeitsreis'.« Sie lachte scheppernd, der Gehilfe riß die Augen auf. Zwei Stunden später lief das Wort durch die Mäuler aller Weiber des Viertels.
Gertrud lag im Bett. Das Aushilfsweib, das in der Küche kochte, gab Philippine einen Teller, auf dem sich das Mittagessen für den alten Jordan befand, Fleisch, Gemüse und ein paar saure Pflaumen. Auf der Stiege naschte Philippine zwei von den Pflaumen und leckte ihre Finger ab.
Den ganzen Nachmittag hindurch stöberte sie in Lenores Kammer. Sie durchsuchte die Schränke, die Schubladen und die Taschen der Kleider. Als es dämmerte, stand plötzlich, in Hut und Mantel, der Inspektor vor ihr und schaute stumm, mit vergrämtem Gesicht, der unerklärlichen Geschäftigkeit des Mädchens zu.
Philippine griff nach dem Besen, der in der Ecke lehnte, und fing an zu kehren. Dabei sang sie, falsch, frech und wild: »Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.«
Jordan ging fort, ohne etwas zu sagen. Er hatte vergessen, sein Zimmer abzusperren. Kaum gewahrte Philippine, daß der Schlüssel steckte, so öffnete sie die Tür und trat in die Kammer.
[322] Mit abergläubischen, feigen Blicken spähte sie um sich her. Sie hatte Angst vor dem Inspektor wie vor einem überlegenen alten Zauberer. Für solche Fälle hatte sie gewisse Beschwörungsformeln parat; sie murmelte: »Tu Erden hinein, machs Büchslein zu, den Daumen drauf, bespuck den Schuh.« Und sie spuckte auf ihren Schuh.
Hernach hantierte sie am Schrank herum, weil sie darin die Geheimnisse des Inspektors vermutete. Aber das Schloß trotzte ihren Bemühungen, und so setzte sie sich mißmutig an den Schreibtisch. Dort standen in einfachen Holzrähmchen die Photographien Gertruds und Lenores. Sie lief hinaus, holte eine Stopfnadel und stach diese in Lenores Bild, gerade zwischen die Augen. Dann griff sie nach dem Bild Gertruds, und als sie es eine Weile in Händen gehalten und düster betrachtet hatte, gewahrte sie, daß es blutbefleckt war. Das Pflaster hatte sich von ihrem Finger losgelöst, und die Wunde hatte wieder zu bluten begonnen.
»Jetzt geh, Philippinchen und schau nach, was die Gertrud macht,« sprach sie zu sich selber. In die Kammer Gertruds tretend, fand sie diese im Schlaf. Auf den Fußspitzen schlich sie zum Bett, nahm einen Stuhl, setzte sich rittlings darauf, stützte das Kinn auf die Lehne und stierte unbeweglich in das kaum als ein Schein in der Dunkelheit wahrnehmbare Gesicht der jungen Frau.
Da träumte Gertrud, daß sich ein schwarzer Vogel über sie herabsenkte und mit dem Schnabel nach ihrer Brust hackte. Sie schrie laut auf und erwachte.
Kurz danach mußte Philippine die Wehmutter holen.
Gegen Mitternacht brachte Gertrud nach vielen Schmerzen ein Mädchen zur Welt. Philippine hatte alles mit angesehen. Stundenlang war sie mit aufgerissenen Augen von der Küche in die Kammer, von der Kammer in die Küche gelaufen und hatte wie eine Verrückte unverständliches Zeug gemurmelt.
[323] Umsonst hatte Gertrud in ihrer Qual nach Daniel gerufen, umsonst wartete sie den ganzen Tag auf ihn.
»Wo nur der Daniel bleibt,« jammerte Philippine, »wo er nur bleibt mit seiner verfluchten Lenore!« Die Hände im Schoß gefaltet, mit wirren Haaren und verworrenen Blicken saß sie in der Ecke. Die Wehmutter war noch um Gertrud bemüht, das Neugeborene schrie kläglich.
Daniel hielt das Kind im Arm und betrachtete es aufmerksam, doch ohne Liebe. »Was willst denn du, armer Wurm, auf der Welt?« redete er es an. Er hatte den Hut noch auf dem Kopf, Lenore ebenfalls, denn so wie sie von der Bahn gekommen waren, standen sie noch da, bestürzt und erregt von dem Geschehenen. Lenore war auffallend blaß, ihre Augen blickten groß verträumt, ihre Gestalt erschien fast knabenhaft schlank. Bisweilen lächelte sie, dann erstarb das Lächeln wieder, als fehle ihr der Mut dazu.
Auch der Inspektor war in der Stube, wie immer seit seinem Sturz in der Haltung eines Gastes, der lästig zu fallen fürchtet. Er sagte bescheiden: »Ich habe Gertrud den Vorschlag gemacht, daß ihr das Kind Agnes nennt, nach meiner seligen Frau.«
»Gut, mag es Agnes heißen,« stimmte Daniel bei.
Gertrud verlangte den Säugling zum Stillen, und Lenore trug ihn hin und legte ihn an Gertruds Brust. Indem sich die Hände der Schwestern berührten, sah Gertrud rasch empor, mit einem unbeschreiblich tiefen, wissenden, dabei zugleich freundlichen Blick. Lenore sank plötzlich in die Knie, schlang die Arme um Gertruds Hals und küßte sie leidenschaftlich. Gertrud streckte die linke Hand nach Daniel aus, und zögernd reichte er ihr seine Hand. Der Inspektor strahlte. [324] »Es ist schön, Kinder, daß ihr euch untereinander gern habt, es ist sehr schön,« sagte er gerührt.
»Du, Daniel, mußt hinaufziehen zum Vater,« sagte Gertrud. »Dein Klavier und dein Bett und alle deine Sachen kommen heute noch hinauf, und Lenores Sachen kommen in dein Zimmer. Ich habe schon mit Vater gesprochen, und ihm ist es recht. Er wird auch sehr ruhig sein, damit du nicht gestört wirst. Das Kindergeschrei hier unten und all das Getriebe wär ja zu arg für dich.«
»Eine höchst praktische Anordnung,« antwortete Jordan an Daniels Statt und sah auf seine Rockärmel nieder, die ausgefranst waren und die er deshalb eilig hinter dem Rücken verbarg. »Es ist mir auch lieb, daß du Lenore bei dir hast. Ein Mann schläft noch lange, wenn ein Weib längst auf den Beinen ist, nicht wahr, Schwiegersohn?« Er klopfte Daniel lächelnd auf die Schulter.
»Solang Gertrud bettlägerig ist, schlaf ich hier in der Stube,« sagte Lenore und wich Daniels Blick aus, »allein kann sie doch nicht bleiben, und eine Wärterin kostet zu viel.«
»Sehr richtig, sehr richtig,« bemerkte der Inspektor und schritt zur Türe. Dort kehrte er sich aber wieder um. »Ich möchte nur wissen,« sagte er in klagendem Ton, »wer mir Gertruds und Lenores Bilder beschädigt hat. Das eine ist durchlöchert, das andere hat rote Flecken wie von Blut. Das ist doch eigentümlich, wie? Ich kann mir das gar nicht erklären. Wer mir bloß den Tort angetan hat!« Er schüttelte den Kopf und ging.
»Weißt du, daß übermorgen der erste November ist?« fragte Gertrud ihre Schwester. »Habt ihr denn die Miete? Hat der Vater was verdient?«
»Der Vater hat nichts verdient,« erwiderte Lenore, »aber ich hab das Geld fast beisammen.«
Es war auf den Inspektor in keiner Weise mehr zu rechnen. Er wurde von seinen Kindern erhalten, schien dies jedoch [325] nicht als demütigend zu empfinden. Manchmal machte er geheimnisvolle Anspielungen auf eine große Sache, die ihn beschäftigte und die Geld und Ehre einbringen würde. Befragte man ihn des näheren, so zog er die Brauen hoch und drückte den Zeigefinger auf die Lippen.
»Ich bin dem Manne mehr schuldig als seine Miete,« ließ sich Daniel vernehmen. Er küßte Gertruds Stirn und ging hinaus.
»Leg das Kind in die Wiege und komm dann zu mir,« sagte Gertrud zu Lenore, als sich die Türe hinter Daniel geschlossen hatte. Lenore tat, wie ihr geheißen. Der Säugling schlief. Sie trug ihn und sah mit tiefer Bewegung in das häßlich verfaltete Gesicht. Dann trat sie zu Gertrud.
Gertrud packte sie an beiden Händen und zog sie mit unerwarteter Kraft zu sich herunter, bis Lenores Augen den ihren ganz nahe waren. »Du mußt ihn glücklich machen, Lenore,« sagte sie mit heiserer Stimme und einem krankhaften Leuchten ihrer schwarzen Augen, »sonst wärs besser, eine von uns wär unter der Erde.«
Trotz ihres Schreckens befreite sich Lenore mit Sanftheit. »Es ist schwer, darüber zu reden, Gertrud,« hauchte sie und wurde bleich; »es ist schwer, es zu leben und schwer, daran zu denken.«
»Du mußt ihn glücklich machen, und du mußt glücklich sein,« fuhr Gertrud wie außer sich fort. »Sag dir das jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Du mußt, du mußt, du mußt.«
»Ich will es lernen,« antwortete Lenore langsam und ernst. »Ich bin ... ich weiß nicht, was ich jetzt bin und wie mir zumut ist. Hab nur Geduld mit mir, ich will es lernen.« Mit angstvoller Neugier schaute sie in Gertruds Gesicht. Diese aber preßte beide Hände an Lenores Wangen, zog sie abermals zu sich herab und küßte die Schwester mit sonderbarer Inbrunst. »Auch ich muß es lernen,« flüsterte sie dann [326] kaum vernehmbar, »das ganze Leben muß ich von neuem lernen.«
Es wurde an die Tür gepocht, und die Hebamme kam, um nach ihrer Patientin zu sehen.
Zu jener Zeit herrschte noch allgemein der Aberglaube, daß im Zimmer einer Kindbetterin das Fenster nicht geöffnet werden dürfe. Deshalb war immer eine üble Krankenluft in der Stube, die Lenore nur mit Mühe ertrug, und in der sie nicht schlafen konnte. Ferner war dem Tageslicht der volle Zutritt nicht gestattet, und da der Raum ohnehin düster war, machte ihn der grüne Vorhang, der bis zur halben Höhe des Fensters herabgelassen war, noch düsterer.
Das Unbequemste aber waren die vielen Visiten von Frauen, die anzunehmen durch den Brauch vorgeschrieben war. Es kam die Gattin des Theaterdirektors, es kam Martha Rübsam, es kam die Hofrätin Kirschner, es kam die Metzgerin und die Bäckerin und die Frau Pfarrer und die Frau Medizinalrätin und die Frau Apotheker, und alle erteilten Ratschläge und alle brachen in Rufe des Erstaunens aus über die Schönheit des Neugeborenen. Einmal traf Daniel eine solche Versammlung in der Stube, blickte wortlos von einer zur andern, warf den Kopf zurück und ging wortlos wieder hinaus.
Der Provisor Seelenfromm und Monsieur Rivière ließen sich ebenfalls den Weg nicht verdrießen, und sie wurden im Flur von Lenore abgefertigt. Und eines Tages erschien gar Herr Carovius, um sich teilnehmend zu erkundigen. Diesem gab Philippine Auskunft, Philippine, die jetzt schlechte Zeiten hatte, da sie nicht zu Gertrud in die Stube durfte. Gertrud wollte sie durchaus nicht sehen.
Um mit ihrer Arbeit, die ja Brotverdienst bedeutete, nicht [327] gar zu weit im Rückstand zu bleiben, schob Lenore den Tisch ans Fenster und schrieb trotz des ungenügenden Lichts und abends bei der Lampe, obwohl ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.
Nach drei Tagen hatte aber Gertrud keine Milch mehr in der Brust. Da mußte das Kind künstlich ernährt werden, und es schrie nun viele Stunden hindurch ununterbrochen. Beruhigte es sich endlich, so mußten Windeln gewaschen oder ein Bad gerichtet werden, oder Gertrud wollte etwas haben, oder es kam eine der lästigen Besucherinnen. Lenore mußte die Arbeit ganz beiseite legen, am Abend fiel sie aufs Bett und schlummerte zwei Stunden schmerzhaft tief; war es nicht der Säugling, dessen hungriges Geschrei sie weckte, so war es der Druck der schlechten Luft. Der Kopf tat ihr weh und immer weher, doch sie verbarg ihre Schwäche, ihre Sehnsucht, ihre Beklommenheit, und nicht einmal Daniel merkte ihr etwas an.
Sie konnte in dieser Zeit wenig mit ihm sprechen. Aber vielleicht gab es auf der Welt nicht ein zweites Paar Augen, das so beredt sein konnte wie ihres in Mahnung, in Verheißung, in Bitte, in herzlicher Resignation. Eines Abends trafen sie sich vor dem Kücheneingang. »Lenore, ich ersticke,« raunte er ihr zu.
Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und blickte ihn ruhig an.
»Geh mit mir,« drängte er wie ein dummer Bub, »geh irgendwohin mit mir, geh ganz und gar fort mit mir.«
Lenore lächelte. Sie dachte: das menschliche Gemüt geht in seinen Forderungen immer um einen Schritt über das Mögliche und Erreichte hinaus.
Am anderen Morgen stürmte er ins Zimmer; Lenore saß noch halbangekleidet da, und mit wunderbarem Zorn schaute sie ihn an, während sie nach einem Tuch langte und es um die Schultern schlug. Doch er setzte sich zu Gertrud ans Bett, und seine Worte überstürzten sich: »Ich will ›Wanderers Sturmlied‹ komponieren. Ich denk es als Seitenstück zur ›Harzreise‹ und zyklisch mit ihr verbunden. Die ganze Nacht [328] hab ich nicht geschlafen; das Hauptmotiv ist gar zu herrlich.« Und er fing in Fisteltönen an zu krähen: »Wen du nicht verlässest, Genius, nicht der Regen, nicht der Sturm haucht ihm Schauer übers ›Herz.‹ Wie gefällt dir das?«
Gertrud sah ihn begeistert an.
»Darauf müßte man einen guten Tropfen trinken,« fuhr er fort, »selten hab ich solche Lust auf eine Flasche Wein gehabt. Hundsföttisch, daß man sich so was nicht leisten kann. Aber wartet nur, laßt mich nur zu Geld kommen, dann steht jeden Tag eine Bouteille Tokaier auf meinem Tisch.«
»Joi, der gibt's nobel,« ließ sich Philippine boshaft vernehmen, die unhörbar eingetreten war und Daniels Worte gehört hatte.
Daniel winkte ihr unwirsch zu, sie solle schweigen und hinausgehen. Er achtete nicht auf ihre Erwiderung, sondern unterbrach sie gleich und rief: »Irgendetwas muß geschehen. Kann ich nicht trinken, so will ich wenigstens tanzen. Tanz mit mir, Lenore, zier dich nicht, komm, laß uns tanzen!« Er umfing Lenore, preßte sie an seine Brust, sang eine Walzermelodie und zog die verlegen Widerstrebende mit sich fort.
Philippine schlug ihr schepperndes Gelächter auf, dann sagte sie laut, die Hofrätin Kirschner sei draußen und wolle die Frau Kapellmeister besuchen. Gertrud machte eine flehende Gebärde gegen Daniel, im selben Augenblick begann das Kind zu weinen, Lenore riß sich aus Daniels Armen los, ordnete ihre Haare und eilte an die Wiege. Philippine öffnete die Tür, um die Hofrätin hereinzulassen, da erschallte draußen ein heftiger Wortwechsel. Man hörte die Stimme des Inspektors und die eines fremden Mannes.
Es war der Möbelhändler, der auf eine barsche Weise das Geld für die Wiege verlangte, die er geliefert hatte. Er behauptete, schon viermal dagewesen und immer vertröstet worden zu sein. In der Tat ging es Daniel jetzt äußerst knapp mit dem Gelde.
[329] Die Hofrätin zog Daniel beiseite und bot ihm in freundlicher Weise ein Darlehen von zweihundert Mark an. Als Daniel schwieg und mit verkniffenen Lippen zu Boden schaute, schalt sie ihn aus. »Immer sich selber Feind sein,« sagte sie; »keine Umstände, lieber Nothafft, heute mittag schick ich's Ihnen, und wenn Sie mal was übrig haben, zahlen Sie mir's zurück.«
Daniel ging hinaus und gab dem polternden Händler sein letztes Zehnmarkstück.
Die Hofrätin hatte für Gertrud eine Flasche Tokaier mitgebracht, denn der Tokaierwein galt damals für eine Art Lebenselixier.
»Siehst du, so schnell werden Wünsche erfüllt,« sagte Gertrud am Abend zu Daniel, als er in ihre Stube kam. Und sie schenkte ihm ein Glas voll ein.
»Habt ihr noch Rechnungen zu bezahlen?« wandte sich Daniel halb an Gertrud, halb an Lenore und klappte sein Portemonnaie auf, in welchem es von Gold funkelte. »Hofratsgold,« sagte er, »echtes Hofratsgold. Wie schön es dreinsieht, lausig schön. Und von so was hängt das Heil meiner armen Seele ab!« Er schüttete alles Gold auf Gertruds Bettdecke, streckte die Zunge heraus und kehrte ekelnd sich hinweg.
Lenore hielt ihm das Glas Tokaier hin, ihre Augen schimmerten feucht.
»Nein, Lenore,« sagte er, »ich hab mir's verscherzt heute. Hab in meinem Übermut gedacht, ich könnt was vorwärts bringen. Setz mich hin und brüte, aber es war nur ein Windei. Da ist einem dann zumut, als hätte man einen falschen Schwur getan. Zu was bin ich nutze, Lenore, zu was bin ich nutze, Frau? Sagt mir das doch!«
»Trink nur,« bat Lenore, »vielleicht vergehn die Grillen.« Und sie strich ihm mit der Hand über die Stirn.
Da rief Gertrud der Schwester zu: »Laß ihn! Stell das Glas weg!« Mit so harter Stimme rief sie es, daß Lenore bestürzt zurücktrat und Daniel sich erhob.
[330] »Laßt mich jetzt allein,« sagte sie nach einer Weile, und Daniel und Lenore gingen aus dem Zimmer.
Drüben in der Wohnstube setzte sich Lenore an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Was soll denn nun werden, Daniel?« fragte sie, und der Geigenton in ihrer Kehle hatte etwas Ergreifendes.
Daniel stellte die Kerze, die er getragen, in den Erker. Er beugte sich über den Tisch und faßte Lenores Hände bei den schmalen Gelenken. »Nimm das Bittre hin um des Süßen willen,« murmelte er. »Glaub an mich, glaub an dich, glaub an das höhere Gesetz. Ich darf's mir nicht bloß eingebildet haben, daß es ein Flügelwesen für mich gibt. Ich muß mich an irgend etwas klammern können, an etwas Unzerstörbares, ja, ich sag's gerade heraus, an etwas Übermenschliches.«
»An etwas Übermenschliches,« wiederholte Lenore mechanisch, und sie dachte daran, daß er ja auch von der andern, von seinem Weib, das Übermenschliche forderte. Mit einer unendlich scheuen Bewegung hob sie den Zeigefinger, wie um ihn zu warnen.
Doch Daniel sah es kaum. In seiner Anmaßung und Leidenschaft hätte er den ganzen Weltbau zertrümmern und neu schaffen mögen, nur um dieses einzige Geschöpf so zu formen, wie er es wollte, grenzenlos gefügig und tätig liebend zugleich, ehrwürdige Gebote selbstherrlich verwerfend und den aus Not und Trotz erzeugten heiter vertrauend.
»Mir ist's kalt,« flüsterte Lenore erschauernd und sah in die tiefen Schatten des Raumes.
Diese Augen so nahe zu wissen und ihre reine Glut; diesen aufrichtigen, kühlen, stummberedten Mund mit den Lippen berühren zu dürfen, diese Hände halten zu können, [331] in denen Leidenschaft wohnte wie in der schweigsamen Unruhe eines Boten; diese bebende Gestalt in ihrer Bereitwilligkeit, ihrem holden Zögern an die Brust zu pressen, es war fast zu viel für Daniel, es war ein Schmerz darin, eine Ungeduld, ein Durst nach Mehr und immer Mehr, die sein tägliches Tun und Treiben, seine Gedanken, Pläne und Verrichtungen aus dem Zusammenhange rissen.
Mit Personen, die er kannte, sprach er wie mit Fremden; Unbekannte setzte er durch treuherzige Vertraulichkeit in Erstaunen; er vergaß seinen Hut aufzusetzen, wenn er auf die Straße ging, und legte bei zahllosen Anlässen eine Zerstreutheit an den Tag, die ihn dem Gelächter preisgab. Er wußte nicht, wann es Mittag war; er kam um drei Uhr und dachte, es sei zwölf; einmal wäre er auf ein Haar am Mariengraben von galoppierenden Pferden niedergerissen worden; ein anderes Mal wurde ihm am Ludwigsbahnhof sein Regenschirm aus der Hand gestohlen, ohne daß er es merkte.
O, Flügelwesen, Flügelwesen, sagte er bisweilen vor sich hin und lächelte wie ein Nachtwandler. Tief in seiner Seele brauste ein aufgeregtes Meer von Tönen; er horchte nur hin, trotz gelegentlich hervorbrechenden Zornes über ein Mißlingen des Besitzes und künftiger Windstille sicher. Er lebte so in sich selbst versponnen, daß er kaum den Himmel sah, und Häuser und Menschen und Tiere und was zur Notdurft des Daseins gehört, nur wie im Traum.
Flügelwesen, Flügelwesen!
Als Gertrud vom Wochenbett aufgestanden war, folgte Lenore einer Einladung Martha Rübsams und begleitete die Freundin nach Altdorf, zu ihrer Tante Seelenfromm. Der Aufenthalt sollte vierzehn Tage dauern, und Lenore [332] betrachtete dies als eine Probe, ob sie sich selber noch etwas sein könne, sich allein, ohne Daniel.
Aber sie sah, daß sie ohne ihn nicht mehr zu leben vermochte. In dem einsamen Forsthaus kam sie zu der Erkenntnis, daß ihre Liebe groß genug war, um das Ungeheure des ihr auferlegten Schicksals tragen zu können, daß weder Flucht, noch Sichverbergen imstande war, sie zu retten, Daniel zu heilen und Gertrud das Verlorene zu ersetzen.
Freilich gab es Stunden, wo sie sich fragte, ob es denn wahr und wirklich, ob es überhaupt möglich sei. Sie wandelte in der Schwärze, von Dämonen umringt; ihre Natur war in die tiefste und seltenste Verwirrung gestürzt und wehrte sich mit leidvollen Gebärden gegen das Unerbittliche.
Doch in einer ihrer schlaflosen Nächte schien es ihr, als überflamme sie Daniels Geist und als rufe seine Stimme nach ihr mit niegekannter Macht.
So wie er lebendig war, war's keiner, den sie je gesehen. Ihre schlummernde Phantasie war aufgewacht unter seinem Laut und Atem. Sie fand, daß ihm die Menschen vieles schuldig seien und daß, da sich niemand anheischig machte, diese Schuld zu zahlen, es an ihr liege, das Versäumnis nachzuholen.
Die Wege seiner Kunst überblickte sie nicht. Der Musiker in ihm sagte ihr nichts Sonderbares und Besonderes. Sie faßte und fühlte nur ihn selbst. Faßte und fühlte nur den Mann, der zu Hohem und Höchstem geboren und entschlossen war und über das Schlechte und Niedrige schweigend hinwegschritt; der sich erwählt wußte und auf Herrschaft verzichten sollte; der stumm erglüht in Waffen stand, um ein stets bedrohtes Heiligtum zu hüten.
Von einem solchen Mann, einem Ritter und einem Kämpfer, hatte sie schon in Kindertagen fromm geträumt. Denn wiewohl sie alle Dinge und Verhältnisse mit Blicken der Wahrheit ergriff, war doch ihre Seele voll heimlicher Schwärmerei [333] gewesen. Hinter lieblich sich bewährender Tätigkeit webten Genien der Romantik ihre bunten Fäden und hatten auch die gläserne Kugel gebaut, in der sie sich so lange vor der Welt verborgen hatte.
Am Morgen nach jener Nacht erklärte sie ihrer Freundin, daß sie heimfahren wolle. Martha versuchte, sie davon abzubringen, aber sie blieb beharrlich. War sie doch vor Sehnsucht beinahe krank.
Martha ließ sie ziehen; sie hatte die traurigsten Gedanken über Lenores Zukunft, da ihr ja zu Ohren gedrungen war, was in dem unglücklichen Hause vor sich ging. Nicht aus Grüben der Moral sorgte sie sich, dazu war sie nicht die Frau; sondern aus echter Zuneigung. Es tat ihr weh, Lenore nicht mehr bewundern zu können.
Indessen hatte Daniel seiner Frau gesagt, daß ein Kind von ihm bei der Mutter in Eschenbach lebte und daß er dies erst an dem Tage erfahren, als ihn Lenore hingeführt. Er sagte ihr den Namen des Kindes und wie alt es sei und wer die Mutter war und schilderte ihr jene wildgärende Neujahrsnacht, in der er die Magd umarmt. Er erzählte, wie er damals vor dem Haus drunten gestanden sei, Gertrud mit allen Sinnen zu sich gewünscht habe, und wie es ihm jetzt beim Anblick der kleinen Eva zumut gewesen, als ob die Vorsehung sich nur zum Schein des Leibes einer Fremden bedient habe und das Kind in Wirklichkeit Gertruds Kind sei.
Darauf antwortete Gertrud: »Ich will das Kind nie sehen.«
»Wenn du Eva einmal kennst, wirst du dich dieses Wortes schämen,« versetzte Daniel. »Du solltest nicht eifersüchtig sein auf ein Wesen, durch das Gott die Erde hat schöner machen wollen.«
[334] »Sprich nicht von Gott!« sagte Gertrud rasch und mit erhobener Hand. Dann, nach einer Pause, während der Daniel sie unwillig betrachtet hatte, fügte sie schmerzlich lächelnd hinzu: »Ich eifersüchtig? O nein, Daniel.«
Die Art, wie sie die Hände auf die Brust preßte, überzeugte Daniel sehr nachdrücklich davon, daß sie ein solches Gefühl nicht kannte. Er schwieg, blieb aber lange bei ihr in der Stube sitzen. Als sie den Brotlaib anschnitt, fiel ihr das Messer herunter; er sprang schnell hin und hob es auf. Niemals früher hatte er dies getan. Gertrud schaute auf ihn nieder, indes er sich bückte. Ihr Auge erlosch, flammte auf, erlosch wieder.
Sprich nicht von Gott! Diese Worte wollten Daniel nicht aus dem Sinn.
Wie nun Lenore zurückkam, erschrak sie bei Daniels Anblick. Er war verstört, seine Lider waren entzündet, als habe auch er die Nächte schlaflos verbracht, er konnte kaum sprechen, und endlich forderte er einen Schwur von ihr, daß sie nicht mehr weggehen werde.
Sie weigerte sich sanft, zu schwören, aber er wurde immer wilder und wilder, da schwor sie es ihm zu. Und als er sie ungestüm in seine Arme schloß, ging die Tür auf und Gertrud stand auf der Schwelle. Daniel eilte hin und wollte sie bei der Hand fassen, doch sie wich Schritt um Schritt zurück, bis sie an ihrer Schlafkammertür angelangt war.
Es war Abend, und vier Gedecke befanden sich auf dem Tisch in der Wohnstube, denn auch der Inspektor sollte unten essen. Er kam pünktlich, Lenore trug die Speisen herein, aber Gertrud ließ sich nicht blicken. Da ging Lenore zu ihr. Sie saß an der Wiege und kämmte mit Bedächtigkeit ihre Haare.
»Willst du nicht mit uns essen, Gertrud?« fragte Lenore.
Gertrud schien nicht gehört zu haben. Nach etlichen Minuten erhob sie sich, schritt an die Wand, wo der Spiegel hing, drückte mit beiden flachen Händen das Haar an beide [335] Wangen, und so, mit weitgeöffneten Augen, schaute sie in den Spiegel.
»Komm doch, Gertrud,« rief Lenore zaghaft, »Daniel wartet schon.«
»Daß man da drinnen noch einmal da ist,« murmelte Gertrud, »es ist wie Sünde.« Sie drehte sich um und winkte Lenore zu sich her.
Gehorsam trat Lenore an ihre Seite. Gertrud schlang den Arm um Lenores Nacken, bis deren linke Schläfe ihre eigene rechte berührte und nur Gertruds Haar wie ein Vorhang zwischen den Gesichtern lag. Gertrud schaute wieder in den Spiegel, ihr Blick wurde starr, und sie sagte: »Ja, du bist schöner, du bist viel schöner, du bist hundertmal schöner.«
Da regte sich das Kind, und weil Gertrud noch immer wie versunken stand, schritt Lenore zur Wiege. Kaum hatte aber Gertrud dies bemerkt, als sie hinstürzte und mit einer befremdlichen Rauhheit ausrief: »Rühr's nicht an! Rühr's nicht an!« Sie riß das Kind aus der Wiege, trug es mit fliegender Eile bis an ihr Bett und sagte leise und drohend: »Es gehört mir, mir ganz allein.«
Seit dieser Stunde wußte Lenore, daß eine furchtbare Veränderung mit Gertrud vor sich ging.
Sie wußte nicht, ob andere Leute es bemerkten, ja, nicht einmal, ob Daniel dessen inne wurde, aber sie sah es, und mit Bangigkeit.
An einem Nachmittag, zur Dämmerungszeit, kam sie dazu, wie Gertrud im Vorplatz kniete und mit der Bürste den Fußboden rieb.
»Das solltest du nicht tun, Gertrud, du bist noch nicht gesund genug, es schadet dir, wenn du so grobe Arbeiten verrichtest,« sagte Lenore.
Gertrud gab keine Antwort und rieb weiter.
»Warum ziehst du dich nicht mehr hübsch an?« fuhr Lenore betrübt fort. »Daniel mag's nicht, wenn du so herumschlampst, [336] immer in dem häßlichen Kittel, glaub mir, er ärgert sich darüber.«
Gertrud richtete sich auf den Knien empor und entgegnete mit sonderbarer Demut: »Schmück du dich nur. Es ist nicht gut, wenn zwei sich schmücken. Was soll ich tun?« fragte sie und ließ den Kopf sinken; »du trägst dein goldnes Kettlein und die Korallen in den Ohren. Das gefällt mir, und es soll auch so sein. Aber ich hab kein goldnes Kettlein und keine Korallen, und hätte ich sie auch, ich trüg sie nicht, und trüg ich sie auch, so wär's von Übel.«
»Ach, Gertrud, wie redest du denn!« klagte Lenore.
Da tönten plötzlich die Kirchenglocken in den Flur. Mit einer strengen Feierlichkeit faltete Gertrud die Hände zum Gebet, und es war, als sei sie in ihrer knienden Stellung versteinert.
Schweren Herzens ging Lenore in die Stube.
Durch trennende Räume wurden Daniel und Lenore unwiderstehlich zueinander gezogen. In ihren Gedanken begleiteten sie einander, und jedes erriet des andern Wunsch und Meinung. Kam er verstimmt und gereizt nach Hause, war sie geängstigt und ruhelos, so brauchten sie sich nur Seite an Seite zu setzen, und es war Friede in ihnen.
War Daniels Überredungsgewalt groß, so war es bei Lenore die Macht des Beispiels. Eine Speise war verdorben, und Daniel mochte sie nicht essen; Lenore aß sie nicht bloß, sondern gewann es auch über sich, sie zu loben, da aß er gleichfalls, und sie schmeckte ihm. Gertrud hatte die Speise zubereitet, und Lenore glaubte die Schwester schonen zu sollen; aber Gertrud wollte nicht geschont sein, sie legte Messer und Gabel hin und sagte: »Daniel hat recht, man kann's nicht[337] essen.« Sie stand auf und ging in die Küche, um einen Milchbrei zu kochen und so für das verdorbene Gericht Ersatz zu schaffen. So war sie nun, immer ergeben, stumm beflissen; stumm bemüht, keine Pflicht zu verabsäumen. Daniel und Lenore schauten einander verlegen an, bald jedoch verwandelte sich die Verlegenheit in wechselseitiges Entzücken, und sie konnten die Blicke nicht mehr eins vom andern losreißen.
In Daniels sinnlicher Anlage war nichts von Verführertum. Dafür war er von seinen Wünschen und Begierden in hohem Grad abhängig, und in seinem leidenschaftlichen Eigensinn wurde er nicht selten rücksichtslos. Doch hatte dann Lenore eine tiefkundige Ruhe, heitere Bestimmtheit an ihrem Ort und Nachgiebigkeit an ihrem Ort. So viel Ansprüche an Geduld und Maß hätten einen politisch gestählten Geist und das erfahrenste Herz müde machen können, sie aber fand sich durch den unbeirrbaren Instinkt ihrer Natur zurecht und war niemals müde.
Wogegen er sich am häufigsten aufbäumte, war das, was er die bürgerliche Vorsicht an ihr nannte, die Wahrung des notwendigen Scheins. Er wollte die Stunden seiner Liebe nicht wie ein erstohlenes Gut in Besitz nehmen, nicht über Flur und Stiege schleichen, nicht flüstern, nicht die heimlichste Stunde abwarten, nicht mit Bangen und Zagen kommen und gehen.
Es ist nicht erforderlich, diesen Heimlichkeiten nachzulauschen; wir wollen nicht dem bösen Geist Asmodei ins Handwerk pfuschen, der die Dächer durchsichtig macht und in die Schlafkammern blickt, wir wollen nicht Daniels Spion sein, wenn er in mitternächtiger Stunde die Mansarde verläßt und auf Filzschuhen sich am Geländer heruntertastet, wir wollen nichts von Lenores Qual und Verlangen, von ihrem Harren, von ihrem Flüchten, von ihrer Abwehr, von ihrem Unterliegen erzählen; über diese Dinge wollen wir [338] hinwegsehen, ein erbarmender Vorhang falle über sie, denn sie sind gar zu menschenhaft und wunderlos.
Nur an eine einzige Nacht sei gerührt, wo Daniel in Lenores Kammer trat und zu ihr sagte: »Ich habe dich noch nie gesehen wie ein Liebender seine Geliebte.« Lenore saß auf dem Rand ihres Bettes und begann zu zittern. Darnach blies sie die Kerze aus, Daniel hörte das Rascheln ihrer Gewänder, und nun ging sie zum Ofen, machte das Feuertürchen auf, und weil im Ofen helle Kohlenglut war, stand sie von Purpurdunst beleuchtet da, und der magere, zarte, nackte Leib, eigentümlich figurenhaft, war von der harmonischesten Beseelung erfüllt. Und da nun das Spiel der Glieder, als sie das Licht wußten, plötzlich von Scham gehemmt wurde, bog Lenore den Kopf zur Wand, wo immer noch die Maske der Zingarella hing, die Daniel ihr gelassen hatte. Sie nahm die Maske vom Nagel, hielt sie mit beiden Händen, so daß die Glut auch auf den weißen Gips fiel, dabei senkten sich ihre Augen, und sie lächelte in einer Weise, die Daniel durch und durch erschütterte. Etwas Ewiges langte an sein Herz, Ahnung des Endes, Schicksalsfurcht.
Zur gleichen Zeit hatte sich Gertrud in ihrem Bett aufgerichtet und starrte mit Augen, als erblicke sie dorten wen, gegen ihre Stubentür. Nachdem sie lange hingestarrt hatte, erhob sie sich, öffnete die Tür, ging unhörbar in den Flur, kehrte wieder um, ging noch einmal hinaus und begab sich dann, die Tür offen lassend, wieder ins Bett, wo sie aufrecht sitzen blieb und nun auf die Tür draußen überm Flur starrte, hinter welcher sie Daniel und Lenore wußte. Von ihrem Haupt hing links und rechts ein Zopf herab, und inmitten des dunkeln Haars oben und der dunkeln Zöpfe an den Seiten glich ihr Gesicht einer Wachsform in einem düstern alten Rahmen.
Kein Zucken der Muskeln gab Kunde von den Bildern, die sich in ihrem Geiste drängten.
Hinter jener Tür lag für sie die ganze Welt. Ihr schien, sie [339] könne es nicht mehr aushalten, das Wissen darum. Überall schlichen sie über die Gänge der Wohnungen, überall lockte ein Weib, zu jedem Weib gesellte sich ein Mann, und sie umschlangen einander und gruben einander die Zähne ins Fleisch. Es war so lästerlich als unsinnig, ein Elend und ein Grauen. Überall sah sie das verwerflich Entblößte, alle Kleider waren wie aus Glas, sie konnte weder Weib noch Mann anschauen, ohne zu erbleichen. Sie hatte nur eine einzige Zuflucht, an der Wiege des Kindes hinzustürzen und zu beten. Stand sie aber wieder auf, so atmete sie wieder in der vergifteten Luft, und das Verlangen, sich zu reinigen von dem Verbrechen, an dem sie sich schuldig fühlte, ohne daß sie bis jetzt hatte er gründen können, was für ein Verbrechen es eigentlich war, raubte ihr den Schlaf. Ihr war nur zumut, als hänge über ihrem Kopf ein schwerer Stein, der sich langsam löste und jeden Tag schrecklicher mit seinem Sturz drohte.
Stunde um Stunde war verronnen, da trat endlich Daniel in den Vorplatz. Er erschrak nicht wenig, als er den Lampenschein und die aufrecht im Bett sitzende Gertrud gewahrte.
Er ging in die Kammer, schloß die Tür, ging an die Wiege, schaute auf das schlummernde Kind nieder und trat dann zu Gertrud. Sie heftete einen unendlich aufmerksamen Blick in sein Gesicht, einen Blick, der um ein Urteil zu fragen, um einen Richterspruch zu flehen schien. Zugleich aber streckte sie abwehrend die Arme gegen ihn, und als er betroffen stehen blieb, milderte sich der Ausdruck ihrer Augen, und sie sagte: »Gib mir die Hand.«
Sie nahm seine Rechte, streichelte sie und flüsterte: »Die arme Hand, die arme Hand.«
Daniel biß die Zähne zusammen. »O, Frau,« sagte er.
Er setzte sich an den Rand des Bettes und schwieg. Gertrud sah ihn wieder mit demselben gespannten und flehenden Ausdruck an wie vorhin. Aber er ließ sich neben sie hinsinken, und den Kopf an ihre Brust gelehnt, schlief er ein.
[340] Sie hielt noch immer seine Hand. Sie schaute in sein fahles, schmales Gesicht und auf die geeckte Stirn, deren Haut unter den wirr hängenden Haaren bisweilen leise zuckte. Das Öl in der Lampe ging zur Neige, und der Docht fing an zu riechen, aber sie getraute sich nicht, die Lampe auszublasen, aus Furcht, Daniel könnte erwachen. Sie sah still zu, wie das Licht verlosch und an seiner Statt ein rotes Glimmern war, bis auch dieses erlosch und es finster wurde.
Seit einiger Zeit bemerkte Lenore, daß der Bäckergeselle, statt des Morgens die Semmeln in das Säckchen zu legen, wie er stets getan, sie achtlos durch das Gatter auf die Erde warf.
Der Zeitungsträger grüßte sie nicht mehr, der Postbote lächelte höhnisch, und sogar die Bettler, so schien es ihr, forderten Almosen mit unverschämter Miene.
Einmal kam sie durch die Schmausengasse, da lehnte ein Weib am Fenster eines Hauses, rief bei ihrem Anblick etwas in die Stube zurück, und sogleich stürzten ein junger Mensch und drei halbwüchsige Mädchen ans Fenster, tauschten Bemerkungen aus und stierten sie mit Blicken an, die sie erbleichen ließen.
Ein andermal brachte ihr Daniel eine Freikarte zu einem Konzert. Sie ging hin, und schon bei ihrem Eintritt fiel ihr das gierige und unanständige Schauen der Leute auf. Eine geputzte Dame rückte von ihrer Seite weg, einige Herren vor ihr drehten sich beständig um und grinsten sie an. Sie konnte nicht bis zum Ende bleiben und floh.
Bewegung in freier Luft hatte ihr schon über manche böse Stunde hinweggeholfen; sie ging zum Schlittschuhlaufen aufs Eis. Als man sie gewahrte, entstand ein Wispern. Sie kümmerte sich nicht darum, sie lief ihre schönen Bogen und Figuren. Aus einer Gruppe junger Mädchen wurde mit Fingern [341] auf sie gedeutet. Mit stolz blitzenden Augen näherte sie sich der Schar, und alle stoben auseinander. Die ihr früher gehuldigt hatten, mieden sie jetzt. Ihr Gefühl war in Aufruhr und lohte bei der Erfahrung von so viel unerwarteter und zurückweichender Gemeinheit in edlem Trotz empor.
An einem Dezembertag schritt sie über den Weinmarkt und wollte durch ein enges Gäßchen zum Hallertor. Vor dem Gäßchen standen einige Männer im Gespräch. Sie erkannte Alfons Diruf unter ihnen. Sie dachte, die Leute würden Platz machen, um sie durchzulassen, aber keiner rührte sich. Sie starrten sie frech an. Nun hätte sie ja weitergehen und einen andern Weg wählen können, doch jener Trotz zwang sie, zu verharren, und unter der Flammenbläue ihrer Augen bequemten sich die Niederträchtigen endlich zu trägem Ausweichen. Sie bildeten ein Spalier, durch welches sie gehen mußte, und ärger als dieses war es, sich von den unzüchtigen Blicken verfolgt zu fühlen, das Lachen vernehmen zu müssen, das sonst bei Nacht aus Wirtshäusern klang, wenn sie beieinander hockten und Zoten erzählten.
Manchmal in der Dämmerung und am Abend dünkte es ihr, es gehe jemand hinter ihr her. Einst drehte sie sich um, und wirklich sah sie einen Menschen. Der Mensch trug einen Havelock; er trat dann hastig in ein Tor. Wenige Tage später ereignete sich das gleiche, aber nun erschrak sie zu tiefst, weil sie Herrn Carovius erkannt zu haben glaubte.
Eines Abends verließ sie das Haus, da bemerkte sie dieselbe Gestalt an der Kirche drüben. Und als sie zögerte und überlegte, kam noch eine andere Gestalt hinzu. Es schien ihr, als ob dies Philippine sei. Sie sprachen leise miteinander, aber Lenore konnte sie nicht genau sehen, der Schnee fiel zu dicht, die Laterne war zu weit.
Sie wußte nicht, weshalb, aber plötzlich hatte sie Angst um Daniel. Bloß um ihn; ihm drohte Gefahr, so schien es ihr, wenn sie nicht umkehrte. Und sie stürmte die Treppe hinauf [342] bis zur Dachkammer. Sie pochte an die Tür; kein Laut. Sie öffnete; es war finster. Aber sie sah, daß sich sein Körper im finsteren Raum gegen das Schneelicht draußen abhob. Er saß am Klavier, hatte die Arme auf den Deckel und den Kopf zwischen die Hände gestützt. Mit einem süßen Weheton eilte Lenore hin und umschlang ihn.
Daniel nahm sie auf seinen Schoß, drückte ihren Kopf an seine Brust und lachte mit offenem Mund und gleißenden Zähnen, aber ohne einen Laut. So lachte er jetzt oft.
So lachte er über die Ränke, die die Sängerin Varini, seine erbittertste Feindin, gegen ihn spann und die zur Folge hatten, daß er beim Theater überall auf Widerstand und Mißtrauen stieß.
So lachte er über die anonymen Schmähbriefe, mit denen ihn seine Mitbürger bedachten, und die er in naiver Wißbegier las, weil er erfahren wollte, bis wohin sich Unflätigkeit und hündisch-feiger Haß verirrten.
So lachte er, als die Absage der Freifrau von Auffenberg kam. Sie schrieb ihm, daß ihre Konstitution geschwächt sei und daß sie infolgedessen den Winter auf ihrem Landgut bei Hersbruck verbringen werde. Aber Daniel erfuhr, daß sie häufig in der Stadt war und die Einrichtung regelmäßiger musikalischer Abende getroffen hatte, was sie unter seiner Herrschaft nie zu tun gewagt. Andreas Döderlein war nun ihr Beirat; da konnte sie schwelgen und schwärmen und in Stickluft und künstlichem Aroma ihre kraftlose Seele bis zum Überdruß betäuben.
Und so lachte er über die wöchentlich wiederkehrenden Angriffe des »Fränkischen Herold«, die ihm ins Haus geschickt wurden; es waren schlaue und bissige Sticheleien, erschnüffelte [343] Heimlichkeiten, breitgewalktes Hörensagen, perfide Verdächtigungen des Künstlers, des Menschen.
In den Artikeln war stets vom Gänsemännchen die Rede. Daniel fragte sich verwundert, worauf der Name zielen mochte. Das Gänsemännchen wurde zu einer Art von humoristischem Original erhoben. Was gibt es denn Neues vom Gänsemännchen? lautete etwa der Titel, oder man stieß auf folgende kurze Notiz: Das Gänsemännchen lenkt schon wieder die Aufmerksamkeit der Musikfreunde auf sich; es versteift sich darauf, die Oper Stradella durch Einfügung eines Trauermarsches eigenen Fabrikats genießbarer zu machen, und die ergebenen Hausvögel, die es unter den Armen trägt, haben es für dieses Vornehmen mit lieblichem Dankesgeschnatter belohnt.
Die Geburtsstätte dieser ausgezeichneten Leistungen auf dem Gebiet journalistischen Witzes war der Stammtisch im Krokodil. Wenn je in der Welt ehrliche Mannestränen gelacht wurden, so geschah es bei Abfassung solcher Nachrichten über das Leben und Treiben des Gänsemännchens. Der Redakteur Weibezahl war der Protokollführer dieser geistigen Wettkämpfe, bei denen sich am meisten Herr Carovius hervortat. Herr Carovius schöpfte aus sicheren Quellen, wie es im Zeitungsdeutsch hieß, und jeden Abend überraschte er die Tafelrunde mit neuen Köstlichkeiten für Weibezahls Aktentasche.
Davon wußte Daniel nichts, aber das Gänsemännchen, als Wort wie als Gestalt, verwob sich in sein Denken und gewann irgendwo und -wie im Zeitverlauf eine verwandelte Wesenheit.
Eines Tages schrieb die Hofrätin Kirschner an Daniel und ließ ihn wissen, daß sie nichts mehr mit ihm zu schaffen haben wolle. Zugleich forderte sie das Geld zurück, das sie [344] ihm geliehen hatte, und er konnte es nicht aufbringen. Im Theater stand er bereits in Vorschuß; einen Freund besaß er nicht; Monsieur Rivière, der einzige, der vielleicht hätte helfen können, war nach Frankreich abgereist.
Die Sache lief den üblichen Weg; ein Advokat stellte eine Frist; als die verstrichen war, wurde der gerichtliche Zahlungsbefehl ausgefertigt, dann kam der Gerichtsvollzieher, und in Ermangelung anderer Gegenstände von Wert pfändete er den Flügel.
Der Einspruch Daniels hatte keine aufhaltende Rechtskraft. Noch ein paar Tage, und das Klavier mußte versteigert werden.
Es war ein trüber Januarmorgen, da trat Philippine in seine Kammer.
»Du, Daniel,« begann sie, »willst Geld von mir haben?«
Daniel drehte langsam den Kopf und musterte sie erstaunt.
»Hab Geld genug,« fuhr sie mit heiserer Stimme fort, und ihre Augen glitzerten gläsern unter den Simpelfransen, »hab's pfennigweis zusammengescharrt von kleinauf, Jahr um Jahr; kann dir geben, was d'für die Hofrätin brauchst. Schmeiß es ihr hin, der alten Hadltruth. Sag zu mir: bitt dich, Philippine, gib mir das Geld, und es liegt auf'm Tisch.«
»Du bist wohl närrisch?« erwiderte Daniel, dem das Mädchen auf einmal unheimlich wurde, »mach, daß du hinauskommst.«
Da packte Philippine, außer sich vor Wut, seine Hand, und ehe er es hindern konnte, biß sie ihn unterhalb des kleinen Fingers ziemlich tief ins Fleisch. Mit einem dumpfen Schrei schüttelte Daniel sie ab und stieß sie zurück. Sie sah ihn frohlockend an, doch ihr Gesicht war gelb geworden.
»Geh zu, Daniel,« sagte sie bettelnd, »sei nit so garstig mit mir. Alleweil so garstig, alleweil so neidisch, geh zu.«
Dies infame Lächeln, und die Haare über den Augen, und [345] die roten, plumpen Hände, und die Schneeflocken auf dem zu kurzen Mantel, und unten der Saum des knallroten Kleids, und auf dem Hut das giftgrüne Band; Daniel verspürte ein Grausen wie beim Anblick des häßlichsten und verderblichsten Bildes, das ihm aus der Menschenwelt entgegentreten konnte. Aber indem er die Augen abwandte, kam Mitleid über ihn, als ahne er plötzlich, daß dieses Wesen an ihn gekettet war durch Bande, die erst in allen Finsternissen unterirdischer Labyrinthe liefen, bevor sie zu ihm gelangten. Was sie getan, hatte ihn in Bestürzung versetzt, doch als Offenbarung einer Natur überraschte es ihn zugleich und gab ihm zu denken.
Er ging zum Waschtisch, um die blutende Hand ins Wasser zu tauchen. Philippine nahm ein frisches Schnupftuch aus der Kommode und reichte es ihm zum Verbinden. Er sah sie durchdringend an und sagte: »Was bist denn du für eine? Was steckt denn für ein Teufel in dir? Nimm dich in acht, du Jasonphilippstochter, nimm dich in acht.«
Da aus diesen Worten ein Ton von Güte klang, vibrierte es seltsam in Philippines Gesicht. Ihre Züge waren wie zum Grinsen verzerrt; aber es war dennoch kein Grinsen. Nach einer kurzen Weile zog sie eine lederne Börse aus ihrer Manteltasche und brachte zwei in ein Papier gewickelte Hundertmarkscheine sowie ein Goldstück hervor. Sie entfaltete die Scheine und das Papier, legte erstere samt dem Goldstück auf den Tisch und reichte Daniel das beschriebene Blatt.
Er las: Ich unterzeichneter Daniel Nothafft bin der Philippine Schimmelweis zweihundertundzwanzig Mark schuldig und werde ihr das Geld vom heutigen Tage an mit fünf Prozent verzinsen.
»Damit zahlst den Gerichtsvollzieher und bist aus der Schlemassel,« redete Philippine eigentümlich dringend auf ihn ein. »Kannst doch nit auf'm Nudelholz Klavier spielen, ist ja dein Handwerkszeug, der Klapperkasten. Unterschreib und du hast Ruh.«
[346] »Woher ist das Geld?« fragte Daniel. »Wie kommst du zu so viel Geld? Sprich die Wahrheit!« Und er hörte auf einmal Thereses Stimme: das viele schöne Geld, das viele schöne Geld ...
Philippine biß an ihren Nägeln. »Das geht dich nix an,« erwiderte sie grob, »g'stohlen is es nit. Übrigens kann ich dir's ja sagen,« fuhr sie eilig fort, als sie sein Mißtrauen bedrohlich werden fühlte, »die Mutter hat mir's zugesteckt. Damit ich nit ganz armselig dasteh, wenn was passiert. Denn der Vater, der möcht mich am liebsten verrecken lassen. Heimlich hat sie's beiseite geschafft, und ich hab ihr beim Kruzifix schwören müssen, daß niemand was erfährt.«
Diese Schauergeschichte veranlaßte Daniel zu bedenklichem Kopfschütteln. Er spürte die Lüge, aber von Philippines Blick und Wort ging eine sonderbare Gewalt aus. Er war unschlüssig, er überlegte. Seine Arbeit stand auf dem Spiel. Wochen konnten verfließen, Monate, ehe er wieder zu einem Instrument gelangte. Philippines Dienstwilligkeit war ihm rätselhaft, alles was sie sagte, war abstoßend und gemein, aber sie brachte Hilfe, und dem gegenüber mußte er die warnenden Stimmen ersticken.
Ist ja nur Geld, dachte er verächtlich und setzte sich hin, um seinen Namen auf den Zettel zu schreiben.
Philippine zog die Schultern hoch hinauf und wagte nicht zu atmen, bis er ihr den Zettel wortlos überreichte. Dann blickte sie ihn flehend an und sagte: »So Daniel, jetzt darfst mich aber nimmer wie eine räudige Katz behandeln.«
Man versprach sich heuer sehr viel vom Fastnachtszug, und am Karnevalsdienstag war nachmittags die ganze Stadt auf den Beinen.
[347] Daniel war gerade auf dem Nachhauseweg, als er an der Ecke der Theresiengasse in den Tumult geriet. In lässiger Neugier blieb er stehen, und bald zeigten sich die ersten Gruppen des Zuges: drei Herolde in prächtigen, mittelalterlichen Gewändern, und hinter ihnen berittene Ratsherren.
Hernach kam auf einem Schubkarren eine zum Tod verurteilte Hexe; ihr Gesicht war scheußlich bemalt, und in der Hand schwang sie eine gewaltige Schnapsflasche. Darauf folgte eine Schar bezopfter Chinesen, denen wieder eine Gesellschaft tanzender Kameruner. Dann kam ein Riese, der siebenundzwanzig Maßkrüge trug; dann eine Damenkapelle, aus lauter alten Weibern bestehend; dann ein Bauerngemeindewagen mit der Aufschrift: die Steueranbeter; dann ein Rauchklub mit dem schwedischen Zündholzhändler; dann ein Wagen mit dem aus Bierfässern gebauten Spittlertor; dann die sogenannte Funkengarde; ferner eine Amme mit einem erwachsenen Wickelkind, welches Husarenstiefel trug; die sieben Schwaben dann, die auf Velozipeden fuhren; eine Chaise mit einer lustig herausgeputzten englischen Familie; ein Fuhrwerk, auf welchem Schriftgelehrte saßen und das eine Tafel zeigte: die Undsoweiterer, auch Etceteristen geheißen.
Zuletzt kam ein Wagen, auf dem sich eine aus Brettern, Reifen, Ton, alten Lappen und altem Eisen geschickt verfertigte Nachahmung des Gänsemännchen-Brunnens befand. Das Männchen selbst war mit einem zerschlissenen Sammetröckchen bekleidet, aus dessen Taschen überall gerollte Notenblätter hervorschauten. Statt des Hütchens hatte es eine verrostete Pfanne auf dem Kopf, und an den Füßen staken ein paar alte Lackschuhe. Unter jedem Arm trug es eine Gans. Die Gänse waren aus Brotteig hergestellt und hatten nicht Gänseköpfe, sondern die Köpfe von Frauen, künstlich bemalt und mit sogenannten Schussern in den Augenhöhlen. Das Gesicht zur Linken sah melancholisch, das zur Rechten vergnügt aus.
[348] Um diesen Wagen herrschte das größte Gedränge, und ein unbändiges Hallo erhob sich jedesmal, wenn er neuen Zuschauergruppen in Sicht kam, auch dort, wo die Leute das Beziehentliche der Darstellung nicht verstanden. Pulzinells hieben mit ihren Pritschen in die Luft, Indianerhäuptlinge umtanzten ihn schreiend, ein Mephistopheles machte Purzelbäume, auf Steckenpferden reitende Ritter salutierten, und Kinder mit Wachsmasken vor den Gesichtern schrien ohrenbetäubend.
Mit ziemlich teilnahmlosen Blicken hatte Daniel den vorhergehenden Schabernack betrachtet, der ihm nur als eine Ausgeburt spießbürgerlichen Behagens erschien. Da kam der Wagen mit dem falschen Gänsemännchen. Oben stand der Bildhauer Schwalbe, toll und voll betrunken, neben ihm, trotz der Kälte in Hemdärmeln, der Maler Krapotkin. Ein ungeheuer dicker Jüngling, seines Zeichens Schulamtskandidat, hatte den Einfall, den Titeldruck von einem Exemplar des »Fränkischen Herold« an das Hütchen des Gänsemännchens zu heften und erntete damit bei den Wissenden großen Jubel.
Der Maler Krapotkin erkannte Daniel. Er rief ihn an, warf Kußhände hinunter, ließ sich eine Pritsche reichen und ahmte damit die Gesten eines Musikdirigenten nach, der Schulamtskandidat schleuderte eine Handvoll Bretzeln gegen den Platz, wo Daniel stand, eine Posaune begann zu schmettern, der Engländer streckte erst den Kopf aus der Chaise und hopste dann mit einer Stange, auf welcher weibliche Gewänder und ein Federhut mit einem Schleier hingen, auf Daniel zu, auf dem Gambrinuswagen wurde ein frisches Bierfaß angezapft, und an den Fenstern der Häuser drängten sich lachende Menschen.
»Ihr habt ja das Gitter vergessen!« rief Daniel mit lauter Stimme denen auf dem Gänsemännchen-Wagen zu.
»Was hat er gesagt?« fragten sie und sahen einander [349] verblüfft an. In der Zuschauermenge trat ein neugieriges Schweigen ein, und viele blickten verwundert auf Daniel.
»Ihr habt das Gitter vergessen!« wiederholte er mit blitzenden Augen, »das geschmiedete Gitter. Ohne seinen Schutz ist das arme Gänsemännchen freilich euer Hanswurst.«
Er lachte still, mit offenem Munde und gleißenden Zähnen und entzog sich eilig den zahllosen Gaffern. Und in einem einsamen Gäßchen angelangt, fing er mit frenetischem Gesichtsausdruck an zu singen: »Den du nicht verlässest, Genius, wirst ihn heben mit den Feuerflügeln; wandeln wird er wie mit Blumenfüßen über Deukalions Flutschlamm, Python tötend, leicht, groß, Pythius Apollo!«
Einige Wochen darnach ereignete es sich, daß eine wirkliche Sängerin zu Daniel kam, und daß er von ihr, in wunderbarer Vollendung des Gesangs, mehrere von den Liedern hörte, die er komponiert und die er schon gänzlich von der Welt vergessen geglaubt.
Es war dies ein sehr geheimnisvoller Besuch. Eines Nachmittags, bei schrecklichem Schneetreiben, hatte es an der Wohnung unten geläutet, und als Gertrud öffnete, sah sie eine schwarzverschleierte Dame vor sich stehen, die den Kapellmeister Nothafft zu sprechen verlangte. Gertrud führte sie zu Daniel hinauf; die Fremde sagte ihm, sie habe sich seit langem gewünscht, seine Bekanntschaft zu machen, und da sie, auf der Durchreise nach Italien begriffen, durch die Erkrankung einer nahen Angehörigen genötigt, hier habe Aufenthalt nehmen müssen, sei ihr dies wie ein Wink des Schicksals erschienen, und sie komme nun, ihn zu begrüßen, vor allem aber, ihm für die Lieder zu danken, die ihr einstmals, in einer schweren Stunde ihres Lebens, ein Freund geschenkt habe.
[350] Sie sprach mit einem Akzent, der nordisch klang, dabei leicht, fließend und wie jemand aus der großen Welt. Daniel fragte, mit wem er das Vergnügen habe, da lächelte sie und bat um die Erlaubnis, ihm ihren Namen vorenthalten zu dürfen; es sei ja nichts daran gelegen, wie sie heiße; vielleicht denke er späterhin lieber an eine Unbekannte, die ihm nur ihre Verehrung und Dankbarkeit habe beweisen wollen, als an ein Fräulein Soundso; als Namenlose hoffe sie besser in seinem Gedächtnis zu bleiben wie als eine, von der man nur wisse, was alle von ihr wüßten.
Die Mischung von Scherz und Ernst, von Geist und Empfindung in den Worten der Fremden behagte Daniel wohl. Er antwortete zwar knapp und kühl, es war jedoch zu bemerken, daß er sich mit der Besucherin freute, brachte sie ihm doch zum Bewußtsein, daß sein Geschaffenes nicht in einen echolosen Abgrund gesunken war. Nach einer Weile kam das Gespräch neuerdings auf die Lieder, und da sagte die Fremde, sie möchte ihm gern das eine oder das andere Lied vorsingen. Daniel war gleich damit einverstanden, er holte die Noten hervor, setzte sich aus Klavier, und die rätselhafte Frau fing an zu singen. Schon bei den ersten Tönen horchte Daniel hoch auf, eine solche Stimme hatte er noch nie vernommen; so weich, so rein, so seelenvoll, so über alle Schule und Konvention hinaus. Nach dem ersten Lied sah er befangen an der Sängerin empor und murmelte: »Wer sind Sie denn? Wer sind Sie?«
»Keine Recherchen, bitte,« erwiderte die Sängerin lachend und über das mittelbare Lob, das ihr sein Benehmen spendete, froh errötend, »das nächste noch, das Eichendorffsche.«
Gertrud, die sich in ihrem vernachlässigten Anzug nicht länger als nötig war hatte zeigen wollen, war wieder in ihre Küche hinuntergegangen; jetzt trat, nach schüchternem Pochen, Lenore ein. Als sie die Stimme gehört, war sie überrascht in den Flur geeilt, und dann hatte sie nicht widerstehen können, sie wollte die Sängerin sehen.
[351] Daniel nickte ihr mit strahlenden Augen zu, die Fremde grüßte gelassen und heiter, hierauf begann sie das nächste Lied, dann das dritte, und so alle sechs. Hinter der Tür aber stand der alte Jordan, hatte die Hände vor das Gesicht gedrückt und lauschte erschüttert.
»So, nun muß ich aber fort,« sagte die Fremde, als sie das letzte Lied geendet hatte. Sie reichte Daniel die Hand und fügte hinzu: »Es war eine schöne Stunde.«
»Es war eine der schönsten, die ich erlebt habe,« antwortete Daniel.
»Leben Sie wohl.«
»Leben Sie wohl.«
Und die fremde Dame ging und hinterließ nichts als die Erinnerung an ein Glück, das je märchenhafter wurde, je weiter es die stürmische Zeit entrückte. Daniel sah sie nie wieder, hörte nie wieder von ihr.
Während des Gesanges war auch Gertrud unten im Flur gestanden und hatte gelauscht. Sie kannte jeden Ton eines jeden Liedes; jede melodische Figur in der Begleitung war ihr wie ein altvertrautes Bild, und sie hatte auch sogleich begriffen, daß da eine begnadete Künstlerin sang.
Aber wie eigen es doch war: sie spürte nichts dabei. Es regte sich nichts in ihr. Ihr war, als sei ein lebendiger Strom in ihrer Brust versiegt und hätte nur Sand und Steine übrig gelassen. Dieses Nichtfühlen äußerte sich wie eine bohrende Gewissensqual.
»Mein Gott, mein Gott,« stöhnte sie, »was ist mit mir geschehen!« Sie schlug die Hände zusammen.
Am Abend ging sie in die Frauenkirche und betete lange. Das Gebet beruhigte sie jedoch nicht und verstörter als sie ausgegangen war, kehrte sie wieder heim.
[352] Die Wohnzimmertür war offen; Daniel und Lenore saßen unter der Lampe und lasen gemeinsam in einem Buch. Der Säugling in der Wiege regte sich eben; Lenore hatte deshalb die Türe offen gelassen, damit sie das Kind hören konnte, wenn es aufwachte. Gertrud nahm das Kind in die Arme, beschwichtigte es und trat mit ihm auf die Schwelle des Wohnzimmers. Die beiden wandten ihr den Rücken zu und waren in ihrer Lektüre so vertieft, daß sie von Gertruds Anwesenheit nichts merkten.
Da kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über Gertrud, und sie wußte um ihre Schuld, die Schuld, die zu ergründen sie so viele Wochen vergeblich gegrübelt hatte.
Sie besaß nicht Liebeskraft genug, das war ihre Schuld. Sie hatte etwas auf sich genommen, was über ihr Vermögen ging. Sie hatte eine Ehe auf sich genommen ohne die dazu erforderliche Stärke des Herzens.
Die Ehe war ihr als das Heiligtum der Heiligtümer erschienen. Die Verbundenheit mit dem Mann, den sie geliebt, war ihr gleichen Sinnes gewesen wie die Verbundenheit mit Gott. Als sie aber dieses Band zerrissen sah, stürzte die Welt in einen Abgrund, unermeßlich weit weg von Gott. Und nicht ihr Gatte erschien ihr als der Ungetreue, nicht ihre Schwester war ihr eine Schuldige, nein, sie selbst war ungetreu und schuldig in ihren Augen. Sie hatte sich nicht bewährt, hatte sich über ihre Kraft vermessen, und Gott hatte sie verworfen. Diese Überzeugung befestigte sich unumstößlich in ihrer Brust.
Und da ihr im Bunde mit Daniel die Musik ein Göttliches geworden war, erblickte sie jetzt, wo dieser Bund zerstört war, das Gefährliche und zu Meidende wie ehedem darin, und sie verstand es also, warum ihr Gefühl stumm geblieben war.
Doch wollte sie sich eine letzte Gewißheit verschaffen. Eines Morgens ging sie zu Daniel hinauf und bat ihn, ihr eine Stelle aus der »Harzreise« vorzuspielen, den Schluß [353] des langsamen Mittelsatzes, der sie immer ganz besonders ergriffen hatte. Ihre Bitte klang so dringlich, ja angstvoll, daß Daniel ihr willfahrte, trotzdem er keineswegs in der Stimmung war. Indes Gertrud zuhörte, wurde sie bleicher von Minute zu Minute. Alles bestätigte sich furchtbar; was früher Wonne gewesen, war nun Qual; die Töne und Harmonien wirkten wie etwas Ätzendes auf ihr Inneres, und der Schmerz, den sie empfand, war so ungeheuer, das sie nur mit großer Selbstbeherrschung imstande war, aufrechten Schrittes das Zimmer zu verlassen. Voll Unruhe schaute ihr Daniel nach.
Als sie unten angelangt war, vernahm sie ein wunderlich klingendes Geräusch aus ihrer Kammer. Sie ging hin und sah, daß die kleine Agnes in die Ecke des Raumes gekrochen war, wo die Harfe stand und mit einem Messinglöffelchen emsig gegen die Saiten schlug, wobei sie freudig lallte. Gertrud spürte einen unbestimmten Schrecken; sie packte die Harfe und schleppte sie in die Küche hinaus, und dort schraubte sie die Saiten aus dem Rahmen, rollte sie zusammen, versteckte sie in eine Schublade und trug den leeren Rahmen in die Rumpelkammer auf den Dachboden.
»Was soll ich tun?« flüsterte sie vor sich hin und sah sich hilfesuchend auf dem Dachboden um. Sie hatte Sehnsucht nach Frieden, und hier schien es ihr friedlich, darum blieb sie eine Weile und lehnte sich mit geschlossenen Augen an einen Balken.
Was soll ich tun? fragte sie sich Tag und Nacht. Ich kann meinem Mann nichts mehr sein; nur des Kindes halber ihm im Weg zu stehen, dazu habe ich kein Recht, argumentierte sie. Sie sah, wie er litt und wie Lenore litt, jedes durch sich selbst und eins durchs andere und dann noch durch die Gemeinheit der Menschen, da dachte sie: wär ich nicht da, alles wäre gut. Ihr dünkte, ja, sie war endlich dessen sicher, daß alle Wahrheit, die er ihr gegeben, nur den Zweck gehabt hatte, die eine Lüge zu übertünchen, die sie glauben lassen sollte, [354] ihr Dasein sei eine Notwendigkeit für ihn. Das Gewicht dieser Lüge drückte ihn zu Boden, das wußte sie, und sie wollte ihn davon befreien; aber wie, das wußte sie nicht. Und wenn Daniel und Lenore einander in Ehren angehörten, dann standen sie auch vor der Welt gerechtfertigt da, vor der Welt und vor Gott; aber wie das zu erreichen wäre, wußte sie nicht.
Und sie suchte und suchte, mit schwerfälligen, jedoch beharrlichen Gedanken. Es war, als liefe sie fortwährend um einen Punkt im Kreise herum und könne nichts anderes tun als auf diesen einen Punkt starren. Jeden Morgen um fünf Uhr stand sie auf und ging in die Kirche. Sie betete mit einer Leidenschaft, die ihr Herz physisch erschöpfte.
Eines Morgens kniete sie noch verzweifelter als sonst am Altar, da glaubte sie plötzlich ein Stimmchen zu hören, welches ihr zurief: du mußt dich umbringen.
Sie fiel in Ohnmacht, und Leute eilten herbei, die ihre Stirn mit Wasser benetzten. Da konnte sie aufstehen und nach Hause gehen. Ein eigentümlich weher und verträumter Zug lag um ihren Mund.
Sie wollte sticken, sie erinnerte sich, daß ihr diese Beschäftigung, als sie noch Mädchen gewesen, die beklommensten Gedanken verscheucht hatte. Aber jedes Gewebe ihrer Hand wurde zu dem Spruch: du mußt dich umbringen.
Schluchzend sank sie an der Wiege der kleinen Agnes hin, aber das Kind sagte deutlich: du mußt dich umbringen, Mutter.
Lenore trat zur Tür herein; um ihre Stirn leuchtete genossenes Glück, ihr ganzer Leib war Glück, ihre Lippen zitterten vor Glück, und ihre Augen sprachen: du mußt dich umbringen, Schwester.
Philippine stand am Herd und raunte es in die Kohlenglut: bring dich um, Gertrud, und der Vater holte sich seinen Teller mit Essen, bedankte sich schüchtern und murmelte im Hinausgehen: bring dich um, Tochter, glaub mir, es ist das beste.
[355] Ging sie an einem Brunnen vorüber, so zwang es sie an den Rand, und die Tiefe lockte mächtig. Aus jedem Becher, den sie hielt, um zu trinken, schaute ihr Ebenbild sie an mit Blicken von jenseits des Grabes. An einem Sonntag stieg sie auf den Vestnerturm, ihr Auge schweifte mit Abschiedskummer über das ebene Land, und in wohligem Grauen lehnte sie sich über die Brüstung des Fensterchens. Doch der Türmer hatte sie beobachtet und umklammerte gebieterisch ihre Arme.
Der Hahn, der krähte, krähte den Tod. Die Uhr, die tickte, tickte den Tod. Der Wind, der wehte, wehte den Tod. Du mußt dich umbringen, du mußt dich umbringen, davon war die Luft voll, die Erde, das Haus, die Kirche, der Morgen, der Abend und der Traum.
Im April wurde Lenore krank und bekam das Fieber. Gertrud wachte Tag und Nacht an ihrem Bett und pflegte sie mit Aufopferung. Aus Angst um Lenore irrte Daniel verstört umher, und wenn er an ihr Lager trat, hatte er für Gertrud keinen Blick. Als es Lenore besser ging, legte sich Gertrud zum Schlafen nieder, denn sie war sehr müde. Sie konnte aber nicht schlafen, und sie stand wieder auf.
Mit bloßen Füßen ging sie in die Küche, wußte jedoch nicht, was sie dorten solle. Es war nur die brennende Unruhe ihres Herzens gewesen, die sie von ihrem Lager aufgescheucht hatte. Die Glieder waren ihr so schwer, aber an keinem Platz mochte sie weilen. Später kam Daniel aus der Stadt und brachte ihr eine silberne Spange, die er an ihrem Handgelenk befestigte. Hierauf berührte er ihre Stirn mit den Lippen und sagte: »Ich danke dir, daß du so gut zu Lenore warst.«
Gertrud blieb wie angewurzelt stehen. In ihrem Innern schrie es fortwährend; es war, als wälze sich in ihrer Brust ein tödlich verwundetes Tier in seinem Blut. Daniel war schon längst in seiner Stube, aber sie stand noch immer. In düsterer Bedächtigkeit löste sie die Spange wieder von ihrem Gelenk, und sie glaubte ein häßliches Mal dort wahrzunehmen, [356] wo das Metall die Haut berührt hatte. Sie ging in ihre Kammer, öffnete das Spind und vergrub das Schmuckstück tief unter einem Stoß weißer Wäsche.
Sie hatte nur den einen Wunsch, zu schlafen. Aber sobald sie die Augen zumachte, begann ihr Herz mit verdoppelter, verdreifachter Geschwindigkeit zu klopfen. Dann mußte sie, nach Atem ringend, in der Stube auf- und abgehen.
Ein paar Tage später geschah es, daß sie bei strömendem Regen ziellos in den Straßen herumlief. Jeden Augenblick fürchtete, hoffte sie, umzufallen und nichts mehr von sich und der Welt zu wissen. An zwei Kirchen war sie vorüber gekommen; die Tore waren versperrt gewesen. Es dämmerte schon, da kam sie zur Pflaumschen Apotheke. Sie schaute durch die Glastüre in den Laden. Der Provisor Seelenfromm stand an dem langen Tisch und rieb eine Mixtur in einem Mörser. Endlich ging sie hinein und fragte den Provisor, ob er ihr kein Schlafmittel verkaufen könne. Er antwortete, ja, das könne er und was es denn sein solle. »Eines, bei dem man halt recht lang nicht mehr aufwacht,« sagte sie und lächelte ihm zu, um ihn ihrer Bitte geneigt zu machen. Es war das erste Lächeln, das seit vielen Tagen ihr abgehärmtes Gesicht verschönte. Der Provisor wollte ihr eben ein Mittel vorschlagen und setzte sich hierzu in eine etwas eitle Positur, da er die Gelegenheit benutzen wollte, um ein wenig mit der von ihm bewunderten Frau zu scharmuzieren, da kam der Apotheker selbst, und als er vernommen hatte, worum es sich handelte, warf er einen durchdringenden Blick auf Gertrud und sagte: »Gehen Sie nur erst zum Doktor, liebe Frau, und lassen Sie sich was verschreiben. Ich habe mit solchen Sachen schon mancherlei Unannehmlichkeiten gehabt.«
[357] Als Gertrud sich endlich bis nach Hause geschleppt hatte, saß Philippine an der Wiege der kleinen Agnes und schaukelte die Wiege unter leisem Gesumm. »Wo ist denn Lenore?« fragte Gertrud.
»Wo soll sie sein,« erwiderte Philippine gehässig, »bei deinem Mann droben.«
Gertrud hörte, daß Daniel Klavier spielte. Sie hob lauschend den Kopf.
»Sie hat gesagt, ich soll sie nach Glaishammer begleiten,« fuhr Philippine fort, »sie will zu einer Waschfrau gehn, die soll für euch waschen.«
»Ach, wozu brauchen wir denn eine Waschfrau,« antwortete Gertrud müde, »dazu sind wir ja zu arm. Das kostet ja alles Geld. Alles ein Stück Herzblut von Daniel. Nein, laß das nur. Geh nicht nach Glaishammer. Ich will selber waschen.«
In derselben Sekunde wußte sie aber schon, daß sie nie mehr waschen werde. Die Lampe brannte so traurig, das Kindergesichtchen lugte so blaß aus dem Linnen, Philippine kauerte so unheilvoll auf der Erde, aber das war nur jetzt, nur jetzt, sie konnte das alles mit hinauftragen in eine bessere Welt.
Sie beugte sich über das schlafende Kind und küßte es lange, lange, mit heißen Lippen, inbrünstig. Eine lauernde Unruhe malte sich in Philippines Zügen. »Du, Gertrud, du kommst mir aber spanisch vor,« sagte sie.
Gertrud ging in Lenores Stube hinüber; zitternd stand sie im Finstern und überlegte. Manchmal zuckte sie zusammen, weil sie Schritte vernahm und das Öffnen der Tür erwartete. Die Ungeduld, die sie fühlte, war kaum mehr auszuhalten. Da erinnerte sie sich des Dachbodens und wie still es neulich droben gewesen war. Dort konnte sie keiner stören. Sie beschloß hinaufzugehen, und auf dem Weg ging sie noch in die Küche und nahm eine dicke Schnur mit, die von einem Zuckerhut stammte.
[358] Als sie an Daniels Zimmer vorbeikam, sah sie, daß die Tür halb offen war. Er spielte noch, zwei Kerzen standen auf dem Klavier, Lenore war an der Seite hingelehnt, hatte den Kopf auf den Arm gestützt und trug ein Kleid von kargem Blau, welches an ihrer schönen Gestalt ruhig herabfloß.
Mit großen Augen betrachtete Gertrud dieses Bild. Ein unsägliches Drängen, ein Emporlangen und schmerzliches Zurücksinken lag in Daniels Spiel. Gertrud ging unhörbar weiter, ins Dunkel hinauf, und tastend fand sie sich zurecht.
Als eine halbe Stunde verflossen war, begann sich Philippine über das Ausbleiben Gertruds zu wundern. Sie schaute im Wohnzimmer nach, dann in Lenores Zimmer, dann eilte sie die Stiege hinauf und spähte durch die offene Tür in Daniels Stube. Daniel hatte aufgehört zu spielen und unterhielt sich mit Lenore. Philippine kehrte um; auf der Stiege begegnete ihr der Inspektor, der von seinem abendlichen Gang nach Hause kam. Sie zündete eine Kerze an und schaute in der Küche nach. Gertrud war nicht drinnen.
Es regnet doch, und ihr Mantel hängt am Halter und ihr Schirm steht da, fortgegangen kann sie also nicht sein, dachte Philippine. Sie setzte sich auf das Küchenbänkchen und starrte vor sich hin.
Etwas gräßlich Ahnungsvolles war in ihr. Sie witterte ein Unglück in der Luft. Abermals war eine halbe Stunde vergangen, da erhob sie sich mit der brennenden Kerze in der Hand, und es jagte sie hin und her, von der Stiege in die Stuben und zurück.
Plötzlich fiel ihr der Dachboden ein. Als sie sich des Aussehens Gertruds entsann, wie sie das Kind geküßt hatte, fiel ihr der Dachboden ein. War doch in jedem Hause und in [359] diesem besonders, der Dachboden der Raum, der die größte Anziehung auf sie ausübte und den ihre lichtscheuen Phantasien stets zum Schauplatz erwählten.
Rasch und geräuschlos stieg sie hinauf. Sie hielt den Leuchter vor sich her, starrte gegen den Balken, an dem eine Gestalt in Frauenröcken hing und drehte sich mit einem erstickten Gurgellaut rund um ihre Achse. Es erfaßte sie eine Art von Trunkenheit, ein fürchterlicher Trieb zu tanzen, und sie erhob das eine Bein, während die Zähne krampfhaft an den Nägeln der rechten Hand herumbissen. Gleichzeitig dünkte es sie, als befehle ihr jemand mit starker Stimme: Zünde an! Zünde an!
Neben der Kaminmauer war ein Haufen von Papier und alten Zeitungen. Sie stürzte auf die Knie und schrie. »Lichterloh!« schrie sie, »lichterloh!« Dann stieß sie Laute aus, die wie Huhu und ioi-ioi klangen, halb schaudernd und halb jauchzend.
Der Papierhaufen flammte auf, dann lief sie mit markerschütterndem Gebrüll die Stiegen hinunter.
Ein paar Minuten später war das Haus in Aufruhr. Daniel stürzte die Treppe empor, hinter ihm Lenore. Aus den tiefer gelegenen Wohnungen kamen die Frauen und kreischten nach Wasser. Daniel und Lenore kehrten um und schleppten ein großes mit Wasser gefülltes Schaff hinauf. Schon wurde auf dem Platz Feuer gerufen, fremde Männer drangen ins Haus, und mit Hilfe der vielen Arme wurde der Brand im Keim gelöscht.
Der Inspektor war es, der die tote Gertrud zuerst entdeckte. In Glut und Asche stehend, brach er mit dumpfem Seufzen, wie von einem Beilhieb getroffen, zusammen. Die fremden Männer trugen den Leichnam herab, an dem die angesengten Kleider noch rauchten.
Philippine war verschwunden.
[360]Es war nun alles vorüber.
Der Besuch des Doktors war vorüber und der des Totenbeschauers; die Nachschau der behördlichen und der Feuerkommission; die Verhöre, die Protokollierungen, die Feststellungen.
Die Ursache des Brandes blieb unaufgeklärt; kein Schuldiger war zu finden. Philippine Schimmelweis hatte beteuert, die Flamme habe schon gelodert, als sie den Dachboden betreten. So nahm man an, die Selbstmörderin habe in ihren letzten Lebensminuten eine brennende Kerze umgestoßen.
Auch der Zudrang der Bekannten und der guten Freunde war vorüber. Dürre Gemüter übten sich in wohlfeilem Mitleid mit dem Kapellmeister Nothafft. Daß einer, der den Kopf so hoch getragen, ihn nun zur Erde beugen mußte, erweckte Befriedigung. Der bestrafte Übeltäter gewann wieder öffentliche Gunst. Damen der besseren Kreise erörterten die Frage, ob ein Verhältnis, welches mit Fug als ein verbrecherisches hatte bezeichnet werden müssen, so lange die arme Frau am Leben gewesen, nach Ablauf der gebührenden Frist zu einem gesetzlichen werden würde. In kupplerischer Milde waren sie entschlossen, alles Vergangene zu vergeben, im Falle dieses geschah.
Und das Leichenbegängnis war vorüber. An einem stürmischen Tag war Gertrud in Sankt Johannis begraben worden.
Der Pfarrer hatte eine Predigt gehalten, die Leidtragenden hatten ihre Hände frierend in die Manteltaschen und Müffe gesteckt. Als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, rief der Inspektor Jordan: »Lebwohl, Gertrud! Auf Wiedersehn, mein Kind!«
Ein Mann drängte sich bis an den Rand des offenen Grabes [361] vor. Das war Herr Carovius. Er stierte über seinen Zwicker hinweg den Inspektor und Daniel und Lenore an. Es schien ihm, daß die letztere in ihrer Blässe und mit dem schwarzen Gewand schöner sei als die schönste Madonna, die je ein Italiener oder Spanier auf eine unvergängliche Leinwand gezaubert.
Er wandte erschrocken den Blick ab und wäre beinahe über die aufgeworfene Erde gestolpert.
Im Hinblick auf die Haltung Daniels sagte der Apotheker Pflaum: »Ich hätte mehr Gram und Trauer erwartet, nicht solche Verbissenheit.«
»Ein harter Mensch, ein äußerst harter Mensch,« bemerkte der Provisor Seelenfromm in seinem Schmerz.
Es wurde Daniel arg verdacht, daß er die Herren und Damen vom Theater, die sich vollzählig auf dem Kirchhof eingefunden hatten, mit barschem Hochmut behandelte. Als ihm mehrere die Hand reichten, nickte er nur kurz und verkniff die Augen hinter den kreisrunden Gläsern der Brille, die er seit einiger Zeit trug.
Der Amtsrichter Kleinlein sagte: »Er sollte dankbar sein für die christliche Bestattung, denn die behauptete Sinnesverwirrung der Frau ist trotz dahingehender Zeugenschaften durchaus nicht einwandfrei erwiesen.«
Lenore blickte in das offene Grab. Sie dachte: Schuld häuft sich auf, tiefe, tiefe Schuld.
Alles dies war jetzt vorüber. Daniel und Lenore und der alte Jordan waren in ihr Haus zurückgekehrt.
In den Stuben war ihnen öde zumut. Der Inspektor schloß sich in seine Kammer ein. Nur noch selten trat er seine abendlichen Gänge an, und seine Rockärmel und seine Hosenenden [362] bekamen immer längere Fransen. Er verfiel; sein Haar wurde schlohweiß, sein Schritt unsicher, und sein Auge erlosch. Aber er war niemals krank, er beklagte sein Schicksal nie. Er war ein stiller Kostgänger, ein stiller Mann.
Lenore zog wieder zum Vater hinauf, und Daniel bewohnte wieder sein Zimmer neben der Eßstube. Auf einmal war so viel Raum geworden; er wunderte sich, daß das Fortgehen eines einzigen Menschen so viel Raum schaffen könne.
Den Tag über blieb Lenore bei der kleinen Agnes, bis Philippine kam und sie ablöste. Dort arbeitete sie auch.
Wenn sie mit dem Schreiben fertig war, mußte sie sich um die Wirtschaft kümmern. Sie konnte nicht kochen und hatte auch eine Abneigung dagegen, es zu lernen. Deshalb hatte sie es eingerichtet, daß dreimal in der Woche eine Frau kam, die jedesmal für zwei, am Montag für drei Mittage das Essen bereitete. Die Frau war bescheiden und verlangte nicht viel. Die aufgehobenen Speisen brauchten dann nur gewärmt zu werden, und am Abend gab es Wurst und Butterbrot.
Es war eine praktische Anordnung, aber niemand lobte sie dafür.
Zuerst hatte sie auch die Nächte bei dem Kind verbracht, in Gertruds Kammer. Sie ertrug es bloß drei Wochen lang. Entweder konnte sie kein Auge schließen, oder sie hatte die schrecklichsten Träume.
Da nahm sie das Kind am Abend mit in ihre eigene Stube und machte ihm ein Bettchen auf dem Sofa. Das Kind war oben viel unruhiger als dort, wo es früher gewesen, und Lenore merkte wohl, daß sie bei einem so aufreibenden Leben von Kräften kam.
Oft in der Nacht, wenn sie bang und matt das weinende Kind in den Armen hielt, faßte sie den Vorsatz, mit Daniel zu reden, aber sobald es Tag geworden, konnte sie es nicht über sich gewinnen. Ihr dünkte, als ermahne sie Gertruds Stimme aus dem Land der Toten zur Geduld.
[363] Indes fühlte sie mit Angst die Zeit nahen, wo sie der harten Pflicht erliegen mußte, und da erschien wieder Philippine als Helferin.
Im Anfang, als Jason Philipp erfahren hatte, daß Philippine täglich zu den Jordanschen Töchtern ging, hatte er ihr diesen Verkehr streng untersagt und zu wiederholten Malen. Philippine kümmerte sich nicht darum und tat, was ihr beliebte.
»Ich schlag dich tot,« schrie Jason Philipp das Mädchen an.
Philippine zuckte die Achseln und lachte frech.
Da sah Jason Philipp, daß eine erwachsene Person vor ihm stand; er fürchtete sich vor dem tückischen Blick seiner Tochter.
Lange wußte er nicht, was sie zu seinen Feinden trieb; dann kam er dahinter, daß sie in der Nachbarschaft, bei Bekannten und Fremden, überall, wohin sie den Fuß setzte, die boshaftesten Gerüchte über Daniel und dessen Familie ausstreute. Nun wurde er zahmer und wollte auch etwas von dem Ohrenschmaus abkriegen. Bisweilen ließ er sich herbei, mit Philippine ein Gespräch anzuknüpfen, und wenn sie ihm ihre Neuigkeiten erzählte, freute er sich diebisch. »Der Tag wird auch noch kommen, wo ich mein Mütchen an dem Musikemacher kühlen kann,« sagte er.
Therese lag noch immer im Bett. Willibald mußte ihr in seinen freien Stunden vorlesen, entweder aus der Zeitung oder aus einem Schundroman. War sie allein, so starrte sie regungslos gegen die Zimmerdecke.
Dann kam die Zeit, wo Willibald die Schule verließ und zu einem Fabrikanten nach Fürth in die Lehre gegeben wurde. Es war kein Zweifel, daß er einer von den pflichttreuen und nüchternen Arbeitsmenschen werden würde, die [364] der Stolz ihrer Eltern sind und mit jedem Jahr um dreißig Mark Gehalt mehr auf der sozialen Stufenleiter emporsteigen.
Der einäugige Markus trat in die väterliche Buchhandlung und wußte alsbald in der Romanliteratur von Dumas und Luise Mühlbach bis Ohnet und Zola Bescheid, und in den populären Wissenschaften von Darwin bis Mantegazza. Sein Gehirn war ein Bücherkatalog und sein Mund ein Orakel des Geschmacks von der letzten Ostermesse. Aber er liebte die Bücher nicht nur nicht, sondern all das gedruckte Zeug erschien ihm als ein lustiger Betrug an Leuten, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen. Der Kommis Zwanziger hatte die Witwe eines Käsehändlers geheiratet und betrieb einen Laden auf der Regensburger Chaussee.
»Ein miserabler Geschäftsgang,« äußerte sich Jason Philipp bei jedem Wochenabschluß. »Ich war Zeit meines Lebens ein zu großer Idealist,« pflegte er hinzuzufügen; »hätt ich mich mehr für mein eigenes als für das Wohl der andern eingesetzt, ich stünde heute nicht so belämmert da.«
Und er ging ins Wirthaus und politisierte. Er hatte sich allmählich zu einem richtigen Querulanten herausgebildet, dem niemand etwas recht machte, weder die Regierung, noch die Opposition. Wenn man ihn hörte, mußte man glauben, daß die Gegensätze sich mit Notwendigkeit auf einen geistigen Zweikampf zwischen dem Fürsten Bismarck und Jason Philipp Schimmelweis zuspitzten. Als der Kaiser Wilhelm starb, trug Jason Philipp eine Miene zur Schau, wie wenn er demnächst das Reichskanzlerpalais beziehen sollte, und als wenige Monate später in diesem denkwürdigen Jahr auch der Kaiser Friedrich seinem Leiden erlag, glich Jason Philipp dem Steuermann, von dessen Unerschrockenheit allein die Rettung des vom Sturm umhergeworfenen Schiffes abhängt.
Geborene Helden erobern stets ein Forum, wo sie sich betätigen können; hat sie das öffentliche Leben zurückgestoßen, so finden sie in der Kneipe ein freundliches Element.
[365] Eines Tages erhob sich Therese von dem Lager, auf welchem sie fünfzehn Monate verbracht hatte und schien plötzlich wieder gesund. Der Arzt sagte, es sei der eigentümlichste Fall, der ihm je untergekommen. Jason Philipp erwiderte: »Das ist der Triumph einer guten Konstitution.« Und er ging ins Wirtshaus, trank Bier, hielt zündende Reden und spielte Skat.
Aber Therese stand auf nicht wie eine Frau von sechsundvierzig Jahren, so viel zählte sie, sondern von siebzig. Sie hatte nur noch spärliche graue Haare auf dem viereckigen Kopf, ihr Gesicht war voller Runzeln, ihr Auge hart und kalt. Von der Zeit an schien sie jedoch nicht weiter zu altern; sie keifte nicht mehr, traf ihre Verfügungen kurz und bestimmt und betrachtete die wachsende Verarmung mit Ruhe.
Heringe, Kartoffeln und Kaffee bildeten ihre Nahrung; auch Philippine und Markus bekamen nichts anderes; Markus, als der ihrem Herzen Nächste, durfte sich ein Stück Zucker zum Kaffee nehmen, das war der ganze Unterschied. Auch Jason Philipp wurde auf schmale Kost gesetzt. Er wagte nicht aufzumucken.
Eine Weile sah Philippine dies mit an; endlich sagte sie zu ihrer Mutter: »Ich mag die Zichorienbrüh nimmer.«
»Dann sauf Wasser,« entgegnete Therese.
»Nein, in Dienst will ich gehen,« sagte Philippine.
»So geh in Dienst,« war die Antwort; »ein Maul weniger.«
»Deine Tochter will in Dienst gehen,« meldete sie, als Jason Philipp nach Haus kam.
Jason Philipp hatte im Kartenspiel verloren. »Meinetwegen geht sie zum Teufel,« erwiderte er übellaunig.
Am Morgen schlich Philippine auf den Dachboden und holte ihre Barschaft aus dem Loch in der Mauer. Es waren neunhundertundvierzig Mark, zumeist in Goldstücken, die sie im Lauf der Jahre gegen die Kleinmünze umgewechselt hatte. Durch die offene Luke fiel die Junisonne in ihr Gesicht, das [366] niemals jung gewesen war und das nun vor der Beute langjähriger Verbrechen wie das einer Hexe aussah.
Sie steckte das Geld in einen mitgebrachten Wollstrumpf, wickelte diesen zu einem Knäuel und schob ihn in ihr Korsett zwischen die Brüste, wobei sie sich bekreuzigte und einen ihrer albernen Heilsprüche murmelte. Ihre Kleider, Bänder und sonstigen Besitztümer hatte sie schon in einem Korb verpackt; den trug sie die Stiege hinunter, und ohne von jemand Abschied zu nehmen, verließ sie das Haus.
Ihr Bruder Markus stand mit gespreizten Beinen im Sonnenschein vor der Ladentüre und pfiff ein Liedchen. Er blickte sie mit seinem einzigen Auge an und lächelte höhnisch. »Gute Wanderschaft!« rief er ihr zu.
Philippine drehte den Kopf gegen ihn und sagte: »Du Gezeichneter, du, auf dir ist kein Segen. Dir wird's noch rotzig schlecht ergehn, das merk dir.«
So also kam sie zu Daniel. Sie sagte: »Ich will bei dir bleiben; brauchst nichts zu zahlen, wennst nicht kannst.«
Daniel hatte es längst gespürt, daß Lenore den Anstrengungen nicht mehr gewachsen war, die durch die Umstände an sie gestellt wurden.
»Willst du das Kind pflegen und bei ihm schlafen?« fragte Daniel Philippine.
Philippine nickte. Sie schaute zu Boden.
»Wenn du dich seiner annimmst und es treulich meinst mit ihm und mir, das wollt ich dir danken,« sagte er aufatmend.
Da schlug Philippine die Hände vors Gesicht, und es schüttelte sie von oben bis unten. Nicht als ob sie geweint hätte; es war etwas viel Düstereres denn Weinen. Eine dämonische Gewalt schien sie zu durchwühlen, ein gespenstischer Traum sie in einem Augenblick höheren Bewußtseins schrecklich anzufassen. Sie kehrte sich um und trottete in die Kammer, wo das Kind war und mit einem hölzernen Pferdchen spielte.
[367] Sie setzte sich auf einen Schemel und starrte versunken auf das ruhelose kleine Wesen nieder.
Daniel blieb stehen und sah ihr trübe sinnend nach.
Während einer Probe zur Traviata herrschte Daniel die Sängerin Varini an: »Achten Sie auf den Einsatz und rennen Sie nicht aus dem Tempo. Es ist ja um verrückt zu werden, wie schamlos Sie in die Galerie hinaufquietschen; das soll doch Gesang sein und nicht Beifallsgebettel.«
Die Sängerin trat hochbusig an die Rampe. Ihre beleidigte Würde bildete etwas wie einen Pfauenschweif rund um ihre Hüften. »Wie können Sie es wagen?« schmetterte sie; »sofort leisten Sie Abbitte, oder Sie fliegen noch heute. Meine Macht werden Sie kennen lernen.«
Daniel verschränkte die Arme und ließ den Blick über die Musiker schweifen. Er sagte: »Leben Sie wohl, meine Herren. Da der Direktor zwischen mir und dieser Dame zu wählen hat, besteht kein Zweifel, daß meine Wirksamkeit hier zu Ende ist. In einem Institut, wo das Fleisch höher im Wert steht als die Musik, bin ich ohnedies überflüssig.«
Die übrigen Sänger und Sängerinnen hatten sich aus den Kulissen auf die Bühne gedrängt und schauten schweigend ins Orchester. Als Daniel seinen Platz am Dirigentenpult verließ, erhoben sich auf einmal sämtliche Musiker von ihren Sitzen. Es war ein unwillkürlicher und beinahe ergreifender Ausdruck von stummer Ehrerbietung. Hatten sie diesen Mann auch nicht geliebt, ihn auch stets wie einen fremden, bösen Störenfried im Bezirk ihrer gemütlichen Neigungen empfunden, so ahnten sie doch seine Markigkeit und seinen Adel.
Die Sängerin Varini erlitt einen hysterischen Weinkrampf. Der Direktor wurde herbeigerufen. Er versprach Abhilfe und [368] forderte Daniel in einem Brief auf, sich bei der Sängerin zu entschuldigen.
In aller Kürze schrieb Daniel zurück, daß er bei seinem kundgegebenen Vorsatz beharre; er könne mit der Sängerin Varini nicht mehr arbeiten und wenn sie nicht das Feld räume, müsse er es tun. Darauf wurde er von seiner Entlassung verständigt.
Am gleichen Abend saß er mit Lenore bei Tisch und nach einem langen Schweigen teilte er ihr in wenigen Worten das Geschehene mit. Lenore hatte nur einen erschrockenen Blick als Antwort.
»Es war höchste Zeit,« sagte Daniel, ohne von seinem Teller emporzuschauen, »ich hab's satt gehabt, über- und übersatt.«
»Und wovon willst du leben, du und dein Kind?« stammelte Lenore.
Sein Auge wurde noch finsterer, als es bisher gewesen. »Du weißt doch, der Gott, der die Lilien auf dem Felde ..., ich kenn das Sprüchlein nicht weiter; bin schwach in der Bibel.«
Sie sprachen dann nichts mehr. Das Fenster war offen; in der Erde war ein geheimes Beben, die warme Luft schmeckte widrig wie süßes Öl.
Als es von den Türmen zehn Uhr schlug, erhob sich Lenore und sagte gute Nacht.
»Gute Nacht,« antwortete Daniel mit gesenktem Haupt.
So war es nun jeden Abend zwischen den beiden, denn am Tage sahen sie sich kaum.
Stundenlang saß Daniel, ohne sich zu rühren, und brütete.
Er konnte nicht vergessen. Den angesengten, rauchenden Kleidsaum nicht; die Schuhe nicht, an denen Kot von der [369] Straße klebte; das Antlitz nicht mit der verzogenen Oberlippe, die Haare, armselig in ihrem Gewirr, die ängstlich verzogene Braue.
Im Spind unter der Wäsche hatte er die Armspange gefunden, die er ihr geschenkt. Warum hat sie das Schmuckstück dort vergraben? fragte er sich. Der Seelenzustand, in welchem sie das Spind geöffnet und die silberne Spange versteckt hatte, wurde ihm so lebhaft gegenwärtig, daß er mit seinem eigenen verschmolz.
Dann entdeckte er die Harfe ohne Saiten. Er stellte sie in seine Stube, und wenn er sie anschaute, glich sie einem Gesicht ohne Fleisch.
Bin ich dir zu schwer? tönte es aus der Vergangenheit herüber. Und das andere Wort: ich will deine junggewordene Mutter sein; und dieses: ich bin ja auch eine Kreatur.
Er erinnerte sich an einige alte Briefe von ihr, die er aufbewahrt hatte. Er las sie mit der Aufmerksamkeit durch, mit der man Verträge studiert, in denen es um Gut und Blut geht. Und es waren Stickereien aus ihrer Mädchenzeit vorhanden, deren er sich jetzt versicherte, um sie wie Heiligtümer zu verschließen.
Sie wurde ihm von Tag zu Tag lebendiger. So oft er daran dachte, wie sie dagesessen, wenn er gespielt oder über sein Geschaffenes gesprochen, würgte es ihn im Halse. Und wie sie einst hergekrochen war und die Stirn auf seinen Schenkel gelegt hatte, dieses Bild war vom Schauer des unergründlichsten Geheimnisses umweht.
Es war nicht Schuldgefühl, was ihn so an die Tote schmiedete. Auch nicht Reue oder Selbstvorwurf oder die Sehnsucht, die durch die Empfindung gehäufter Versäumnisse zum Ausdruck kommt. Die Phantasie wehrte sich gegen den Tod. In ihrem schöpferischen Trotz verlieh sie der Hingegangenen eine Wirklichkeit, die sie nie besessen hatte, solange sie als wirkliche Gestalt auf der Erde gewandelt war.
[370] Für Daniel wurde sie erst jetzt zur Gestalt. Dies ist das Wunderbare und das Lasterhafte am Musiker. Ihm gehören die Dinge und die Menschen nicht, während sie sein eigen sind. Er lebt mit Schatten, und nur, was er verloren hat, wird ein Lebendiges. Losgelöst vom Augenblick greift er nach dem, der gewesen ist, nach dem gestrigen Tag und stürmt ungeduldig in den morgigen. Was er in Händen trägt, ist verdorrt, was hinter ihm am Wege liegt, ist in Blüte. Sein Denken ist ein Winter zwischen zwei Frühlingen, dem wahren, der vorüber ist, und dem kommenden, den er nur träumt und, wenn er einbricht, versäumt. Er sieht nicht, er hat gesehen; er liebt nicht, er hat geliebt; er ist nicht glücklich, er war nur glücklich. Gebrochene Augen öffnen sich im Grabe und die lebenden, die hineinblicken, jetzt alles erblicken, alles verstehen, alles verklären und schmücken, erscheinen sich vom Tod und seiner immerwährenden Dauer wie betrogen.
Jetzt wurde Gertrud zur Melodie. Was sie getan und gewirkt, war Melodie. Ihr Dumpfes wurde wach, ihr Schweigen beredt. Einst hatte er sie und Lenore geschaut, im braunen Kleid die eine, im blauen die andere, Moll und Dur, die Endpunkte seiner Welt. Nun stieg das Moll empor gleich der Nacht über der einsamen Erde und hüllte alles in Trauer. Der Schmerz nährte sich an Bildern, die einst alltäglich gewesen waren, nun aber die Leuchtkraft einer Vision bekamen.
Wie sie im Bett gelegen, rechts und links die Zöpfe und das Gesicht wächsern aus dem dunkeln Rahmen geleuchtet hatte. Wie sie eine Schüssel ins Zimmer getragen, eine Nadel eingefädelt, ein Glas an die Lippen gesetzt, einen Schuh am Fuß festgebunden, und welchen Ausdruck das Auge gehabt, wenn es warnte, bat, staunte oder lächelte. Wie unvergleichlich sternenhaft war dieses Auge auf einmal! Immer emporgeschlagen, immer erfüllt, immer gegen ihn gewendet. Unter diesem Blick fand er in einer Dämmerungsstunde das dämonisch rufende Motiv einer B-moll-Sonate; [371] eine Gebärde, deren er sich entsann, es war damals gewesen, als Lenore mit dem Myrthenkranz vorm Spiegel gestanden, gab den Impuls zu dem unterirdisch wühlenden Presto im ersten Satz eines Quartetts, und den zweiundzwanzigsten Psalm, der mit den Worten beginnt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, skizzierte er, als er von einem Traum erwachte, in welchem ihm Gertrud in stiller Haltung, unendlich blaß, das Kinn auf die Hand gestützt, erschienen war.
Doch arbeitete er nicht. Was so zu Papier gebracht wurde, drang wie aus fieberhaften Anfällen hervor. In aller Eile kritzelte er Noten hin, in schuldbewußter Eile gleichsam. Er stahl es sich selbst. Töne dünkten ihm Verbrechen. Als die ergreifende Hauptmelodie des Psalms in ihm entstand, zitterte er vom Kopf bis zu den Füßen, und wie von Furien gepeitscht verließ er das Haus, trotzdem es mitten in der Nacht war. Die wiederkehrende Baßfigur des Prestos klang wie ein schaurig-angstvoll gestammeltes: Mensch, halt den Atem an, Mensch, halt den Atem an. Und er hielt den Atem an, voller Angst, indes seine Eingebungen den eisigen Bann durchbrachen, in welchen sie eine leidenschaftliche Verhaltenheit seiner Natur gezwungen.
Denn in immer weiterem Umkreis sah er die Menschheit von sich zurückweichen, und da er sich nicht von der Zeit gefordert fühlte, verschmähte er die Zeit. Es kam dahin, daß er seine Produkte als etwas behandelte, das für die Welt in keinem Sinn bestimmt war, gegen niemand davon sprach und nie den Wunsch hatte, daß jemand von ihnen erfuhr. Je geheimer er sie hielt, je wahrhaftiger wurden sie ihm, und der Gedanke, man könne ein Werk der Musik für Geld hingeben, war ihm allmählich so unsinnig geworden wie der, daß man seine Mutter, seine Geliebte, sein Kind oder eines seiner Gliedmaßen veräußern könne.
Infolgedessen empfand er nur Ekel, wenn er von den geschickten Händlern hörte, die von der Mode hochgetragen [372] wurden. Es graute ihm vor allem, was berühmt war, denn der Ruhm der Mitwelt schmeckte und roch nach dem Gelde. Es graute ihm vor der Wirrnis der Meinungen und Urteile, vor dem Streit über Schulen und Richtungen, vor den herumziehenden Virtuosen aller Zonen und Nationen, dem Lärm, den sie zu entfachen wußten, den Wahrheiten, die sie verkünden ließen, den Lügen, in denen sie plätscherten. Es graute ihm vor Konzertsälen und Theatern, vor dem Geklimper aus den Fenstern der Bürger, vor der falschen Andacht der Menge und ihrer ohnmächtigen Verzückung.
Ihre ganze Musik roch und schmeckte nach Geld.
Er hatte sich die Lebensbeschreibungen der großen Meister angeschafft. Er erfuhr deren Not und Mühsal und kleinliche Umstände, die schale Alltäglichkeit, die zu ihrem unsterblichen Bild nun nicht mehr hinaufreichte. Doch als er eines Tages las, daß Mozarts Leichnam in einem Massengrab verscharrt worden war, schleuderte er das Buch fort und verschwor sich, dergleichen Bücher nie wieder anzufassen. In das Feuer der Vergötterung schlug der beißende Rauch des Menschenhasses; er wollte keinen sehen, er eilte aus der Stadt und hatte nicht eher Ruhe, als bis er sich in der tiefen Abgeschiedenheit eines Waldes vor jedem Menschentritt und -blick geborgen fühlte.
In der Nacht ging er durch die Gassen, stets schnell und mit gesenktem Kopf. Wenn er müde war, landete er in einer kleinen Kneipe, wo er sicher sein konnte, keinen Bekannten zu treffen. Begegnete ihm einer auf der Straße, so grüßte er nicht, sprach ihn einer an, so war er überlaut und sonderbar in seinen Antworten und entfernte sich mit einem kaustischen Witz.
Die Stube zu betreten, in der Philippine mit dem Kind hauste, hatte er im Anfang nur mit Widerwillen vermocht. Später rührte ihn an dem Kind die Bewegung und die Gestalt, er kam ein paarmal am Tage, immer nur für wenige Minuten, nahm es auf den Arm, ließ sich von seinen Händchen betasten, duldete, daß es an seiner Brille zerrte und [373] lauschte verwundert auf sein Lallen und Plappern. Philippine stand währenddessen in der Ecke, hatte die Augen niedergeschlagen und war schweigsam. Da wurde er sich drückend der Verpflichtung bewußt, die ihm durch die rätselhafte Treue dieser Person auferlegt wurde und die er auf keine Weise einlösen konnte, auch quälte es ihn, das Kind so mutterlos, so seltsam verlassen zu sehen, der helle Blick, die ausgestreckten Ärmchen quälten ihn, er hatte Furcht vor dem in der Kinderbrust noch tief schlummernden Gefühl, und es trieb ihn hinaus.
Eines Morgens im August erhob er sich bei Sonnenaufgang, bereitete sich sein Frühstück in der Küche selbst, und als er fertig war, griff er nach seinem Stock und verließ das Haus. Er wollte zu Fuß nach Eschenbach wandern.
Er wanderte den ganzen Tag mit kurzen Rasten. Nur während der heißesten Mittagszeit erbat er sich von einem Bauern, der ihn mit seinem Leiterwagen einholte, die Erlaubnis, ein Stück mitfahren zu dürfen.
Er hatte keine bestimmte Absicht, keinen Plan. Etwas Dunkles, dem er nicht widerstehen konnte, zog ihn in die Heimat.
Als er endlich das Städtchen erreicht hatte, war es tiefe Nacht und der Mond schien. Die Gassen waren wie ausgestorben. Die Fenster am Haus der Mutter waren alle schwarz, er setzte sich auf die oberste Stufe am Tor hin und es war ihm, als höre er die Atemzüge der alten Frau und des jungen Kindes, das sie behütete, durch die Fugen der Tür dringen.
Es war ihm sonderbar, zu denken, daß die Mutter von seinem Hiersein nichts wußte. Hätte sie darum gewußt, sie hätte das Tor aufgesperrt und ihn erschüttert angesehen, und wenn er nicht hätte reden wollen, hätte er den Kopf in ihren Schoß legen und still weinen müssen. Etwas anderes war nicht möglich; zu reden war nicht möglich; die Furcht aber, er werde dennoch reden, er werde erzählen müssen, [374] packte ihn so heftig, daß er beschloß, sich wieder auf den Rückweg zu begeben, ohne die Mutter und sein Kind gesehen zu haben. Die eigentümliche Unruhe, die ihn hergetrieben, war beschwichtigt, seit er im Schatten des Häuschens saß.
Aber weil er sehr müde war, versank er in Schlaf. Er träumte, das Kind und die Greisin stünden vor ihm, und jenes trug Trauben in der Hand, indes diese eine Schaufel hielt und mit trauriger Miene die Erde aufgrub. Eva dünkte ihm noch viel schöner als vor einem Jahr, und er fühlte zu dem Kind eine unbezwingbare, schmerzhafte Liebe, die in einer wunderlichen Beziehung zu dem Tun der Mutter stand. Je länger sich die alte Frau mit dem Aufschaufeln der Erde abmühte, je schwerer wurde ihm ums Herz, aber er konnte nichts sagen, und es war ihm, als ob aus seinem Innern ein herrlicher Gesang ströme, dessengleichen er nie zuvor gehört. In dem Entzücken darüber wachte er auf; zuerst glaubte er den Gesang noch zu vernehmen, doch es war nur das Plätschern des Wassers am Wolframsbrunnen.
Der Mond stand hoch am Himmel. Daniel ging hinüber zum Brunnen, da kam der Nachtwächter daher, blies sein Pfeifchen und sang: »Hört ihr Herrn und laßt euch sagen, unsre Glock hat zwei geschlagen.« Er wurde des einsamen Menschen am Brunnen gewahr, stutzte, fuhr aber dann in seinem Gesang fort.
Schon oft, als Kind und als Jüngling, hatte Daniel gelesen, was auf dem Sockel der Wolframsfigur geschrieben war. Heute las er die vom Mond bestrahlten Worte mit ganz andern Augen.
Vom Wasser kommt der Bäume Saft, Befruchtung gibt des Wassers
Kraft aller Kreatur der Welt.
Vom Wasser wird das Aug erhellt,
Wasser wäscht manche Seele rein, daß kein Engel mag lichter sein.
Er tauchte seine Hände in das Becken, strich damit über seine schlaftrunkenen Augen, und nachdem er noch einen [375] Blick auf das Haus der Mutter geworfen, wandte er seinen Fuß gegen die Landstraße.
Im Feld war es überall zu feucht, als daß er dort hätte ruhen können. Bei einem alleinstehenden Bauernhaus befand sich ein Heuschober, und er ging hinein und legte sich nieder.
Eine immer gleiche Angst erfüllte Lenores Brust, wenn sie Daniel betrachtete. Sie begriff ihn nicht, nichts an ihm begriff sie, und Freudigkeit haftete ihr nur noch aus vergangenen Tagen an.
Er schien sich ihrer kaum mehr zu entsinnen. Ein Wort hätte sie von ihrem Kummer befreit, irgendein Wort. Aber er sprach mit ihr wie er mit Philippine sprach, oder mit Frau Kütt, der Zugeherin.
Schlimm, mit Philippine zu hausen, den steten Haß der Unheimlichen zu spüren; zu ahnen, daß sie um Dinge wußte, die das Licht scheuten. Ihr das Kind ausgeliefert zu sehen, welches sie als ihr gehörig behandelte und mit solcher Eifersucht bewachte, daß sich ihr Gesicht vor Wut verzerrte, wenn Lenore bloß fünf Minuten bei ihm weilte.
Schlimm auch die Gesellschaft des stummen alten Vaters, der Tag und Nacht seinen mysteriösen Verrichtungen oblag und friedlos einem unbekannten Ziel zustrebte. Es war so schaurig oft, in den Stuben unten und in denen oben; Lenore hatte Angst vor dem Winter. Manchmal war ihr, als habe ihre Stimme einen unwirklichen Klang, und das Gewöhnlichste, was sie sagte, hatte einen düsteren Widerhall.
Sie flüchtete in ihre früheren Sehnsuchtsbilder, die Landschaften des Südens mit Hainen, Statuen und einem Meer von sagenhafter Bläue. Aber sie war nun doch zu reif, um sich an leeren Traumspielen dauernd zu genügen, lieber [376] wollte sie sich in mühseligster Arbeit vergessen. Erst wenn die Feder ihrer Hand entsank, in dem Leid um die schmucklosen Stunden, drängte es sie mit Macht ins Bilder- und Geisterreich zurück, aber da suchte sie Anhalt bei den Gegenständen ihrer sichtbaren Welt.
Da nahm sie etwa eine Birne und sann sich in das Innere der Frucht hinein, wie wenn es möglich wäre, drinnen in der engsten Sphäre Schutz zu gewinnen. Oder sie hielt ein farbiges Glas zwischen den Fingern und schaute hindurch, damit das Gewohnte schöner werde. Oder sie sah ins Herdfeuer und beobachtete lächelnd das romantische Züngeln der Flammen; oder sie hatte Begierde nach alten Gemälden, da feierte sie einen Morgen lang und ging ins Germanische Museum. Dort stand sie vor einer Kreuzigung, einem Abendmahl, ganz Auge, das Herz voll fließender Bewegung.
Dann regte sich ihre Vorliebe für Blumen stärker als je, und sie fing an, sich mit den Blumen abzugeben. Die meisten pflückte sie selbst, die nur in Gärten wuchsen, kaufte sie billig bei einigen Gärtnern. Nachdem sie mehrere Male gekommen war, nahmen die Gärtner kein Geld mehr und schenkten ihr Blumen, so viel und welche sie haben wollte. Sie trug sie heim und band sie zu Sträußen.
Eines Abends wurde sie dabei von Philippine gestört, die sie rief, weil die kleine Agnes fieberte. Lenore holte den Doktor, der beruhigte sie, und als sie wieder hinaufkam, blieb sie verwundert auf der Schwelle stehen. Der Blumenstrauß den sie gebunden, erschien ihr so schön, im Zusammenklang der Farben so eigen, daß sie sich unwillkürlich umschaute, im Wahn, ein Fremder habe während ihrer Abwesenheit das kunstvolle Werk getan.
Indessen meldete sich der Mangel im Hause. Metzger und Bäcker wollten die Waren nicht mehr auf Kredit liefern; fünf Menschen konnte Lenore aber mit ihrer Schreibarbeit nicht ernähren, von der Kleidung und der Miete zu schweigen. Wenn sie [377] sich auch noch so sehr anstrengte, konnte sie bloß das Notdürftigste beschaffen, und ihre Sorge wurde von Tag zu Tag größer.
Vom Schuldenmachen war sie eine Feindin, aber man konnte ja nicht hungern, und so mußten eben Schulden gemacht werden. Da waren denn bittere Demütigungen unvermeidlich, und mit Bangigkeit blickte Lenore in die Zukunft. Sie zerbrach sich den Kopf mit Pläneschmieden, beklagte ihre Schwäche, ihre lückenhafte Bildung, ihre und Daniels Verlassenheit und bemerkte voller Furcht, wie Philippine an der zu nehmenden Bedrängnis ihre Freude zu haben schien.
Zweimal am Tag schickte der Drogist um das Geld für die letzte Rechnung, endlich kam er selber. Am Abend kam er und läutete. Philippine war grob mit ihm, darauf wurde er unverschämt und schrie, daß die Bewohner der untern Stockwerke ans Stiegengeländer eilten. Lenore lief herab, mit gefalteten Händen stand sie vor dem Manne, auch der Inspektor trat aus seiner Kammer und schaute seufzend über die Stiege.
Auch andere kamen am Abend und machten Skandal. Da huschte Philippine zu Lenore und sagte mit einem Lachen im Gesicht, als ob sie wunder was für ein Glück zu berichten habe: »Es ist schon wieder einer drunten; komm, Lenore, und geh ihm ein bißchen um den Bart, sonst holt er vielleicht gar die Polizei.«
War es dann still im Haus geworden, so räsonierte Philippine und maulte vor sich hin. »Schön dumm ist der Daniel. Könnt's haben wie ein Kaiser, wenn er sich an die richtige Person wenden tät. Ich weiß eine, die hat Geld und kriegt noch viel mehr, aber so ein Stockfisch wie der hat ja keinen Schimmer vom menschlichen Leben.« Und sie lachte ingrimmig oder schmiß irgendeinen Gegenstand wütend auf den Boden.
Lenore hörte nicht, was sie sagte. Ihr war alle Hoffnung geraubt. Drei Monate war es nun her, daß Daniel in rätselhafter Untätigkeit verharrte. Bald war die Miete fällig und was sollte dann geschehen?
[378] Eines Morgens trat sie in Daniels Zimmer und redete ihn an: »Daniel, es ist kein Geld mehr da.«
Er saß lesend am Tisch und schaute sie an, als müsse er sich erst besinnen, wer sie sei. »Nur Geduld,« antwortete er, »ihr werdet nicht umkommen.«
»Ich tue ja, was möglich ist,« fuhr Lenore fort, »aber du, Daniel, wie willst du's nun einrichten mit der Wirtschaft? Ich kann mir nimmer helfen. Faß dich doch, Daniel, sag mir, wie du dir's denkst.«
»Ein Musiker muß arm sein, Lenore,« entgegnete Daniel mit Augen, die wie gefroren aussahen.
»Aber er muß auch leben, sollt ich meinen.«
»Vom Fraß allein kann man nicht leben, und für den Fraß kann ich nicht schuften.«
»Daniel, ach Daniel, wo bist du mit deinem Geist und Herzen!« rief Lenore verzweifelt.
»Dort, wo ich schon längst hätte sein sollen,« war seine finstere Erwiderung. Er erhob sich und sprach halblaut, das Gesicht von Lenore weggekehrt: »Nur jetzt keine Argumente, keine Triftigkeiten, keine Zwangsmaßregeln. Nur jetzt nicht, wo ich mit meinem Lichtstumpf noch an der Erde krieche und den Ausweg aus der Höhle suche. Man verreckt nicht so schnell, Lenore; der Magen ist ein elastisches Stück Haut.«
Er ging in die andere Stube, setzte sich an den Flügel und schlug ein schleppendes Baßmotiv an.
Lenore wandte sich gegen die Mauer und drückte die heiße Stirn in die verschränkten Hände.
Es lag aber nicht in Lenores Art, sich ohne äußerste Kraftanstrengung in ein Unglück zu fügen.
Sie schrieb vierzehn bis sechzehn Stunden am Tage. Die [379] Folge war, daß sie mit ihrem Quantum viel schneller fertig wurde und mehr als dieses Quantum wurde nicht von ihr verlangt.
Dann sah sie sich nach einer einträglicheren Beschäftigung um. Es war vergeblich; Frauenzimmerarbeit stand nirgends hoch im Preis; auch hatte sie keine Empfehlungen, keine Zeugnisse, nichts, worauf sie hinweisen konnte.
Schließlich hatte sie den Einfall, ob sie nicht ihre Blumenkünste verwerten könne. Sie ging zu einem Blumenhändler am Lorenzerplatz und nahm einen aus Nelken und Reseden gewundenen Kranz mit, den sie tags zuvor verfertigt. Sie sagte, sie verstehe sich auf die Hantierung und habe auch hübsche Sträuße gemacht.
Der Mann lachte und antwortete, für dergleichen habe er wenig Verwendung, und wenn sich auch Käufer fänden, sei die Bezahlung allzu gering, als daß dem Fräulein die Arbeit lohnen könne. Tief entmutigt trug Lenore ihren Kranz wieder heim. Sie sah ja selbst, was für ein vergängliches Ding es mit den Blumen war; am Abend welkten sie schon dahin.
Sie hatte nicht wahrgenommen, daß ein Herr, als sie den Laden des Blumenhändlers verlassen, auf der andern Seite der Straße stehen geblieben war, um ihr nachzuschauen. Es war ein hagerer, junger Herr von verdrossenem, bläßlichem Aussehen, ein Herr mit einem Drosselbart-Kinn.
Er schaute lange in die Richtung, nach der sich Lenore entfernt hatte. Sicherlich hatte etwas im Wesen und im Gesichtsausdruck des Mädchens seine besondere Aufmerksamkeit erweckt, ein Gefühl, das edler war als Neugierde und ernster als das Wohlgefallen eines Müßiggängers.
Der junge Herr setzte sich endlich in Bewegung, stelzte gravitätisch über den Platz und betrat den Laden des Händlers. Eine Weile später riß der Blumenhändler, ein bejahrter Mann mit einer Säufernase, die Türe auf und zugleich [380] sein Käppchen vom Kopf, und dies wie auch sein tiefer Bückling verkündeten den benachbarten Ladeninhabern, daß er ein nicht alltägliches Geschäft mit dem jungen Herrn abgeschlossen habe, der mit lässigen Schritten von dannen ging.
Am nächsten Morgen kam ein Bursch zu Lenore, der Abgesandte des Blumenhändlers, und richtete ihr aus, sie möge sogleich zu seinem Prinzipal kommen, er habe ihr was Wichtiges mitzuteilen. Lenore folgte dem Ruf und als sie im Laden des Händlers war, begrüßte sie der mit einer seltsamen Artigkeit und sagte ihr, es habe sich gestern noch ein Liebhaber für derlei Sträuße und Kränze gefunden, wie sie ihm gezeigt, und er könne ihr in jeder Woche zwei, nötigenfalls auch drei Stück zu je zwanzig Mark abnehmen; sie solle sich nur fleißig dranhalten, bei solchem Glücksregen müsse man das Schaff vor die Türe stellen. Das einzige, worum er sie ersuche, sei Verschwiegenheit, die betreffende Kundschaft wolle weder gesehen werden, noch sich mit Namen nennen; offenbar stecke dahinter eine Schrulle, wie man sie bei vornehmen Leuten häufig finde.
Wer war seliger als Lenore! Sie machte sich gar keine Gedanken über das Ungereimte und Märchenhafte in dem Angebot eines Mannes, der ihr vorher so schlau und vorsichtig erschienen war. Sie glaubte ohne weiteres an die wortreiche Erzählung des Händlers, glaubte, daß es in dieser Stadt und unter ihren Menschen einen Sonderling gäbe, der für ihre Blumengebinde solch fürstliche Preise aus reiner Liebhaberei zahlen wolle. Sie war nicht verwöhnt vom Glück, dennoch erweckte die Wandlung der Umstände durchaus keinen Argwohn, ja nicht einmal Befremdung in ihr; sie war zu froh, um zu mißtrauen, zu dankbar, um zu zweifeln, und sie dachte nur an Daniel und daß er nun gerettet war. Den ganzen Weg nach Hause lächelte sie traumverloren.
Dann saß sie Abend für Abend bei den Blumen, die sie am Vormittag aus dem Wald, von den Wiesen und aus den [381] Gärten hinter der Feste geholt hatte. Dort war ein alter Gärtner, der sie begleitete und ihr immer die prächtigsten Zierblumen aussuchte. Auch hatte er einen lahmen Sohn, der verliebte sich in Lenore und stand meist mit strahlender Miene an der Pforte, wenn sie kam. Er versprach ihr auch für den Winter Blumen aus den Treibhäusern.
Der Metzger wurde bezahlt, der Bäcker wurde bezahlt, der Drogist wurde bezahlt, die Miete wurde bezahlt, und Philippine riß die Augen auf, schüttelte den Kopf und sagte, da sei etwas nicht geheuer; was es sei, werde gewiß ans Tageslicht kommen, und wenn's der Hinkel vom Mist kratzen sollte. Sie berichtete den Leuten von einem Gespenst, welches allnächtlich auf dem Dachboden des Hauses sein Unwesen treibe und einmal, bei Mondschein, rannte sie schreiend aus ihrer Kammer und beteuerte, ein knöcherner Finger habe ans Fenster geklopft.
Lenore aber band Rosen und Levkoien und Tulpen und Stiefmütterchen und Moosblumen und allerlei anderes Gewächs zu reizenden, teppichartigen Gebilden oder zu Girlanden; mit vieler Liebe gab sie sich dieser Beschäftigung hin und atmete dabei in solchen Wohlgerüchen, daß ihr manchmal schwindlig wurde. Dann lehnte sie sich aus dem offenen Fenster und sang leise in die Nacht hinein.
Daniel wußte nichts von ihrer Tätigkeit. Wie er sich um die Not nicht gekümmert hatte, so fragte er auch jetzt nicht, woher die Fülle kam.
Kurze Zeit nach dem Tod Gertrud Nothaffts war Eberhard von Auffenberg in die Stadt zurückgekommen. Die letzte große Summe, die er ein Jahr zuvor von Herrn Carovius erhalten hatte, war nahezu aufgebraucht. Er fand Herrn Carovius in seinem Betragen ihm gegenüber bedeutend [382] verändert. Herr Carovius erklärte, daß er ruiniert sei und kein Geld mehr aufbringen könne. Statt zu wehklagen oder zu prahlen oder seinen freiherrlichen Freund zu umschmeicheln und anzustacheln, wie er sonst getan, hüllte er sich in ein Schweigen, das nichts Gutes hoffen ließ.
Eberhard hatte nicht Lust, zu bitten. Die Person des Herrn Carovius war ihm zu verächtlich, als daß er Betrachtungen hätte über ihn anstellen mögen. Seine Gedanken gingen andre Wege.
Der Klatsch, der über Lenore im Schwung gewesen, war natürlich auch zu ihm gelangt. Herr Carovius hatte es an Andeutungen, brieflichen wie mündlichen, nicht fehlen lassen. Jedoch Eberhard hatte sie ignoriert. Unglimpf, der sich an Lenore wagte, hatte ihm nicht glaubhafter gedünkt als Straßenschmutz am strahlenden Mond.
Eines Tages mußte er eines Wechselprotestes halber Herrn Carovius aufsuchen. Sie besprachen die Angelegenheit ganz trocken und geschäftlich, plötzlich fixierte Carovius den Freiherrn mit durchdringendem Blick, wanderte sodann in seinem Schlafrock beständig um den Tisch herum und fing an, sich über das schreckliche Ende von Daniel Nothaffts junger Frau zu verbreiten.
Er geriet in eine unbegreifliche Aufregung. »Nun wird aber das Kapellmeisterlein hoffentlich zur Vernunft kommen,« schrie er mit seiner Fistelstimme. »Am Hungertuch nagt er sowieso schon. Bergab geht's, bergab. Man wird sammeln müssen für das verkannte Genie. Eine ist dabei hin geworden; die andere zappelt noch. Wie gefällt Ihnen der zappelnde Engel, Baron? Tut's Ihnen nicht leid um den netten Heiligenschein, der wie alter Trödel an einer ehebrecherischen Bettstatt hängt? Freilich, dem Genie ist ja alles erlaubt. O, Lenore! Verfratzte Lüge, die du bist, heuchlerische duckmäuserische Lüge!«
Ganz gelassen schritt Eberhard auf den entfesselten Dämon [383] im Schlafrock zu, packte seine Kehle und drückte sie mit eisernem Griff derart zusammen, daß Herr Carovius in die Knie brach und im Gesicht blau wurde wie ein gesottener Karpfen. Später war er merkwürdig still; er verkroch sich. Bisweilen kicherte er einfältig, bisweilen schoß ein giftiger Blick unter seinen Lidern hervor.
Eberhard goß Wasser in ein Becken, tauchte die Hände hinein, trocknete sie und ging fort.
Das Bild des winselnden Menschen mit den herausgequollenen Augen und dem blauen Gesicht war unverwischbar. Er hatte die Wollust des Mordens gespürt; ihm war gewesen, als richte und strafe er nicht nur seinen Peiniger und Verfolger, sondern zugleich den heimlichen Feind der Menschheit, den Erzbösewicht, den hämischen Zerstörer aller edlen Saat.
Desungeachtet hatte der exaltierte Ausbruch des Herrn Carovius gerade diejenige Wirkung, die Eberhard am wenigsten erwartet hatte. Sein Vertrauen in die Schuldlosigkeit Lenores war plötzlich erschüttert. Vielleicht war bei aller feigen Verleumderwut ein Etwas in Herrn Carovius' Stimme aufgeklungen, das wahrer zeugte, als der Elende selbst es ahnte, und Eberhard erblickte in dieser Stunde die angebetete Gestalt zum ersten Male als Gleichgeartete unter den Menschen und erfuhr das Geschehene wie durch ein Ferngesicht.
Seine Illusionen waren vernichtet.
Entsagt hatte er in seinem Innern schon längst. Seine leidenschaftlichen Wünsche von ehemals hatten einen Verblutungsprozeß durchgemacht. Er hatte gelernt, sich ins Unabänderliche zu fügen; er hatte darum gerungen. Wenn er das Leben überschaute, das er in den vergangenen fünf Jahren geführt, so glich es trotz seiner Unstetheit und dem fortwährenden Wechsel der Städte und Länder dem Aufenthalt in einem Raum mit geschlossenen Läden.
Als er in die Stadt zurückgekommen war, die er nur deshalb [384] liebte, weil sie Lenore beherbergte, hatte er nicht die Absicht gehabt, Lenore an die abgelaufene Frist zu mahnen. Es wäre ihm geschmacklos erschienen, neuerdings als lästiger Bewerber aufzutreten und das Garn dort wieder anzuknüpfen, wo es vor fünf Jahren gerissen war. Er hatte sich vorgenommen, Lenore in keiner Weise zu beunruhigen. Aber zu ihr gehen, mit ihr zu sprechen, das war die lichtvolle Hoffnung in all den öden Jahren gewesen.
Nach dem Vorfall mit Herrn Carovius hatte er den Entschluß gefaßt, Lenore aus dem Weg zu gehen.
Seine Barmittel waren auf wenige hundert Mark zusammengeschrumpft. Er entließ seinen Diener, veräußerte einen Teil seiner Schmucksachen und mietete sich in einem der winzigen Häuschen ein, die gegenüber den Felsen, auf denen die Burg steht, wie Wespennester eins am andern kleben. Das betreffende Häuschen hatte vordem ein Pfragnersehepaar bewohnt, und es war mitsamt seinen drei Kammern nicht viel geräumiger als ein mittlerer Tierkäfig in einer Menagerie. Doch er hatte sich's in den Kopf gesetzt, dort oben zu residieren. Er kaufte sich einige alte Möbel und schmückte die krummen Wände der altertümlichen Baracke mit den Bildern, die er besaß.
Eines Abends wurde an die grüne Tür des Häuschens gepocht. Eberhard öffnete und sah Herrn Carovius vor sich stehen.
Herr Carovius trat in die puppenhaft kleine Wohnstube des Freiherrn, schaute sich verwundert um und sagte schließlich, ganz bleich: »Straf mich Gott, aber mir scheint, Sie wollen hier den Eremiten spielen. Daraus wird nichts, lieber Baron, das ist kein Quartier für einen Edelmann, die Schande laß ich nicht auf mir sitzen, das kann nicht sein, das dürfen Sie mir nicht antun.«
Eberhard griff nach dem Buch, in dem er gelesen, einem Band von Carl du Prels Schriften, und las weiter, ohne [385] zu antworten und ohne auf die Gegenwart des Herrn Carovius zu achten.
Herr Carovius trippelte von einem Fuß auf den andern. »Vielleicht geruhen Euer Gnaden, dero Konto in Augenschein zu nehmen,« sagte er mit sonderbar flehentlichem Hohn. »Ich bin in einer bösen Klemme. Das Kapital futsch und eine Zinsenschuld, die anschwillt wie die Pegnitz im Frühjahr. Wollen Sie wissen, wovon ich seit drei Monaten lebe? Von Rüben lebe ich, von Wurstabfällen, von Backsteinkäse. Alles für Sie, alles für meinen Baron.«
»Es interessiert mich nicht, wovon Sie leben,« erwiderte Eberhard hochmütig und las weiter.
Herr Carovius fuhr mit einem albernen Ausdruck von Schmollen fort: »Wie Sie neulich von mir weggegangen sind, nach dem kleinen Zank, den wir wegen dem Gänsemännchen hatten, da dacht ich nicht, daß Sie blutigen Ernst machen würden. Was sich liebt, das neckt sich, dacht ich mir. Kommst schon wieder, Barönlein, dacht ich, kommst so sicher wie's Lachen auf's Kitzeln. Na, ich habe mich geirrt. Habe Sie für sanftmütiger gehalten, für nachsichtiger mit einem alten Freund. Man irrt sich eben.«
Eberhard blieb stumm.
Nun seufzte Herr Carovius und setzte sich schüchtern auf das schmale Kanapee, das an der gelbgetünchten Mauer stand. Fast eine Stunde lang saß er schweigend da und Eberhard empfand weder das Lächerliche noch das Unheimliche in diesem Schweigen und in dem Benehmen seines Gastes. Er las.
Auf einmal zog Herr Carovius seine Brieftasche aus dem Rockfutter, klappte sie auf, nahm mit zitternden Fingern einen Tausendmarkschein heraus, legte ihn nebst einem Quittungsformular mit einer hastigen Gebärde auf das Blatt, über welches Eberhards Auge glitt, und ehe sich der Freiherr von seinem Erstaunen erholt hatte, war er bereits verschwunden, [386] hatte die Haustür zugeschlagen und von der Gasse tönte sein geschwindes Trippeln in die Stube.
Was für seltsame Lebendige hast du, Welt, und was für seltsame Tote, ging es Eberhard durch den Sinn.
Daß zwei so grundverschieden geartete Naturen wie Eberhard und Daniel eben zu der Zeit, wo beide freiwillig auf den Verkehr mit Menschen verzichtet hatten, einander begegneten und näher traten, beruhte auf einer jener Fügungen, die ein Gesetz der Kristallisation oder der Anziehung polarer Kräfte enthalten, so zufällig sie auch scheinen.
Das Zusammentreffen ereignete sich am Tag nach jener Wanderung, die Daniel nach Eschenbach unternommen hatte. Als der Morgen anbrach, hatte er sich entschlossen, den Rückweg über Schwabach einzuschlagen, sowohl der Abwechslung wie der geringeren Dauer wegen. Die Sonne brannte noch sengender vom Himmel als am Tag vorher und in den Stunden der größten Glut legte sich Daniel in den Wald. Wie er nun spät am Nachmittag in die Nähe von Schwabach kam, zogen schwere Wolken von Westen herauf, ein unheilverkündender Sturm begann zu wehen, Blitze zuckten über das finstere Firmament, und so sehr auch Daniel seinen Schritt beschleunigte, das Wetter überfiel ihn doch: ehe er den Schutz eines Hauses erreichte, war er am ganzen Leibe naß.
Es goß in Strömen weiter; nach langem Harren mußte er in den Regen hinaus und, vor Nässe und Kälte schlotternd, gelangte er auf den Bahnhof. Als er das Billett nehmen wollte, stand am Schalter vor ihm ein hagerer, apart gekleideter Mann. Daniel mochte sich wohl in seinem Ärger und Unbehagen zu hart an ihn gedrängt haben, denn der Herr wandte sich unwillig um, und Daniel erkannte den [387] jungen Freiherrn in ihm. Eberhard seinerseits erkannte auch Daniel sofort. Es gab nicht leicht ein Gesicht, das so sehr nur einem einzigen Menschen gehören konnte wie das Daniels.
Was den Freiherrn nach Schwabach geführt hatte, war die Anhänglichkeit an einen bestimmten Menschen, die er sich seit seiner Kindheit bewahrt hatte. Es lebte dort seine Amme, eine Frau, die ihm von jeher mit rührender Liebe ergeben war, die stolz auf ihn war, als hätte sie in ihm das erlesenste Exemplar der Männerwelt an ihrer Brust gesäugt, und an deren Märchen und Geschichten er sich noch jetzt oft und gern erinnerte. Sie hatte den Werkführer einer Zinngießerei geheiratet, besaß nun selber schon Söhne und Töchter, und Eberhard hatte sich seit Jahren vorgenommen, sie einmal zu besuchen. Dies war nun geschehen. Er hatte nicht viel Freude davon gehabt, er mußte sich sagen, daß ihm der Besuch eine innere Gestalt geraubt hatte, und ob die Amme bei dem Anblick des grämlichen, steifen und hochaufgeschossenen Milchsohnes das Entzücken empfunden, das sie sich ausgemalt, bleibe dahingestellt.
Als Eberhard den Zustand gewahrte, in welchem sich Daniel befand, regte sich sein ritterliches Gefühl. Tapfer besiegte er eine Abneigung, die so alt war wie sein Wissen von diesem Mann, und der sich vor wenigen Wochen Abscheu und quälende Eifersucht beigesellt hatten. »Sie sind ins Unwetter gekommen?« fragte er höflich, obschon in strenger und abweisender Haltung.
»Wie Sie sehen,« antwortete Daniel kurz und musterte den Freiherrn mit gerunzelter Stirn.
»Sie werden sich erkälten, darf ich Ihnen nicht meinen Mantel anbieten?« fuhr Eberhard noch höflicher fort, und es war ihm, als tauche hinter Daniel Lenores Antlitz auf, von Blumen umgeben, und lächelte ihm freudig und dankbar zu. Er preßte die Lippen zusammen und verfärbte sich.
[388] Daniel schüttelte den Kopf. »Ich bin an allerlei Wetterstürze gewöhnt,« gab er zurück; »danke.«
»So wickeln Sie wenigstens das hier um den Hals; das Wasser läuft Ihnen ja von den Haaren herunter.« Und Eberhard reichte ihm ein weißes Seidentuch, das er aus der Tasche seines Mantels zog. Daniel machte eine Grimasse, nahm aber das Tuch, schlang es um den Nacken und band einen Knoten unter dem Kinn.
»Sie haben recht,« gestand er dann und zog den Kopf zwischen die Schultern, »es erinnert einen gleich an ein warmes Bett.«
Eberhard starrte gegen die Lokomotive des einfahrenden Zuges. Plebejer, dachte er geringschätzig.
Gleichwohl setzte er sich zu diesem Plebejer ins Kupee dritter Klasse; und er hatte ein Billett erster Klasse gekauft. War es das weißseidene Tuch, das ihn plötzlich an den Plebejer fesselte? Was konnte es anders sein, da sie während der ganzen Fahrt einander schweigend gegenüber saßen, ein höchst wunderliches Paar, der eine im armseligen, feuchtglänzenden Anzug, einem Hut, der halb an einen Tünchermeister, halb an einen zigeunernden Barden gemahnte und einer Riesenbrille, aus der die Augen grün und flackrig blitzten; der andere wie aus dem Ei geschält, stäubchenlos, in Lackstiefletten, englischem Strohhut und einer amerikanischen Zigarette im Mund.
Daneben saß eine Bäuerin mit einem Geflügelkorb, ein rothaariges Mädchen, welches das Hinterteil eines Schweins auf den Knien hielt und ein Arbeiter, dessen Gesicht verbunden war.
Bisweilen trafen sich ihre Blicke. Dann senkte der Freiherr erschreckt die Lider, und Daniel schaute gelangweilt in den Regen hinaus. Aber es mußte irgendeine Mitteilung oder Verständigung in der kurzen Begegnung der Blicke verborgen gewesen sein, denn als sie am Ziel ihrer Reise das Kupee [389] und den Bahnhof verlassen hatten, schritten sie friedlich nebeneinander durch die Straßen, wie wenn es sich von selbst verstehe, daß sie jetzt beisammen blieben.
Der Mensch sucht den Menschen. Da hilft kein Trotz und keine Verschlossenheit, da ist etwas, das den Stärksten zwingt, wenn er einen spürt, der willig ist, sich zu geben, und das geglaubte Genügen an der Einsamkeit enthüllt sich als Selbstbetrug.
»Sie werden wohl nach Hause gehn und sich umkleiden,« sagte Eberhard und blieb an einer Straßenkreuzung stehen.
»Ich bin schon trocken,« antwortete Daniel, »und zum Heimgehn hab ich keine Lust. Da drüben an der Insel Schütt ist ein kleines Gasthaus, nennt sich zum Peter Vischer. Ich mag's gern, weil bloß alte Leute drin verkehren, die von alten Zeiten erzählen und weil's auf einer Brücke liegt, so daß man in einem Schiff zu schwimmen meint.«
Eberhard ging mit. Sie saßen von acht Uhr bis Mitternacht einander gegenüber. Ihre Unterhaltung beschränkte sich auf Wendungen wie: »Es ist wirklich recht angenehm still hier.« – »Es scheint, der Regen hat aufgehört.« – »Ja, er hat aufgehört.« – »Der weißbärtige Schwätzer am Ofen ist ein Uhrmacher vom Unschlittplatz.« – »So? er sieht noch recht rüstig aus.« – »Er soll die Schlacht bei Wörth mitgemacht haben.« Und dergleichen mehr.
Als sie sich trennten, wußte Eberhard, daß Daniel am nächsten Mittwoch wieder beim Peter Vischer sein, und Daniel, daß er den Freiherrn dort finden werde.
Philippine kniete am Herd und schob Spreisel in das Feuerloch, Lenore saß vor der Anricht und addierte in einem schmalen Heftchen die Ausgaben der Woche.
[390] »Du solltest heiraten, Lenore,« sagte Philippine und blies auf einen glimmenden Span, »es wär schon Zeit für dich.«
»Laß mich zufrieden mit solchem Gerede,« erwiderte Lenore unmutig.
Philippine kauerte sich noch tiefer am Herd hin. »Ich mein's dir gut,« sagte sie. »Du rackerst dir ja deine Jugend vom Leib. Mit einer so feinen weißen Haut und so zuckrigen Augen, ioi! da wollt ich schon einen kapern, wenn ich du wär. Die Mannsbilder sind ja alle so saudumm.«
»Sei still,« sagte Lenore und zählte: »sieben von fünfzehn, bleibt acht ...«
»Ein Englein hat's Bett gemacht,« warf Philippine kichernd ein. »Ich wüßt jemand für dich,« fuhr sie dann fort, und ihr Blick lauerte, »einen Reichen; einen, der sich in dich vergafft hat. Wenn ich zu dem geh und sag ihm: die Lenore Jordan hat nichts dagegen, ich glaub, der tät mir einen Sack voll Gold schenken, der alte Spitzbub. Ehr und Seligkeit, Lenore, 's ist ein feiner Mann, und Klavier spielen kann er so gut wie der Daniel, wenn nicht noch schöner. Da fliegen die Fetzen nur so, wenn der spielt.«
Lenore erhob sich und schlug das Heft zu. »Willst dir einen Kuppelpelz verdienen, Philippine?« sprach sie, mitleidig lächelnd; »und fragst bei mir an? Geh doch zu, du Närrin.«
»Komm Wind und weh mein Feuer an, damit mein Süpplein kochen kann,« raunte Philippine mit einem finstern Gesicht.
Lenore verließ die Küche und stieg die Treppe hinauf. Sie sehnte sich; ihr Herz wollte schier bersten vor Sehnsucht.
Es war Anfang Oktober, als Daniel den Freiherrn zum erstenmal in seinem Zwergenhaus an der Burg oben besuchte.
Sie hatten sich am Abend in dem Wirtshaus auf der [391] Schütt getroffen, dort aber waren eines Fischessens halber mehr Gäste als sonst gewesen, der Lärm war ihnen unbequem, und sie waren beizeiten aufgebrochen.
Sie gingen schweigend bis zum Rathaus, da sagte Eberhard: »Kommen Sie noch auf eine Stunde zu mir.« Daniel nickte.
In dem winzigen Stübchen zündete Eberhard die sechs Kerzen eines Leuchters an. Daniels verwunderten Blick bemerkend, sagte er: »Mir ist nichts widerwärtiger als Petroleum oder Gas. Das da ist Licht, das andere illuminierter Gestank.«
Eine Weile blieb es still. Daniel hatte sich aufs Kanapee gerekelt.
»Illuminierter Gestank,« wiederholte er plötzlich mit befriedigtem Auflachen; »nicht übel. Das ist eben die neue Zeit. Ich glaube, sie heißen's fin de siècle. Nichts soll blühen mehr, alles wird fabriziert. Die Männer sind Amerikaner, greuelhaft ernüchtert vom Erwerbsrausch, die Weiber verlieren den edlen Eigensinn des Instinkts, die Städte sind zu ungeheuren Dampfmaschinen geworden, alt und jung liegt vor den sogenannten Wundern der Technik auf dem Bauch, als ob es für die Menschheit wirklich etwas zu bedeuten hätte, wenn irgendein Faulenzer in Paris schon beim Frühstück erfährt, daß der Papst gut geschlafen hat, oder wenn eine Gewehrkugel vierzehn Leute hintereinander durchbohrt statt wie bisher sieben. Wer will da noch aus seiner innern Seele schaffen? Es ist wie Wahnsinn und Unzucht.«
»Doch, man kann aus seiner innern Seele schaffen,« sagte der Freiherr, in dessen Gesicht der verdrossene Ausdruck einem angespannten wich, »man kann den unsichtbaren Geist in die Sichtbarkeit bannen.«
Daniel, der noch nicht ahnte, daß der Freiherr gewissermaßen aus einem ganz andern Land und mit einer ganz andern Sprache redete, fuhr fort: »Aller Vorrat von Anteil und Enthusiasmus, den die Nation zu vergeben hat, ist aufgezehrt.
[392] Die altehrwürdigen Werke bestehen in ihrer Gültigkeit, sie werden bestaunt und gepriesen, zeugende und umbildende Kraft haben sie nicht mehr. Sonst gedeiht nur der Hokuspokus, und wer ihm nicht vergibt, dem wird nicht vergeben. Das Leben aber ist kurz, ich spür's an jedem Tag, und hegt man die Pflanze nicht, so welkt sie hin.«
»Es ist nicht nur Hokuspokus,« erwiderte Eberhard, der jetzt völlig verwandelt war, jedoch auch seinerseits die schmerzliche Empörung des Musikers nicht begriff; »sehen Sie, ich habe mit Menschen wenig verkehrt; meine Zuflucht war das Reich der Abgeschiedenen, der unsichtbaren Geister, die in die Erscheinung treten, wenn das gläubige Gemüt nach ihnen ruft. Meine Aufgabe war es, mich zu entsinnlichen, zu entmaterialisieren, dann bekamen die Geister Stoff und Gestalt.«
Daniel richtete sich überrascht empor und sah, was für einen bleichen Blick der Freiherr hatte. Ihm schien, daß sie ganz nah und ungeheuer fern voneinander waren. Er mußte aber seinen Faden weiter spinnen. »Ja, ja, ja,« rief er mit demselben kurzen Auflachen wie am Anfang des Gesprächs, »auch meine Geisterchen verlangen Gläubigkeit und wimmern und klagen um Form und Gestalt. Das haben Sie fein ausgedrückt, Baron.«
»Und haben Sie ihnen gegenüber, den Geistern gegenüber, auch Verzicht geleistet?« fragte Eberhard streng.
»Verzicht? Worauf? Denken Sie, das braucht's bei mir? Ich bin das Widerspiel zu Kronos. Mich fressen meine Kinder, und das bei lebendigem Leibe. Ich beschwöre Geister und geb ihnen Fleisch und Blut, dafür machen sie mich zum Schatten. Es sind rebellische Burschen, sag ich Ihnen, die kein Erbarmen kennen. Ich soll eine zur Gleichgültigkeit erstarrte Bürgerwelt für sie alarmieren. Was mich kränkt und ekelt, soll ich auf die leichte Achsel nehmen; ich soll ihre Hure sein und mich feilbieten; ich soll ihr Krämer sein und [393] für sie schachern. Kampf ist ja was ganz Schönes, und wenn's gegen Feinde geht, kann man sich ins Zeug legen. Aber meine Geisterchen wollen bejubelt und verhätschelt werden, und was sich an Haß in mir aufhäuft, ist vielleicht nur die Wut über das vergebliche Werben. Nein, es ist kein ehrlicher Haß, weil ich nach jedem Lumpenkerl schmachte, der nichts von meinen Geistern wissen will, weil meine ganze Existenz darin besteht, Gehör von denen zu erbetteln, die nicht hören mögen, Liebespfennige bei denen zusammenscharren, die nicht lieben können, weil mir einer oder zwei oder drei nicht genügen, sondern weil ich Tausende haben muß, weil ich nichts bin ohne die Tausende, und mich in Angst und Not verblute, wenn ich mir nicht einbilden kann, die Welt geht nach meinem Schritt und Takt. Den Michel Pfifferling kann ich verachten, der sich besoffen zu seinem Weibe legt und für den der Name Beethoven ein unverständlicher Schall ist; Jason Philipp Schimmelweis macht mich lachen, wenn er mir ins Gesicht schreit: die ganze Kunst ist mir piepe. Aber es steckt doch wieder Menschheit in ihnen, und soweit Menschheit in ihnen steckt, muß ich sie haben, muß sie von mir überzeugen, und wenn sie mir das Herz darüber aus dem Busen reißen. Ist das ein Leben? Einen Kirchhof aus den Gräbern graben und den Leichnamen Atem einhauchen müssen, damit sie tanzen? Und immer mit dem Bewußtsein: dieser Augenblick ist der einzige! Ich bin, ich bin; da steht der Tisch, da brennen die Kerzen, da vor mir sitzt ein Mensch, und wenn ich aufgehört habe zu reden, ist schon alles anders, als ob ein Jahr vergangen wäre, alles unwiederbringlich. Zeigt mir einen Weg zur Menschheit, ihr Menschen, dann glaub ich an Gott.«
Dem Freiherrn wurde es schwül zu Sinn. Er mußte an gewisse aufregende Zusammenkünfte denken, wo man in zitternder Erwartung im Dunkel gesessen war, und dann war eine Stimme aus dem Jenseits gekommen, bei der einem das Mark in den Knochen gefror. Er wagte kaum nach der [394] Stelle hinzusehen, wo Daniel sich befand; die Worte des Musikers verursachten ihm eine tiefe Pein; es lag in ihnen eine Gefräßigkeit, eine Schamlosigkeit und eine Grausamkeit, die ihm Schrecken einflößten.
Beinahe hätte er gefragt: und Lenore? und Lenore?
Aber so sehr er sich, aus seiner Erziehung, seinen Gewohnheiten und Lebensansichten heraus, abgestoßen fühlte, es war da noch etwas anderes, wovor er sich beugte. Er hätte nicht genau sagen können, was es war; es schloß Empfindungen zwischen Furcht und Erschütterung in sich.
Während er darüber nachdachte, vernahm er ein Klirren der Fensterscheibe. Er blickte hin und sah das Gesicht des Herrn Carovius, angepreßt an die Scheibe, so daß die Nase schier plattgedrückt war und die Zwickergläser zwei schillernden Fettflecken auf dem Wasser ähnelten.
Auch Daniel schaute empor; auch er gewahrte das von Ingrimm und Drohung verzerrte Gesicht des Herrn Carovius. Bestürzt sah er den Freiherrn an. Dieser erhob sich und sagte: »Entschuldigen Sie die Störung; ich habe vergessen, den Vorhang herunterzulassen.«
Er ging ans Fenster und ließ den dunklen Vorhang über das Gesicht des Herrn Carovius fallen.
In derselben Nacht, als Daniel über den Flur in seine Stube treten wollte, fiel ihm ein intensiver Blumenduft auf. Schon mehrmals hatte er den Geruch verspürt, nur war er nie so stark gewesen; dazu kam, daß die Jahreszeit eine solche Wahrnehmung doppelt ungewöhnlich machte.
Er schnupperte eine Weile und bemerkte dann, daß im oberen Stock Lenores Kammer offen war. Der Lichtschein drang auf die Stiege.
[395] Wenn Daniel am Abend nicht zu Hause war, öffnete Lenore immer die Tür ihrer Stube, damit sie ihn hören konnte, wenn er heimkehrte. Davon wußte Daniel nichts; er hatte in keiner früheren Nacht den Lichtschein gesehen.
Er besann sich eine Weile, schloß hernach das Gatter wieder auf und ging die Treppe empor. Aber Lenore mußte wohl seinen nahenden Schritt erlauscht haben; sie trat hastig auf den kleinen Vorplatz und sagte befangen: »Bleib unten, Daniel, der Vater schläft. Ist dir's angenehm, so komm ich noch auf eine Viertelstunde ins Wohnzimmer hinunter.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, ging in die Kammer zurück, holte die Stehlampe und folgte Daniel ins Wohnzimmer. Daniel machte das Fenster zu und schüttelte sich fröstlich, denn es war nicht geheizt und die Nacht war kühl.
»Was ist das für ein Blumengeruch im Hause?« fragte er. »Hast du so viele Blumen oben?«
»Ja, ich hab Blumen,« erwiderte Lenore und errötete.
Er blickte sie scharf an, wollte jedoch nicht weiter forschen, oder es interessierte ihn nicht, zu erfahren, was es bedeutete. Die Hände in den Taschen vergraben, ging er im Zimmer herum.
Lenore hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und ließ den Auf- und Abschreitenden nicht aus den Augen.
»Du, Daniel,« sagte sie plötzlich, und der Wohllaut ihrer Geigenstimme riß ihn aus seinem dumpfen Sinnen, »ich weiß jetzt, was der Vater treibt.«
»Nun also, was treibt er, der Alte?« fragte Daniel zerstreut.
»Er arbeitet an einer Puppe, Daniel.«
»An einer Puppe? Hältst du mich zum besten?«
Lenore, deren Wangen wieder blaß geworden waren, erzählte: »Gestern, gegen Abend, hat er das schöne Wetter benutzt und ist, zum erstenmal nach langer Zeit, spazieren gegangen. Wie er fort war, bin ich in seine Stube hinein, um ein bißchen Ordnung zu machen. Da seh ich, daß die [396] Türe von dem großen Schrank nicht zugesperrt ist wie sonst immer, sondern bloß angelehnt. Wahrscheinlich hat er vergessen, sie zuzusperren. Ich denke mir nichts Arges und mach die Schranktür auf und da seh ich nun eine große Puppe, so groß wie ein vierjähriges Kind vielleicht, ein Wachsgesicht, und die offenen Augen und langes gelbes Haar. Aber keine Kleider; und von dem Leib nur der hintere Rumpf, der vordere Teil vom Hals bis an die Beine war weggenommen. Und im Innern, da, wo bei Menschen Herz und Eingeweide sind, da war ein Gewirr von Rädern und Schrauben und dünnen Röhrchen und Draht, alles aus purem Metall.«
»Sonderbar,« sagte Daniel, »wirklich sonderbar. Was hältst du davon?«
»Er konstruiert etwas,« fuhr Lenore fort, »so viel ist klar. Doch wenn ich dir nur schildern könnte, wie mir dabei zumut gewesen ist, Daniel! Ich war so traurig wie noch nie in meinem Leben. Ich bin mir so lieblos gegen ihn erschienen, wie es das Schicksal gegen ihn war. Und alles, die Luft und das Licht und die Menschen und was man für die Menschen fühlt und was Menschen für einen fühlen, alles ist mir so unbeschreiblich lieblos erschienen, daß ich mich vor die Puppe mit ihrer Maschine im Leib habe hinsetzen müssen und weinen. Der arme Mann! Der arme alte Mann!«
»Sonderbar, wirklich sonderbar,« sagte Daniel immer nur.
Nach einer Weile nahm er schuldbewußt am Tisch neben ihr Platz. Da stand aber Lenore auf, trat zum Fenster und lehnte die Stirn ans Glas.
»Komm zu mir, Lenore,« sagte er mit veränderter Stimme.
Sie kam. Er ergriff ihre Hand und schaute ihr ins Gesicht. »Wie hast du's eigentlich die ganze Zeit her mit dem Haushalt zustande gebracht?« fragte er in der Erleuchtung seines Schuldgefühls.
Lenore senkte die Augen. »Ich hab geschrieben,« erwiderte sie; »und mit dem Blumenbinden hat sich's auch glücklich [397] gefügt. Hab sogar einiges sparen können. Schau mich nicht so an, Daniel; es war nichts Großes, hast mir nichts zu verdanken.«
Er zog sie auf seine Knie und umschlang ihre Schultern. »Du meinst vielleicht, ich hab dich vergessen,« sagte er leidvoll und blickte in die Höhe; »meine Lenore vergessen? meine Geisterschwester? Nein, nein, du liebes, gutes Herz, du weißt ja längst, daß wir unsere Wanderschaft zusammen auf Leben und Tod angetreten haben.«
Lenore lag in seinem Arm, vollkommen weiß im Gesicht, vollkommen starr am Körper. Ihre Augen waren geschlossen.
Daniel küßte ihre Augen. »Du mußt mich halten, auch wenn ich dich scheinbar lasse,« murmelte er.
Dann trug er sie auf den Armen durch die Tür in seine Stube.
»Ich hab mich so gesehnt,« hauchte Lenore, mit den Lippen an seinem Hals.
Schneller als man gedacht, kam der Winter, und der Platz mit der Kirche lag im Schnee.
Lenore war aufs Eis gegangen und als sie zurückkehrte, wartete sie in der Wohnstube auf Daniel. Mit ihrem Pelzkäppchen saß sie da, müd und versonnen und hielt am Riemen die Schlittschuhe in der Hand.
Als nun Daniel ins Zimmer getreten war und sie begrüßt hatte, blickte sie empor und sagte mit leiser Stimme: »Ich bin guter Hoffnung, Daniel. Seit heute weiß ich's.«
Da ließ er sich auf die Knie vor ihr nieder und küßte ihre Fingerspitzen. Lenore atmete auf, und ein Lächeln von traumhafter Heiterkeit glitt über ihre Züge.
Am andern Tag ging Daniel aufs Rathaus und bestellte das Aufgebot.
[398] Kaum hatte Philippine gehört, daß Daniel und Lenore im Februar heiraten sollten, so verschwand sie spurlos. Die kleine Agnes rief umsonst nach ihrer »Pine«. Erst am sechsten Tag erschien die Unheimliche wieder, ebenso plötzlich wie sie fortgegangen war. Ihre Züge waren abschreckend finster, ihre Haare zerzaust, ihre Kleider zerdrückt und an ihren Stiefeln hingen die Sohlen in Fetzen. Sie war stumm wie ein Klotz und blieb es wochenlang.
Kein Mensch wußte, und keiner hat es je erfahren, was sie während dieser sechs Tage getan und wo sie sich aufgehalten hatte.
Eine kirchliche Trauung war Lenores inniger Wunsch und dessen Erfüllung verursachte Daniel manche Mühe und manchen verdrießlichen Weg. Aber er nahm es auf sich, weil er Lenore nichts von ihrem Glück abhandeln mochte. Und Lenore nähte sich selbst ihr weißes Kleid und ihren Schleier. Gisela Degen, eine jüngere Schwester von Martha Rübsam, und Else Schneider, die Tochter des Pfarrers von Sankt Egydien, sollten Brautjungfern sein. Auch Marianne Nothafft und Eva sollten von Eschenbach hereinkommen; Lenore hatte ihnen schon das Reisegeld geschickt.
»Hilf mir nähen, Philippine,« sagte Lenore eines Abends zu der finstern Hausgenossin, und sie reichte Philippine den Schleier, an welchem der Saum zu nähen war.
Philippine setzte sich schweigend Lenore gegenüber und fing an zu nähen. Unterdes fiel die kleine Agnes bei ihren Gehübungen auf den Boden und schrie kläglich. Lenore eilte hin und hob das Kind auf, da knisterte es plötzlich und wie sie sich umwandte, sah sie, daß der Schleier einen langen Riß hatte. »Was machst du, Philippine, du böses Ding!« rief sie aus.
»Ich hab nichts getan, er ist von selber entzwei gerissen,« brummte Philippine, und ihr Blick entfloh feig.
»Laß es sein, laß die Hände davon, du nähst böse Gedanken hinein,« erwiderte Lenore ahnungsvoll.
[399] Philippine erhob sich. »Zerrissen ist er nun einmal, der Schleier,« sagte sie in düsterm Trotz; »soll's Böses bedeuten, so kommt das Böse doch, ob du mich fortschickst oder nicht.« Sie ging hinaus.
Der Schaden war nicht so arg, wie Lenore gefürchtet. Das zerrissene Stück konnte abgetrennt werden und der Schleier war auch dann noch brauchbar.
Aber von jener Stunde an war eine Traurigkeit über Lenore gebreitet wie erster Nebel des Herbstes über eine schöne Landschaft. Vielleicht war nicht der Riß im Schleier daran schuld; in ihrem Gemüt war kein Schatten eines Aberglaubens; vielleicht war es nur das Glück und die Erfüllung. Es mochte sein, daß Glück und Erfüllung ihr als ein Ende erschienen, weil hernach nichts kommen konnte als der Alltag, der nicht mehr spendet, nur noch raubt.
Vielleicht auch wurde ihr Sinn von dem verspürten Leben in ihrem Leibe umdunkelt, denn das Werdende strahlt seine Melancholien aus so wie das Vergehende. Warum sollte eine reingestimmte Seele nicht innerliche Kunde haben von dem Schicksal, das ihrer harrt und in ihren Träumen nicht um das Unabänderliche wissen?
Anmerken konnte man ihr nichts. Ihr Auge war hell, ihr Blick voll Ruhe. Oft saß sie vor der Maske der Zingarella, die sie jeden Tag mit frischen Blumen umkränzte und die ihr ein geheimnisvolles Bild alles dessen war, was ihr Dasein in sich faßte.
Marianne Nothafft kam allein zur Trauung. Wie damals bei Gertruds Hochzeit hatte sie Eva zu einer Nachbarin gegeben. Sie sagte zu Daniel und Lenore, daß sie es nicht hätte über sich gewinnen können, das Kind mitten im Winter auf die Reise mitzunehmen. Sie sprach von Eva nur mit halblauter Stimme, und ein zärtliches Lächeln spielte um ihren harten Mund.
Bei der Trauung in der Egydienkirche waren der Notar [400] und die Notarin Rübsam anwesend, der Archivrat Bock, der Impresario Dörmaul, Philippine Schimmelweis, ferner Marianne und der Inspektor Jordan. Auf der letzten Bank saß der Herr Carovius, und unter einem Pfeiler stand, ungesehen von den meisten, Eberhard von Auffenberg.
Philippine hockte häßlich zusammengekauert neben dem Inspektor, und hätte sie nicht an ihren Fingernägeln gebissen, so hätte man glauben müssen, sie schlafe.
Während das Brautpaar zum Altar schritt, fiel plötzlich die volle Sonne durch die Kirchenfenster, und es wirkte eigentümlich rührend, als dabei Lenore das Haupt erhob, den Schleier zurückstreifte und mit schimmernden Augen das goldene Licht empfing.
Der alte Jordan hatte die Stirn auf das Betpult gelegt und sein Rücken zitterte.
Spät in der Nacht, und in unsinniger Erregung, weil eines hochzeitlichen Bettes denkend, das ihn den äußersten Qualen der Eifersucht preisgab, spielte Herr Carovius auf seinem Klavier die Revolutionsetüde von Chopin. Immer wieder begann er von vorn, immer wuchtiger wurde sein Anschlag, immer toller das Tempo, immer großartiger der Schwung seiner Gebärden und immer drohender sein Gesicht.
Er hielt Abrechnung mit dem Weibe, das er leibhaftig vor sein neronisches Tribunal nicht ziehen konnte und schüttete, was er gegen den Musiker Nothafft auf dem Herzen hatte, in die Musik eines andern. Der Neid des Nachempfinders vergriff sich am Schöpfer, die Ohnmacht des Schmeckers raste gegen den Koch. Es war, wie wenn ein durchgefallener Komödiant in der Wildnis deklamiert, wo ihm nur das Echo seiner eigenen Stimme antwortet.
[401] Sein Haß gegen das Allgemeine, gegen die Einrichtungen der Gesellschaft, gegen Gesetz und Wohlfahrt, Staat und Familie, Liebe und Ehe, Weib und Mann war zur höchsten Flamme aufgelodert. Selten hat einer so sich selber aufgerissen, zerfleischt und besudelt wie dieser entbürgerte Bürger, indem er musizierte. Er machte die Musik zu einer ausschweifenden Orgie, zu einem erniedrigenden Laster.
»Genug!« röchelte er, mit einer grellen Disharmonie schließend. Er schlug krachend den Deckel des Instruments zu und warf sich in einen abgeschabten Ledersessel.
Was sein inneres Auge sah, spottet des Wortes. Er war in dem Haus dort. Er hatte die Macht, seinen Nebenbuhler zu zerschmettern. Er durfte das Weib mißhandeln, das ihm durch die Tücke der Umstände versagt war. Er züchtigte sie, er zog die Wimmernde bei den Haaren aus dem Bette der Lust. Er weidete sich an ihrer Scham, wie auch an den zornigen Zuckungen des geknebelten Musikers. Er ersparte ihnen keine Beschimpfung, die ganze Stadt war Zeuge seines Strafgerichts, und alle Menschen fürchteten sich vor ihm.
So befriedigt der Kleinbürger seinen Rachedurst. So ahndet der Nero unserer Zeit die Verbrechen, die die Menschheit dadurch an ihm verübt, daß sie sich Genüsse und Glücksgüter verschafft, deren er nicht teilhaftig werden kann.
Weil er aber heute mehr als je seine grauenhafte Verlassenheit empfand und ihm das Unrecht zu Bewußtsein kam, welches ihm der eine Mensch zufügte, an dem er seit Jahren mit hündischer Treue hing und der ihn jetzt mied, wie man einen zum Dienst nicht mehr tauglichen Hund meidet, so beschloß er in sei nem erbitterten Gemüt, hierfür eine Sühne zu nehmen, die nicht in bloßen Phantasiespielen bestand.
Mit diesem Vorsatz suchte er endlich den Schlaf.
Der Inspektor hauste nun allein in den beiden Dachstuben. Er hatte sich von selbst erbötig gemacht, an Lenores Stelle die Schreibarbeiten anzufertigen, und die Arbeitgeber hatten sich damit einverstanden erklärt. So verdiente er wenigstens die Miete und konnte auch ein paar Taler für seine Beköstigung zahlen.
Lenore und Daniel schliefen in dem vorderen Eckzimmer; in der Wohnstube, wo jetzt auch das Klavier stand, arbeitete Daniel. Philippine und Agnes blieben in der Kammer neben der Küche.
Noch immer band Lenore Blumen, noch immer bezog sie von dem mysteriösen Unbekannten reichlichen Lohn dafür. Sie trieb diese Beschäftigung nicht in Daniels Nähe, sondern in ihrem früheren Stübchen unterm Dach.
Da saß oft der Vater bei ihr und schaute ihr gedankenvoll zu. Sie hatte bisweilen das Gefühl, als ob er um alles gewußt habe, was zwischen ihr und Gertrud und Daniel vorgefallen war, und als habe er nur in unendlicher Zartheit und Bescheidenheit, wohl auch in Furcht und Schmerz, darüber geschwiegen. Denn vor dieser Zeit war er nie bei ihr gewesen, hatte sie nie so still angeschaut, war immer vorübergegangen, immer bestrebt gewesen, allein zu sein.
Es dünkte ihr, als wisse er überhaupt vieles von Menschen und Dingen und schweige nur aus sanfter und mitleidiger Überlegenheit.
Daniel lebte nicht viel anders denn vor der Hochzeit. Nächtelang saß er am Tisch und schrieb. Oft traf ihn die frühaufstehende Lenore, mit der Feder in der Hand und eingeschlummert. Dann lächelte sie eigen und weckte ihn durch einen Kuß auf die Stirn.
Er schrieb die Noten aus dem Kopf wie andere Leute ihre Briefe. Er brauchte gar kein Instrument mehr zur Probe und Unterstützung.
[403] Einmal zeigte er Lenore achtzehn verschiedene Fassungen von ein und derselben Melodie. Die ganze Arbeit der Nacht hatte darin bestanden, zu ändern und wieder und wieder zu ändern. Lenores Herz war beklommen, und beinahe hätte sie gefragt: Für wen, Daniel? Alles für die Truhe?
Langsam fing sie an zu begreifen, daß nicht der grübelnde Verstand die Stufenfolge der Vollendung erzwingt, sondern der sittliche Wille. Es kam wie ein Blitz, daß sie eines Tages das dämonische Element in diesem Trieb erkannte, den sie ehedem seiner Bastelsucht und seinem nörglerischen Wesen hatte zuschreiben wollen. Da schauderte sie vor der ungeahnten Not und fühlte Erbarmen mit dem Mann, der sich in Finsternis vergrub, um die Welt lichter zu machen.
Die Welt? Was wußte die Welt von den Gebilden ihres Daniel? Opus auf Opus lag in der großen Truhe, und kein Mensch bekümmerte sich um die in einem Sarg ruhenden Schätze von Musik.
Das ging nimmermehr mit rechten Dingen zu. Es war etwas verdorben im Uhrwerk der Zeit; es war etwas krank in den Menschen, da war irgendein Gift, irgendein Übel, irgendein arges Versäumnis.
Sie konnte an gar nichts anderes mehr denken. Eines Tages machte sie sich auf und besuchte den alten Herold. Zuerst ließ er sie bärbeißig an, dann hörte er immer aufmerksamer zu. Ihre Züge waren wunderbar belebt, während sie sprach, und Professor Herold äußerte sich später: »Wenn man mir die ewige Seligkeit dafür verspräche, daß ich das Bild dieser schwangeren Frau vergessen soll, wie sie vor mir stand, um in Sachen Daniel Nothafft gegen Publikus zu plädieren, ich tät's nicht, ich könnt's nicht vergessen.«
Der Alte bat Lenore, sie möge ihm womöglich eine von Daniels letzten Kompositionen bringen. Sie sagte es zu und entwendete am anderen Morgen das Streichquartett in B-Moll aus der Truhe. Sie trug es zum Professor hin, [404] er schlug die Partitur auf und begann zu lesen. Lenore setzte sich und betrachtete geduldig die vielen gemalten Bilderchen, die an den Wänden der Stube hingen.
Eine Stunde war verflossen. Der weißhaarige Mann schlug das letzte Blatt um, stemmte die geballte Faust auf das Papier, und um seinen Löwenmund zuckte es halb grimmig, halb im erschütterten Gefühl, als er sagte: »Der Prozeß wird in Gang gebracht, Sie würdigste aller Lenoren, oder ich bin nicht mehr der Herold.«
Er schritt erregt hin und her, rang die Hände und rief: »Welch ein Aufbau! welche Klangfarbe! was für ein Reichtum an Melodie, an Rhythmus, an Ursprünglichkeit! Welche Bändigung! welche Süßigkeit! welche Kraft! Was für ein Kerl überhaupt! Und so einer lebt! Hier unter uns lebt so einer, plagt sich, sorgt sich. Schimpf und Schande! Marsch, liebe Frau, gehen wir zu ihm, ich muß ihn an meine Brust drücken ...«
Aber Lenore, deren Gesicht heiß war vor Glück, unterbrach ihn und sagte: »Dann würden Sie alles verderben. Raten Sie mir lieber, was zu tun ist. Er wird immer eigensinniger und immer bissiger, wenn nicht endlich ein Sonnenstrahl von außen auf sein Geschaffenes fällt.«
Der Alte sann. »Lassen Sie mir die Partitur, ich möchte was damit unternehmen,« erwiderte er nach einer Weile.
Voll Hoffnung ging Lenore von ihm weg.
Das Quartett wurde nach Berlin geschickt und kam in die Hände eines Mannes von Einfluß und Verständnis. Einige Leute vom Fach lernten alsbald die Komposition kennen. Professor Herold erhielt einige begeisterte Briefe und beantwortete sie klug. Es bildete sich dort ein Sagenkreis um die Person des unbekannten Meisters. Man erzählte sich, daß er als Klausner in den fränkischen Wäldern lebte und Enthaltsamkeit von irdischen Genüssen predige.
In Leipzig wurde das Quartett einem Zirkel von Musikfreunden [405] vorgespielt. Der Beifall klang ganz anders als man ihn bei einer mit musikalischen Neuigkeiten überfütterten Versammlung gewohnt war.
Dadurch erfuhr Daniel endlich das Geschehene. Eines Tages bekam er einen Brief von dem Veranstalter des Konzerts, einem Geheimrat Löwenberg. Der Brief schloß mit den Worten: »Eine Gemeinde von Verehrern ist nach Ihren Schöpfungen begierig und grüßt Sie in herzlicher Dankbarkeit.«
Daniel traute seinen Augen nicht. Es war wie Hexerei. Stumm reichte er den Brief Lenore. Sie las ihn und blickte Daniel ruhig an.
»Ja, ich bin schuld,« sagte sie, »ich habe das Quartett gestohlen.«
»Soso; weißt du denn auch, was du mir damit angetan hast, Lenore?«
In Lenores Gesicht malte sich Verwunderung und Schrecken.
»Du sollst es wissen,« sprach er ernst, »vielleicht vergeht dir künftighin die Lust zu solchen Weiberstreichen.«
Er ging auf und ab und blieb dann dicht vor ihr stehen. »Du hältst mich wahrscheinlich für einen Dickkopf und Justamentschädel; für einen, dem einmal der Frost die Finger zerbeult hat und der nun hinterm Ofen sitzt und raunzt und das Wetter scheut. Da bist du auf dem Holzweg. Früher war etwas Ähnliches bei mir im Verzug, jetzt hat's keine Gefahr mehr.«
Er ging wieder auf und ab, blieb wieder stehen. »Nicht weil sie mir zu gut scheinen, oder weil ich zu faul und zu feig bin, verwahr' ich meine Elaborate unter Schloß und Riegel. Da müßt ich ja Heu im Kopf haben, wenn ich nicht begriffen hätte, daß die Wirkung zum Werk gehört wie die Wärme zum Feuer. Ein Werk, das nicht zu den Menschen redet, ist so gut wie nicht geschaffen. Es sind Lügner, die sich einbilden, sie könnten auf Anerkennung oder Erfolg verzichten. Was ich [406] gemacht habe, ist gar nicht mehr mein Eigentum; es strebt zur Welt und ist ein Stück der Welt und ich muß es ihr geben, wohlgemerkt, falls es etwas Lebendiges ist.«
»Nun also, Daniel,« kam es erleichtert von Lenores Lippen.
»Eben, da liegt der Hase im Pfeffer,« fuhr er unbeirrt fort, »um die Lebendigkeit handelt's sich, um die wahre Wesenhaftigkeit. Wozu die Leute mit dem Halbfertigen und Unausgereiften abspeisen? Sie haben sich mit zu vielem von der Art zu plagen. Zu viele wollen, zu viele können heutzutage, aber es ist kein Himmelszwang dabei, kein göttliches Muß. Mein Unvollkommenes würde meinem Vollkommenen nur die Bahn sperren. Hat einen das Publikum mal verführt, daß man sich am Halben genügt, dann wird das Ohr taub und die Seele blind, eh man's recht weiß, und man ist dem Teufel verfallen. Der falsche Schritt ist schnell getan, ein Zurück gibt's nicht, denn so zahllos wie die Möglichkeiten, so einmalig ist die Tat, und so ersprießlich die Ermunterung von außen sein kann, so mörderisch ist sie, wenn sie das Gewissen überlärmt. Was ich da in all den Jahren verfertigt habe, es sind ja gute Sachen, aber es sind schließlich nur Versuche zu dem Großen, was mir vorschwebt. Vielleicht schmeichl' ich mir mit Trug und Traum, vielleicht überschätz ich meine Kraft, aber es steckt in mir drinnen und muß an den Tag. Es wird sich ja dann zeigen, was für eine Kreatur es ist. Dann hat das Dahintenstehen ein Ende, dann will ich mich schon rühren, dann tret ich hinaus, dann will ich auch als der gelten, der ich bin. Darauf kannst du dich verlassen.«
Kaum jemals hatte Daniel so zu Lenore gesprochen. Als sie ihn anschaute, von der Leidenschaft seiner Worte bezwungen und ihn dastehen sah, so furchtlos, so ehern unerbittlich, hob ein Seufzer ihre Brust, und sie sagte: »Gebe Gott, daß es gelingt und daß du's erlebst.«
»Es ist alles Schicksal, Lenore,« entgegnete er.
Er forderte und erhielt das Quartett zurück.
[407] Von da an unterdrückte Lenore jede Regung der Unzufriedenheit in sich. Sie spürte, daß er Grausamkeit und Härte für das kleine Leben brauchte, um Geduld und Liebe für das große zu bewahren.
Ja, sie betete zur Vorsehung, daß sie ihn grausam und hart bleiben lasse.
Lenore ist mein Weib, sagte sich Daniel bisweilen, und es geschah, daß er mitten auf einem Weg innehielt, um die Süßigkeit dieses Bewußtseins ganz zu halten.
Er wußte es immer. Doch wenn er bei Lenore war, vergaß er nicht selten ihre Gegenwart. Es gab Tage, wo er an ihr vorüberging wie an einem zufälligen Gast.
Es gab andere Tage, wo das Glück ihn zweifelsüchtig stimmte und ihn fragen ließ: ist es denn das Glück? warum empfinde ich's nicht schauriger, glühender?
Oft prüfte er ihre Gestalt, ihre Hände, ihren Schritt und wünschte sich neue Augen, um sie neu zu sehen. Und er ging fort, um sie besser zu sehen. Wenn er nachts mit der Kerze an ihr Bett trat, wich ein sanftes Leid aus ihren Zügen, und die Flammenbläue ihres Blicks ließ seine Pulse rascher schlagen.
Es ist ein Punkt, wo die keuscheste Frau sich nicht von einer Dirne unterscheidet; das macht den tiefsten Schmerz des Mannes, welcher liebt, und kein Weib kann diesen Schmerz verstehen oder nur ahnen.
So grübelnd und bildlos hadernd, in den Armen der Geliebten, empfing er das abgründig wehvolle Eingangsmotiv in D-moll der Symphonie, die allmählich zur großen Vision seines Lebens wurde und der, viele Jahre später, eine Anhängerin den Namen der prometheischen verlieh. Beim Erklingen des Themas brüllte er auf wie ein Tier, aber vor Freude. [408] Ihm war, als sei in diesem Augenblick die Musik überhaupt erst geboren worden.
Er preßte Lenore so heftig an sich, daß ihr der Atem verging und murmelte zwischen den Zähnen: »Man hat nur die Wahl, aneinander stumpf oder aneinander wund zu werden.«
»Die Maske, die Maske,« flüsterte Lenore bang und wies in die Ecke, wo die Maske der Zingarella aus der Halbdunkelheit wie ein unheimlich-schönes Gespensterantlitz leuchtete.
Vor der Tür stand Philippine und horchte. Sie hatte eine Ratte gefangen, hatte sie getötet und legte den Kadaver auf die Schwelle. Als Lenore am andern Morgen in die Küche gehen wollte, stieß sie einen lauten Schrei aus und wankte zitternd in die Stube zurück.
Daniel strich über ihr Haar und sagte: »Kränk dich nicht, Lenore, auch Ratten gehören in die Ehe, so gut wie versalzene Suppen, zerbrochene Kochtöpfe und Löcher in den Strümpfen.«
»Ach, Daniel, soll das ein Vorwurf sein?« fragte Lenore mit ihrem melancholischen Kinderlächeln.
»Nein, Liebe, kein Vorwurf, nur ein Bild der Welt. Du hast eine Prinzessinnenseele, du weißt nichts von den Ratten. Sieh einmal die starren schwarzen Perlenaugen, sie erinnern mich an Jason Philipp Schimmelweis und an Alphons Diruf und an Alexander Dörmaul und an Stammtische und Kaffeekränzchen und Schweißfüße und Vereinsabende und alles, was unappetitlich, gemein und böse ist. Schau mich nicht so erstaunt an, Lenore, ich hab einen häßlichen Traum gehabt, nichts weiter. Ein lumpig aussehender Mensch wollte immerfort deinen Namen wissen, ich konnt ihn aber nicht nennen, denke dir, es war mir ganz entfallen, wie du heißt. Es war unerhört quälend. Lebwohl, lebwohl.«
Er hatte seinen Hut aufgesetzt und ging. Er rannte in die Gegend von Feucht und blieb den ganzen Tag im Freien, ohne etwas anderes zu sich zu nehmen als Schwarzbrot und Milch. [409] Dafür staken seine Taschen am Abend bei der Rückkehr voll von Notenskizzen.
Er machte den Umweg über den Burgberg und klopfte am Häuschen Eberhards von Auffenberg an. Da nicht geöffnet wurde, schlenderte er eine Weile an dem alten Gemäuer entlang und kam gegen neun Uhr wieder. Auch jetzt waren die Fenster noch schwarz.
Seit zwei Monaten hatte er Eberhard nicht gesehen. Er entsann sich jetzt des bedrückten und erregten Wesens des Freiherrn, als er ihn zuletzt, Ende März war es gewesen, aufgesucht hatte. Eberhard hatte wenig gesprochen und mit eigentümlich blicklosen Augen vor sich hingestarrt; er hatte den Eindruck eines Menschen gemacht, der im Begriff ist, Ungewöhnliches, ja sogar Schreckliches zu erleben.
Dies kam Daniel erst jetzt zu Bewußtsein, er hatte in den vergangenen Wochen nicht mehr daran gedacht und bedauerte sich nicht um Eberhard gekümmert zu haben.
Als er nach Hause kam, lag Lenore in verfrühten Wehen. Philippine empfing ihn mit den Worten: »Es gibt Familienzuwachs, Daniel.« Und sie schlug ein rohes Gelächter auf.
»Schweig, Kröte!« herrschte Daniel sie an; »seit wann hat sie Schmerzen? Warum holst du nicht die Hebamme?«
»Kann ich's Kind allein lassen? Schimpf einen nicht so,« erwiderte Philippine mürrisch und drohend. Sie ging fort und holte die Hebamme. Nach einer halben Stunde kehrte sie mit der Frau zurück. Es war Frau Hadebusch.
Daniel war unangenehm berührt. Er wollte fragen und Widerspruch erheben, Frau Hadebusch kam ihm mit ihrer alten Zungengeläufigkeit zuvor. Grinsend, knicksend, augenverdrehend und auf alle Weise schöntuend, berichtete sie, daß ihr [410] Ehegespons vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet habe und daß sie sich und ihren armen Heinrich, den Idioten, als Geburtshelferin schlecht und recht ernähre. Sie schien sich schon mit Lenore ins Einvernehmen gesetzt zu haben, denn als sie ins Zimmer trat, wurde sie von dieser wie eine Bekannte begrüßt.
Während Daniel ein paar Minuten mit Lenore allein war, fragte er entrüstet: »Wie kommst du denn zu dem lästerlichen Weib?«
Sanft und arglos antwortete Lenore: »Sie ist halt eines Tages dagewesen und hat mir zugeredet. Sie hat von dir geschwärmt und hat mir erzählt, daß du bei ihr gewohnt hast, und da hab ich gedacht: es ist ja gleich, welche es ist, und hab sie bestellt.«
Mit Mühe sprach sie zu Ende. Ihr Gesicht, weiß wie Papier, spannte sich im Ausdruck ungeheurer Qual. Sie langte nach Daniels Hand und umklammerte sie so stark, daß ihm vor Angst kalt wurde.
Als sie zu stöhnen begann, wandte er sich ab und drückte die Fäuste gegeneinander. Frau Hadebusch trug einen Kübel voll heißen Wassers herein. »Hier hat kein Mannsbild was zu tun!« kreischte sie mit freundlicher Gesichtsverzerrung, packte Daniel bei der Schulter und schob ihn durch die Tür.
Die kleine Agnes stand im Flur und sagte: »Vater.«
»Bring das Kind zu Bett,« schrie Daniel Philippine an.
Der Inspektor trat aus der Küche. Er hielt ein irdenes Näpfchen, in welchem sich Suppe befand, die man ihm aufgehoben hatte und die er sich selbst überm Herdfeuer gewärmt hatte. Er ging auf Daniel zu und sagte mit bebendem Kinn: »Unser Herrgott schütze sie und verfahre gnädig mit ihr!«
»Laß das, Vater,« antwortete Daniel ungeduldig. »Unser Herrgott regiert mit Vorbehalten, die mich toll machen.«
»Willst der Agnes nicht Gutnacht sagen?« fragte Philippine in unwirschem Ton aus der Kammer.
[411] Er ging hinein. Das Kind schaute ihm furchtsam entgegen. Je mehr es zum Menschen heranwuchs, je größer wurde seine Scheu vor diesem Kind. Vollends unerträglich war ihm stets das Beisammensein Lenores mit dem Kind gewesen. Ergründen hatte er das Gefühl nicht können. Er wußte nur so viel, daß er Lenore nicht mehr eigenlebend sah, wenn das Kind mit seinen großen Gertrudsaugen und dem gebogenen Lenorenmund daneben war, sondern daß sie sich plötzlich in die Schwester jener andern verwandelte, daß sie nur noch Schwester war. Und dies empfand er als etwas Verhängnisvolles.
Aus Agnes' großen Kinderaugen blickten ihn beide Schwestern an, zu einem einzigen Wesen verschmolzen, und ein vorauswissendes Entsetzen beschlich ihn. Schwestern! Das Wort klang auf einmal feierlich in seinen Ohren, voll dunkler Beziehung, mythisch groß.
»Schlaf, Kindla, schlaf, da draußen stehn zwei Schaf, ein schwarzes und ein wei–ißes ...« plärrte Philippine. Wunderlich, wie viel Bösartigkeit in ihrem Singsang lag.
Daniel hielt es in der Wohnung nicht aus und irrte bis weit über Mitternacht in den Straßen herum. Immer, wenn er den Entschluß faßte, heimzukehren, mußte er daran denken, daß ihm Frau Hadebusch in den Weg treten würde, und da hätte er sich lieber aufs Pflaster legen und warten mögen, bis ihm jemand Kunde zutrug, wie es mit Lenore ging.
Es schlug eins, als er das Haustor öffnete. Am Stiegengeländer standen die Magd vom ersten und die Magd vom zweiten Stock. Sie hatten nicht Schlaf finden können. In ihren Kammern hatten sie die Schreie der jungen Frau vernommen. Jetzt hatten sie sich zueinander gesellt und lauschten zitternd. Und raunten.
[412] Daniel hörte die eine sagen: »Da sollte der Kapellmeister doch um den Doktor schicken.«
Die andere seufzte und erwiderte: »Ein Doktor kann auch nicht hexen.«
»Jesus, Jesus,« riefen nun alle beide, als wieder ein markerschütternder Schrei durch das öde Haus hallte.
Daniel stürmte die Treppen hinauf. »Zum Doktor Müller, so schnell du kannst,« sagte er keuchend zu Philippine, die mit struppig aufgelösten Haaren und barfuß in der Küche stand und Tee kochte. Dann eilte er zu Lenore hinein. Frau Hadebusch wollte ihn nicht zu ihr lassen, er stieß sie zähneknirschend beiseite und warf sich am Bett nieder.
Lenore hob den Kopf. Sie war totenbleich, ihr Gesicht war von Schweiß überströmt. »Daniel, du darfst hier nicht sein, darfst mich so nicht sehen,« stammelte sie mit Anstrengung, aber ihr Ton war so bestimmt und so gebieterisch, daß Daniel aufstand und zögernd aus dem Zimmer ging. Ein seltsamer, rasender Zorn erfaßte ihn. Er trank in der Küche Wasser und schleuderte das Glas zu Boden, daß es in hundert Scherben zersprang.
Frau Hadebusch war ihm gefolgt. Sie sah finster aus. Als er dies bemerkte, schwindelte ihn, und er mußte sich setzen. »Der Doktor wird kommen,« sagte er rauh.
»Herrjemine, was es jetzet für kotzwehleidige Leut gibt,« keifte die Alte, doch war ihr die Nachricht ersichtlich ganz angenehm. Sie fand sich durch den heutigen Fall in Schwierigkeiten verstrickt, denen sie sich nicht gewachsen fühlte. »Der Satan soll so ein zartgebautes Weibsvolk holen,« hatte sie vor einer Stunde gegen die grinsende Philippine bemerkt.
Philippine kam zurück und meldete, der Doktor Müller sei auf Urlaub. »Ist denn nur der eine in der Stadt, du Vieh?« heulte Daniel, »so geh zum Doktor Dingolfinger. Der wohnt noch näher, gleich neben dem Pellerhaus. Oder bleib da, ich lauf selber.«
Doktor Dingolfinger war ein jüdischer Arzt, ein ziemlich [413] bejahrter Mann schon, und es dauerte lange, bis ihn Daniel aus dem Schlaf geläutet hatte. Endlich schritt er an seiner Seite über den Platz. Er hatte das Lämpchen im Tor stehen lassen und leuchtete dem Doktor voran.
Dann saß er auf dem Küchenbänkchen, wie lange, das wußte er nicht, den Rumpf vorgeneigt, den Kopf in die Arme gestützt. Die Schreie wurden immer ärger. Es war nicht mehr Lenores Stimme, es war eine entmenschte, eine entseelte Stimme. Daniel hörte, dachte, fühlte nichts anderes als diese Stimme. Bisweilen durchzuckte ihn der schauerliche Ruf: Schwestern! Schwestern!
Frau Hadebusch holte mehrmals heißes Wasser. Der gelbe Zahn starrte aus ihrem Unterkiefer wie ein geiles und aberwitzig freches Überbleibsel des Lebens. Einmal erschien Doktor Dingolfinger, kramte in seiner Ledertasche, die er im Flur aufgehängt hatte, erblickte Daniel und sagte mit abirrenden Augen: »Es wird schon gehen, es wird schon werden.« Danach schlurfte Philippine an den Herd und warf Kohlen zu. Mit heimlichem Schielen beobachtete sie Daniel und ging wieder. Von Stunde zu Stunde pochte der alte Jordan am Gatter, damit Philippine ihm Bericht erstatte.
Es mochte vier Uhr sein, die düsteren Steinquadern der Hofgebäude schimmerten bereits im rosigen Frühlicht, da erschallte ein Schrei so fürchterlich, so namenlos wild, daß Daniel aufsprang und an allen Gliedern bebend stehen blieb.
Dann wurde es ruhig, unheimlich ruhig.
Er setzte sich wieder hin. Nach einer Weile fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein.
Eine halbe Stunde mochte er geschlafen haben, da weckten ihn Schritte.
[414] Rings um ihn standen der Doktor, Frau Hadebusch und Philippine. Der Doktor sagte etwas, wozu Daniel den Kopf schüttelte. Es klang wie: »Leider kann ich Ihnen die traurige Mitteilung nicht ersparen.« Daniel verstand ihn nicht. Er zog die Lippen auseinander und dachte: so wirres Zeug zu träumen!
»Mutter und Kind, beide tot,« sagte der alte Doktor mit Tränen in den Augen, »beide tot. Ein Knäblein war's gewesen. Hier war die menschliche Wissenschaft ohnmächtig, ist die feindselige Natur stärker gewesen. Die Verblutung war nicht aufzuhalten.«
»So zart gebaut,« murmelte Frau Hadebusch mißbilligend, »wie ein Pflanzenstengel so zart.«
Als Daniel allgemach die Überzeugung erlangte, daß er nicht träumte, daß dies Philippines glitzernde Augen wirklich, Frau Hadebuschs geiler Zahn wirklich, Doktor Dingolfingers Silberbart wirklich war und daß er wirkliche Worte gehört, fiel er um und verlor die Besinnung.
Schmerz, Trauer, Verzweiflung, das waren nicht die Worte, die seinen Zustand bezeichneten.
Er wußte nichts von sich und hatte keine Gedanken. Er lag auf dem Kanapee in der Wohnstube, Tag und Nacht, aß nicht, sprach nicht, rührte sich nicht.
Als sie den leeren Sarg in die Sterbekammer trugen, wühlte er das Gesicht tief in die Ecke des Kanapees. Der alte Jordan wankte durch den Raum, um sein totes Kind noch einmal zu sehen. »Er hat sich versündigt,« schluchzte er drinnen auf, »er hat sich an unserm Herrgott versündigt.«
Im Flur draußen wurde getuschelt. Martha Rübsam und ihr Mann, der Notar, hatten sich eingefunden. Martha weinte [415] still. Ihre schmale Gestalt mit dem blassen Gesicht stand im Türrahmen, und sie suchte Daniel mit den Blicken.
»Willst deine Lenore nicht noch anschauen, vor sie den Sarg zumachen?« fragte Philippine dumpf.
Er rührte sich nicht; seine Züge verzerrten sich grauenhaft.
Neben ihm auf dem Tisch standen kaltgewordene Speisen, auch Brot und Äpfel.
Sie trugen den Sarg hinaus. Es schien ihm, als sei an der Stelle seines Herzens ein schwarzer, leerer Raum. Die Glocken tönten, ans Fenster klatschte Regen.
In der zweiten Nacht darauf verspürte er eine wunderliche Lockerung seines Gemüts. Dann ein kurzes Aufflammen, dann wurde es brennend naß in seinen Augen. Lautlos ergab er sich und ihm war, als begriffe er zum erstenmal in seinem Leben die Schönheit des reinen Dur-Dreiklangs.
Es verging noch ein Tag. Er vernahm, wie der alte Jordan über ihm herumging, mit schweren Schritten, unablässig. Es fror ihn, und als Philippine ins Zimmer huschte, bat er sie um eine Decke. Philippine war überaus eifrig, ihm zu willfahren. Da bimmelte das Flurglöckchen. Philippine ging hinaus und öffnete.
Vor ihr standen ein Herr und eine Dame. Sie hatten etwas so Vornehmes, daß Philippine nicht wagte, sie zurückzuhalten, als sie zur Tür der Wohnstube schritten, die nicht zugemacht war und durch die man Daniel auf dem Kanapee liegen sah.
Daniel schaute den Eintretenden gleichgültig entgegen. Ganz allmählich kamen Sammlung und Erinnerung in seinen Blick.
Es waren Eberhard von Auffenberg und seine Kusine, Sylvia von Erfft, die ihn besuchten. Sie waren ein verlobtes Paar.
In bedeutenden Umwälzungen seines Lebens stehend, hatte Eberhard erst vor wenigen Stunden vom Tod Lenores Kunde erhalten.
[416] Es war ein seltsamer Besuch. Keines von den dreien sprach ein Wort, und Daniel blieb unter seiner Decke regungslos liegen. Nur als Sylvia sich erhob, sagte sie, zu Daniel gewandt: »Ich kannte Lenore nicht, aber es ist mir doch, wie wenn wir Freundinnen gewesen wären.«
Eberhard stieß sein Drosselbartkinn in die Luft und war blaß und stumm.
Sie kamen an den folgenden Tagen wieder, und nach und nach übte die Gegenwart der beiden einen wohltuenden Einfluß auf Daniel aus.
[417][419]Herr Carovius führte den Vorsatz, den er in der Erbitterung über Lenores Heirat gefaßt hatte, wenige Tage später aus.
Es war Ende März gewesen; er hatte erfahren, daß der alte Freiherr eben aus Berlin zurückgekehrt sei. Er ging hin und ließ sich melden. Es wurde ihm gesagt, der Herr Baron empfange niemand, er möge sein Anliegen schriftlich vorbringen.
Herr Carovius wollte aber seinem Schuldner Aug in Auge gegenübertreten, das war ja gerade sein Traum, und als er bei einem zweiten Versuch wieder abgewiesen wurde, machte er einen gewaltigen Lärm und verlangte, man solle ihn dann wenigstens zur Freifrau führen.
Die Freifrau hatte ihre Musikstunde. Die fünfzehnjährige Dorothea Döderlein, die eine hoffnungsvolle Virtuosin auf der Geige war, spielte mit der Freifrau Sonaten.
Andreas Döderlein hatte ihr Talent schon früh erkannt. Seit ihrem zehnten Jahr hatte sie täglich sechs Stunden üben müssen. Sie hatte verschiedene Lehrer gehabt, die sie alle durch ihre Ungebärdigkeit zur Verzweiflung brachte. Nur vor ihrem Vater duckte sie sich.
Mit Worten voll objektiver Anerkennung hatte Andreas Döderlein der Freifrau seine Tochter empfohlen. Die Freifrau erklärte sich bereit, mit ihr zu musizieren, und Andreas Döderlein sagte zu Dorothea: »Du hast nun eine Gelegenheit, durch Protektion emporzukommen; versäume sie nicht. Die [421] Baronin liebt das Gefühlvolle. Sei gefühlvoll. Manchmal verlangt sie etwas Dämonisches. Tu ihr den Willen. Nach Art reicher Leute hätschelt sie irgendeinen Luxuskummer. Störe sie darin nicht.«
Dorothea war gelehrig.
Sie spielten die Frühlingssonate von Beethoven, als der Lärm auf dem Vorplatz erscholl. Die Zofe kam und flüsterte ihrer Herrin etwas zu. Die Freifrau erhob sich und schritt zur Türe, Dorothea ließ den Geigenbogen sinken und blickte mit etwas erkünstelter Verwunderung um sich, als erwache sie aus einem Traum.
Auf einen Wink der Freifrau gab der alte Diener Herrn Carovius den Weg frei. Mit rotem Gesicht trat er ins Zimmer und machte einen lächerlichen Kratzfuß. Seine Augen verschlangen die seidenen Portieren, den geschliffenen Spiegel, die Kristallvasen, die Bronzefiguren, dabei hatte er den rechten Arm in die Hüfte gestemmt, ein Bein elegant vor das andere gesetzt und sah aus wie ein Provinztanzmeister.
Er schimpfte über die Anmaßung der Domestiken und versicherte die Freifrau seiner Ehrerbietung. Er sprach von seinem guten Willen und vom Druck der Umstände. Als ihn die ungeduldige Miene der Zuhörerin endlich veranlaßte, auf den Zweck seines Besuches zu kommen, zuckte die Freifrau zusammen, denn von dem ganzen Schwall von Worten vernahm sie nichts weiter als den Namen ihres Sohnes.
Mit hauchenden Lauten näherte sie sich Herrn Carovius und packte ihn beim Ärmel. Ihre glanzlos schwarzen Augen wurden kugelrund, der flehentliche Blick darin war Balsam für Herrn Carovius.
Da genoß er sich; da wurde er frech; da wollte er sich an der Mutter für die Hoffart des Sohnes rächen. Er sah, daß die Freifrau der Vorstellung nicht entsprach, die er sich vom Wesen einer Aristokratin gemacht. In seiner Phantasie und Erinnerung lebte sie als eine gebieterische und unzugängliche [422] Erscheinung, nun stand vor ihm eine fette, ängstliche alte Dame. Infolgedessen verlieh er seiner Stimme einen schrilleren Klang, seinem Gesicht einen boshafteren Ausdruck, als er die unglückliche Lage zu schildern begann, in die er durch Eberhard geraten.
Seine Gutmütigkeit sei an allem schuld. Freilich, ohne ihn hätte das Barönlein verhungern oder sonstwie im Elend verkommen müssen, denn mit der moralischen Widerstandskraft sehe es bei dem jungen Herrn windig aus. Aber was habe er davon gehabt? Undank, bitteren Undank.
»Hat mich ausgeplündert bis auf den letzten Heller und dann so getan, als wär's meine verdammte Pflicht gewesen, für Seine freiherrliche Gnaden ins Feuer zu springen,« schrie Herr Carovius. »Ehedem war ich ein vermöglicher Mann, ein Mann, der sich sattessen konnte, ein Mann, der hin und wieder die Annehmlichkeiten des Daseins genoß. Heute bin ich ruiniert. Mein Geld ist hin, mein Haus mit Hypotheken überlastet, meine Seelenruhe beim Teufel. Zweimalhundertsechsundsiebzigtausend Mark ist der junge Herr mir und meinen Geschäftsfreunden schuldig, alles hübsch aufgeschrieben und unterschrieben und bei Zins und Zinseszins summiert. Soll ich mir dafür noch die Tür vor der Nase zuschlagen lassen? Das müssen Sie doch selbst einsehen, Frau Baronin, daß das nicht angeht. Dafür hab ich mir schon ein bißchen Respekt verdient.«
Die Freifrau hatte die Hände zusammengepreßt und erregt vor sich hingestarrt. Jetzt ließ sie sich, in gramvoller Schwäche, auf einen Sessel fallen. Ein Grinsen irrte über das Gesicht des Herrn Carovius; er drehte den Kalabreser zwischen den Fingern, und seine Blicke liefen leer an den Wänden entlang. Da gewahrte er Dorothea Döderlein, die er bis jetzt in seinem Glücks-und Wutrausch übersehen hatte.
Als Herr Carovius eingetreten war, hatte sich Dorothea mit dem Wissen um Diskretion, aber ohne ernstlichen Vorsatz [423] dazu in den entferntesten Winkel des Raumes geschmiegt. Zitternd vor neugieriger Erregung, hatte sie in den gegenüberhängenden Spiegel geschaut und sich so klein wie möglich gemacht, weil sie von ihrem Onkel Carovius, dessen sie sich schämte, nicht erkannt werden wollte.
Sie hielt ihn für einen komischen Sonderling, der ohne Nahrungssorgen, jedoch in ziemlich beschränkten Verhältnissen lebte. Wie er nun die Summe nannte, die ihm das freiherrliche Haus Auffenberg schuldete, erfüllte sie ein verwunderter und freudiger Schrecken, und sie sah ihn plötzlich mit ganz andern Augen an.
Herr Carovius seinerseits hatte Dorothea in den letzten Jahren selten zu Gesicht bekommen. War er ihr begegnet, so war sie hastig vorübergehuscht. Daß sie das Violinspiel lernte, wußte er; zum Grauen oft hatte er das ihm abscheulich klingende Gefiedel auf Flur und Stiege vernommen.
Er fixierte das Mädchen und rief auf einmal aus: »Ein Roß will ich sein, wenn das nicht die Döderleinische ist! Wie kommst du denn daher, Nichtchen? Gehst wohl in die Häuser und produzierst dich? Ist euch die Musik noch nicht genug auf dem Hund, dir und deinem Erzeuger?«
Die Freifrau, sich der Anwesenheit des jungen Mädchens entsinnend, hob den Kopf und sah Dorothea vorwurfsvoll an. Zum erstenmal dünkte es sie, daß die Hilfsquellen versiegt seien, die sie einem Leben der Verlassenheit abgetrotzt; zum erstenmal überlief sie ein Schauder, als sie ihrer musikalischen Betäubungen gedachte.
Sie sagte zu Herrn Carovius, er möge sich einige Tage gedulden, er werde von ihr hören, sobald sie mit ihrem Mann gesprochen. Seine eifrige Erwiderung schnitt sie mit einer Geste ab, die ihn einschüchterte, dann nickte sie auch Dorothea verabschiedend zu, die ihre Geige einpackte, den Kasten in die Hand nahm, einen Knicks machte und ihrem Onkel aus dem Zimmer folgte.
[424] Sie blieb an seiner Seite. Sie gingen zusammen durch die Straßen. Herr Carovius wandte sich bisweilen mit ein paar hämischen Worten an sie. Sie lächelte bescheiden.
Damit begann das wunderliche Verhältnis, das von nun ab zwischen den beiden herrschte.
Seit einiger Zeit hatte es den Anschein, als habe sich der Freiherr von Auffenberg vom Schauplatz der Politik zurückgezogen. In den Kreisen, die ihn früher hoch gewürdigt hatten, galt er als eine gefallene Größe.
Seine Freunde suchten die Ursache in den fortwährenden Beeinträchtigungen, welche die Partei erlitten hatte; in der allenthalben zutage tretenden Umwandlung des öffentlichen Geistes, dem heftiger werdenden Druck von oben, der wachsenden Gärung von unten; in der fieberhaften Bewegung, von der das Bürgertum ergriffen war, und in der seine Gestalt, seine Lebensformen, seine Ideale, seine Überzeugungen einen bedeutungsvollen Umwandlungsprozeß erlitten, in der schwierigeren Behandlung, die alle Fragen der nationalen Kultur boten.
Aber dies konnte nicht den Zug steinernen Widerwillens erklären, den dieses Antlitz früher unter Menschen nie gezeigt; den harten Blick, die finstere Ungeduld nicht, und die Schweigsamkeit, die er auch dort übte, wo er ehemals durch sein scharmantes Plaudertalent entzückt hatte.
Im Innern freilich hatte er seine Gesinnungsgenossen stets verachtet, ihr Reden und ihr Tun, ihre Begeisterung und ihre Empörung. Aber er hatte sich trotzdem nicht von ihnen losgesagt, denn er hatte die Entdeckung gemacht, daß Geringschätzung und Herzenskälte sich sehr gut eignen, um die Menschen zu beherrschen.
[425] Wennschon er im Anfang seiner Laufbahn mit dem Schwung, den ihm seine Begabung verliehen, für Freiheit und Toleranz gekämpft hatte, so war ihm doch der ganze Liberalismus nicht viel mehr als eine Zeitungsphrase geworden, ein Mittel, um den denkfaulen Bürger zu beschäftigen und dem gehaßten, heimlich bewunderten Bismarck Hindernisse in den Weg zu legen.
Er hatte Macht ausgeübt im Bewußtsein der Lüge, nur durch Gebärde, nur durch Berechnung, nur durch Gewandtheit. Dies aber frißt am Mark des Lebens.
In seinen Augen war nichts von Bestand als jenes ungeschriebene, doch in allen Zeiten siegende Gesetz, das die Kleinen unter die Großen, die Schwachen unter die Starken, die Unmündigen unter die Erfahrenen, die Armen unter die Reichen zwang. Demnach teilte sich ihm die Menschheit in zwei Lager: hier diejenigen, die sich dem Gesetz beugten, dort die Verworfenen, die sich dagegen auflehnten.
Von den Verworfenen der Verworfenste war sein Sohn Eberhard.
Mit dem schmerzenden Stachel in der Brust, inmitten eines lärmenden und lügnerischen Daseins von dem Gefühl der Einsamkeit bedrängt, von einem täglich zunehmenden Abscheu gegen den Überfluß und die Verweichlichung seiner Existenz erfüllt, hatte er aus der Gestalt des Sohnes etwas wie ein leibhaftiges böses Prinzip gemacht.
Er erblickte ihn in Verkommenheit und in Ausschweifungen jeder Art; als einen Verräter seines Namens von Stufe zu Stufe sinkend; wie in einem grausam befriedigenden Traum sah er ihn im Bund mit den Elenden und Gezeichneten, im Verkehr mit Dieben, Straßenräubern, Hochstaplern, Falschmünzern, Anarchisten, Dirnen und Literaten. Er sah ihn in schmutzigen Spelunken, und flüchtig auf einer Landstraße, und betrunken in einer Spielhölle, und als Bettler auf einem Jahrmarkt und als Angeklagter vor der Justiz.
[426] Den Vorsatz, so lange zu warten, bis der Entartete vor aller Welt gebrandmarkt war, hatte er aufgegeben. Seine Ungeduld, Frieden zu finden, die Larven abzuwerfen, nichts mehr zu wissen von den Verstrickungen, Verstellungen und dem gewohnten Wohlleben war so groß, daß er dem Tag, der ihn erlöste, wie einer Neugeburt entgegensah.
Doch warum zögerte er? War noch ein Zweifel in seiner Brust, schlummerte vielleicht ganz in der Tiefe seines Herzens, wohin Bitterkeit und Rachsucht nicht dringen konnten, ein anderes Bild des Sohnes? Warum zögerte er von Woche zu Woche, von Monat zu Monat?
Inzwischen hatte er viele Hunderttausende für Armenhäuser, Spitäler, Stiftungen und Spenden ausgegeben. Er wollte noch Millionen verteilen, so viel jedenfalls, daß den Erben nur die Ährenlese blieb. Die Nutznießerin der Brauereibetriebe und der Landgüter sollte Emilie werden.
Dies stand fest, und als ihm seine Frau berichtet hatte, in welcher Lage sich Eberhard befand, hielt er sich für berechtigt, seine Verfügungen zu treffen. Der Nachweis unwürdigen Wandels konnte jetzt erbracht werden; die Schuldenlast, die leichtsinnig oder betrügerisch auf den Namen des Vaters gehäuft war, verurteilte ihn zur Genüge. Und wenn nicht, mochten sie über seinem Grab zanken; mochte ihnen sein letzter Wille als Gespenst alle Freuden vergällen.
Seit sieben Jahren lag der Testamentsentwurf bereit; es war nichts weiter erforderlich, als den Notar rufen zu lassen.
Aber warum zögerte der Freiherr? Ging mit verkniffenen Lippen Tag und Nacht in seinem Zimmer umher? Rief seinen Diener, um ihm zu befehlen, den Notar zu holen und verlangte dann irgend etwas anderes?
»Dépêche-toi, mon bon garçon,« krächzte der Papagei.
Im Lauf dreier Tage hatte die Freifrau fünf Unterredungen mit ihrem Gatten. Er schlug ihre Bitte, die Verhältnisse des Sohnes zu regeln, jedesmal rundweg ab, und wenn sie immer dringender flehte, verstummte er.
Bei dem letzten Versuch, den sie machte, hörten die Dienstleute sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit reden. Als sie dann das Zimmer des Freiherrn verließ, gab sie, vor Erregung am ganzen Körper bebend, den Auftrag, daß man ihre Koffer packe und den Wagen anspannen lasse.
Eine Stunde später fuhr sie in Begleitung ihrer Zofe auf das sechzehn Kilometer entfernte Gut Siegmundshof. Sie fand dort jedoch keine Ruhe, ging bei Tage, dumpf vor sich hinjammernd, durch die Zimmer und lag des nachts schlaflos. Am vierten Tag kehrte sie in die Stadt zurück, ließ den Wagen bis vor das Haus des Grafen Urlich fahren und schickte den Kutscher hinauf, um die Gräfin zu holen. Emilie kam und fragte erschrocken nach dem Begehren der Mutter. Die Freifrau wünschte, daß ihre Tochter sie zu Herrn Carovius begleite, dessen Wohnung sie aus dem Adreßbuch erfahren hatte.
Herr Carovius hatte umsonst auf die Nachricht gewartet, die ihm die Freifrau versprochen. Der Ärger übermannte ihn, er beschloß, ein Exempel zu statuieren und betrat das Auffenbergsche Haus wie die strafende Gerechtigkeit in Person. Als ihm gesagt wurde, daß er nicht vorgelassen werden könne, begann er wieder Skandal zu machen, die ganze Dienerschaft lief herzu, schließlich kam sogar ein Polizist, der ihn zur Rede stellte, der Portier drängte ihn aus dem Torgang, und er stand in dem Menschenauflauf vor dem Haus mit bloßem Kopf und fuchtelnden Armen, ein Bild der Wut.
Alsbald bekamen die stillen Hintermänner Wind von seinen vergeblichen Versuchen, die Bezahlung der Schuld zu erlangen. Sie wurden besorgt, rannten Herrn Carovius die [428] Türen ein und betrauten schließlich einen Advokaten mit der Führung des Prozesses. Herr Carovius hatte mittlerweile durch einen Späher Kunde erhalten, daß es zwischen dem Freiherrn und der Freifrau zum Bruch gekommen, daß die Freifrau bei Nacht und Nebel geflohen sei und unter den Dienstleuten und Freunden des Hauses große Bestürzung herrsche.
Ein wollüstiges Leuchten huschte über sein Gesicht. Niederlage und Verzweiflung; Heulen und Zähneklappern; Besseres konnte er sich nicht wünschen. Er erschien sich als der Vertilger der gesamten Aristokratie, und wenn es schon ein beglückendes Grauen ist, das zerstört zu sehen, was man verachtet, um wie viel mehr erst, was man liebt und bewundert.
In dieser Stimmung trafen ihn die Freifrau und ihre Tochter. Der Anblick der beiden Damen beraubte ihn der Sprache. Er vergaß, zu grüßen, er dachte nicht daran, sie ins Zimmer zu bitten.
Die Freifrau wollte wissen, wo sich Eberhard befand. Sie war entschlossen, zu ihm zu reisen. Als ihr Herr Carovius stotternd mitteilte, der junge Freiherr wohne kaum dreihundert Schritte von hier, fing sie an zu zittern und lehnte sich kraftlos an die Mauer. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Sie hatte sich immer vorgestellt, Eberhard weile an einem geheimnisvollen Ort in geheimnisvoller Ferne.
Herr Carovius machte sich sogleich anheischig, die Damen hinzuführen, aber die Freifrau erklärte plötzlich, sie fühle sich nicht fähig, es werde vielleicht ihr Tod sein. »Bring mich zu dir nach Hause,« flehte sie ihre Tochter an, »und sprich erst mit Eberhard.«
Jedoch Emilie hatte ihren Bruder in den neun Jahren ihrer Ehe nicht gesehen und fürchtete sich vor der Begegnung noch mehr als ihre Mutter. Die Freifrau in ihre Wohnung zu bringen, daran war ganz und gar nicht zu denken; die alte Dame hatte offenbar vergessen, daß sie dem Grafen Urlich vor mehreren Jahren, als es bekannt geworden war, daß er [429] die Bonne seines Kindes geschwängert, in den stärksten Ausdrücken ihr Haus verboten hatte.
Da sich die Freifrau beharrlich weigerte, in ihre Stadtwohnung zurückzukehren und ebensowenig Lust bezeigte, wieder nach Siegmundshof zu fahren, blieb Emilie nichts anderes übrig, als sie in ein Hotel zu führen. Herr Carovius, der den zwei Damen auf die Straße gefolgt war und ihr klägliches Gebaren mit innigem Genuß verfolgt hatte, schlug den Bayrischen Hof vor. Er setzte sich auf den Bock, gab dem Kutscher mit leutseliger Miene Anweisung und blickte triumphierend auf die Fußgänger hinunter.
Gräfin Emilie, die sich keinen Rat mehr wußte, sandte eine Depesche an ihre Tante Agathe. Am nächsten Mittag kam Frau von Erfft mit ihrer Tochter Sylvia. »Clotilde ist wie von Sinnen,« sagte sie zu Emilie, nachdem sie eine Stunde lang im Zimmer der Schwester gewesen war; »ich gehe jetzt zu deinem Vater, ich muß einmal mit Siegmund reden.«
Der Freiherr empfing seine Schwägerin nicht eben freundlich, trotzdem er gerade vor ihr immer große Achtung gehabt hatte.
Frau von Erfft vermied es klüglich, über die Familienverhältnisse zu sprechen. Sie erzählte von Sylvia, daß die nun Siebenundzwanzigjährige alle Heiratsvorschläge gleichmütig abgewiesen habe und daß sie und ihr Mann darüber in Sorge seien.
»Sie will sich nicht begnügen,« sagte Frau Agathe, »sie sucht in der Ehe eine Mission und fürchtet nichts so sehr wie den Verlust ihrer Freiheit. So sind unsere Kinder, lieber Siegmund, und wenn wir sie anders zur Welt gebracht hätten, wären sie anders. Zu unserer Zeit war Gehorsam das Ideal, jetzt haben sie die Pflicht gegen sich selbst entdeckt.«
»Dann sollen sie nur sich selber helfen,« antwortete der Freiherr, der die Anspielung verstand, mit finsterem Blick.
Aus den wirren Reden ihrer Schwester hatte Agathe doch [430] entnommen, was zwischen den Eheleuten vorgefallen war. Sie kannte die schmerzliche Vergangenheit, und als sie nun in das Gesicht des Mannes schaute, erriet sie, was hier nötig war. Sie faßte den Entschluß, Eberhard zu seinem Vater zu führen.
Vor allem wollte sie Clotilde beruhigen und zur Rückkehr in ihre Häuslichkeit veranlassen. Die Aufgabe war bei der Schwäche und Haltlosigkeit der Freifrau nicht schwer. Sylvia blieb bei ihrer Tante, und ihre stille Festigkeit übte einen wohltuenden Einfluß auf sie aus. Agathe hatte sich unterdessen Eberhards Adresse verschafft. Nach einigem Suchen fand sie das Haus; Eberhard war daheim.
Die erste Unterredung mit ihm verlief ohne Resultat. Er wich ihren mutigen Worten aus und überhörte, was er nicht hören wollte. Er war zugeknöpft, höflich und verdrossen. Voll Ärger berichtete Agathe ihrer Tochter von der Enttäuschung, die sie erlitten, da äußerte Sylvia den Wunsch, ihre Mutter zu begleiten, wenn sie wieder zu Eberhard ging. Agathe schüttelte den Kopf, doch war sie keineswegs gesonnen, ihre Absicht aufzugeben.
Im freiherrlichen Hause änderte sich nichts. Baronin Clotilde befand sich dauernd in einer Erregung, die sie und alle, die um sie waren, quälte, und der Baron bildete ein beunruhigendes Rätsel für seine Umgebung. Er verließ seine Zimmer nie, in denen er viele Stunden lang mit gleichmäßigen Schritten, die Hände auf dem Rücken, hin und her wanderte.
Agathe kam ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal zu ihrem Neffen. Wenn auch Eberhards Kälte unüberwindlich schien und er sich um nichts nachgiebiger zeigte, so gelang es ihr allmählich doch, ihn aus seinen Hinterhalten zu reißen, [431] und als sie dann Sylvia mitbrachte, die bei der Mutter wie gewöhnlich ihren Willen durchgesetzt hatte, eröffnete er sich plötzlich ganz unerwartet, und man sah, wie es in seinem Innern kämpfte.
Stockend und in seiner nicht selten gespreizten und schnörkelhaften Redeweise erzählte er von seiner Jugend, dem ewigen Unfrieden zwischen Vater und Mutter, dem häßlichen Gezänke; daß die Mutter, kaum hatte sie einen Befehl erteilt, stets Gegenbefehl vom Vater erfahren; wie die Kinder bald gemerkt, daß der Vater seine eigenen Wege ging und die Mutter ihre eigenen; daß sie einander mißtraut, einander Fallen gelegt; daß die Mutter bei all ihrer liebenswürdigen Sanftmut doch in dem einen Punkt von geradezu teuflisch zu nennendem Drang besessen gewesen sei, den Mann immer wieder dort zu reizen, zu stacheln und zu verwunden, wo sie ihn schon tausendmal gereizt, gestachelt und verwundet hatte; daß dieser Mangel an Vernunft und Überlegenheit auf der einen und von Güte und Offenheit auf der andern Seite das Haus allmählich zu einer Hölle gemacht, die Herzen der aufwachsenden Kinder zerrissen und in der Zerrissenheit verhärtet habe und sie keine freundliche Miene irgend eines Menschen für aufrichtig genommen, jede Hand, die sich ihnen entgegengestreckt, gemieden hätten. Wie dann in dieser liebeleeren Ödnis sich Bruder und Schwester leidenschaftlich aneinander geklammert und diese Beziehung sowohl in Eberhards wie in Emiliens Innern heiligster, unantastbarer Besitz geworden und sie förmlich einen Bund gegen alle übrige Welt geschlossen, sich alles mitgeteilt, stets beraten, jedes Buch gemeinsam gelesen, Glück und Unglück gemeinsam getragen hätten; wie dann eines Tages der Vater vor Emilie hingetreten, um ihr zu sagen, daß Graf Urlich um ihre Hand angehalten und daß er sie ihm versprochen hätte.
Hier schwieg Eberhard, preßte die Lippen zusammen und sein fahler Blick, der Agathe nie so sehr wie jetzt an den des [432] alten Freiherrn erinnert hatte, bekundete einen unheilbaren Schmerz.
In groben Zügen kannte Agathe diese Geschichte; so aber, wie sie sie jetzt gehört hatte, regte sie ihr tiefstes Gefühl auf. »Man muß vergessen können,« sagte sie.
»Vergessen? Nein, das kann ich nicht, hab ich nie gekonnt. Mag's ein Laster sein oder eine Tugend, vergessen kann ich nicht. Emilie, die noch ein halbes Kind war, wurde mit der Zeit gefügig gemacht. Aber daß meine Mutter damals nicht alles aufgeboten hat, um diese Greueltat zu verhindern, daß sie darüber in ihre wehselige Schwäche versunken ist, das war die furchtbarste Erfahrung meines Lebens.«
»Es ist deine Mutter, Eberhard. Nie und nimmer hat ein Sohn das Recht, die Mutter zu verurteilen.«
»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Eberhard frostig. »Auch Mütter sind Menschen. Auch Mütter können sündigen, wenn sie uns den Wurmfraß des Zweifels und des Lebensekels als Mitgift geben. Vater und Mutter, Eltern; sie sind ein Symbol, ein herrliches, wenn sie über uns schweben, verehrungswert. Sie sind nur Begriffe, Schemen nur, wenn nichts als Pflicht mich an sie bindet. Es gibt keine andere Pflicht als die Liebe.«
Sylvia hatte nichts gesprochen. Unbewußt befolgte sie das schönste Gesetz harmonischer Seelen, nicht durch Worte und Gründe, sondern durch reines Sein zu wirken. Zustimmung und Abwehr lagen wie Licht und Schatten auf ihrer Stirn.
Dadurch erinnerte sie Eberhard immer mehr und mehr an Lenore.
Vielleicht war es die Macht dieser Erinnerung, die ihn im Lauf des Abends endlich zu dem Versprechen bewog, am nächsten Tag mit Agathe zu seiner Mutter zu gehen. Die einzige Bedingung, die er stellte, war, daß man ihn vor einem Zusammentreffen mit seinem Vater sicherte.
Als Frau von Erfft ihn hierin unerbittlich sah, gab sie [433] sich zufrieden, hatte aber die vertrauensvolle Vorahnung, daß die Ereignisse und die Stunde stärker sein würden als Wille und Absicht.
Beim Betreten des Boudoirs seiner Mutter fiel Eberhards erster Blick auf die Alabasteruhr, deren Zifferblatt von drei Figuren getragen wurde, welche die Töchter der Zeit darstellten. In seinen Knabenjahren hatte ihm die Uhr immer etwas höchst Poetisches bedeutet, etwas wie die Erfüllung sehnsüchtiger Wünsche.
Die Freifrau war von ihrer Schwester vorbereitet worden. Während Eberhard mit Sylvia im Erkerzimmer gewartet hatte, waren einige Leute von der Dienerschaft an der Tür gestanden und hatten scheu miteinander geflüstert.
Eberhard ging auf seine Mutter zu und küßte ihr die Hand. Das Gesicht der Freifrau hatte eine Färbung wie Blei. Ihre Augen waren weit aufgerissen, gleichwohl schien sie fast ohne Besinnung. Abseits stand Emilie; die Finger ihrer auf die Brust gedrückten Hände bewegten sich wie in Konvulsionen.
Frau Agathe suchte der Situation das Feierliche und Unnatürliche zu nehmen und begann in launigen Worten von Eberhards Asyl auf dem Burgberg zu erzählen. Baronin Clotilde schaute ihren Sohn gespannt und furchtsam an. »Ich erkenne ihn ja kaum,« sagte sie mit heiserer Stimme; »er hat sich so verändert.«
»Auch du, Mutter, hast dich verändert,« brachte Eberhard hervor, und das Drosselbartkinn verkroch sich in den Ausschnitt des Rocks. Er war stocksteif. Agathe musterte ihn voll Ärger und Befremdung. Er sah aus, als quäle ihn während des ganzen Vorgangs die unsäglichste Langeweile.
Aber es war nur eine Maske. Indem er die Mutter anschaute, [434] das alte, verschwommene, müde, zaghafte Gesicht, wurde er sich seiner Verfehlung bewußt, spürte er, daß es nicht galt, das Wort: »Mütter sind auch Menschen.« Er hatte hier etwas gut zu machen, hier war eine Tat notwendig, und es schien ihm, daß schon sein nächster Schritt zu unabwendbarer Selbstverachtung führen müsse, wenn er die sittliche Tat der Reue unterließ.
Als er so mit sich rang und wie gelähmt in den Aufruhr seines Innern starrte, war der Blick eines Augenpaars hinter die scheinbare Unempfindlichkeit gedrungen. Über Sylvias Wangen schoß eine jähe Röte; sie schritt auf ihren Vetter zu und packte seine Hand. Er schrak sichtlich zusammen; sofort begriff er, daß sie ihn erraten hatte und seinen Kampf zur Entscheidung bringen wollte. Sie führte ihn aus dem Zimmer; er folgte ihr; sie führte ihn durch den Speisesaal, den Empfangsraum, das Rauchzimmer, die Bibliothek bis zu den Zimmern des Freiherrn. Agathe, Emilie und die Baronin hatten sich staunend einander angesehen. Sie waren zur Schwelle des Boudoirs gegangen und lauschten in atemlosem Schweigen.
Mutig öffnete Sylvia die Tür. Der alte Freiherr saß auf dem Ledersessel vor dem Ofen. Seine Beine waren in einen Schal gewickelt; der Ausdruck seines Gesichts war von einer geradezu steinernen Kälte.
Kaum hatte er die beiden gewahrt, so sprang er empor, als hätte der Blitz neben ihm gezündet. Er wankte; er tastete um sich; ein ersticktes Gurgeln kam aus seiner Kehle.
Da trat ihm Eberhard gegenüber und streckte die Hand aus.
Eine Sekunde lang schien es, als wolle der alte Mann niederbrechen. Eine letzte Flamme von Groll und Haß zuckte wild aus seinen blauen Augen, dann streckte auch er die Hand aus, und sein Arm zitterte, während sich auf den Backen dicke, bebende Muskelknoten bildeten. Sylvia hatte die Türe leise zugemacht und war verschwunden.
Bange Minuten verflossen, und nichts geschah, als daß [435] jeder des andern Hand in der seinen hielt und seinen Blick in das Auge des andern bohrte. Nur das Knistern des Ofenfeuers unterbrach die Stille.
»Gerade noch zu rechter Zeit,« murmelte der alte Freiherr ohne aufzublicken verloren vor sich hin, »gerade noch zu rechter Zeit.«
Eberhard antwortete nicht. Er stand regungslos da, die Hacken geschlossen, wie ein junger Offizier vor seinem Vorgesetzten.
Nach einer Weile drehte er sich um und verließ langsam das Zimmer.
In der Bibliothek wartete Sylvia. Die Dämmerung ließ nur den Umriß ihrer Gestalt erkennen.
Eberhard faßte sie an und flüsterte: »Ich glaube, ich habe doch keinen Vater mehr.«
Noch in derselben Nacht war der alte Freiherr abgereist. Mitten in der Nacht; um vier Uhr hatte ihn sein Diener auf die Bahn begleitet.
Auf seinem Schreibtisch fand man am Morgen zwei Briefe; einer war an Eberhard gerichtet, der andere an die Freifrau. Der letztere enthielt nur einen Abschiedsgruß, jener war etwas ausführlicher gefaßt, gab die Genugtuung darüber kund, daß Eberhard, den er als Chef des Hauses willkommen hieß, zu seiner Familie zurückgekehrt sei, deutete an, daß er ihm alle gesetzlichen Machtbefugnisse binnen kurzer Frist erteilen werde und schloß mit dem überraschenden Satz: »Was mich selbst betrifft, so werde ich nunmehr in die katholische Religionsgenossenschaft eintreten, um den Rest meines verfehlten Lebens zu Viterbo im Dominikanerkonvent della Guercia zu verbringen.«
[436] Keine Gefühlsergüsse, keine Erklärungen, keine Bekenntnisse, nur die nackte Tatsache.
Die Freifrau war weder erstaunt, noch erschrocken. Sie fiel in dumpfes Sinnen, dann sagte sie: »Er war niemals froh. Er war niemals in seinem ganzen Leben froh. Ich habe ihn niemals von Herzen lachen hören, und an seiner Seite hab ich das Lachen verlernt. Von jeher ist seine Brust ein Kloster gewesen, ein Ort der Düsterkeit und Strenge. Er hat heimgefunden, weiter nichts, und mag wohl müde sein von dem langen Weg zu seiner Seele.«
»Dummes Zeug, Clotilde!« rief da Frau von Erfft heftig. »Das mit dem Lachen mag schon stimmen, und ein Mensch, der nicht lachen kann, ist ein halbes Tier. Aber muß deswegen ein gebildeter Mann zu solchem Mittel greifen, um zum Frieden mit sich und seinem Gott zu gelangen? Ein Mann, der ein Beispiel zu geben verpflichtet ist? Ist noch nicht genug Finsternis in den Köpfen? Muß man die Fackeln auslöschen, bei denen man Wache gehalten hat? Hier hat mein Verzeihen ein Ende, da bin ich Weltkind ganz und gar und steh lieber bei denen, die für Heiden gelten und uns Werke des Lichts und der Erleuchtung geschaffen haben.«
Bei diesen Worten trat Eberhard ein, und als sie in sein Gesicht schaute, war Frau von Erffts Gedanke: auch er kann nicht lachen.
Der Glaubenswechsel des Freiherrn von Auffenberg verursachte überall im Lande die größte Erregung. Die liberalen Zeitungen brachten geharnischte Artikel, in den liberalen Vereinen wurden flammende Proteste gegen die schleichenden Umtriebe Roms erhoben; die ultramontanen Parteigänger jubelten und benutzten die wunderbare Rückkehr eines Ungläubigen in den Schoß der allein seligmachenden Kirche kräftig zur Werbung neuer Jünger und Anfeuerung alter. Durch die Bürgerstuben wehte ein Schauer von Priestertyrannei und Geistesknechtung.
[437] Wenig berührt vom Wirrwarr der Meinungen, fand sich Eberhard rasch in die veränderte Lebenslage. Plötzlich Herr zu werden über so vieles und so viele, das erforderte Ernst und Haltung, klaren Blick und feste Hand. Übereifer und Dünkel waren seinem Wesen keine Gefahr, eher Bedenklichkeit und Vorliebe für den Platz im Schatten. Seltsam, die Fülle der Verantwortung heiterte sein Gemüt auf; was der Anteil an der ihm zugewachsenen, sehr äußerlich bewegten Welt nicht vermochte, das vollendete Sylvias Einfluß.
Im Mai begleitete er sie und ihre Mutter nach Erfft. Sie machten dort täglich gemeinsame Spaziergänge, und immer wieder erzählte Eberhard von Lenore; erst scheu und verhalten, dann, als er tieferes Vertrauen zu seiner Zuhörerin gefaßt hatte, so offen, daß diese Offenheit schon ein Zeichen innerer Befreiung war.
Als er von Lenores Heirat mit Daniel Nothafft berichtete, unterbrach ihn Sylvia lebhaft und stellte einige Fragen in bezug auf Daniel. »Ach, das ist ja unser Gast von damals,« sagte sie, »das ist ja der Kapellmeister.« Und nun erzählte sie ihrerseits von dem Aufenthalt Daniels in Erfft, mit einem Lächeln, in dem Nachsicht und wiedererwachte Verwunderung lag.
Auch dieses Lächeln erschien Eberhard eigentümlich lenorenhaft. Doch kam er in Sylvias Nähe, gerade weil bei ihr alles ein wenig abgeschwächt war, deutlicher zur Erkenntnis, was ihn so machtvoll zu Lenore hingezogen hatte. Er konnte es nicht in Worte oder Begriffe schließen, er fühlte nur, es war das ihm unbekannte Reich der Klänge, der unbekannte Schmelz innerer Melodie, die tönende Ordnung der in Seele verwandelten Musik.
Anfangs Juni fuhr Sylvia mit Eberhard und ihren beiden Eltern nach Nürnberg zurück. Ein paar Tage später fand im freiherrlichen Haus die Verlobung statt.
Herr Carovius war bezahlt worden. Das Konsortium stiller Hintermänner hatte sich aufgelöst.
Nie hat es einen befriedigten Gläubiger gegeben, der so unglücklich war wie Herr Carovius. Er hatte kein Wegziel mehr; auch die Wegweiser waren zerbrochen. Das Geld hatte er bekommen, schön; auf seinen Teil war sogar ein Profit von über sechzigtausend Mark gefallen. Aber was wog das gegen die Erwartung des großen Kladderadatschs? Was bedeutete Wohlleben und Besitz gegen den Genuß, den man beim Fall von Gestirnen empfindet? Was hatte noch Reiz in der Welt, nachdem diese hoffnungsvolle Angelegenheit, die als eine Tragödie begonnen und sich so gesteigert hatte, daß man glauben durfte, alle Gegensätze der menschlichen Natur würden vernichtend zusammenprallen, als ein gemeines Rührstück mit allseitiger Versöhnung geendet hatte?
Aber es lag nicht an dem allein, daß Herr Carovius, bisher eine elastische Gestalt, einer von den unverwüstlichen Junggesellen, denen keine Schranke gesetzt scheint, sich plötzlich alt werden fühlte. Eine Unruhe war in seinem Gemüt, eine böse Ahnung, eine Angst vor Wetterwechsel.
Er spürte einen inneren Hunger und hatte gleich wohl keinen rechten Appetit mehr auf die Dinge. Verloren, seufzte es in ihm, verspielt und vertan. Doch es konnte denen, die sich auf seine Kosten bereichert hatten, nicht zum Gedeihen ausschlagen, das wußte er.
Seine Haare fielen aus, und er bekam das Reißen in den Gliedern. Bei zehn Grad Wärme schepperte er, und wenn es regnete, blieb er zu Hause. Er fing an, sich auf eigene Faust mit der Medizin zu beschäftigen, namentlich mit der Heilwissenschaft der Altvordern. Er las die Schriften des Paracelsus und erklärte alle, die nach Paracelsus geschrieben und geforscht hatten, für Quacksalber und Giftmischer.
[439] So wurde er auch in allem Musikalischen immer krauser und wunderlicher. Er hatte einen altnürnbergischen Komponisten entdeckt, des Namens Staden, und in dessen Oper Seelewig, der ersten deutschen Oper überhaupt, wollte er den Gipfel der Kunst erblicken, über Mozart und Bach hinaus. Er spielte seiner Nichte Dorothea Arien und Chöre aus »Seelewig« vor.
»Wenn du das kapierst,« eiferte er, »wenn du's so weit bringst, daß ich in deinem Spiel hören kann, was da drinnen liegt, Himmel und Hölle in einem Griff und Bogenstrich, dann, du Maulaffe, bin ich imstand und setz dich zu meiner Erbin ein.«
Das war das sehnlich erwartete Wort für Dorothea. Es bestätigte ihre Berechnung, es krönte ihre Träume. Um es endlich zu vernehmen, war ihr keine Mühe des Werbens zu viel gewesen.
Herr Carovius war ja nicht verwöhnt. Seit ihm die Schwester den Haushalt geführt, hatte sich nie ein Frauenzimmer um ihn bekümmert. Aber damals war er jung gewesen; hatte sich noch im Wahn befunden, sie warteten auf ihn, die Weiber, und er habe bloß nötig, mit dem Finger zu winken, damit sie scharenweise herbeistürzten. Und nur weil er die Mißlichkeit der Wahl und die Unkosten gescheut, hatte er es unterlassen zu winken und ihnen großmütig die Freiheit geschenkt.
Daß so eine kleine weiche Frauenhand wie die Berührung eines Zauberstabs wirken konnte, erfuhr er jetzt. Was für eine angenehme Fratze das Döderleinsche Erzeugnis hat, dachte er. Und wenn Dorothea, die ihm noch immer einredete, daß sie ihn heimlich besuchte, als sie sich der Zustimmung ihres Vaters schon lang versichert hatte, einige Tage hindurch ausblieb, wurde er ganz wild und hackte Holz in seiner Küche, um nur etwas zerschlagen zu können.
Übrigens gaben die musikalischen Unterweisungen, die er [440] Dorothea angedeihen ließ, dem jungen Mädchen einen neuen Begriff von ihrer Kunst und weckten ihren Ehrgeiz. Befriedigt von ihrer Willigkeit und ihren Fortschritten, nannte sie Herr Carovius bisweilen scherzhaft den künftigen weiblichen Paganini des Zeitalters und dichtete für sich selbst die Rolle eines dämonischen Impresarios.
Aber was ihm an Dorothea immer mehr auffiel und ihn erstaunen machte, war ihr Verhältnis zu den Spiegeln.
Der Spiegel übte eine unwiderstehliche Gewalt auf sie aus. Begehrliches Entzücken malte sich in ihrem Gesicht, wenn sie beim Vorübergehen ihr Bild im Spiegel fing und hielt, eine lüsterne Unruhe vorher, zurückziehende Ungewißheit nachher. Im Glanz der Augen lag stets Verlangen nach dem Spiegel, Schritt und Gebärde schienen sich im Spiegelgefühl Aufgaben zu stellen und Überraschungen zu bereiten. Die ganze Person lebte wie in Gemeinschaft mit einer geisterhaften Spiegelschwester, deren geliebten Anblick sie sich so oft als möglich zu verschaffen trachtete.
Es war Dorothea gelungen, ihrem Vater den Vorteil klar zu machen, der sich für sie, als der nächsten Anverwandten, aus einer liebevollen Beziehung zu Herrn Carovius ergeben mußte. Andreas Döderlein sträubte sich eine Weile, aber er konnte dem vorausblickenden Scharfblick seiner Tochter die Anerkennung nicht versagen.
Als sie ihm den Auftritt im freiherrlichen Haus erzählt und die ungeheure Summe genannt hatte, die Herr Carovius mit Siegermiene eingefordert, hatte Döderlein ernst vor sich hingeblickt. Des verjährten Zwistes gedenkend, wahrte er den Schein der Unnahbarkeit und sagte: »Wir wollen uns nicht des elenden Mammons wegen erniedrigen.«
[441] Ein paar Tage später jedoch sagte er ganz von selbst, seufzend wie ein Mann, der einen schweren sittlichen Kampf glorreich bestanden hat: »Tu was du willst, mein Kind, aber laß es mich nicht wissen.«
Man war ja arm. Man lebte von der Hand in den Mund. Das geringe Heiratsgut, das Herr Carovius seiner Schwester mitgegeben, war aufgebraucht. Margaret hätte Anspruch auf dreißigtausend Mark gehabt, Herr Carovius hatte ihr nur zwölftausend ausbezahlt, und dagegen war kein Appell möglich, denn Herr Carovius hatte sich von seiner sklavisch ergebenen Schwester um den Preis seiner Einwilligung in die Heirat eine schriftliche Verzichtserklärung ausstellen lassen.
»Ich bin düpiert worden,« sagte Andreas Döderlein und trug seinen Groll mit Würde.
Der Direktor der Musikschule starb, und Andreas Döderlein, der kraft seiner Leistungen wie auch seiner Persönlichkeit die nächste Anwartschaft auf dieses Amt hatte, erhielt die Bestallung. Seine ehemaligen Kollegen behaupteten, daß er, um dieses Ziel zu erreichen, manchen sauern Gang zu den Machthabern unternommen habe. Döderlein las in ihren Augen den Neid und lächelte.
Aber es war doch ein mühseliges Leben. »Die Kunst geht nach Brot,« sagte Döderlein mit einem heroischen Fernblick. »Was für eine Position könnte ich einnehmen, was für Werke könnte ich schaffen, wenn ich Zeit hätte! Man gebe mir Zeit, und«, – mit einer Handbewegung nach oben, – »die Adler werden mich grüßen.«
Herr Carovius und der Tod waren gute Freunde. So oft der Tod sein trauriges Geschäft zu verrichten hatte, klopfte er bei Herrn Carovius an, gleich als suche er neben denen, die [442] sein Handwerk mißbilligten und verwünschten, auch einen, der es zu schätzen wußte.
Aber als Herr Carovius erfuhr, daß Lenore Nothafft gestorben sei, fand er, daß sein alter Freund diesmal des Guten zuviel getan habe. Der Fall ging ihm nah. Er hatte ein zusammenziehendes Gefühl in der Magengegend und sperrte sich für die Dauer eines ganzen Tages in seinem Gerichtszimmer ein. Dort verfiel er in eine Art von Katalepsie; sein Gesicht veränderte sich grauenhaft, wie wenn alle Bosheit, alle Hoffnungslosigkeit und alle Verzweiflung des durch Liebe nie entsühnten Menschen für alle Zeiten darin versteinert wären.
Die Vorahnung hatte sich erfüllt.
Es war ein regnerischer Junitag, als sie Lenore begruben, und Herr Carovius, in den schäbigen gelben Überzieher mit den großen Taschen gehüllt, war zugegen. Auch viele andere Menschen gaben Lenore das letzte Geleit. Jede Miene war ergriffen, jedes Auge aufgelockert wie die Erde ringsum. Die sie nicht gekannt, hatten doch von ihr gehört; sie hatten gewußt, daß sie dagewesen war, auf irgendeine Weise, wie man von Himmelserscheinungen hört, und wußten jetzt, daß sie fort war. Einen Augenblick lang wurden sie zu tiefen, schauenden, fühlenden Wesen, einen Augenblick lang entäußerten sie sich ihres nichtigen Tuns, ihrer kleinen Laster, Begierden, Sorgen und Eitelkeiten und wurden inne, daß es nun weniger Wahrheit, weniger Reinheit, weniger Lieblichkeit und weniger Liebe auf der Welt gab.
Herr Carovius ging nach Hause und kochte sich einen Lindenblütentee. Der half ihm oft gegen übles Befinden.
Das Regenwasser tropfte auf das Sims am Küchenfenster, und Herr Carovius sagte vor sich hin: »Das war die letzte Leiche; von nun an geh ich zu keiner mehr.«
Um die Abendzeit kam Dorothea, und gleich nach ihr erschien auch Philippine Schimmelweis. Herr Carovius hatte [443] ihr manches Fünfzigpfennigstück zugesteckt für die Spionendienste, die sie ihm geleistet, und jetzt wollte sie erfahren, was er zu dem Unglück sagte. Sein verliebtes Interesse an allem, was die Person Lenores betraf, hatte sie heimlich belustigt, doch hatte sie sich wohl gehütet, ihn dies merken zu lassen, sondern hatte bei seinen Fragen, Aufträgen, Belehrungen und bittern Betrachtungen stets einen scheinheiligen Ernst gezeigt, hatte ihn aufgestachelt, ihm plump geschmeichelt und jede Gelegenheit benutzt, seine lächerlichen Hoffnungen zu nähren. Dadurch war eine wachsende Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, und die greisenhafte Liebestollheit des Herrn Carovius hatte in Philippine niedrige und verworfene Lüste geweckt.
Sie sagte, sie müsse bald wieder heim; das Kind sei eingeschlafen, das Gatter habe sie zugesperrt, aber man wisse doch nicht, was geschehen könne; mein Gott, in einem solchen Haus geschehe gar viel, da sei es nicht wie in andern Bürgerhäusern.
Die Gegenwart Dorotheas störte und ärgerte sie. Sie setzte sich auf die Ofenbank und sah das junge Mädchen mit giftigen Blicken an. Dorothea ihrerseits konnte ihren Abscheu vor Philippines unbeschreiblicher Häßlichkeit kaum verhehlen. Ihr Mund zuckte, und sie ließ das mit krächzender Stimme redende, mit verbundenem Kopf dasitzende Geschöpf nicht aus den Augen.
Philippine hatte nämlich Zahnweh, und deshalb trug sie das Gesicht eingebunden. Das Tuch war abenteuerlich bunt gesprenkelt, und unter dem Hut ragten zwei Zipfel heraus.
Mit Selbstgefälligkeit und Gruselfreude erzählte sie, einen wie schweren Tod Lenore habe sterben müssen. Nun sitze der alte Jordan flennend in seiner Dachkammer, der Daniel esse nicht und trinke nicht und sehe einen mit Augen an, geradewegs zum Fürchten.
So weit habe er's nun gebracht, schmälte sie; zwei Frauen [444] unter der Erde, ein hilfloses Kind im Haus, keine Arbeit, keinen Verdienst, was für ein Ende werde das nehmen? Die Kosten für die Beerdigung habe die Notarin Rübsam ausgelegt, der Daniel habe ja nicht einmal verstanden, was man zu ihm geredet, und der Alte habe keine zwanzig Mark im Vermögen gehabt. Sie werde das Elend nicht mehr lang mitansehen; wenn der Daniel die brotlose Musiziererei und Klimperei nicht bald an den Nagel hänge, werde sie wissen, wo der Zimmermann das Loch gemacht.
Gegen seine sonstige Gepflogenheit unterließ Herr Carovius alle Zeichen der Zustimmung. Auch feixte und zwinkerte er nicht, sondern starrte tiefsinnig und düster vor sich hin. Dieses Schweigen machte Philippine wütend. Sie sprang plötzlich auf, ging ohne Gruß davon und schlug erst die Zimmer-, dann die Flurtüre hinter sich zu.
Dorothea stand beim Klavier und stöberte in den Notenheften. Ihre Gedanken waren mit dem beschäftigt, was sie eben gehört hatte.
Sie erinnerte sich Daniel Nothaffts wohl. Sie wußte, daß zwischen ihm und ihrem Vater ein unversöhnlicher Haß herrschte. Sie hatte ihn gesehen; man hatte ihr den grimmig blickenden Menschen auf der Gasse gezeigt. Es war ihr damals gewesen, als habe sie schon mit ihm gesprochen, doch wußte sie nicht mehr wann und wo. Sie wußte ungefähr, was man sich über ihn erzählte und daß er in der Stadt wie der böse Feind geachtet war.
Ein zielloses Verlangen regte sich in ihrem Innern. Ihr Blut kam ins Prickeln, die stockige Umwelt geriet in Bewegung, auf einmal ergriff sie Geige und Bogen und begann mit lachendem Gesicht und verwegen blitzenden Augen einen ungarischen Tanz zu spielen.
Herr Carovius erhob den Kopf. »Tempo!« befahl er, »Tempo!« schlug den Takt mit den Händen und stampfte mit dem Fuß.
[445] Dorothea lachte, schüttelte die Haare und spielte immer schneller.
»Tempo!« heulte Herr Carovius, »Tempo!«
Vom Hof herein drang ein krankes Bellen. Es war Cäsar, der Hund, der in den letzten Zügen lag.
Daniels Mutter war gekommen; sie hatte die kleine Eva mitgebracht.
Aus der Zeitung hatte Marianne den Tod Lenores erfahren; niemand hatte ihrer gedacht, niemand hatte an sie geschrieben. Und in der Zeitung hatte nicht einmal sie selbst es gelesen, sondern der Eschenbacher Doktor, der auf den Fränkischen Herold abonniert war, hatte ihr eines Morgens das Blatt gereicht und zaghaft auf die Todesanzeigen gewiesen.
Das Begräbnis hatte sie versäumt. Sie ging aber auf den Kirchhof und betete an Lenores Grab.
Daniels Verlust begriff sie ganz. So wie sie ihn antraf, so hatte sie sich vorgestellt, daß er sein würde. In der Maßlosigkeit seines Schmerzes, in der stummen Verzweiflung erkannte sie ihren Sohn, er war ihr näher dadurch als irgendwann vorher. Sie würdigte diesen Schmerz, sie hatte nicht das Bedürfnis, ihn zu verringern oder abzulenken. Sie schwieg, wie Daniel selber schwieg und legte bloß bisweilen die Hand auf seine Stirn. Da murmelte er: »Mutter, ach Mutter!« Und sie antwortete: »Laß nur; acht' nicht meiner.«
Sie sagte sich: Wenn eine Lenore dahingehen muß, in der Jugend Blüte, dann muß man trauern, bis die Seele von selber wieder hungrig wird nach Leben.
Eva hatte anfangs versucht, mit ihrem Stiefschwesterchen zu spielen, wurde aber von Philippine stets aus dem Zimmer [446] gejagt. Einmal kehrte sie sich gegen die Wütende und rief aus: »Ich werd's meinem Vater sagen.«
»So? Deinem Vater? Sag's ihm nur, deinem Vater,« versetzte Philippine höhnisch. »Wer is er denn, dein Vater? Was is er, wo is er? Im Pommerland vielleicht?« Und sie fügte singend hinzu: »Pommerland is abgebrannt – Maikäfer flieg!«
»Mein Vater? der ist doch da; drinnen ist er,« erwiderte Eva verwundert und gekränkt; »bist ja in seinem Haus. Und das Agneslein ist ja meine Schwester.«
Philippine riß Mund und Augen auf. »Dein Vater – ist drinnen –?« stotterte sie, »und das Agneslein – deine Schwester –?« Sie erhob sich, packte Eva roh an der Schulter und zerrte sie mit sich über den Flur in die Stube, wo Marianne und Daniel waren. Mit einem Lachen, das irr klang, und einem Ausdruck von Frechheit und Raserei im Gesicht keuchte sie: »Der Balg behauptet, Daniel wär sein Vater und das Agneslein seine Schwester. So ein hundsföttischer Balg!«
Voll Schrecken stand Marianne auf und eilte zu Eva hin, die bleich, das Gesicht von Tränen überströmt, die Arme nach ihr streckte. »Loslassen!« befahl sie. Philippine ließ das Kind los und wich zu rück. »Ist's denn wahr?« lispelte sie plötzlich furchtsam, »ist's denn wahr?«
Marianne kniete auf dem Boden und hob ihr Pflegekind empor. »Geh deiner Wege, du Racker,« sagte sie finster zu Philippine.
»Daniel?« machte Philippine fragend, mit aufgehobenen Händen zu Daniel gewandt, und wieder: »Daniel?« So, als wolle sie ihn auffordern, zu sprechen, als wolle sie ihm vorwerfen, daß er sie betrogen. Es hatte einen unheimlichen Ton, dies fragende: Daniel, Daniel.
»Geh zu deinem Agneslein,« antwortete Daniel gequält. Er fühlte sich je länger, je mehr in Philippines Schuld; und jetzt gar, was sollte er beginnen ohne sie, die die einzige [447] Hüterin seines Kindes war. Die Mutter konnte nicht in der Stadt bleiben, sie hatte draußen ihr Brot, und Eva wuchs bei ihr in Frieden auf. Das Agneslein durfte man Philippine nicht rauben, auch wenn es die Mutter hätte übernehmen wollen; an dem Kind hing Philippine mit einer richtigen Affenliebe. Auch für den alten Jordan war Philippine unentbehrlich; Daniel konnte ihm nicht die Stube aufräumen, konnte nicht für sein Essen sorgen.
Und Philippine ging hinaus. »Der Luderskerl,« sagte sie vor der Türe und ballte die Faust, »der Luderskerl! Noch ein Bankert hat er, der Luderskerl! Wart nur, Bankert! Dir kratz ich die Augen aus.«
Das in sich hineinschluchzende Kind auf dem Schoß haltend, saß Marianne neben Daniel. »Tu nicht weinen, Eva,« tröstete sie, »bald fahren wir wieder heim.«
Da schaute Daniel seiner Mutter aufmerksam ins Gesicht, und er erzählte ihr, wie Philippine ins Haus gekommen sei; und erzählte ihr den Betrug Jason Philipps und wie die eigene Tochter den Vater verraten hatte; erzählte ihr, daß sein Vater dreitausend Taler zu Jason Philipp getragen und daß Jason Philipp damals, als der alte Jordan in der schlimmen Not wegen seines Sohnes gesteckt, einen Teil des Geldes hergegeben und daß er, Daniel, auf das übrige verzichtet habe.
Mariannes Kopf sank tief auf ihre Brust. »Dein Vater war ein wunderbarer Mann, Daniel,« sagte sie nach langem Schweigen, »aber auf die Menschen hat er sich nicht verstanden, und sein Weib hat er erst recht nicht gekannt. Er war wie einer, der blind ist und das Blindsein verhehlen will und geht und nicht weiß, wohin und steht und nicht weiß, wo. Kommst mir auch oft so vor, Daniel. Mach die Augen auf! Bitt dich, Daniel, mach die Augen auf!«
Das Kind in ihrem Schoß war eingeschlafen. Als Daniel in Evas Gesichtchen blickte (ja, er machte die Augen auf), als er dies zarte, süße, holdwehe Antlitz der Schläferin so dicht [448] vor sich sah, vermochte er nicht mehr an sich zu halten, er drehte sich gegen die Wand und schrie, wie wenn es ihm das Herz zerrisse: »Ich bin ein Mörder!«
»Nein, Daniel,« sagte Marianne leise; »oder jeder, der lebt, ist an jedem Toten ein Mörder gewesen.«
Aber Daniel krümmte sich in seinem Schmerz und seine Zähne knirschten.
»Drinnen ist der Vater,« flüsterte Eva im Traum.
Am schwersten fiel Marianne das Zusammensein mit dem alten Jordan, denn der war nur noch ein Schatten seiner selbst. Zu Daniel in die Stube kam er nicht, sie ging immer zu ihm hinauf, und da saß er, still, hilflos, ausgelöscht, ein Bild der Verlassenheit.
Er sprach nicht von seinem Kummer, er geriet in Unruhe, wenn er in Mariannes Miene Mitleid las. In seinem Benehmen war dann etwas Höfliches, ja Weltmännisches, das im Verein mit seinem armseligen Aussehen und der armseligen Umgebung erschütternd wirkte.
Marianne hoffte von ihm einigen Aufschluß über Daniels Lebenslage zu bekommen. Die sehr bedrängten Verhältnisse des Sohnes waren ihr bekannt, und sie war deshalb schon in großer Sorge; aber sie wollte auch wissen, was er in der Welt galt, und ob das Musikantentum wirklich eine Sache sei, auf die ein Mensch seine Existenz stellen könne. In diesem Punkt war ihr Mißtrauen und ihre Furcht noch von gleicher Stärke wie ehemals; nur im Hinblick auf Lenore hatte sie in den letzten Jahren Vertrauen gefaßt; es war, wie wenn ihr Lenores Art, Lenores Gegenwart eine dunkelferne Ahnung von Musik gegeben hätte. Jetzt kehrten alle Zweifel zurück.
Jordan aber zeigte sich verschlossen, sobald sie von Daniel [449] redete. Seine Augen hatten dann einen gepeinigten Ausdruck. Er schaute nach der Tür, steckte die Hände in die Rockärmel und zog den Kopf zwischen die Schultern.
Einmal sagte er: »Können Sie mir erklären, liebe Frau, weshalb ich lebe? Können Sie mir so einen paradoxen Unsinn erklären, wie es mein jetziges Dasein ist? Der Sohn, ein Lump, spurlos verschollen für die Welt, und für mich nicht mehr vorhanden. Die Töchter im Grab; beide; beide im Grab, liebe Frau. Ich bin ein Mann gewesen, ich bin ein Gatte gewesen, ich bin ein Vater gewesen. Ein Vater gewesen! Was für ein Hohn der Natur! Essen, trinken, schlafen – was für widerliche Beschäftigungen! Und doch, wenn ich nicht esse, hungert mich, wenn ich nicht trinke, dürstet mich und wenn ich nicht schlafe, bin ich krank. Wie einfältig, wie zwecklos! Für mich singen keine Vögel mehr, läuten keine Glocken mehr und haben die Musiker keine Musik mehr.«
Da aber Marianne irgendeine Beruhigung um jeden Preis gewinnen wollte, so wandte sie sich an Eberhard und Sylvia, die fast täglich zu Daniel kamen. Die zwei Menschen gefielen ihr; es war so viel Rücksicht in ihrem Betragen, so viel Feinheit in allem, was sie sagten. Das Fräulein nahm nicht den geringsten Anstoß an Daniels finsterer Schweigsamkeit; sie behandelte ihn mit einer Achtung, die Marianne wohltat, weil sie ihr bewies, daß er bei den Guten und Edlen geschätzt war. Der Freiherr schien auf geheimnisvolle Weise immer von Lenore zu sprechen, ohne je ihren Namen zu nennen. Es war eine Trauer in seinen Augen, die mit übersinnlicher Gewalt an die Verstorbene mahnte. Oft war es Marianne zumute, als seien Daniel und dieser Fremde Brüder und zugleich Feinde im Schmerz der Erinnerung. Auch Sylvia schien es zu spüren und sich nicht dagegen zu wehren.
Als Marianne die beiden einmal auf den Flur begleitete, faßte sie sich ein Herz. »Wie wird's ihm denn nun ergehen?« [450] fragte sie, »er hat kein Amt, spricht nie von Arbeit, was soll da werden?«
»Wir haben daran gedacht,« antwortete Sylvia, »und ich glaube, es ist ein Weg gefunden. Er wird bald Näheres hören, nur, denke ich, darf er nicht wissen, daß wir die Hand im Spiel haben.« Sie schaute ihren Verlobten an, und dieser nickte. Marianne atmete auf.
Darüber waren sich Eberhard und Sylvia von Anfang an klar, daß man Daniel in keiner Form Geld anbieten konnte. Kleine oder große Gaben, sie demütigten ihn, entwürdigten sie. Von der höchsten zur tiefsten Stufe des Besitzes hinab stößt die Hilfsbereitschaft auf unüberwindliche Hindernisse; es ist keine Zartheit möglich, keine Klausel, kein liebevoller Betrug, da steht der Reichtum vor der Armut so ratlos wie diese vor ihm.
Entschlossen, der Not des Musikers zu steuern, hatte sich Sylvia an ihre Mutter gewendet. Auf den Beistand der Freifrau war nicht zu zählen, sie war von Andreas Döderlein so nachhaltig gegen Daniel beeinflußt worden, daß sie drohend die Stirn runzelte, wenn man von ihm redete.
Agathe von Erfft setzte sich mit einigen Personen in Korrespondenz, die ihr dienliche Winke geben konnten. Durch diese wurde sie insofern gefördert, als sie ohne zeitraubende Irrwege an die rechte Stelle gelangte. Eines Tages erschien sie vor Eberhard und Sylvia mit dem fertigen Projekt.
Ein angesehenes Mainzer Verlagshaus hegte schon seit Jahren die Absicht, eine Sammlung mittelalterlicher Kirchenmusik zu veranstalten und herauszugeben. Viel Material lag schon vor, ein inzwischen verstorbener Musikschriftsteller hatte es zusammengetragen; anderes mußte erst beschafft werden; hiezu waren Reisen nötig, bedeutende Geldopfer, ein Mann vor allem, der die Mühe nicht scheute und dessen Sachkenntnis keinen Zweifel zuließ. Da nun schon im Beginn des Unternehmens die Kosten den zu hoffenden Ertrag [451] bei weitem überstiegen hatten, war der Verleger bedenklich geworden und hatte, weil auch eine geeignete Kraft fehlte, auf die Ausführung des Planes verzichtet.
Agathe hatte schon früher davon gehört. Daß die Angelegenheit wieder in Fluß gebracht werden konnte, erfuhr sie durch eine mittelbare Erkundigung, eine unmittelbare bestätigte es. Der Verleger wollte jedoch die geschäftliche Gefahr nicht mehr allein tragen, er suchte einen Mäzen, der sich mit einem Kapital beteiligte. Kam dies zustande, so war er bereit, Daniel Nothafft, dessen Name ihm von ungefähr bekannt war, die verantwortungsvolle Aufgabe anzuvertrauen. Da die verschiedenen Arbeiten, als: das Sammeln in Archiven, Bibliotheken und Klöstern; die Korrekturen; Erläuterungen; Überwachung des Drucks usw. sich über eine Reihe von Jahren erstrecken würden, müßte man ihn der Firma verpflichten und sei erbötig, ihm bis zur Beendigung des Werkes einen Jahresgehalt von dreitausend Mark zu zahlen.
Eberhard zog verläßliche Nachrichten über den Ruf und Kredit jenes Hauses ein, und da diese günstig lauteten, erklärte er, die bedungene Kapitalshilfe leisten zu wollen.
Ein paar Tage nach dem Gespräch zwischen Sylvia und Marianne erhielt Daniel mit der Frühpost einen Brief des Verlags Philander und Söhne, worin er aufgefordert wurde, dem nach Art und Ziel genau bezeichneten Unternehmen seine Dienste zu widmen. Im Falle seiner Einwilligung hatte er nur seine Unterschrift auf den mitgeschickten Kontrakt zu setzen.
Er las alles ruhig von Anfang bis zu Ende durch. Seine Miene erhellte sich nicht. Er schritt einige Male auf und ab, trat dann aus Fenster und schaute hinaus. »In diesem Sommer scheint's bloß Regen zu geben,« sagte er.
Marianne war zum Tisch gegangen. Sie nahm den Brief samt dem Vertrag und las beides. Ihre Pulse klopften vor Freude, doch drängte sie jede Äußerung aus Furcht vor [452] Daniels Widerspruchsgeist und unberechenbarer Laune zurück. Kaum traute sie sich nach ihm hinzublicken und wartete bang auf das, was er tun würde.
Endlich trat er wieder an den Tisch, zog eine Grimasse, starrte eine Weile auf die Schriftstücke und sagte lakonisch: »Kirchenmusik? Ja; das will ich machen.« Langte nach dem Federhalter, tauchte ihn ein und kritzelte seinen Namen unter den Vertrag.
»Gott sei Dank!« flüsterte Marianne.
Am selben Mittag verabschiedete sie sich von Daniel. Eva hing am Hals ihres Vaters und wollte sich gar nicht trennen. Ohne Scheu küßte sie ihn unzählige Male voll natürlicher, sprudelnder Leidenschaft und lachte dabei. Daniel ließ es geschehen. Er blieb ernst. Wenn sein Blick dem Blick des Kindes begegnete, schauderte ihm vor der grenzenlosen Fülle des Lebens, aber er empfand auch eine Verheißung, und da gegen sträubte er sich mit aller Macht.
Es war ein sonniger Septembertag. Eberhard, der den ganzen August in Erfft verbracht hatte, war zurückgekehrt, um einige dringende Geschäfte zu erledigen, sowie die Anstalten zur bevorstehenden Hochzeit zu beschleunigen.
Um die Stunde, wo die Gassen voll von spielenden Kindern waren, schritt er versonnen den Burgberg hinan. Er wollte sein Häuschen aufsuchen, das er seit Monaten nicht betreten hatte, es verlangte ihn nach der Stille dort, der tiefen Stille, nach einem Blick in die Vergangenheit, nach einem der schattenhaften Bilder seiner selbst, die er in allen Zeiten wandeln sah, in allen Räumen, wo er gewesen, auf vielen Wegen, wo er gegangen, auf den vergilbten Seiten von Büchern sogar, die er in der Einsamkeit zu Gefährten gehabt.
[453] Er zögerte häufig, blieb stehen, schien unschlüssig. Auf einmal kehrte er um und wandte sich mit ziemlich raschen Schritten gegen den Egydienplatz. Als er die Tenne von Daniels Wohnhaus betrat, kam dieser die Treppe herunter. Daniel begrüßte Eberhard und reichte ihm die Hand.
»Ich wollte Sie gerade abholen,« sagte der Freiherr, »wollte Sie bitten, mit mir in meine Eremitage zu gehen.«
Daniel schaute durch seine Brillengläser einer Schwalbe nach, die in fabelhaftem Schwung über die ganze Weite des Platzes schnellte. »Offengestanden, Baron, zum Schwatzen fehlt mir die Lust,« antwortete er so schonend, wie es ihm möglich war, zu sein.
»Es muß nicht geschwatzt werden,« sagte Eberhard. »Mich drückt ein Geheimnis, und ich kann es Ihnen mitteilen, ohne daß wir zu reden brauchen.«
Daniel ging mit.
In dem Häuschen herrschte eine muffige Luft. Eberhard machte aber die Fenster nicht auf; es sollte so still bleiben, wie es war. Daniel setzte sich auf einen der Stühle in der ehemaligen Wohnstube des Freiherrn, Eberhard meinte, er setze sich aus Müdigkeit und nahm gegenüber seinem Gaste Platz. Die Abendsonne fiel schräg auf einen alten Stahlstich, der eine Schäferszene darstellte; eine Maus rumorte in einer Ecke.
»Was ist es also mit dem Geheimnis?« fragte Daniel nach langem Schweigen ziemlich brüsk.
Eberhard erhob sich und machte eine Gebärde, die Daniel aufforderte ihm zu folgen. Sie schritten über den schmalen Gang, eine winzige Treppe hinauf, und oben, auf dem winzigen Stiegenabsatz, öffnete Eberhard eine Tür, die in die Dachkammer des Häuschens führte.
Ein betäubender Modergeruch schlug ihnen entge gen. Daniel kehrte sich unwillkürlich ab, der Freiherr jedoch deutete stumm auf die Wände.
[454] »Was ist das? Was für ein Raum ist das?« stieß Daniel hervor.
Alle vier Wände des Raumes waren vollständig von Sträußen, Girlanden und Kränzen verwelkter Blumen bekleidet. Von den meisten Blumen waren längst die Blütenblätter abgefallen und bedeckten ringsherum den Boden. Die grün gewesenen Blätter waren braun geworden, hingen zusammengekrümmt da, die Gräser waren zerfasert, die Zweige morsch. Manche Sträuße und Gewinde hatten Bänder, deren Rot oder Blau abgeblaßt war, manche hatten Goldfäden, an denen sich Rost angesetzt hatte. Auf manche fiel die schräge Sonne, wie unten auf den Stahlstich mit der Schäferszene, und in den purpurnen Strahlen zitterte ein dicker Strom von Staub.
Es war ein Blumengrab-Gewölbe, eine Leichenkammer der Erinnerungen. Daniel ahnte. Schwer lag ihm die Zunge im Gaumen, Frost überlief seinen Rücken, und als Eberhard nun doch sprach, wälzte es sich glühendheiß und naß in seine Augen.
»Die Blumen sind von ihren Händen gepflückt und gebunden worden, von Lenores Händen,« sagte Eberhard. Dann, nach einer Pause: »Sie hat die Sträuße für einen Händler angefertigt, und ich habe sie, ohne daß sie es wußte, gekauft.« Dann sagte er nichts mehr.
Da schaute Daniel in sein Leben zurück, als risse ihn ein unsichtbarer Arm auf einen Gipfel. Und er schaute, und seine Seele verging vor Angst und Qual und Reue.
Was war ihm denn geblieben? Zwei Gräber waren geblieben. Und eine zerbrochene Harfe; und verwelkte Blumen; und eine Maske aus Gips.
Er sah die abgestorbenen Stengel und die zerfallenen Kelche; einst hatten Lenores Finger sie alle berührt, und wie Geisterfiguren schwebten die Finger noch um die toten Blumen. In den staubigen Spinnengeweben nisteten die [455] ungenutzten Stunden, versäumte gute Worte, versäumter Trost, versäumte Aufmunterung, versäumte Rücksicht, versäumtes Glück. O, dies Nichtwissen um eine Gegenwart, um ein lebendiges Leben, um den wunderbaren Tag, die atmende Stunde, dies Hinschlurfen, Hinstürzen, Hinwüten in die Nacht des Wunschs und Wahns, dies eitle, verbrecherisch eitle Ungenügen! O, Flügelwesen, Flügelwesen, wo bist du, wo ruft man dich an?
Nichts geblieben als zwei Gräber, eine zerbrochene Harfe und verwelkte Blumen und eine Maske. Und ein helles Kind dort und ein dunkles hier, und ein drittes, das ins Leben getreten war, um zu sterben. Und über alldem, hoch über dem Gipfel noch, das Ungeheure, Unausdrückbare, das Meer der Träume, erträumten Klänge, Odem Gottes und höllischer Finsternis Verkündigung, Botschaft der Ewigkeit und Wunder der Zeitlichkeit, Tanz und Schalmei, Donnerschall und süßes Weben, Musik!
Es war Abend geworden. Der Freiherr schloß die Tür. Daniel reichte ihm schweigend die Hand und ging nach Hause.
[456]Herbst und Winter hindurch führte Daniel ein schweigsames, einsames Leben. Im Frühjahr schrieb ihm Sylvia von Auffenberg, er möge zu ihr und Eberhard nach Siegmundshof kommen und einige Wochen bei ihnen zubringen. Er schlug es ab, versprach später zu kommen.
Bisweilen besuchte ihn der alte Herold. Er erzählte von den Mißständen, die unter Döderleins Regiment an der Schule eingerissen waren und sagte, die Welt sei drauf und dran, ein Saustall zu werden.
Auch der Provisor Seelenfromm stellte sich ein, ferner der Architekt mit dem Zungenfehler, und Martha Rübsam kam hie und da. Gegen Ende des Winters erschien auch Herr Carovius. Er hatte ein umgänglicheres Wesen denn ehedem und gab originelle Ansichten über Musik zum besten.
Alles Reden klang an Daniels Ohr vorüber. Oft waren mehrere Menschen um ihn, er schien ihnen zuzuhören, und doch war in seinem Gesicht eine vollständige Geistesabwesenheit. Wandte sich jemand mit einer Frage an ihn, so geschah es nicht selten, daß ein kindliches Lächeln auf seine Lippen trat. Keiner hatte dieses Lächeln früher an ihm bemerkt.
Er gab Philippine das Geld zurück, das sie ihm damals geliehen, als das Klavier gepfändet worden war. Philippine sagte: »Joi! mir scheint, Daniel, du schwimmst in Geld.« Sie brachte ihm den Schuldschein, trug das Geld in ihre Kammer und rechnete lang auf einem Stück Papier, ob die Zinsen stimmten.
Das Agneslein saß am Boden und schnullte an einem Süßholz. Es freute sich, wenn Philippine da war. Vor seinem Vater hatte es Angst.
Die Freunde hatten gemeint, die Wohnung sei jetzt zu [457] geräumig, Daniel möge sie aufgeben und eine kleinere und billigere nehmen. Da war er aufgebraust und hatte erklärt, freiwillig werde er sich hierzu nie verstehen, das Haus bedeute ihm noch was anderes als ein gemietetes Quartier, und es müsse alles so bleiben, wie es bisher gewesen.
Eines Tages im Frühjahr sagte er zu Philippine: »Ich geh jetzt fort für lange Zeit. Gib acht auf das Kind, und daß es dem alten Mann droben an nichts fehlt. An jedem Ersten schick ich dir das Geld für die Wirtschaft, und du bist mir verantwortlich für alles, was geschieht. Und noch was; ich will dir Lohn zahlen. Du sollst mir nicht umsonst dienen. Ich will dir fünf Taler im Monat geben.«
Das Schüttern, das Daniel schon öfter beobachtet hatte, lief über Philippines Züge. Sie ruckte mit den Schultern, machte ihr hämischestes Gesicht und antwortete: »Spar deine Batzen, wirst sie schon brauchen, mußt nit gleich 'n großen Herrn spielen; kauf lieber dem Agneslein orndliche Schuh und orndliche Kleider, is g'scheiter.« Daniel ließ sie stehen.
Schwerlich war ihre Geldgier geringer geworden, seit sie bei ihren Eltern gestohlen hatte; sie liebte das Metall; sie liebte, es zu sehen und zu betasten; sie liebte die Scheine, liebte es, sie glatt zu streichen; sie liebte die Vorstellung, daß die Menschen sie für arm hielten und daß sie, ihnen zum Possen gleichsam, in einem alten Strumpf zwischen ihren Brüsten mehr als tausend Mark herumtrug. Sie liebte es, wenn andre über die schlechten Zeiten jammerten, wenn Bettler auf der Straße ihr die Hand entgegenstreckten. Dann dachte sie an ihren Schatz, blähte ein wenig den Leib auf, um den alten Strumpf besser zu spüren und freute sich der Sicherheit, die sie sich bei so jungen Jahren bereits verschafft hatte.
Trotzdem war ihr zumut, wie wenn sie Daniel mit den Fingernägeln die Augen auskratzen müßte, als er von Lohn für ihre Dienste sprach. Sie empfand es als schwärzesten Undank; wenn in ihrer dunklen, neidischen und boshaften [458] Seele ein Kummer überhaupt Wurzel schlagen konnte, so war es jetzt und aus diesem Grund.
Sie lief in die Küche und schmiß Messer und Gabeln voll Wut in den Spülbottich. Nach einer Weile begab sie sich zum alten Jordan, klopfte an seine verschlossene Kammer, und nachdem er ihr geöffnet hatte, teilte sie ihm erbittert mit, daß Daniel verreisen wolle. »Kaum is ein übriger Groschen im Haus, so treibt's ihn schon auf die Juchhee,« räsonierte sie. »Da steckt doch ganz gewiß wieder so ein Deifelsfrauenzimmer dahinter. Sagen Sie's ihm nur, Herr Inspektor, sagen Sie's ihm nur, was das für eine Gemeinheit ist, sein Kind und den alten Vater im Stich lassen. Sagen Sie's ihm, dann kriegen S' zum Sonntag Kartoffelklöß' mit Lebkuchensaft.«
Jordan schaute Philippine scheu ins Gesicht. In seinem Auge war etwas wie Hunger nach der versprochenen Speise, denn Philippine hielt ihn bei schmaler Kost, und manchmal ging er heimlich, nur um sich zu sättigen, in einen Wurstladen und kaufte sich für zehn Pfennige Preßsack.
»Ich will mich nach dem Zweck seiner Reise erkundigen,« murmelte er; »aber ich glaube nicht, daß ich da etwas über ihn vermag.«
»Jetzt gehn S' 'naus, gehn S' a bisla spazier'n,« befahl Philippine, »die Fenster müssen geputzt wer'n, die starren ja vor Dreck.«
Am späten Abend noch kam Daniel zu Jordan, um sich von ihm zu verabschieden.
»Wohin geht denn die Fahrt?« fragte der alte Mann.
»Will mir ein wenig das deutsche Reich ansehn,« erwiderte Daniel. »Hab im Norden droben zu tun, in Städten und auf dem Land.«
»Glück zu,« sagte Jordan bedrückt, »Glück zu, lieber Sohn. Wie lang bleibst du denn fort?«
»Weiß noch nicht. Kann sein, Jahre.«
[459] »Kann sein, Jahre,« sprach Jordan, und seine Blicke suchten auf dem Boden Halt; »da werden wir uns auf ewig Lebewohl sagen müssen, scheint mir.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Wann immer ich auch zurückkomme, ich treff dich noch hier,« sagte er mit seltsamer Bestimmtheit. »Hat's das Schicksal zu arg mit einem Menschen getrieben, dann geht es ihm aus dem Weg. Es kommt mir vor, als wärst du jetzt ganz schicksalslos.«
Jordan antwortete nicht. Seine Augen weiteten sich wie vor Furcht, und er seufzte.
Am andern Morgen verließ Daniel sein Heim. Er hatte eine braune Joppe an, die bis zum Hals mit Hirschhornknöpfen geschlossen war. Darüber hing ein Mantel mit einer Pelerine. Der breitkrempige Hut überschattete das Gesicht, welches jung aussah, obgleich so ernst, so abgekehrt, daß Stimmen, Blicke und Geräusche von ihm abzuprallen schienen wie bewegtes Wasser von einer steinernen Mauer.
Philippine trug ihm den Koffer zum Bahnhof. Ihr Kleid war mit grellfarbigen Bändern geradezu übersät. Die Weiber auf dem Markt bekamen den Hetscher vor Lachen.
Als Daniel ihr adieu sagte und ins Kupee stieg, tat sie den Mund nicht auf. Mit gerunzelter Stirn, die Fingerspitzen aneinander reibend, stand sie da und schaute beharrlich zur Erde. Nachdem der Zug längst aus der Halle gefahren war, stand sie immer noch da, bis ein Beamter sich ihr näherte und sie, mit schlecht verhehltem Spott über die rare Erscheinung, befragte, worauf sie warte.
Sie kehrte ihm den Rücken und ging. Sie machte einen Umweg über den Jakobsplatz und sprach für ein Viertelstündchen bei ihrer Freundin, der Frau Hadebusch, vor. Es war ein Sonntag. Benjamin Dorn kam eben von der Kirche und machte Philippine eine tiefe Verbeugung.
Frau Hadebusch klopfte Philippine auf den Schenkel und zwinkerte bedeutungsvoll.
[460] Herr Francke wohnte nicht mehr bei Frau Hadebusch. Herr Francke wohnte im Gefängnis. Er hatte einer herrschaftlichen Köchin die Ehe versprochen, hatte sich aber nicht damit beeilt, sondern einstweilen nur die Ersparnisse seiner Braut im Billardspiel vertan.
Daniel hatte Empfehlungen an den Prior des Klosters zu Löhriedt. Dort suchte er nach einer Handschrift, die von einem Zeitgenossen des Orlando di Lasso, wenn nicht von diesem selbst sein sollte.
Er blieb über zwei Monate und arbeitete an dem Sammelwerk. Den Verkehr mit den Mönchen fand er angenehm und war auch bei ihnen wohl gelitten. Einer, der ihn wegen seines Orgelspiels besonders schätzte, aber von strenger Frömmigkeit war, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es bedauerte, daß er ihm als Protestanten nicht mit jenem Vertrauen entgegenkommen könne, mit dem ein Mann seinesgleichen ausgezeichnet zu werden verdiene.
»Ei, da wollt ich doch, daß ich ein Jud wär,« erwiderte ihm Daniel, »dann könntet ihr erst recht sehn, was unser Herrgott ohne euer Zutun zu machen imstande ist.«
Der betreffende Klosterbruder hieß Pater Leonhardt und war ein kleiner, sehniger Mensch mit schwarzen Augen und dunklem Teint. Er schien viel erlebt, schien manchen Anlaß zu Reue und Buße zu haben, denn seine religiösen Übungen hatten nichts Gewohnheitsmäßiges, sondern echte Inbrunst und Hingebung. Seine Gläubigkeit ergriff Daniel, aber er hatte Angst vor dem Zuschauer in seinem Innern; er hielt den Zuschauer für einen Feind, für einen Philister, und daher sah er den Pater Leonhardt lieber gar nicht an.
Er wohnte in der Nähe des Klosters bei einem Bahnoffizial, [461] und einmal besuchte ihn der Pater Leonhardt. Daniel saß am Fenster und wollte noch rasch eine Korrektur beenden, der Pater schaute sich im Zimmer um, und seine Blicke fielen auf eine runde, hölzerne Schachtel, die auf einem Stuhle lag und einer Tortenschachtel ähnlich war.
»Da haben sie Ihnen wohl aus der Heimat was zum Schleckern geschickt,« bemerkte der Pater, als sich Daniel erhob.
Daniels Blick folgte dem des Mönchs. Er nahm die Schachtel, zögerte eine Weile und machte dann den Deckel auf. In der Schachtel befand sich, ganz in Sägespäne gebettet, die Maske der Zingarella. Sie war ein Teil von Daniels geringem Gepäck, und er führte sie überall mit sich.
Erschrocken prallte Pater Leonhardt zurück. »Was bedeutet das?« fragte er.
»Es bedeutet Sünde, und es bedeutet Reinigung,« antwortete Daniel, indem er die Maske gegen das vergehende Tageslicht hielt; »es bedeutet Schmerz und bedeutet Erlösung, es bedeutet Verzweiflung und bedeutet Gnade, es bedeutet Liebe und bedeutet Tod, es bedeutet Chaos und bedeutet Gestalt.«
Von dem Tag ab richtete Pater Leonhardt das Wort nicht mehr an Daniel. Und wenn der fremde Musiker die Orgel spielte, verließ er eilends die Kirche und floh an einen Ort, wohin die Töne nicht drangen.
Im Sommer kam Daniel nach Aachen und in die Gegend von Lüttich, Löwen und Mecheln, von da an wanderte er zu Fuß weiter, nach Gent und nach Brügge.
An den Stellen, wo er Nachforschungen zu betreiben hatte, konnte er sich meist nur durch Briefe verständlich machen, [462] die ihm das Verlagshaus geschickt hatte. Zur Stummheit verurteilt, lebte er fremd und allein.
Sehenswürdigkeiten lockten ihn nicht. Selten stand er vor einem alten Gemälde; nur wenn das Schöne seinen Weg versperrte, zwang es ihn zum Aufenthalt. Er ging immer wie zwischen zwei Mauern, immer der Nase nach, kehrte ungern um und spürte erst Müdigkeit, wenn er sich zum Schlafen hinlegte.
Auch in der Müdigkeit war noch ein nagendes Gefühl des Beraubtseins, Unruhe auch noch im Schlummer. Hast drückte sich aus in seinem Auge, in seinem Gang, in seinen Verrichtungen. Hastig nahm er die Mahlzeiten, hastig schrieb er seine Briefe, hastig redete er.
Die Blicke der Menschen auf sich gerichtet zu wissen war ihm eine Pein. Obwohl er sich in jedem Wirtshaus in die verborgenste Ecke begab und jeden Anlaß vermied, der ihn zum Zielpunkt der Neugier machen konnte, wurde er doch überall sofort gesehen, beobachtet und bestaunt. Denn alles an ihm war auffallend, die Energie seiner Mimik, seine heftigen Gesten, das Fletschen der Zähne, der eilige, hackende Schritt, mit dem er durch Gruppen schwatzender Leute ging.
Er hatte sich auf den Anblick des Meeres gefreut. Auf Ungeheures war er gefaßt gewesen, auf ein titanisch brodelndes Element, den Sturm der Apokalypse. Das friedliche Schwanken und harmlose Brausen enttäuschte ihn. Man sollte die Dinge, vor denen einem die Phantasie Ehrfurcht eingeimpft hat, nicht kennen lernen, dachte er.
Er konnte mit der Natur hadern wie mit einem Menschen; was er ihre Unvollkommenheit nannte, erregte seinen Groll. Doch liebte er eine bestimmte Stelle in einem Wald, wohin es ihn immer wieder trieb; oder einen Baum in der Ebene; oder die Abendstunde an einem Kanal.
Am meisten liebte er die engen Gassen der Städte, wenn aus offenen Fenstern Stimmengemurmel drang und aus [463] geschlossenen das Licht der Lampen; wenn er an Höfen und Kellern, an Toren und Zäunen vorbeiging; eines alten Mannes Gesicht auftauchte, eines jungen Mädchens Gesicht, Arbeiter aus den Fabriken kamen, Soldaten aus den Kasernen, Seeleute vom Hafen. Da war für ihn Erzählung drinnen; da war er wie der Leser eines aufregenden Buches.
Einst ging er in Cleve bei Nacht durch dunkle Straßen. Da sah er vor einer Kirche einen Mann und eine Frau und fünf Kinder, armselig gekleidet alle; vor ihnen auf dem Pflaster lagen mehrere Bündel, die ihre Habe enthielten. Nach einer Weile kam ein Mensch und redete herrisch mit ihnen; sie hoben die Bündel auf und folgten ihm in traurigem Zug. Es waren Auswanderer, ihr Führer hatte vom Schiff gesprochen.
Daniel dünkte es, als spanne sich eine Saite in seiner Brust und schwinge tonlos. Die sich entfernenden Schritte der acht Menschen wurden zum rhythmischen Gefüge. Verworrenes teilte sich ab; finster Gewesenes schoß ins Licht. Voller Beklommenheit ging er seinen Weg, die Augen zu Boden geheftet, als suche er; und er sah nicht mehr, hörte nicht mehr, wußte die Stunde nicht.
Nach einer Erstarrung von anderthalb Jahren wehte Märzwind in seiner Seele.
Aber es war wie Krankheit. Ungeduld verzehrte ihn. Sein nächstes Ziel war Kloster Oesede bei Osnabrück, von dort wollte er nach Berlin. Er konnte das Stillsitzen in der Eisenbahn nicht aushalten; in Wesel gab er seinen Koffer als Fracht auf und wanderte mit Mantel und Rucksack weiter. Er marschierte acht bis zehn Stunden täglich, trotz des schlechten Wetters. Es war Ende Oktober, die Morgen und Abende waren kalt, die Straßen naß, die Quartiere elend. Nichts beirrte ihn; er ging und ging, suchte und suchte, oft bis in die späte Nacht, leidenschaftlich in sich versunken.
Als er ins Eisen- und Kohlenrevier kam, hob er immer öfter den Blick empor. Die Häuser waren schwarz, die Luft [464] war schwarz, die Erde schwarz, geschwärzte Menschen begegneten ihm. Kupferdrähte sangen im Nebel, Hämmer dröhnten, gewaltige Räder surrten, Schlöte rauchten, Dampfpfeifen gellten, es war wie Traumvision, Landschaft eines unbekannten, verfluchten Sterns.
Eines Abends trat er aus einer Kantine, wo er in Eile etwas zu sich genommen hatte. Er war noch zehn Kilometer von Dortmund, wo er nächtigen wollte. Er hatte die Dorfstraße verlassen, da flammten ringsum die Feuer der Hochöfen durch den Nebel, der infolgedessen blutrot glühte. Bergleute kamen schweigend auf das Dorf zu, und ihre müden Gesichter sahen im Flammenschein wie dämonische Fratzen aus. Fern oder nah, man konnte es nicht unterscheiden, zog ein Pferd einen Karren über glitzernde Schienen; oben stand ein Mann und schwang die Peitsche. Tier, Karren und Mensch zeigten sich riesengroß, das Hühott klang wie ein wilder Geisterschrei, und die eisernen Laute aus den Werkstätten glichen dem Brüllen gequälter Kreaturen.
Da fand Daniel, was er gesucht. Da fand er die wehevolle Melodie, welche ihn von Lenore am Tag ihres Todes fortgetrieben hatte. Wohl hatte er sie damals aufs Papier gebracht, aber sie war ohne Folge geblieben, war mit Lenore ins Grab gegangen.
Jetzt war sie auferstanden, und alle Folge mit ihr, in wunderbarem Bogen hingedehnt, gegliedert wie ein Leib, erfüllt wie eine Welt.
Aus der Maschine war ihm die Musik wiedergeboren worden.
Jason Philipp Schimmelweis hatte das Haus an der Museumsbrücke verlassen müssen. Die Miete war zu teuer geworden, und die Geschäfte gingen schlecht. Der Zufall [465] wollte, daß in dem Haus am Kornmarkt, von welchem er vor zwanzig Jahren seinen Aufstieg genommen, eine billige Wohnung frei war, und er zog dort ein.
Verstand Jason Philipp seine Zeit nicht mehr? War er zu alt, zu stumpf, um dem Publikum die literarische Nahrung mundgerecht zu machen? Waren seine Anpreisungen ohne Kraft, die Reizmittel, die er ersann, ohne Würze? Niemand wollte mehr Prachtwerke und Lexika auf Raten bei ihm kaufen, auch die reichen alten Herren, die nach zweideutiger Lektüre lüstern waren, kamen nicht mehr. Jason Philipp war ein säumiger Zahler geworden, die Verleger schickten ihm keine Kommissionsexemplare, er kam auf die schwarze Liste.
Und er schimpfte über die neueren Schriftsteller und sagte, es sei kein Wunder, daß das Bücherschreiben von lauter nichtswürdigen Subjekten ausgeübt werde, da ja die ganze Nation am Gehirnschwund leide.
Es half aber kein Räsonieren, der Zusammenbruch war nicht aufzuhalten. Ein Mann namens Rindskopf kaufte die Lagerbestände zu Makulaturpreisen, und die Firma Schimmelweis hatte aufgehört, zu sein.
In seiner Bedrängnis hatte Jason Philipp bei der liberalen Partei Unterstützung gesucht. Er pochte auf die Freundschaft, die ihn mit dem vormaligen Führer, dem Freiherrn von Auffenberg, verbunden hatte. Da kam er übel an. Ein Renegat beruft sich auf den andern, hieß es; natürlich, gleich und gleich gesellt sich gern.
Dann ging er den Freimaurern um den Bart und wollte in die Loge eintreten. Doch gab man ihm zu verstehen, daß man einigen Grund habe, der Reinheit seiner Gesinnung zu mißtrauen und daß seine Bemühungen deshalb vergeblich seien.
Eine Zeitlang wurde es ihm schwer, das tägliche Brot aufzubringen. Die Agentenstelle bei der Prudentia hatte er schon längst gekündigt. Seit einer Interpellation im Reichstag [466] und einem großen Prozeß, der kurz hernach gegen die Gesellschaft anhängig gemacht worden war, und den sie verloren hatte, war es mit dem Ansehen des klug ersonnenen Brandschatzungs-Unternehmens vorbei.
Jason Philipp hatte keine andere Wahl: er mußte wieder zur Buchbinderei seine Zuflucht nehmen. Er mußte wieder leimen, schneiden und falzen. Von wo er als ehrgeiziger, plänereicher, selbstsicherer, streitbarer Mann ausgegangen war, dorthin kehrte er am Abend seines Lebens arm und verbittert zurück. Nichts hatte gefruchtet, Beredsamkeit nicht, Pfiffigkeit nicht, Wechsel der Überzeugung nicht, Einsicht in die wirtschaftlichen Konjunkturen nicht und Spekulation nicht. Er hatte niemals an eine gerechte Weltordnung geglaubt, weder als Sozialist noch als ehrenfester Bürger, jetzt schien sie ihm nicht einmal passend für einen Merkspruch in einer Kinderfibel.
Willibald war nach wie vor ein braver Handlungskommis; Markus bekam einen Posten in einem Möbelgeschäft und lernte Volapük, denn er verfocht die Ansicht, daß sich alle Völker der Erde binnen kurzem nur noch dieser verbrüdernden Sprache bedienen würden.
Therese siedelte so ruhig in das Haus am Kornmarkt über, als sei sie schon seit Jahren mit dem Gedanken vertraut. Es befand sich dort ein Erkerfenster, an diesem saß sie, wenn die Arbeit in der Küche getan war, und strickte Strümpfe für ihre Söhne. Bisweilen kratzte sie mit der Nadel ihren grauen Kopf, bisweilen griff sie nach einem Schälchen ungezuckerten, kalten Kaffees, das stets neben ihr stand. Ihr Blick war der trübste Menschenblick, den man wahrnehmen konnte, ihre Hand die schwieligste, runzligste Bauernhand, die je eine Städterin gehabt.
Ununterbrochen mußte sie an das viele Geld den ken, das in den zwei Dezennien, die sie am Ladentisch in der Plobenhofgasse verbracht hatte, durch ihre Hand gegangen war.
[467] Sie malte sich aus, wohin das viele Geld gerollt sein konnte, wem es jetzt diente, wen es jetzt quälte. Denn sie war nun seiner ledig, und sie freute sich in ihrem Innern, daß sie seiner ledig war.
Eines Tages trat Jason Philipp aus seinem Arbeitsraum in die Stube, eine Zeitung in der Hand, und rief mit strahlender Miene: »Endlich, meine Liebe, endlich! Ich bin gerächt. Jason Philipp Schimmelweis war doch ein guter Prophet. Nun, was meinst du?« fuhr er fort, als ihn Therese ohne sonderliche Neugier anschaute, »was meinst du? Rate mal. Ich lass' was draufgehen, wenn du's errätst. Aber du errätst es ja nicht, das kann kein Weiberschädel fassen.« Er stieg auf einen Stuhl, hielt die Zeitung wie eine Fahne in die Höhe und jubelte: »Mit Bismarck ist's aus! Er wird gegangen! Der Kaiser hat ihn geschaßt! Nun kann kommen, was will, ich habe nicht umsonst gelebt.«
Jason Philipp hatte das Gefühl, als sei es hauptsächlich seinem Wirken zuzuschreiben, daß dem großen Kanzler die Zügel der Regierung entrissen worden waren. Seine Befriedigung äußerte sich auch weiterhin auf eine ebenso geräuschvolle wie seinem Alter unangemessene Weise. Er fiel die Bekannten auf der Gasse an und forderte Gratulationen von ihnen. Er spendierte in seinem Stammwirtshaus ein Faß Bier und legte in einer mit allerlei Sarkasmen und volkstümlichen Wendungen gespickten Rede die Gründe dar, weshalb er diesen Tag als den glücklichsten seines Lebens betrachte.
Er sprach: »Erwiese mir das Schicksal die Gunst, vor diesem Schädling, diesem gewissenlosen Tyrannen einmal Mann gegen Mann zu stehen, wahrhaftig, ich nähme mir kein Blatt vors Maul, und er sollte Dinge von mir zu hören kriegen, die ihm noch kein Sterblicher gesagt hat.«
Mehrere Monate vergingen, und eines Tages unternahm der mit seinem Geschick hadernde Bismarck von seinem Sitz [468] im Sachsenwald eine Reise nach München. Eine gewaltige Erregung machte sich in Nürnberg bemerkbar, als es hieß, der eiserne Kanzler werde um die und die Stunde den Bahnhof passieren.
Alles wollte ihn sehen, jung und alt, vornehm und gering, schon in der Morgenfrühe drängte sich das Volk in dichten Scharen durchs Königstor.
Bei diesem Schauspiel durfte Jason Philipp nicht fehlen. »Einen Tiger, dem die Krallen abgeschnitten und die Zähne ausgebrochen worden sind, zu beaugapfeln, ist ein Vergnügen, das sich meiner Mutter Sohn nicht entgehen läßt,« sagte er.
Seine Ellenbogenkraft leistete ihm nützliche Dienste, und als der Zug in die Halle fuhr, stand unser Rebell in der vordersten Reihe der zu einer undurchdringlichen Masse zusammengekeilten Menschen.
Der Zug hatte einige Minuten Aufenthalt, und unter dem betäubenden Hurrageschrei des Volkes verließ der Fürst seinen Wagen. Er drückte dem Bürgermeister die Hand und begrüßte einige hohe Offiziere.
Jason Philipp rührte sich nicht. Es fiel ihm nicht ein, Hurra zu rufen. Nein, es fiel ihm nicht ein. Ein säuerlich höhnisches Lächeln umspielte seinen Mund, und sein schon weißer Bart zuckte, wenn er die Lippenwinkel in satanischer Genugtuung auseinanderzog. Es fiel ihm nicht ein, den Hut zu ziehen, trotzdem in seiner Nähe ein unheildrohendes Murren vernehmbar wurde. Ich bin konsequent, mein lieber Bismarck, dachte er; ich, Jason Philipp Schimmelweis, bin unbestechlich.
Doch schien ihm die Genugtuung, die wir als satanisch bezeichneten, nicht ganz begründet, da sie in einem zu schroffen Gegensatz zu dem rings um ihn herrschenden Enthusiasmus stand. Was war in den dummen Pöbel gefahren? Was raste er? Sah den Feind vor sich, den Henker, sah ihn unschädlich, [469] im bürgerlichen Kleid, und gebärdete sich, als sei der Messias aus dem Extrazug gestiegen!
Da dünkte es Jason Philipp, wie wenn die Blicke des Fürsten sich geradeaus gegen ihn richteten, wie wenn der furchtbar große Mann mit dem seltsam kleinen Kopf und den ungeheuerlich blauen Augen Anstoß an seinem Schweigen genommen, wie wenn er von seiner Gesinnung irgendwie Kunde erhalten hätte.
Das säuerlich höhnische Lächeln erstarb in Jason Philipps Gesicht, er verspürte eine laue Unkraft, Angstschweiß perlte auf seiner Stirn, unwillkürlich drückte er die Knie durch und die Brust heraus, riß den Hut herunter, öffnete den Mund und schrie: »Hurra!«
Er schrie Hurra. Der Blick des Fürsten wandte sich wieder von ihm ab.
Aber Jason Philipp hatte Hurra geschrien.
Er schlich beschämt nach Hause. Er zog die Pantoffeln an die Füße (»dem Müden zum Trost«); sie waren schon recht zerfranst, die Pantoffeln, sie hatten gelitten im Lebenskampf; er streckte sich auf dem Sofa aus, das Gesicht zur Wand, den Rücken gegen das Fenster, gegen die Welt gekehrt.
Wochenlang hatte Daniel in Berlin einsam gelebt, weit draußen, im Osten der riesigen Stadt. Da kam einer der Leiter des Hauses Philander und Söhne zu ihm. Er besuchte den Mann wiederum, und im Verlauf von zwei Stunden wurde er gegen seinen Willen mit einem ganzen Schwarm von Komponisten, Dirigenten, Virtuosen und Musikkritikern bekannt.
Einige hatten von ihm gehört, er erschien ihnen merkwürdig, sie warfen ihre Netze nach ihm aus, er entschlüpfte, mußte sich bei unvermuteten Begegnungen dennoch fangen [470] lassen, mußte Rede stehen, sich enthüllen, fand sich verpflichtet, interessiert, aber keiner hatte Gewalt über ihn, er ging nur zwischen ihnen durch.
Sie lachten über seine Mundart und seine Unmanierlichkeit. Was sie anzog, war sein Selbstrespekt, was sie reizte, war sein verschlossenes Wesen, was sie originell fanden, war, daß er immer wieder für Monate aus ihrem Gesichtskreis schwand.
Eine geschiedene junge Frau, eine Jüdin, Regina Sußmann mit Namen, faßte eine Schwärmerei für ihn. Sie erkannte in Daniel die elementare Natur; je mehr er ihr auswich, je hartnäckiger warb sie um seine Beachtung. Manchmal tat es ihm wohl, wieder eine Frau zu spüren, den helleren Laut, den zarteren Schritt, den reineren Atem, doch glaubte er nicht an Regina Sußmann, weil sie ihm zu wissend schien. Da war nichts von jener Pflanzenart, ohne die ihm eine Frau bildlos und verwildert vorkam.
An einem Wintertag besuchte sie ihn in dem öden Mietszimmer, das er in der Greifswalder Straße bewohnte. Sie setzte sich an das Pianino und phantasierte vor sich hin. Zuerst war es wie Dunst; plötzlich lauschte er betroffen. Was er hörte, klang ihm auf eine halb unbehagliche, halb schmerzliche Weise vertraut. Es waren Motive aus dem Quartett, dem Lenoren-Quartett, wie er es für sich benannt hatte. Es stellte sich heraus, daß Regina Sußmann vor drei Jahren bei der Aufführung in Leipzig gewesen war.
Nach einer lastenden Stille griff eine Frage Reginas kühn in sein Inneres. Sie wollte Fäden vom Werk zum Menschen knüpfen; sie wollte von seinem unbekannten Schicksal den Schleier reißen. Er stieß sie zurück. Danach tat sie ihm leid, und zögernd fing er an, von seiner Symphonie zu sprechen. Die leidenschaftlich-stumme Teilnahme der Frau hatte etwas Verzauberndes; er verlor sich, er vergaß sich, er eröffnete sich. Er baute das Werk in Worten vor ihr auf, [471] die sieben Sätze gleich sieben Treppen eines Tempelturms, ein herrliches Empor in die oberen Sphären, ein tragischer Sturm mit tragisch heitern Pausen der Erinnerung und Besinnung, von lächelnden Genien begleitet, welche die Pfeiler der Traumregion schmückten und bekränzten.
Dann begab er sich ans Klavier, schlug das wehvolle Hauptmotiv an und die beiden Seitenthemen, kontrapunktierte sie, steigerte, variierte, modulierte und sang zugleich. Seine Pupillen hatten sich erweitert und loderten hinter den Gläsern der Brille in grünem Feuer. Da kniete Regina Sußmann neben dem Instrument nieder. Vielleicht zwang sie die Ergriffenheit, dies zu tun, vielleicht wollte sie ihm einen sichtbaren Beweis ihrer Andacht und Verehrung geben. Da wurde ihm die Frau plötzlich widerwärtig, das gelöste Schmachten ihrer Augen erregte seinen Ekel, ihre kniende Stellung dünkte ihm wie Spott und Grimasse, eine Erinnerung war entweiht, er sprang auf, eilte wortlos, mit zornig verkniffenen Lippen hinweg und ließ sie, in seinem Zimmer, allein zurück. Als er spät in der Nacht heimkehrte, fürchtete er, sie noch zu treffen, aber sie war nicht mehr da. Nur ein Brief lag neben der Lampe auf dem Tisch.
Sie schrieb, daß sie ihn verstanden habe; sie habe verstanden, daß er in seiner Vergangenheit wie in einer Festung wohne, und daß Schatten um ihn seien, die durch keine Anmaßung eines Lebendigen verscheucht werden dürften. Sie wolle sich nicht in sein Inneres drängen, doch habe sie Angst um seine Zukunft und wie er den Hunger des Leibes, den Hunger des Herzens einst niederkämpfen würde.
»Schamlose,« murmelte Daniel, »Spionin!«
Sie habe seine Größe erkannt, hieß es in fast perverser Demut weiter, er sei der Genius, dem sie entgegengeharrt, und sie wünsche sonst nichts, als ihm zu dienen. In der Ferne, da er ihre Nähe nicht ertragen wolle; er möge es sich um seinet- und der Menschheit willen gefallen lassen.
[472] Daniel verbrannte den Brief. In der Nacht wachte er auf und hatte Sehnsucht nach der zärtlichen Berührung einer Unberührten. Er träumte ein Lächeln auf dem Antlitz einer Siebzehnjährigen, arglos Spielenden, und es schauderte ihm vor sich selbst.
Kurze Zeit hernach fuhr er nach Dresden, wo er in der Königlichen Bibliothek zu arbeiten hatte.
Es kamen Menschen zu ihm, die für ihn wirken wollten. An vielen Zeichen merkte er, daß Regina Sußmann glühende Propaganda für ihn trieb.
Eines Tages erhielt er von einer Gesellschaft von Musikfreunden in Magdeburg die Aufforderung, dort ein Konzert zu leiten. Er schwankte lange, endlich willigte er ein. Äußerlich hatte der Abend nur geringen Erfolg, doch spürten die Hörer seine Macht. Stümpernde Musikanten, sich vergessend, wurden zu beseelten Sklaven seines Arms und Blicks. Ein ungewisses Glück, das er in den Guten weckte, rief ihn weiter auf der Bahn. Zwei Winter lang dirigierte er klassische Konzerte in den Provinzstädten des Nordens. Er war der erste, der damit begann, das Publikum an strenge Programme zu gewöhnen. Der erste erntet selten Dank. Hätte er sich nicht so puritanisch der Darbietung von Süßigkeiten enthalten, von Opernnummern und beliebten Tongemälden, sein Wirken hätte sich besser gelohnt. Er wurde mit Achtung genannt, dennoch ging er dunkel durch die Städte.
Regina Sußmann war immer dort, wo er ein Konzert gab. Er wußte es, auch wenn er sie nicht sah. Bisweilen gewahrte er sie in der vordersten Reihe. Sie näherte sich ihm niemals. Dann und wann erschienen begeisterte Artikel in den Zeitungen, die erkennbar von ihr beeinflußt waren. Einmal begegnete er ihr auf der Treppe eines Hotels. Sie blieb stehen, bleich mit gesenkten Augen. Er ging vorüber. Da flammte wieder die Sehnsucht auf nach der zärtlichen Berührung einer Unberührten. Hungerte wirklich schon sein[473] Herz? Er biß die Zähne zusammen und arbeitete die ganze Nacht hindurch. Es schien ihm, als bedrohe ihn die düstere Nüchternheit seiner Zeit und seiner Welt schrecklich. Aber bedurfte es, um sie abzuwenden, eines Weibes? Die Schatten wichen trauernd zurück, Gertrud und Lenore, schwesterlich umschlungen.
Laß ab von deinem Tun! riefen sie. Und er sah, daß ihn die provinzlichen Konzertreisen zu falschen Zielen lockten, falschen Ehrgeiz entfachten, seine Kräfte zerteilten. Auch ertrug er die blendend hellen Säle nicht mehr, die geputzten Menschen, die leer kamen, unverwandelt gingen. Es war alles wie Lüge. Da ließ er ab, gerade als die Verführung am stärksten war, als ihn die Berliner Philharmonie eingeladen hatte, in ihren Räumen seine eigenen Schöpfungen zu dirigieren.
Plötzlich war er verschollen. Ehe drei Monate vergingen, war sein Name zur Sage geworden.
Sommer, Herbst und Winter des Jahres 1893 verbrachte er mit unstetem Wandern. Bald saß er an einem entlegenen Ort in Thüringen, bald in einem Tal der Rhön, bald im Erzgebirge, bald in einem Fischerdorf an der Ostsee. Tagsüber arbeitete er an dem Sammelwerk, in der Nacht komponierte er. Und nur der Firma Philander war sein jeweiliger Aufenthalt bekannt. Vor den Brotherren durfte er sich nicht verstecken.
Allmählich entwöhnte er sich des Wortes so, daß es ihn Mühe kostete, mit einem Wirt über den Preis eines Zimmers zu verhandeln. Das beständige Schweigen meißelte seine Lippen zu unheimlicher Schärfe aus.
Er hörte nichts von seiner Mutter, nichts von seinen [474] Kindern. Es war, als hätte er vergessen, daß es Lebendige gab, die seiner mit Liebe, mit Angst gedachten.
Die einzigen Boten aus der Welt waren Briefe, die er in Zwischenräumen von vier bis fünf Wochen durch das Verlagshaus in Mainz nachgeschickt bekam. Die Briefe waren von der Hand Regina Sußmanns, aber sie trugen ihre Unterschrift nicht, sondern die Schreiberin nannte sich »die Schwalbe«. Und sie redete Daniel mit Du an.
Sie erzählte ihm von ihrem Leben, von Büchern, die sie las, von Menschen, die sie sah, und von ihren Ideen über Musik. Ihre Mitteilungen wurden ihm nach und nach unentbehrlich, ihre Treue rührte ihn, und daß sie sich ihres Namens entäußert hatte, gefiel ihm. Sie hatte eine erstaunliche Feinheit und Kraft im Ausdruck, und so unwahr, so gespannt sie im persönlichen Verkehr auf ihn gewirkt hatte, so überzeugend und natürlich war alles, was sie schrieb. Nie ein Wunsch, daß er geben möge, was er doch nicht geben konnte; nie eine Klage. Dafür eine Leidenschaftlichkeit des Verstandes, die ihm neu war, die er an Frauen noch nicht kannte, eine Glut und Sicherheit im Erfassen seines Wesens, vor der er sich beugte wie vor einer höheren Stimme.
Er beantwortete keinen Brief, doch wartete er nicht selten mit Ungeduld auf den, der fällig war. Oft dachte er an die Schwalbe, in der Nacht, wenn er an ein schwarzes Fenster trat; er dachte an sie wie an einen allsehenden Geist, der in den Lüften haust. Die Schwalbe, das war sinnvoll, die unruhige, zarte, schnelle Schwalbe. Und er sah jene eine, die sich damals in fabelhaftem Bogen über den Kirchenplatz geschwungen hatte, als Eberhard von Auffenberg gekommen war, um ihn zu den verwelkten Blumen zu führen.
Da schrieb er an Philippine: »Schmücke meine Gräber, kauf zwei Kränze und leg sie auf die Gräber!«
»Du mußt zum Wolkengipfel hinan, sonst bist du verloren, Daniel,« lautete eine Stelle in einem der Schwalbenbriefe; [475] »sobald du um eine Einsamkeit weißt, mußt du in eine andere, ungewußte schlüpfen, sobald ein Weg sich dir bahnt, mußt du ins Dickicht stürmen, sobald ein Arm dich umschlingt, mußt du dich losreißen, und gibt's auch Blut und Tränen. Du mußt über die Menschen hinaus, du darfst kein Bürger sein, nichts Liebliches darf dir lieb werden, keinen Begleiter und keine Begleiterin darfst du haben, kühl und still müssen die Zeiten um dich schwingen, erzumschlossen bleibe dein Herz, denn die Musik ist eine Flamme, die im Menschen, der sie gebiert, alles durchbricht und verzehrt, bloß nicht den Stoff, den die Götter um den Auserwählten geschmiedet haben.«
Wie hätte da nicht vollends das Bild der rothaarigen Jüdin entschwinden sollen, vor der Daniel in Widerwillen geflohen war? Da war eine Muse, wie sie von Dichtern erträumt wird. Jüdin, wunderbare Jüdin, dachte Daniel, und dieses Wort, Jüdin, erhielt für ihn eine eigens Bedeutung von Gemütsgewalt und prophetischem Flug.
»Das Werk, Daniel Nothafft, das Werk,« schrieb diese zweite Rahel ein anderes Mal, »der Prometheusraub, wann schenkst du ihn der verarmten Mensch heit? Die Zeit ist wie erdig schmeckender Wein, dein Werk muß Filter sein; sie ist wie ein epileptischer Körper im Starrkrampf, dein Werk sei die heilende Hand, die man ihm auf die Stirn legt. Wann endlich gibst du, Sparsamer, wann reifst du, Baum, wann ergießt du dich, Strom?«
Aber dem Baum eilte es nicht, die Früchte abzuwerfen; der Strom fand den Weg lang bis zum Meer; er hatte Gebirge zu durchhöhlen und Felsen zu zerbrechen. O, qualvolle Nächte, in denen bestehende Form wieder und immer wieder verfiel! O hundert qualvolle Nächte, in denen kein Schlaf war, nur aufgeregtes Toben vieler Stimmen! Trübe Morgen, wo die Sonne auf zerfetzte Blätter schien und auf ein verstörtes Gesicht, ein Gesicht voll alter, immer neuer Leiden. [476] Und Mondnächte, wo einer singend dahinschweift, nicht fröhlich singend, sondern singend wie einst die Ketzer auf den Marterbänken der Inquisition; und Regennächte, Sturmnächte, Schneenächte, wo er dem Phantom einer Melodie nachrast, die halb schon sein Eigentum ist, halb noch im grenzenlosen Raum unter den Sternen irrt.
Da wurde alle Landschaft bleiche Vision, Busch und Gras und Blume wie Gespinst in einem Fieber, Menschen, die vorübergingen, und Nebelschwaden, die überm Wald faserten, waren von ein und derselben Beschaffenheit; nichts war greifbar; der Gaumen schmeckte den Bissen nicht, die Finger spürten kein Ding. Schlechtes Wetter war das willkommene; es dämpfte die Geräusche, machte die Menschen stiller. Verflucht die Mühle, die klappert, verflucht der Zimmermann, der den Balken schlägt, verflucht der Fuhrknecht, der die Gäule anruft, verflucht das Lachen von Kindern, das Quaken der Frösche, das Zwitschern der Vögel! Ein Fühlloser blickt auf euch, einer, der stumm und taub ist, einer, der Kleid und Schmuck von der Welt reißen will, damit keine Farbe und kein Glanz sein Auge ablenkt, einer, der bei Nacht zum Himmel fliegt, um das ewige Feuer zu stehlen, und bei Tag in Gräbern wühlt, ein Auswürfling.
Als das Frühjahr kam, begann er den dritten Satz, ein Andante mit Variationen. Es drückte den schauerlichen Frieden aus, den Lenores schlummerndes Antlitz eine Nacht vor ihrem Tod gezeigt. Da waren plötzlich alle Quellen erschöpft, und er wußte nicht, warum seine Hand und seine Phantasie erlahmten.
Eines Abends kehrte er von einer langen Wanderung nach Arnstein zurück, einem Marktflecken im Unterfränkischen, wo er um diese Zeit sein Quartier aufgeschlagen hatte. Er wohnte bei einer Nähterin, einer armen Witwe, und als er in sein Zimmer trat, sah er das Töchterchen der Witwe, ein zehnjähriges Kind, vor der geöffneten Schachtel stehen, [477] in der sich die Maske der Zingarella befand. In harmloser Neu gier hatte das Mädchen den Deckel heruntergenommen und war gebannt von dem unerwarteten Anblick.
Als es Daniel gewahr wurde, zuckte es erschrocken zusammen und wollte fliehen. Aber Daniel legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Bleib nur!« Er fühlte den mageren Körper, die furchtsam bebende Gestalt unter seiner Hand, und eine ferne Erinnerung schlug ihm wie mit Krallen in die Brust. Der Mund der Maske schien zu sprechen, Stirn und Wangen leuchteten weiß; wenn er die Augen abwendete, tanzte oben im Raum ein Elfchen, und das Elfchen erregte eine schuldvolle Unruhe in seinem Gemüt.
Philippine wollte nie erlauben, daß das Agneslein mit andern Kindern spielte.
Einmal war das Kind auf den Platz gegangen und hatte zugeschaut, wie kleine Mädchen »Schneider, leih mir die Scher'« spielten und lachend von Baum zu Baum liefen. Gern hätte es sich zu ihnen gesellt, aber niemand forderte das blasse, scheue Wesen auf, am Spiele teilzunehmen. Da schoß Philippine wie eine Furie daher und rief erbost: »Geh in die Stuben 'nauf, sonst kriegst a Schell'n, daß dir drei Tag lang die Zähn im Maul klappern.«
Auch zog sie immer ein schiefes Gesicht, wenn der alte Jordan sich zu dem Kind setzte, um mit ihm zu reden. Beachtete er dies Zeichen ihres Unwillens nicht, so begann sie erst leise zu singen, dann lauter, dann schimpfte sie in gehässiger Weise und gab sich nicht eher zufrieden, als bis Jordan mit einem Seufzer aufstand und hinausging. Er durfte es nicht wagen, Philippine zu trotzen; sie bestrafte ihn, indem sie ihm schlechtes Essen und winzige Portionen verabreichte.[478] Und er litt viel an Hunger. Er verdiente nur ein paar Groschen in der Woche und mußte das Geld sparen, damit er die Ausgaben bestreiten konnte, die ihm durch die Arbeit an seiner Erfindung verursacht wurden.
Er glaubte an die Erfindung. Sein Glaube ward mit den Jahren immer fester. Kein Mißlingen beirrte ihn; im Gegenteil, er war überzeugt, daß ihn jeder Fehlschlag näher zum Ziel brachte.
Einst fragte er Philippine: »Warum wollen Sie denn nicht, daß ich mich ein bißchen mit meinem Enkelchen beschäftige? Es tut mir so wohl, es lenkt mich ab, es mildert die Spannung meines Geistes.«
»Blödes Geschwätz,« antwortete Philippine, »das Agneslein ist mit seinem Vater übel genug dran, der Großvater, der fehlet mir noch, der tät das Kraut fett machen.«
Ein andermal sagte der Greis: »Schließen wir einen Vertrag: Sie lassen mich täglich eine halbe Stunde bei dem Kind, und ich besorg Ihnen dafür die Gänge in der Stadt.«
Philippine erwiderte grob: »Meine Gäng' besorg ich mir selber, und das Agneslein gehört mir; basta.«
Dabei war Philippine um jene Zeit besonders guter Laune. Es hatte sich nämlich gefügt, daß Benjamin Dorn, der zusammen mit Herrn Zittel von der »Prudentia« weggegangen und jetzt bei der Gesellschaft »Exzelsior« beamtet war, sich lebhaft für sie interessierte. Philippine hatte ihrer Freundin, der Frau Hadebusch, in einer schwachen Stunde verraten, daß sie beträchtliche Ersparnisse besaß, und mit dieser Wissenschaft hatte Frau Hadebusch den Methodisten auf ernste Heiratsgedanken gebracht.
Der Methodist gab sich Mühe, Philippines Gunst zu gewinnen. An ihrer gottlosen Denkungsart nahm er freilich Anstoß und schüttelte betrübt den Kopf, wenn sie ihn einen Pfaffen nannte und erklärte, das fromme Getue sei ihr wurscht, die Hauptsache wäre, daß man Moneten im Sack [479] habe, eine Meinung, der Frau Hadebusch mit allem Nachdruck beipflichtete. Frau Hadebusch sagte zu Benjamin Dorn, eine tüchtigere, drallere, vermöglichere, von oben bis unten besser ausstaffierte Person als das Fräulein Schimmelweis könne er auf dem ganzen Erdenrund nicht ausfindig machen, er und sie seien für die Ehe geschaffen wie Essig und Öl für den Salat. Man solle nur sehen, was für stattliche Gewänder die Person habe und wie sie sich zu putzen verstehe, und von guter Familienabstammung sei sie noch überdies; kurz, jedem Mann wäre zu gratulieren.
Und zu Philippine sagte Frau Hadebusch: »Der Dorn, das ist ein Schreiber, wie es ausgezeichneter keinen gibt. Der führt Ihnen eine Feder, daß es ein wahrer Staat ist. Er hinkt ein bisla, no ja; wie viele gehen auf zwei gesunden Beinen und haben bloß Lumpereien im Kopf. Der aber, kein Wässerlein kann er trüben; er ist so sanft wie Zwetschgenmus, und wenn ihn ein Hund anbellt, gibt er ihm ein Stück Zucker. So ein Mann ist das.«
Im Oktober gingen Benjamin Dorn und Philippine auf die Fürther Kirchweih, und das Agneslein wurde natürlich mitgenommen. Benjamin Dorn wußte, was er sich schuldig war; er ließ Philippine zweimal auf dem Karussell fahren, zahlte das Entree in ein Wachsfiguren-Kabinett und nahm ein Los am Glückshafen. Es war eine Niete. Da setzte er Philippine auseinander, daß es unmoralisch sei, in einer Lotterie zu spielen, und kaufte eine Tüte mit Pfeffernüssen, was doch ein solider Genuß war.
Philippine benahm sich außerordentlich kokett. Sie lachte grundlos, sie verdrehte die Augen, sie sprach mit gespitzten Lippen, sie wackelte mit den Hüften und ergriff jeden Anlaß, um ihre Bildung zu zeigen. Als sie mit der Eisenbahn zurückfuhren, sagte sie, sie habe Lust, einmal in einer Chaise zu sitzen; aber zwei Rosse müßten sein und ein Kutscher mit einem Zylinder. Benjamin Dorn entgegnete, solches ließe [480] sich machen; und er deutete schalkhaft an, daß er eine gewisse feierliche Zeremonie nicht ohne ein derartiges Vehikel veranstalten würde. Philippine kicherte und sagte: »Joi, Sie sind ja ein ganz Geriebener.« Worauf Benjamin Dorn glücklich und verlegen grinsend zu Boden schaute.
Dann trennten sie sich, denn das Agneslein war in Philippines Arm schon eingeschlafen.
Wie sich Philippine zu der Bewerbung des Methodisten innerlich verhielt, war schwer zu ermessen, obgleich sie so tat, als fühle sie sich geehrt und in ihren Erwartungen geschmeichelt. Benjamin Dorn war seiner Sache keineswegs sicher, und wenn Frau Hadebusch auch noch so resolut ins Zeug ging, mußte sie sich von Philippine immer wieder vertrösten lassen.
Nie zuvor aber hatte Philippine so viele Lieder geplärrt, nie waren ihre Bewegungen so hurtig gewesen. Jeden Tag zog sie ihr Sonntagskleid an und schmückte es mit den erlesensten Bändern; und wusch ihre Hände mit Mandelseife und frisierte sich vor dem Spiegel. Simpelfransen waren nicht mehr modern, dafür baute sie aus ihren Haaren einen Turm und sah aus wie eine Chinesin.
Bisweilen besuchte sie Herrn Carovius, den sie stets allein traf, denn Dorothea Döderlein war von ihrem Vater nach München geschickt worden, wo sie sich in ihrer Kunst vervollkommnen sollte. Mit halben Worten, augenzwinkernd, dumm und herausfordernd lachend, berichtete sie von Benjamin Dorn und seinen Absichten, wie wenn es gar nicht anders möglich sei, als daß Herr Carovius die brennendste Neugier nach ihren Erlebnissen trage. Herr Carovius war ihrer schon längst überdrüssig, mochte ihr aber die Tür nicht weisen. Es stand mit ihm so, daß er aufatmete, wenn er eine menschliche Stimme hörte. Es stand mit ihm so, daß er sich in seinen vier Wänden vor der Stille fürchtete. Keiner kam zu ihm, keiner sprach mit ihm, und er seinerseits getraute sich keinem [481] zu nähern. Mit dem Hochmut von ehedem war es aus, und nun fand er keinen Weg mehr zu den Menschen. Ging er ins Paradieschen, so kannte ihn niemand. Die Brüder vom Jammertal waren zerstoben, ein anderes Geschlecht saß da, von anderer Herkunft, mit andern Tiraden, und er war alt.
Dorotheas Abwesenheit konnte er nicht verwinden. Er zählte die Tage bis zu ihrer Rückkunft, und das Klavier öffnete er nicht mehr, weil alle Musik, und die zumeist, die er liebte, einen Trübsinn aufschießen ließ, der die Stube erfüllte gleich Miasmen.
Der Nero unserer Zeit litt an der Cäsarenmelancholie. Der Kleinbürger war in die unterste Tiefe des finstern Schachtes hinabgesunken, den er selber gebohrt, um alle Freuden, alles neue Werden, alle Flügelwesen darinnen zu verscharren.
Das schlimmste war, daß er keine Beschäftigung hatte und daß hiegegen kein Kopfzerbrechen half. Die Welt lief ihren Gang, rätselhaft, lief ihren Gang ohne seine Kritik, ohne seinen Beifall, ohne seinen Richterspruch und seine Totengräberei.
Philippine ärgerte sich über den scheelblickenden Ofenhocker, und ihre Besuche wurden spärlicher. Mit Frau Hadebusch wollte sie sich nicht aussprechen, die schien ihr zu nahe beteiligt bei der Sache; sonst hatte sie niemand, und sie mußte ihre Ungeduld und Aufregung im Zaum halten.
Es wurde Weihnachten. Am heiligen Abend hatte sie für Agnes einen kleinen Tannenbaum geschmückt und Kerzen darauf angezündet. Als Christgeschenke für das Kind lagen ein großer, brauner Lebkuchen, ein Körbchen mit Äpfeln und Nüssen und eine billige Puppe unter dem Baum. Für den alten Jordan hatte sie ein Paar Stiefel gekauft, deren er dringend bedurfte. Seit dem Herbst ging er mit zerrissenen Sohlen herum.
Der alte Jordan saß neben der Tür und hielt die Stiefel [482] auf den Knien. Agnes betrachtete mit ihren traurigen Augen die Puppe, ohne sie anzurühren. Nachdem der Inspektor eine Weile in die flackernden Kerzenflammen gestarrt hatte, sagte er: »Dank Ihnen, Philippine, dank Ihnen. Sie sind eine wirkliche Wohltäterin. Auch daß Sie des Kindes gedacht haben, dank ich Ihnen. 's ist ja ein armseliges Ding, so eine Puppe aus dem Fünfzigpfennigbasar, aber wer Kindern schenkt, verdient sich den Himmel, und es wird dabei nicht gewogen und nicht gezählt.«
»Lamentieren S' doch nicht alleweil,« wies ihn Philippine schnöd zurecht. Sie biß an ihren Nägeln und war kaum imstande, ihre Erregung zu verbergen. Frau Hadebusch hatte ihr Nachricht gegeben, daß Benjamin Dorn noch im Laufe dieses Abends kommen werde, um ihr einen förmlichen Heiratsantrag zu machen.
»Warte nur, Agnes,« fuhr der alte Jordan fort, »warte nur, bald wirst du ein Wunderding von einer Puppe zu sehen kriegen. Noch ein paar Jährchen, und die Welt wird staunen. Du aber bist die erste, die das vollendete Werk schauen darf. Die erste bist du, Agneslein. Was haben wir denn heute, am heiligen Christfest doch, zu essen?« wandte er sich zaghaft an Philippine.
»Kalte Naundscher und g'sottne Mehlwürmer,« erwiderte diese höhnisch.
»Und ... und ... keinen Brief von Daniel?« fragte er mit veränderter, trüber Stimme, »nichts? gar nichts?«
Philippine zuckte die Achseln. Der alte Mann erhob sich und schwankte hinaus, um in seine Kammer zu gehen.
Bald danach hörte Philippine humpelnde Schritte, und die Gatterglocke läutete. »Mach auf,« befahl Philippine dem Kind. Agnes verließ die Stube und kehrte mit Benjamin Dorn zurück. Der Methodist trug einen schwarzen Anzug, und in der Hand hielt er ein schwarzes Filzhütchen, das flach wie ein Pfannkuchen war. Er verbeugte sich vor Philippine [483] und fragte, ob er nicht störe. Philippine schob ihm einen Stuhl hin, er nahm umständlich Platz und lächelte schal. Da Philippine schwieg und nur gespannt in sein Gesicht starrte, fing er an zu sprechen.
Zuerst verbreitete er sich über die Vorzüge des Ehestands im allgemeinen, dann, daß es für ihn im besondern wünschenswert sei, ein braves Weib heimzuführen. Er habe lange mit sich im Kampf gelegen, doch Gott habe ihn erleuchtet und auf den rechten Weg gewiesen. So trage er denn kein Bedenken mehr, dem Fräulein Schimmelweis Herz und Hand anzubieten, könne aber nicht umhin, den Wunsch auszudrücken, daß sie den wichtigen Schritt noch einmal in christlicher Weise reiflich erwäge.
Philippine war unruhig von einem Fuß auf den andern getreten. Plötzlich lachte sie. Sie bog den Oberkörper vor und lachte heftig. »No, Sie Kniedlaskupf,« fing sie an, »Sie woll'n g'wiß nur mein Geld! Sagen S' es aufrichtig, mein Geld wollen S' haben, was?«
Während Benjamin Dorn dumm und bestürzt dreinsah, geriet sie mehr und mehr in Wut. »Das tät Ihnen schmecken, Sie Habenichtsnos'n«, schrie sie, »so a Madl, was gleich den Verstand verliert, wenn sich a Mannsbild blicken läßt, und die sich ihre paar Batzen z'sammg'spart hat, daß sich der Sprazl auf die Bärenhaut legen kann. Da wird nix draus, die Philippin' betackelt man nicht, die weiß, was ihr für Lumpenvolk seid. Marsch, fort mit Ihnen, fort! Hinaus!« Sie warf rabiat die Arme und wies nach der Tür.
Benjamin Dorn stand auf, stotterte erschrocken, zog sich rückwärts gehend nach der Tür zurück und verschwand dann so eilig, daß Philippine neuerdings in schrilles Gelächter ausbrach. »Kumm her, Agneslein,« sagte sie dann, setzte sich auf den Tritt im Erker und nahm das Mädchen auf ihren Schoß.
Lange schwieg sie, und das Kind getraute sich nicht zu [484] sprechen. Beide schauten in die Kerzenlichter des Christbaums. »Singen wir was,« sagte Philippine endlich. Mit heiserer Baßstimme begann sie »Stille Nacht, heilige Nacht« zu singen, und mit hohem, mutlosem Stimmchen fiel Agnes ein.
Als sie das Lied gesungen hatten, entstand wieder ein Schweigen.
»Wo ist denn mein Vater?« fragte Agnes plötzlich, ohne Philippine anzublicken. Es klang, als habe sie seit Jahren auf die Gelegenheit gewartet, diese Frage zu stellen.
Philippines Gesicht wurde grau, ihre Zähne mahlten. »Dein Vater, der lungert im Land herum,« antwortete sie und blies ein Lichtchen aus, welches im Niederbrennen einen Zweig zum Glimmen gebracht hatte; »er hat's auf Weibsleut abgesehen und läßt alle Sieben grad sein. Klimpern tut er und 's Papier vollschmieren. Da kann eins verrecken, und er kümmert sich nicht drum.« Mit einem rohen Stoß setzte sie das Kind auf die Erde, sprang empor, ging zum Fenster und riß es auf, als könne sie's vor Hitze nicht aushalten.
Sie beugte sich über das schneebedeckte Sims.
»Es huschert mich,« klagte das Mädchen. Aber Philippine hörte sie nicht.
Daniel schrieb an Eberhard und Sylvia, ob er zu ihnen kommen könne. Er dachte: dort sind Freunde, vielleicht brauch ich wieder einmal Freunde.
Von einer fremden Hand erhielt er den Bescheid, daß die Baronin bedaure, ihn in Siegmundshof jetzt nicht aufnehmen zu können, aber sie liege im Wochenbett; sie sende ihm herzliche Grüße und lasse ihm mitteilen, daß es sowohl dem Neugeborenen wie auch dem andern Kind, welches nun schon drei Jahre alt sei, gut gehe; beides seien Knaben.
[485] »Überall wachsen Kinder auf,« sagte Daniel, und er packte seinen Koffer und reiste langsam südwärts, der Heimat zu, so langsam, als fürchte er sich vor einem Ziel, wohin zu gehen es ihn doch zwang.
An einem Abend im April kam er in Nürnberg an. Als er in die Stube trat, schlug Philippine laut klatschend die Hände zusammen und blieb wie angewurzelt stehen.
Agnes maß den Vater mit scheuen Blicken. Sie war hochaufgeschossen, weit über ihre Jahre.
Der alte Jordan kam herunter. »Du siehst schlecht aus, Daniel,« sagte er und wollte Daniels Hand nicht loslassen, »dürfen wir nun hoffen, dich hier zu behalten?«
»Ich weiß nicht,« erwiderte Daniel und schaute geistesabwesend an den Wänden hin, »ich weiß nicht.«
Am dritten Tag bemächtigte sich seiner eine ganz ungewohnte Bangigkeit. Ihm war, als sei er irre gegangen und als habe es ihn innerlich an einen andern Ort getrieben. Er ging zu Philippine in die Küche. Sie buk für ihn Kartoffelnudeln, in Schmalz. Es roch gut.
»Ich fahr nach Eschenbach hinaus,« sagte er zu seiner eigenen Verwunderung, denn der Entschluß war mit dem Wort gekommen.
Philippine riß die Pfanne vom Feuerloch, das Feuer stieg jäh in die Höhe. »Meinetwegen fahrst hin, wo der Pfeffer wächst,« knirschte sie ingrimmig. Beschienen von den Flammen, sah sie wie eine Hexe aus.
Daniel schaute sie prüfend an. »Was ist mit der Agnes?« fragte er nach einer Weile, »warum geht mir das Kind aus dem Weg?«
»Wird schon wissen warum,« versetzte Philippine tückisch und stellte die Pfanne wieder aufs Feuer, »die is keine Zuläufige.«
Daniel verließ die Küche.
»Zu seinem Bankert fahrt er, der Luderskerl, zu seinem [486] Bankert,« murmelte Philippine. Sie kauerte sich auf den Schemel und starrte dumpf vor sich hin.
Die Kartoffelnudeln verkohlten.
Bei sinkender Nacht betrat Daniel das Häuschen der Mutter. Als er die Mutter gewahrte, wußte er, daß ein Unglück geschehen war.
Eva war fort. Eines Abends, vor vier Wochen, war sie verschwunden gewesen. Eine Seiltänzergesellschaft hatte Vorstellungen im Städtchen gegeben, die wurde beschuldigt, das schöne Kind geraubt zu haben. In dieser Überzeugung hatten sich die Eschenbacher Leute auch dann nicht erschüttern lassen, als die Gendarmerie die umherreisende Gesellschaft aufgegriffen hatte, ohne des vermißten Mädchens habhaft zu werden.
Alle Gemeinden des Kreises waren alarmiert worden, im ganzen Land wurden die Nachforschungen betrieben, noch bis zur Stunde; vergebens, es war nirgends eine Spur zu finden, der Fall war den Behörden wie den Einwohnern ein Rätsel.
Die Wälder wurden durchsucht, die Weiher abgelassen, die Landstreicher befragt, vergebens. Da hatte eines Tages der Bürgermeister einen Brief ohne Unterschrift bekommen, und sein Inhalt war dieser: »Das Mädchen, nach dem ihr fahndet, ist wohl aufgehoben. Es ist kein Zwang an ihr geübt worden, freiwillig und aus Liebe zur Kunst ist sie mit denen gegangen, bei welchen sie weilt. Sie schickt ihrer Großmutter zärtliche Grüße und hofft, sie einst wiederzusehen, wenn sie erreicht hat, was sie sich wünscht.«
Darunter hatte Eva mit Federzügen, die Marianne Nothafft als ziemlich zweifellos von dem Kinde herrührend [487] bezeichnet hatte, geschrieben: Das ist wahr. Lebwohl, Großmütterchen!
Die Leute, die mit Marianne um den Verlust des Kindes von Eschenbach trauerten, sagten, wenn es Eva wirklich sei, die diese Zeilen geschrieben hatte, so sei sie eben von den Räubern dazu genötigt worden.
Der Brief trug den Poststempel einer rheinpfälzischen Stadt. Ein Telegramm ging hinüber, die Antwort lautete, es habe vor kurzem eine Gesellschaft von Gauklern dorten gastiert, aber sie seien längst abgereist; auf welcher Straße sei nicht bekannt, wahrscheinlich nach Frankreich hinüber.
Marianne war gebrochen. Sie hatte keine Lebenslust mehr, sogar über die Ankunft Daniels bekundete sie keine Freude.
Und Daniel war es, wie wenn der hellste Stern an seinem Himmel untergegangen sei. Als er das Furchtbare aufgefaßt hatte, schlich er in die Dachstube, warf sich auf das verlassene Bett seiner Tochter und schluchzte. Weinst du, Mann, weinst du endlich? schien eine Stimme zu rufen.
An vielen Abenden saß er bei der Mutter, und sie grübelten beide vor sich hin. Einmal fing Marianne an zu sprechen, und sie erzählte von Eva. Die Vorliebe des Kindes für Schaustellungen aller Art habe sie stets beunruhigt; vor Jahren sei eins Truppe wandernder Komödianten im Ort gewesen, da habe die damals erst Achtjährige eine leidenschaftliche Erregung gezeigt und sich vom Morgen bis zum Abend vor der Bude herumgetrieben, in welcher die Leute gespielt. Auch habe sie Bekanntschaft mit einigen von ihnen geschlossen, und eine junge Person habe sie dann zu der Aufführung eines Stückes mitgenommen. So oft ein Zirkus auf dem Jahrmarkt gewesen, hätte man sie kaum bändigen können; »bisweilen dacht ich mir, es muß Zigeunerblut in dem Kind sein,« sagte Marianne traurig, »aber es war ein so gutes und folgsames Kind sonst.«
[488] Ein andermal erzählte sie folgendes. An einem Sonntag im Frühjahr habe sie einen Spaziergang mit Eva gemacht. Es sei spät geworden, auf dem Rückweg sei die Nacht eingebrochen, sie hätten durch den Wald gehen gemußt, da habe sie sich müde auf einen Baumstumpf gesetzt, um ein bißchen zu rasten. Der Mond habe geschienen, es war eine kleine Lichtung da, plötzlich sei Eva aufgesprungen und habe zu tanzen begonnen. »Das war wunderlich anzusehen,« schloß Marianne ihren Bericht, »das schlanke, zarte Figürchen, wie es sich im Mondschein und auf dem Moose lautlos um sich selbst gedreht hat. Aber mir hat's das Herz zusammengeschnürt, und mir war, als sollte sie nicht mehr lange bei mir bleiben.«
Daniel schwieg. O, zauberisches Ding du, dachte er, Erbteil und Geschick.
Drei Wochen blieb er bei der Mutter, dann engte ihn das Gewohnte zu sehr ein, Haus und Städtchen, und er nahm Abschied. Er fuhr nach Wien; dort hatte der Kustode an einem kaiserlichen Institut wichtige alte Handschriften für ihn liegen.
Anderthalb Monate später bekam er einen Brief, der ihn erst nach allerlei Irrfahrten erreicht hatte. Er meldete ihm den Tod seiner Mutter. Der Lehrer von Eschenbach schrieb ihm dieses mit dem Hinzufügen, daß die Greisin in der Nacht friedlich und schnell verschieden sei.
Ein zweiter Brief folgte, darin wurde er um Anweisungen gebeten, was mit dem Häuschen geschehen solle, und ob es zum Verkauf auszuschreiben sei; ein Nachbar, der Getreidehändler Merk, habe sich freiwillig angeboten, Daniels Interessen zu vertreten.
Daniel antwortete, sie möchten tun, was ihnen am besten schiene. Es lasteten Schulden auf dem Häuschen, und der Verkauf konnte keinen großen Ertrag bringen.
Er verkroch sich in eine Einöde.
In kleinen Städten und Dörfern an der Donau brachte er endlich den dritten Satz der prometheischen Symphonie zu Ende. Als er wie aus Fieberdelirien erwachte, war es Herbst geworden.
An einem Morgen im Oktober hörte er einen Heiligen die Orgel spielen. Es war in Sankt Florian bei Enns. Der große Künstler, einst hatte er im Stift gelebt, kam jetzt nur zuweilen, um Zwiesprache mit seinem Gott zu halten. Hingenommen bis ins Innerste, war es Daniel zumut, als sitze sein gekrönter Bruder oben an der Orgel; demütig und erschüttert lauschte er in einem Winkel. Als dann ein Mensch an ihm vorüberging, ein gebückter, hagerer, etwas wunderlicher Greis mit einem sorgendurchfurchten Gesicht und in einem schlechten Anzug, da überwältigte ihn das Grauen vor der Körperlichkeit des Genies, und er erschien sich selber gespensterhaft.
Die Schwalbe schrieb: »Uns kann nur einer erlösen, der Musiker. Die Zeit der Religionsstifter, der Staatengründer, der Waffenhelden und der Entdecker ist vorüber. Vielleicht sogar die Zeit der Dichter. Die Dichter haben nur Worte, und unsere Ohren sind müde von Worten; sie haben nur Bilder und Gestalten, und unsere Augen sind müde vom Sehen. Der letzte Trost der Seele liegt in der Musik, dessen bin ich gewiß. Wenn etwas die verlorenen Illusionen des Glaubens zu ersetzen vermag, wenn etwas uns beschwingen und verwandeln kann, wenn es noch eine Rettung vor dem Abgrund gibt, dem die Menschheit mit verwilderten Sinnen zurast, ist es die Musik. Wo bist du, Erlöser? Heimatlos ziehst du über die Erde, der ärmste, der entbehrendste, der schuldigste, der verlassenste Mensch. Wann bezahlst du deine Schuld, Daniel Nothafft?«
Sieben Monate brachte Daniel in Ravenna, Ferrara, [490] Florenz und Pisa zu. Er suchte nach Handschriften von Frescobaldi, Borghesi und Ercole Pasquini. Als er die wichtigsten gefunden hatte, durfte er das Sammelwerk als abgeschlossen betrachten.
Die Menschen erschienen ihm wie Spielfiguren, die Landschaften wie Malerei auf Glas, er sehnte sich nach Wäldern, und seine Träume wurden wüst.
Von Genua wanderte er zu Fuß durch die Lombardei und über die Alpen. Er schlief in harten Betten, um die Erhitzungen des Blutes zu mindern und nährte sich von Brot und Käse. Die Anfälle von Erschöpfung, denen er ausgesetzt war, beachtete er zuerst nicht, aber in Augsburg stürzte er auf der Straße zusammen. Er wurde in ein Spital geschafft und lag dort drei Monate lang am Typhus. Von seinem Fenster aus sah er Fabrikschlöte und ewig ziehende Wolken. Es war Winter geworden, und der Schnee fiel.
Zwei Jahre nach seinem letzten Abschied betrat er wieder das Haus am Egydienplatz. Als ihn Philippine gewahrte, so abgezehrt und bleich, stieß sie einen Schreckensschrei aus.
Agnes war noch länger, noch dürrer, noch ernsthafter geworden. Bisweilen, wenn sie ihren Vater anschaute, hätte er ihr zornig zurufen mögen: Was soll dein Gefrage? Dabei war kein Wort über ihre Lippen gekommen.
Da Philippine sah, daß Daniel so einsam zurückgekehrt war, wie er ausgezogen war, legte sie in ihrem Benehmen gegen ihn eine eigentümliche Sanftheit an den Tag. Der alte Jordan lebte unverändert dahin. Alles ging seinen vorgeschriebenen Weg, alles war, wie wenn Daniel nicht sechs Jahre, sondern sechs Tage fortgewesen wäre.
Er fühlte sich noch nicht ganz gesund, trotzdem arbeitete er Nacht für Nacht. Der vierte Satz versprach ein Wunder an Polyphonie zu werden. Ursein, Ursehnsucht, Urschmerz tönten in ihm. Der ewige Wanderer gelangte an die Himmelspforte und wurde nicht eingelassen. Überirdisch [491] bewegte Harmonien hatten ihn emporgetragen; dumpfe Paukenschläge bezeichneten sein stehendes Pochen an verschlossenen Toren; drinnen erklang das schauerliche Nein der Posaunen. Umsonst war das Bitten der Geigen, umsonst der Fürspruch des Engels, der zur Rechten stand, auf eine Harfe ohne Saiten gelehnt, umsonst die süße Beschwörung des andern, blumenbekränzten, zur Linken, umsonst der Elfenchor der oberen Stimmen, umsonst die aufschäumende Klage der unteren; hie führt kein Pfad, hieß es, hie ist für ihn kein Raum.
Eines Abends erblickte Daniel am Fenster seiner Stube ein fremdes Mädchen. Sie war schön. Betroffen erhob er sich, um sich ihr zu nähern. Da war sie verschwunden. Es war eine Halluzination gewesen. Er fürchtete sich vor sich selbst, verließ das Haus und wanderte wie in vergangenen Zeiten durch die Gassen.
Es war Faschingstag, und die Bürger waren wieder einmal lustig. Maskierte Knaben und Mädchen zogen in lärmenden Scharen umher.
Als Daniel durch die Füll ging, stutzte er; die Fenster in der Bendaschen Wohnung waren erleuchtet. Da erinnerte er sich, daß ihm der Provisor Seelenfromm gesagt, Frau Benda sei schon vor langer Zeit aus Worms zurückgekehrt; sie lebe mit einer Nichte, denn sie sei völlig erblindet.
Er stieg die Treppe hinauf und läutete. Eine grauhaarige, vergrämt aussehende Frau öffnete ihm; es mußte wohl die Nichte sein. Daniel sagte seinen Namen, die Frau hatte von ihm gehört.
»Sie wissen ja wahrscheinlich, daß Friedrich verschollen ist,« sagte sie in schläfrig singendem Ton. »Acht Jahre sind [492] vergangen, seit er den letzten Brief aus Innerafrika geschickt hat. Wir haben schon auf alle Hoffnung verzichtet; auch in den Zeitungen ist es schon ganz still geworden.«
»Ich habe nie was gelesen,« murmelte Daniel. »Aber Friedrich kann nicht tot sein,« fuhr er kopfschüttelnd fort, »daran glaub ich nun und nimmer.« Er heftete seine Augen mit einem zugleich zerstreuten und intensiven Blick auf die Frau, die gebannt auf seine Brillengläser starrte.
»Wir haben alles versucht, was menschenmöglich ist,« erwiderte sie; »haben uns an die Konsulate, die militärischen Stationen und die Missionsvorstände gewandt, es hatte gar keinen Erfolg.« Nach einer Pause sagte sie ein wenig lebhafter: »Sie werden nicht wollen, daß ich Sie ins Zimmer führe. Es ist qualvoll für die Tante, wenn sie eine fremde Stimme hört, und daß Sie mit ihr reden, könnt ich nicht zulassen, da würde der ganze Schmerz von neuem in ihr aufgewühlt.«
Daniel nickte und ging. Vom Flur herauf drang ein übermütiges Gelächter, das peinigend in seine dunkle Stimmung fiel. Sein Herzschlag dünkte ihm matt; er empfand ein wehtuendes Verlangen nach etwas, wofür er keinen Namen wußte, nach etwas Süßem und Strahlendem.
Auf dem letzten Treppenabsatz blieb er verwundert stehen und schaute in den Flur hinunter.
Herr Carovius tänzelte wie ein Bajazzo vor seiner Wohnungstür herum. Er hatte eine silberpapierene Krone auf dem Kopf und suchte sich mit einem greisenhaften und zärtlichen Grinsen der mutwilligen Zudringlichkeit eines jungen Mädchens zu erwehren. Das Mädchen befand sich in einem Karnevalsaufzug. Das dunkelblaue Sammetkleid, welches die üppige Gestalt fast schlank erscheinen ließ, war über und über von Silberfäden behangen. Von ihren Schultern bis auf den Boden, wo es noch drei Schritte hinter ihr schleppte, hing ein schleierartiges, schwarzes Tuch herab, das mit glitzerndem [493] Flitterwerk besät war. In der Hand hielt sie eine scheußliche Wachsmaske, das Gesicht eines Saufbolds mit einer roten Nase darstellend, und ihre Bemühungen zielten darauf hin, das Gesicht des Herrn Carovius mit der Maske zu bedecken.
Sie wollte, daß er sich ihr füge, sie versicherte, sie werde nicht eher vom Fleck gehen, als bis Herr Carovius die Maske aufgesetzt habe. Herr Carovius rüttelte an der Tür, die zugefallen war, er kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, aber das Mädchen gab ihm keine Ruhe.
»Komm, Butzi,« rief sie dabei, »komm, Onkelchen, sei nicht langweilig,« und näherte sich immer wieder mit der Maske.
»Wart, ich will dich lehren, Respektspersonen zum Narren zu halten,« gilfte Herr Carovius in wohlwollendem Ärger und glich einem alten Hund, der Sprünge macht, wenn sein Herr einen Spazierstock ins Wasser wirft. Da er aber in dem Eifer, das Attentat auf seine Würde zu verhindern, die Papierkrone auf seinem Haupt vergessen hatte und diese bei all seinen Bewegungen komisch wackelte, geriet das junge Mädchen vor Lachen völlig außer Atem.
Nun trat eine Magd ins Tor und brachte Schnee, den sie vom Hof geholt und in ihre Schürze getan hatte. Das Mädchen lief ihr entgegen, füllte die Hand mit Schnee und erhob sie scherzhaft drohend gegen Herrn Carovius. Herr Carovius winselte um Gnade, mit dem Schnee als wirksamem Zwangsmittel kam sie heran, und Herr Carovius hatte solche Furcht vor dem kalten Bombardement, daß er keinen Widerstand mehr leistete und sich die Larve umbinden ließ. Das Mädchen legte, erschöpft vom Lachen, die Stirn auf seine Schulter, und die Magd, es war Döderleins Magd, stieß vor Vergnügen Laute wie ein gackerndes Huhn aus.
Die Szene wurde vom dürftigen Licht eines an der Mauer hängenden Lämpchens beleuchtet und hätte deshalb auch ohne den Anblick des Herrn Carovius mit der Papierkrone und der Säufermaske etwas Phantastisches gehabt.
[494] Daß das Mädchen Dorothea Döderlein war, wußte Daniel nicht, obwohl er es halb und halb erriet. Doch wer sie auch sein mochte, er war betroffen von dieser Fröhlichkeit, dieser Lachlust, dieser unbändigen Ausgelassenheit. Er kannte dergleichen nicht, und wenn er es jemals gekannt hatte, erinnerte er sich nicht mehr daran. Die jungen Züge, die leuchtenden Augen, die weißen Zähne, die behenden Gesten, das alles flößte ihm Ehrfurcht ein, und in seinen Augen malte sich ein erschüttertes Gemüt. Er fühlte sich so alt, so fremd; so ohne Sonne und ohne Blüte; ihm war, als zeige sich ihm das Leben mit einem Mal von einer neuen, freundlichen und verlockenden Seite.
Zögernd schritt er herab.
»Ist's die Möglichkeit!« schrie Herr Carovius und riß die Larve von seinem Gesicht; »was sehen meine Augen! Unser Maestro! Oder ist's sein Geist?«
»Er und sein Geist, beide,« entgegnete Daniel trocken.
»Geister haben hier nichts zu tun,« rief Dorothea und schleuderte einen Schneeball, der seine Schulter streifte.
Unter Daniels Blick errötete sie plötzlich und schaute Herrn Carovius fragend an. »Kennst du denn unsern Daniel Nothafft nicht, du ungebildete Katze?« sagte dieser; »weißt du nichts von unsrer Koryphäe? Wieder in der Heimat, Meister? Ruhmbedeckt zurückgekehrt?«
Zu anderer Zeit hätte der gallige Spott des Herrn Carovius Daniels Unwillen erweckt; jetzt bemerkte er ihn kaum. Wie jung sie ist, dachte er, indem er die befangen lächelnde Dorothea musterte, wie herrlich jung!
Dorothea ärgerte sich, daß sie nicht ihr rotes Kleid anhatte, das sie sich in München hatte machen lassen.
»Dorothea!« tönte eine gewaltige Stimme im ersten Stock.
»Och, der Vater!« flüsterte Dorothea erschrocken und lief auf den Fußspitzen, den langen Schleier raffend, die Treppe empor. Die Magd folgte ihr.
[495] »Ein Teufel, ein wahrer Teufel, Maestro,« wandte sich Herr Carovius triumphierend zu Daniel. »Sie müssen einmal zu mir kommen und hören, wie sie den Fiedelbogen streicht. Ein Teufel, sag ich Ihnen.«
Daniel wünschte Herrn Carovius gute Nacht und trat gesenkten Hauptes auf die Straße.
Für unsere Provinz war Dorothea Döderlein, nachdem sie aus der Hauptstadt zurückgekehrt war, eine Erscheinung, die alles Interesse auf sich lenkte. Ihr Betragen erschien zwar etwas frei, aber da sie eine Künstlerin war und ihr Name bisweilen in den Zeitungen genannt wurde, sah man ihr vieles nach. Als sie ihr erstes Konzert gab, war der große Adlersaal beinahe ausverkauft.
Der Musikkritiker des »Herold« war begeistert von ihrem kapriziösen Spiel. Er nannte sie eine phänomenale Kraft und prophezeite ihr eine glänzende Zukunft. Andreas Döderlein nahm gönnerhaft die Gratulationen entgegen, Herr Carovius schwamm in Wonne. Von Kritik war bei dem ehemals so Gestrengen keine Rede mehr; der Kultus, den er mit Dorothea trieb, machte ihn ganz urteilslos.
Anfangs fehlte es Dorothea nicht an Einladungen zu allerlei Kränzchen, Hausbällen und Familienassembleen. Sie wurde lebhaft umschwärmt, und die heiratsfähigen Töchter konnten vor Neid nicht schlafen. Bald aber zogen sich die soliden jungen Männer, gewarnt durch ihre Mütter, Schwestern und Basen, ängstlich zurück.
Es erregte Mißbilligung, daß sie mit ihren Verehrern öffentlich lustwandelte. Auch sah man sie häufig in Gesellschaft mehrerer Offiziere in der Eisenbeißschen Konditorei sitzen, wo sie Schokolade trank und ausgelassen lachte. Einmal [496] war sie mit einem blonden Schweden von den Schuckertwerken im Tingeltangel gesehen worden; dann verbreitete sich das Gerücht, sie habe in München ein lüderliches Leben geführt, die Nächte durchschwärmt, Schulden gemacht und mit allen möglichen Männern kokettiert.
Indessen tauchten doch einige ernsthafte Bewerber auf, die durch Andreas Döderleins diplomatisches Wirken ins Haus gezogen wurden und am Sonntag mit Vater und Tochter speisten. Aber Dorothea schien es nur darauf anzulegen, einen gegen den andern zu hetzen, und da es bürgerlich denkende Männer waren, wurden sie unsicher und verwirrt. Um sie geduldig zu stimmen, hielt ihnen Döderlein bisweilen Vorträge über die verwickelte Anlage der Künstlernatur, oder er machte geheimnisvolle Andeutungen über die große Erbschaft, die seine Tochter zu gewärtigen habe.
Eben dieser Umstand nötigte ihn zur Rücksicht gegen Dorothea. Von ihrem Trotz und ihrer Unberechenbarkeit war zu befürchten, daß sie eine Dummheit beging und den alten Narren Carovius beleidigte. Es war ja schon eine große Hilfe, daß er Dorothea hie und da ein wenig Taschengeld gab.
Denn die Vermögenslage Andreas Döderleins war trostlos. Nur mit Mühe hielt er den Schein der Wohlhabenheit noch aufrecht. Die Hauptschuld hieran trug eine langjährige Beziehung zu einer Frau, mit der er drei Kinder gezeugt hatte. Diese zweite Familie zu ernähren, von deren Existenz niemand in seiner Umgebung etwas wußte, bürdete ihm eine Sorgenlast auf, unter der er die heitere Jupitermiene kaum bewahren konnte.
Seit vierzehn Jahren führte er ein Doppelleben; seine regelmäßigen Gänge zu der Geliebten, die zurückgezogen am äußersten Ende einer Vorstadt hauste, unauffällig zu machen, das Verhältnis selbst mit all seinen Folgen vor den wachsamen Augen seiner Mitbürger zu verbergen, erforderte eine beständige Verstellung, Vorsicht und Schlauheit; unter [497] dem Druck der Geldnot erfüllten sie den Mann, der sie üben mußte, mit stiller Wut und Furcht.
Er fürchtete sich auch vor Dorothea. Es gab Augenblicke, wo er sie am liebsten mit Fäusten traktiert hätte; und sah sich doch gezwungen, sie mit süßen Worten in Schach zu halten. Sie war ihm undurchdringlich. Dabei war sie immer da, immer in lästiger Weise gegenwärtig, immer voll von Wünschen, Plänen, Geschäften und Intrigen. Man glaubte sie zu beherrschen und entdeckte plötzlich, daß sie einen tyrannisierte. Eben war sie einer Lappalie wegen in Tränen ausgebrochen, jetzt lachte sie, als ob nichts gewesen wäre. Die Rosen, die ihr die ernsthaften und wohlhabenden Bewerber brachten, zerpflückte sie vor deren Augen und warf sie dann ins Kehrichtfaß. Man ließ ihr herzliche Ermahnungen im Hinblick auf Sittsamkeit und Haltung zuteil werden, sie hörte zu wie eine Heilige, fünf Minuten später lag sie am Fenster und liebäugelte mit einem Friseurgehilfen.
Ich bin ein unglücklicher Vater, sagte sich Andreas Döderlein, als er zu allem Überfluß auch an der künstlerischen Begabung Dorotheas zu zweifeln begann. Kurz nach dem Nürnberger Erfolg hatte sie in Frankfurt gespielt, aber es blieb ziemlich still danach. Dann produzierte sie sich in einigen Mittelstädten, wurde bejubelt und mit Lorbeerkränzen bedacht, doch davon war nicht viel zu halten.
Eines Abends lernte sie bei der Kommerzienrätin Feistmantel, einer Frau, deren Vergangenheit mancher stadtbekannte Skandal verunzierte, den Schauspieler Edmund Hahn kennen. Er hatte wollige, blonde Haare und ein aufgeschwemmtes blasses Gesicht. Er war ziemlich groß und hatte lange Beine. Dorothea schwärmte für lange Beine. Es war eine sinnliche Atmosphäre um ihn, und er verschlang Dorothea mit frechen Blicken. Seine Person, sein Auftreten, seine bald blasierte, bald emphatische Redeweise machten Eindruck auf Dorothea. Bei Tisch saß er neben ihr und suchte [498] mit seinen Füßen die Füße des Mädchens. Endlich erwischte er mit seinem linken Stiefel ihren Halbschuh und trat darauf. Sie wollte den Fuß zurückziehen, er trat fester darauf. Verwundert schaute sie ihn an. Er lächelte zynisch. Bald hernach waren sie schon ganz vertraut miteinander und zogen sich in eine Ecke zurück, von wo man Dorothea kichern hörte.
Es wurde ein Stelldichein verabredet, und sie trafen sich in der Dunkelheit an einer Straßenecke. Er schenkte ihr Freikarten zu »Maria Stuart« und zu den »Räubern«; er gab den Mortimer und den Kosinsky und brüllte, daß das Gebälk zitterte. Er machte Dorothea mit mehreren seiner Freunde bekannt, diese brachten ihre Freundinnen mit, und sie saßen im Nassauerkeller, bis der Morgen graute. Ein gewisser Samuelsky war darunter, Prokurist des Bankhauses Reutlinger; er hatte die Manieren eines Lebemanns, zahlte Champagner und war von Dorothea ganz hingerissen. Sie ließ sich seine Anbetung gefallen, auch nahm sie kleine Geschenke von ihm an, doch schien es stets, als ob sie sich zuvor der Zustimmung Edmund Hahns versicherte. Einmal wollte er sie küssen, da gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Er wischte sich die Backe und nannte sie eine Sirene.
Die Bezeichnung gefiel ihr. Sie stand bisweilen vor dem Spiegel und flüsterte lächelnd: »Sirene.«
Als Andreas Döderlein von dem Treiben erfuhr, bekam er einen Anfall von Raserei. »Ich verstoße dich,« schäumte er, »ich schlage dich zu einem häßlichen Krüppel.« Aber in seinen Augen war wieder jene Furcht, die seinen Berserkerzorn Lügen strafte.
»Eine Künstlerin braucht sich nicht nach den Vorschriften der Philistermoral zu richten,« sagte Dorothea mit größter Unverfrorenheit; »es sind feine Leute, mit denen ich verkehre; jeder ist ein Herr.«
Ein Herr; das war ein Argument, gegen welches kein Einspruch bei ihr galt. Der war ein Herr in ihren Augen, [499] der sich's was kosten ließ, Kellnern und Kutschern imponierte und gebügelte Hosen trug. »Keiner darf mir zu nahe kommen,« sagte sie stolz, und das entsprach der Wahrheit, denn noch keiner hatte ihre tiefste Neugierde aufgeweckt, und sie war entschlossen, sich teuer zu verkaufen. Nur Edmund Hahn hatte Macht über sie, weil er vollkommen fühllos war und eine Art von Schamlosigkeit besaß, die sie entwaffnete und erschreckte.
Andreas Döderlein mußte sie gewähren lassen und sich mit der Überlegung trösten, daß eine echte Döderlein sich nicht wegwerfen würde. War Dorothea eine echte Döderlein, so marschierte sie zielbewußt auf das Ersprießliche und Nützliche des Lebens zu; ging sie darin fehl, so war eben ein Makel an ihrer Geburt. Und er hüllte sich kühlbeschauend in die Wolken seines Olymps.
Ihrem Onkel Carovius aber erzählte Dorothea ausführlich, wie sie die jungen und die alten Courmacher zappeln ließ. Wie der Schauspieler zappelte und der Bankmensch zappelte und der Kerzenfabrikant zappelte und der Oberingenieur zappelte und wie sie sie alle miteinander an der Nase zog. Da strahlte Herr Carovius und hieß sie seinen süßen Maulaffen und das Glück seines Alters. Er sagte sich, daß sie eine echte Carovius und ausersehen sei, Großes zu vollbringen.
»Du hast's nicht nötig, zu heiraten,« eiferte er und rieb sich die Hände; »wenn ein Graf kommt mit einem Schloß und ein paar Millionen im Hintergrund, darüber läßt sich reden, aber daß dich der erste beste Schmierenkomödiant mir wegstibitzt oder irgendein dickärschiger Bureaugaul dich in seinen Stall schleppt, das wär noch schöner. Gib's ihnen nur, gib's ihnen tüchtig, den geilen Lumpenkerlen.«
»Ach, Onkelchen,« klagte dann Dorothea, »ich weiß, du meinst es gut mit mir, du bist der einzige, der's gut meint. Aber wenn ich nur nicht gar so armselig dastünd! Schau [500] mich an, was ich für ein Kleid tragen muß! Eine Schande.« Und sie drückte das Gesicht in den aufgehobenen Arm und schluchzte.
Herr Carovius zerrte an seinem Schnurrbart, zog die Augenbrauen hoch, dann ging er zu seinem Sekretär, öffnete eine Lade, zog einen Hundertmarkschein heraus und reichte ihn Dorothea mit abgewendetem Kopf und mit Bewegungen, als fürchte er sich vor dem erzürnten Schutzgeist des Geldschranks.
So lagen die Dinge, als Daniel im Haus des Herrn Carovius der jungen Dorothea begegnete und mit ihrem unverlöschlichen Bild in der Seele hinwegging.
Die nahenden Vierzig erschienen Daniel wie ein finsteres Tor zum Niedergang. Erraffe, was noch zu erraffen ist, rief eine Stimme in ihm, auf den Gräbern wächst Gras.
Die Sinne tobten wider den Geist, wider das Herz. So wie jetzt hatte er Frauen nie angeblickt.
Eines Tages fuhr er nach Siegmundshof hinaus. Eberhard war auf Reisen. In Sylvias Gesicht lag eine stille Melancholie. Sie hatte drei Kinder, eins hübscher als das andre, aber wenn ihr Auge auf ihnen ruhte, war es voll Trauer. Frauen, die in der Ehe leiden, haben erloschene Züge, und ihre Hände sind durchsichtig und gelb.
Rascher, als er gewollt, nahm Daniel wieder Abschied. Er empfand einen egoistischen Unwillen gegen die Freudlosen.
Er ging zu Herrn Carovius. Die Lachende, die er suchte, traf er nicht.
Herr Carovius sah ihn bisweilen argwöhnisch an. Das Gesicht seines alten Feindes gab ihm zu denken. Es war [501] durchpflügt wie ein Acker und von Flammen verbrannt wie ein Herdstein. Es war ein Sträflingsgesicht, verbissen, ausgemergelt, gespannt und bedrohlich umwittert. Herr Carovius verstand sich auf Gesichter.
Um dem leeren Gerede zu entkommen, spielte Daniel Herrn Carovius einige alte Motetten vor. Herr Carovius war so begeistert, daß er in seine Vorratskammer lief und ein halbes Dutzend Borsdorfer Äpfel holte, die er Daniel in die Taschen steckte. Diese Äpfel kaufte er im Herbst metzenweise und hütete sie wie einen Schatz.
»Bei solcher Musik könnte man wahrhaftig ein frommer Christ werden,« äußerte er sich.
»Es ist Frühling drin,« antwortete Daniel, »da ist die Kunst noch unschuldig wie junge Saat. Aber Ihr Instrument ist verstimmt.«
»Symbol, Symbol, geschätzter Freund,« rief Herr Carovius und blähte die Backen auf; »aber wenn Sie wiederkommen, ist der Schaden gerichtet. Kommen Sie nur fleißig, Sie verdienen sich einen Gotteslohn damit.«
Herr Carovius, um Gesellschaft bettelnd; es hatte etwas Ergreifendes. Daniel versprach, einige von den Handschriften mitzubringen, die er gesammelt. Als er ein paar Tags später kam, war Dorothea da, und dann jedesmal. Und seine Besuche wurden immer länger. Als Herr Carovius bemerkte, daß nun auch Dorothea häufiger kam, setzte er alles daran, um Daniel zu bewegen, täglich zu kommen. Er überschüttete ihn mit Vorwürfen, wenn er einmal ausblieb; selbst bei Verspätungen begrüßte er ihn mürrisch und scheute nicht vor indiskreten Fragen zurück. An den Nachmittagen, wo er allein war, rückte die Zeit nicht vom Fleck; da glich er einem Trinker, dem man das gewohnte Quantum Schnaps vorenthält. Die Gegenwart der beiden Menschen wurde ihm so unentbehrlich, wie ihm in vergangenen Jahren die Zeitungslektüre, die Brüder vom Jammertal, die Bedrängnisse Eberhards [502] und die Beerdigungen unentbehrlich gewesen waren. Dem Kleinbürger wird jede Gewöhnung zur Leidenschaft.
Wenn Daniel die alten Kirchenchöre spielte, hörte Dorothea ruhig zu, verhehlte aber die Langeweile nur schlecht, die sie dabei empfand.
Einmal geriet die Rede auf ihr Geigenspiel, und Herr Carovius drang in sie, sie möge doch etwas zum besten geben. Sie weigerte sich ohne Ziererei. Daniel sprach kein Wort der Aufmunterung. Er fand, daß diese Bescheidenheit sie lieblich kleidete; er glaubte, Erkenntnis und Entsagung darin zu spüren und lächelte ihr freundlich zu.
»Erzählen Sie lieber etwas!« sagte sie zu Daniel. Allmählich trat es zutage, daß sie keinen andern Wunsch hatte als diesen.
»Ich bin ein schlechter Erzähler,« versetzte Daniel, »ich hab eine schwere Zunge.«
Sie bat ihn aber mit gestammelten Worten und flehentlichen Gebärden. Herr Carovius kicherte. Daniel nahm die Brille ab, putzte sie und schaute das Mädchen mit verkniffenen Augen an. Es war, als hätte ihn die Brille gehindert, Dorothea genau zu sehen, oder als ziehe er es vor, sie undeutlich zu sehen. »Wüßte nicht, was ich erzählen sollte,« meinte er kopfschüttelnd.
»Alles, alles!« rief Dorothea in seltsamer Begehrlichkeit und streckte die Hände aus. Ihm erschien das kindlich. Er hatte nie einem Kind erzählt. Er hatte überhaupt nie erzählt; Gertrud und Lenore gegenüber hatte ihm die Not einer Stunde Bekenntnis und Klage entrissen, mehr war es nicht gewesen, hatte es nicht sein dürfen.
Plötzlich lockte ihn das Wort, in welchem sein Schicksal sich ruhig spiegeln würde; lockte ihn das feurig-junge Auge, in dessen Glanz das Wirre einfach, das Dunkle hell werden konnte; lockte ihn der böse alte Mann, dem in seinem Sumpfloch die ganze Welt zur giftigen Speise geworden war.
[503] Und mit seiner brüchigen Stimme erzählte er von den Ländern, in denen er gewandert war; vom Meer und von den Städten am Meer; von den Alpen und ihren Seen, von Domen und Palästen und Klöstern, von wunderlichen Leuten, denen er begegnet war, von seiner Arbeit, seiner Einsamkeit, alles ohne rechten Zusammenhang, trocken und lieblos. Trotz der Lockung wich er dem, was an inneres Erlebnis streifte, im letzten Augenblick stets aus. Als er von der Jüdin sprach, von der Schwalbe, beendete er sogar den Satz nicht, machte eine lange Pause und schilderte dann ganz unvermittelt, wie er nach Eschenbach gegangen war. Auch hier stockte er wieder.
Aber Dorothea fragte. Es war ihr alles zu allgemein, und sie schien unzufrieden. »Was war in Eschenbach?« fragte sie kühn, »warum sind Sie dort gewesen?«
Er täuschte sich über die brennende Begehrlichkeit in ihren Augen. Es überlief ihn wohlig, er glaubte edle Menschenwärme zu spüren. Es ergriff ihn das Verlangen des reifen Mannes, eine unberührte Seele nach einem erträumten Bild zu formen. »Meine Mutter hat dort gelebt,« antwortete er zögernd, »sie ist gestorben.«
»Ja, – und?« hauchte Dorothea. Sie hatte erfaßt, daß das nicht alles war.
Da fühlte er seine starre Zurückhaltung wie Schuld. Noch zögernder, sofort bereuend, fügte er hinzu: »Auch ein Kind von mir hat dort gelebt; elf Jahre alt. Es ist verschwunden, niemand weiß, wohin.«
Dorothea faltete die Hände. »Ein Kind? Und verschwunden? Ganz einfach verschwunden?« flüsterte sie erregt.
Herr Carovius sah aus wie einer, der auf einem heißen Rost sitzt. »Elf Jahre alt?« fragte er sensationshungrig, »das war ja dann noch ... vor der Zeit ...«
»Ja, es war vor der Zeit,« bestätigte Daniel düster. [504] Er hatte sich verraten; er war sich gram. Er schwieg, und es war kein Wort mehr aus ihm herauszubringen.
Herr Carovius beobachtete, wie Dorothea mit ihren Blicken an Daniel hing. Ein quälender Verdacht stieg in ihm auf. »Gestern auf dem Josefsplatz Hab ich einen deiner Verehrer gesprochen, den Kulissenzertrümmerer,« begann er mit vorbedachter Bosheit; »der Kerl hat die Stirn gehabt, mir zu sagen: Sorgen Sie nur, daß die Dorothea Döderlein bald einen Mann kriegt, sonst reden sich die Leut noch die Zunge aus dem Hals.«
»Das ist nicht wahr!« rief Dorothea entrüstet und wurde rot bis in die Haarwurzeln, »das hat er nicht gesagt.«
Herr Carovius lachte schadenfroh; »wenn's nicht wahr ist, ist's doch gut gedichtet,« sagte er meckernd.
Als Daniel sich verabschiedete, ging auch Dorothea und begleitete ihn in den Hausflur.
»Schade,« murmelte Daniel, »schade.«
»Warum schade? Ich bin frei, keiner hat ein Recht auf mich.« Sie sah ihn mit einem mutigen Weiberblick an.
»Es gibt Worte, die sind wie Schmutzflecken,« entgegnete er.
»Wer kann sich hüten vorm Schmutz?« fragte sie fast wild.
Daniel ließ sein Auge prüfend auf ihrem Gesicht ruhen wie auf einem Gegenstand. Langsam und ernst sagte er: »Lassen Sie die Hände und Augen von mir, Dorothea. Ich bring kein Glück.«
Ihre Lippen öffneten sich durstig. »Möcht gern einmal mit Ihnen spazieren gehen,« flüsterte sie, und ihre Züge zitterten in einem Entzücken, von dem er betört glaubte, es gelte ihm, während es nur der Erwartung des Abenteuers galt und der Enthüllung des Geheimnisses.
»Vor vielen Jahren,« sagte Daniel, »Sie werden sich kaum mehr erinnern, hab ich Sie hier unterm Tor vor einem großen Hund in Schutz genommen. Erinnern Sie sich?«
[505] »Nein. Oder doch; ja, ganz dunkel erinner' ich mich. Das waren Sie?« Dorothea ergriff dankbar seine Hand.
»Gut, gehen wir morgen, gehen wir irgendwo hinaus,« sagte Daniel.
»Sie müssen mir aber alles erzählen, alles, alles,« drängte Dorothea wie vorhin im Zimmer, nur noch ungestümer und ungeduldiger.
Sie bestimmten den Ort, wo sie sich treffen wollten.
Anfangs gingen sie kurze Wege, die entlegen waren, dann dehnten sie ihre Spaziergänge aus. Am Johannistag wanderten sie nach Kraftshof und zum Irrhain der Pegnitzschäfer. Die Wege zu vermeiden, die er einst mit Lenore gegangen, war Daniel unbewußt bestrebt.
Nicht selten machte ihn Dorotheas überschäumende Laune still und schwer, und er spürte seine Jahre hypochondrisch als Last. War es Schicksalsrache, daß er bisweilen, wenn ein Hügelanstieg kam, den Schritt verlangsamen mußte, während Dorothea vorauseilte und lachend oben wartete?
Sie sah keine Blumen, keine Bäume, keine Tiere, keine Wolken; aber wenn Menschen sichtbar wurden, geschah immer eine Wandlung in ihr; da war immer eine Gebärde mehr; oder ein Zusammenraffen, ein Hinüberspielen. War es auch bloß ein Bauernbursch oder ein Landstreicher, sie drehte sich in den Hüften und lachte um einen Ton höher empor.
Die Jugend ist ihr wie Wein zu Kopf gestiegen, dachte Daniel dann.
Einmal brachte sie eine Tüte Schokoladeplätzchen mit, und als sie sich satt gegessen hatte und Daniel nichts nehmen wollte, warf sie, was übrig war, achtlos auf die Wiese. Daniel tadelte sie deshalb. »Warum soll ich mich schleppen?« war [506] ihre unbefangene Antwort; »wenn man an einer Sache genug hat, wirft man sie weg.« Sie zeigte ihre Zähne und sog gierig die Luft ein.
Daniel betrachtete sie. Die ist gefeit, sagte er sich, die ist unverwundbar in ihrer Wunschkraft und Lebensfülle. Und es wollte ihm scheinen, als sei sie von der Art seiner Eva, der Art jener Lichtelfen, deren Heiterkeit manchmal etwas Grausames an sich hat. Aber nun nahm er sich vor, nicht mehr das tückische Ungefähr walten zu lassen, sondern die Hand auszustrecken, wenn es not tat.
»Wann werden Sie endlich erzählen?« fragte Dorothea; »ich muß, ich muß es wissen,« fügte sie mit Glut des Ausdrucks hinzu, »es gibt mir Tag und Nacht keine Ruhe.«
Das war die Wahrheit. Um in seine Vergangenheit einzudringen, die sie sich von bunten und leidenschaftlichen Begebenheiten erfüllt vorstellte, hätte sie alles getan, was er von ihr gefordert hätte.
Daniel weigerte sich stumm. Er glaubte, den reinen Sinn des Mädchens zu trüben, ihre Ahnungslosigkeit zu gefährden. Und er hatte Furcht davor, die Schatten heraufzubeschwören.
Eines Tages plauderte sie in ihrer leichten Weise, und im Plaudern verstrickte sie sich. Sie hatte begonnen, ihm von den Männern zu berichten, mit denen sie sich abgab, und war dabei unversehens in den Ton gefallen, in welchem sie darüber zu ihrem Onkel Carovius sprach. Als sie ihrer Unvorsichtigkeit inne wurde, stockte sie verlegen. Daniels ernste Fragen zwangen ihr Geständnisse ab, die sie freiwillig nie gemacht hätte; da kam dann viel Trübes und Häßliches zutage, und es war schwer für sie, sich ganz unschuldig und als Opfer hinzustellen. Zuletzt, da sie nicht mehr entrinnen konnte, mischte sie die Farben zum grellsten Bild und wartete ängstlich und angenehm erregt auf die Wirkung.
Daniel schwieg eine Weile, dann bewegte er die flache [507] Hand, als schnitte er etwas entzwei und sagte schroff: »Weg von denen, Dorothea, oder weg von mir!«
Dorothea senkte den Kopf und sah ihn scheu von unten her an. Die Entschiedenheit, mit der er sprach, war ihr neu, mißfiel ihr aber keineswegs. Ein wollüstiger Schauer lief über ihre Glieder. »Ja,« flüsterte sie magdhaft, »ich will ein Ende machen. Ich hab ja gar nicht gewußt, was das alles eigentlich bedeutet. Sei'n Sie mir nur nicht böse. Nicht bös sein, gelt?«
Sie trat näher zu ihm heran; ihre Augen waren feucht umschleiert. »Nicht zornig sein,« bat sie noch einmal, »die arme Dorothea kann ja nichts dafür.«
»Wie ist's denn möglich!« sagte Daniel; »hat Ihnen denn nicht geekelt bis ins Herz? Wie ist's möglich, mit dem Gedanken an solche Hyänen unter Gottes freiem Himmel zu wandeln? Mädchen, in mir zweifelt alles.«
»Was hätt ich tun sollen, Daniel,« antwortete sie, und zum erstenmal nannte sie ihn beim Vornamen, mit einer tiefberechneten Mischung von Unterwürfigkeit und Kühnheit, die ihn bezauberte und rührte; »was hätt ich tun sollen! Sie kommen, sie reden, sie spinnen einen ein, zu Haus ist's so traurig, das Herz ist so öd, der Vater ist so schlecht mit einem, man hat niemand, keinen Menschen auf der Welt!«
Sie setzten ihren Weg fort. Es war ein Waldtal, durch das sie gingen, rechts und links standen hohe Fichten, auf deren Kronen die Abendsonne lag.
»Das Schicksal läßt nicht mit sich spaßen, Dorothea,« sagte Daniel; »es verstattet uns keine Sudeleien und Manschereien, wenn wir in unserer Seelenkraft vor ihm bestehen wollen. Unbestechlich führt es Buch über unser Soll und Haben, und alle Schulden, die wir machen, müssen irgendwo und -wann bezahlt werden.«
Dorothea fühlte, daß er im Zuge war, daß nun das Große, Beglückende kam. Sie blieb stehen, breitete ihren [508] Schal auf die Erde und setzte sich in anmutig aufmerksamer Haltung hin. Daniel warf sich neben ihr ins Moos.
Und er erzählte, ins Moos hinein, wo kleine Tiere krochen. Er erhob das Auge nicht, die Stimme nicht. Manchmal mußte Dorothea den Kopf niederbeugen, um besser zu hören.
Er erzählte von Gertrud, ihrer Dumpfheit, ihrer Erweckung, ihrer Liebe, ihrem Verzicht; von Lenore, wie er sie geliebt, ohne es zu ahnen. Und wie Lenore im Übermaß des Leidens und der Liebe die Seine geworden, und wie dann Gertrud herumgeirrt war, unselig verloren und sich getötet hatte. »Da kamen wir auf den Dachboden, und da war Feuer, und sie hing als Leiche an einer Zuckerschnur.«
Und wie Gertrud als Schatten neben Lenore weitergelebt, und wie Lenore Blumenbinderin gewesen, und wie Philippine, die unbegreifliche, heute noch unbegreifliche Philippine ins Haus gekommen, und Gertruds Kind wie ein frierender Findling da gelebt, und wie dennoch das andere Kind, das Kind der Magd, ihm ans Herz gewachsen war.
Und das Zusammenkommen, das Sprechen und Schweigen, das Begegnen auf den Gassen, das Hin und Her in Stuben, das Aufklingen von Liedern, das frühe Wandern mit Dörmauls Truppe, das Hereinleuchten einer Maske in das ungeschmückte Leben, und den Freund, die Hilfe, die er geleistet, den Abschied von ihm, das Bürstenmachershaus am Jakobsplatz, die drei sonderbaren Fräulein in der Langen Zeile, die Tage in Schloß Erfft, den alten Vater der Schwestern und sein geheimnisvolles Treiben, das alles schilderte er wie einer, der aus dem Schlaf redet, und es war ein Vertrauen darin, das vielleicht die schwebenden Geister der abendlichen Natur erschütterte, aber Dorotheas metallisch glänzende Augen mit keinem innigeren Licht begabte.
Als er emporschaute, war es ihm, als gewahre er zwei dunkle Gestalten am Rand des Waldes, Schwestern, die trauernd und vorwurfsvoll nach ihm blickten.
[509] Er erhob sich. »Und das alles,« schloß er, »das alles, Mädchen, ist, wie Regenwasser von trockenem Boden, aufgetrunken worden von einem Werk, an dem ich nun seit sieben Jahren schaffe. Seit sieben Jahren. Noch zwei, und ich geb's der Welt, falls nicht vorher der schwanke Erdball in die Sonne stürzt.«
Ganz von ungefähr, ganz verworren ahnte Dorothea, was für ein Mensch vor ihr stand. Sie spürte ein prickelndes Gelüste nach ihm, wie sie es bis jetzt nach seinen Erlebnissen gespürt. Sie begann ihn zu lieben, in ihrer Weise. Es trieb sie, sich bei ihm zu bergen, wie es einen Vogel bei Anbruch der Nacht unter den Wipfel eines Baumes treibt. Daniel begriff, daß die schüchterne Bewegung, mit der sie ihren Arm in seinen schob, Dankbarkeit bezeigen sollte.
So führte er sie der Stadt entgegen.
In der frohpulsierenden Stimmung dieser Zeit schrieb und vollendete Daniel den fünften Satz seiner Symphonie, ein Scherzo großen Stils, das mit einer Klarinettenfigur wie mit einem sorglosen Lachen einsetzte. Aus dem einfachen Motiv entwickelten sich alle Möglichkeiten der Freude; auch stiller Rückblick und Trost. Wenn die Hauptthemen, sich ihres früheren Vorrangs entsinnend, breiter fluten wollten, wurden sie immer wieder mit kunstreichen Mitteln, die launig wechselten, beschwichtigt und in die Tiefe gedrängt. Einmal flossen alle drei Themen zusammen, schienen in der Vereinigung Kraft zu gewinnen, schwollen in wunderbarer Fugierung empor, ihr Sieg schien nahe, da wurde über dem Septakkord in D das ganze Orchester vor der Tanzmelodie ergriffen, und in den Geigen flohen jene schwermütigen Schwesterweisen klagend dahin. Vor der jubelnden Steigerung des [510] Schlusses hielt ein Solofagott die eine, wehevolle, in ferner Höhe fest.
In vierzehn Nächten entwarf er dann auch den sechsten Satz.
Daß ihm dergleichen vorher nie gelungen war, wußte Daniel. Wer das Außerordentliche hervorbringt, weiß es. Es packt ihn an wie Krankheit und er füllt ihn wie ein tiefer Traum.
Manchmal war die Versuchung groß, es zu verkündigen; einem, irgendeinem, und wenn es Herr Carovius sein mußte. War die Flamme niedergebrannt, so belächelte er den Trieb. Geduld, sagte er sich dann im ruhigen Gefühl, nur Geduld.
Da das Sammelwerk fertig und seine Verbindung mit dem Haus Philander gelöst war, hielt er nach anderm Broterwerb Umschau. Er hatte im Laufe der letzten Jahre viertausend Mark erspart, aber das Geld wollte er nicht anrühren.
Er erfuhr, daß die Organistenstelle an Sankt Egydien frei geworden sei und ging zum Pfarrer, der ihn seinen Oberen empfahl. Es wurde beschlossen, daß er den Herren der Kirchenbehörde vorspielen solle. Dies geschah eines Morgens im Oktober. Die Prüfung fiel zur merkbaren Zufriedenheit der gestrengen Hörer aus.
Er wurde also Organist an Sankt Egydien mit zwölfhundert Mark Gehalt. Wenn er an Sonn- und Festtagen die Orgel spielte, kamen immer viele Leute in die Kirche, nur um ihn zu hören.
Unter den Freiern, auf die Andreas Döderlein ein Auge geworfen hatte, befand sich auch der Mühlenbesitzer Weißkopf, ein Liebhaber der Musik. Er hatte Dorothea seinerzeit im Konzert bewundert und ihr einen Lorbeerkranz geschickt.
[511] Eines Mittags war Weißkopf zum Essen dagewesen, und als er fortgegangen war, sagte Döderlein zu seiner Tochter: »Meine liebe Dorothea, du darfst dich von heute ab als eine Braut betrachten. Dieser vorzügliche Mensch begehrt dich zum Eheweib. Es ist ein Glücksfall, der Mann ist reich wie Krösus.«
Statt zu antworten, lachte Dorothea nur belustigt auf. Aber sie wußte nun, daß etwas geschehen müsse, und in ihrem beweglichen Gesicht zuckten Hohn, Furcht und Begierde.
»Überlege dir's, überschlafe es, ich habe dem Manne bis morgen Bescheid versprochen,« sagte Andreas Döderlein finster.
Schon vor einer Woche hatte Andreas Döderlein in der sicheren Erwartung des Heiratsantrags den Mühlenbesitzer um ein Darlehen von tausend Mark ersucht. Der Mühlenbesitzer hatte ihm das Geld gegeben und glaubte dadurch gleichsam eine Wechselpromesse auf Dorothea zu haben. Döderlein hatte sich gebunden und war fest entschlossen, das Heiratsprojekt durchzusetzen.
Doch Dorotheas Betragen ließ Auflehnung vermuten. Er war in Sorge. Er sann auf Zerstreuung. Vor sechzehn Jahren hatte er einmal eine Komposition begonnen, die den Titel führte: Allerseelen, ein symphonisches Gemälde. Fünf Seiten Partitur waren damals niedergeschrieben worden, seitdem hatte er sich keiner produktiven Arbeit mehr unterzogen. Er kramte die Handschrift aus einer Schublade und setzte sich damit aus Klavier. Er wollte dort wieder anknüpfen, wo er vor sechzehn Jahren den Faden verloren hatte, als ob die Pause in einem Mittagsschläfchen bestanden hätte.
Es ging nicht. Er seufzte tief. Stumm saß er vor dem Instrument, starrte auf das Papier wie ein Schüler, der eine Rechnung lösen soll, zu der er die Regel vergessen hat und betrauerte den Verlust seiner künstlerischen Kraft. Es war [512] alles so leer innen. Die Noten grinsten ihn spöttisch an, und seine Gedanken kehrten ungehorsam immer wieder zu dem Mühlenbesitzer zurück. Eine Weile phantasierte er auf den Tasten, da steckte Dorothea den Kopf zur Türe herein und sang mit: »Rheingold, Rheingold, reines Gold.«
Wütend schlug er den Deckel zu, nahm Hut und Mantel und verließ das Haus, um den heimlichen Weg in die Vorstadt anzutreten.
Als er in der Nacht zurückkam, sah er unterm Haustor Dorothea mit einem Mann stehen. Es war der Schauspieler Edmund Hahn. Im Flüsterton führten sie ein ziemlich erlegtes Gespräch, der Mann hielt Dorothea an den Armen gepackt, aber als Andreas Döderlein sichtbar aus dem Dunkel der Straße auftauchte, stieß er einen Fluch aus und verschwand eilig.
Dorothea schaute ihrem Vater frech ins Gesicht und folgte ihm dann ins dunkle Haus.
Oben, als er Licht angezündet hatte, wandte sich Döderlein ihr zu und fragte drohend: »Was bedeuten diese unzüchtigen Zusammenkünfte? Antwort will ich haben.«
»Ich mag deinen Mehlsack nicht heiraten, da hast du meine Antwort,« versetzte Dorothea und warf trotzig den Kopf zurück.
»Na, das werden wir ja sehen,« sagte Döderlein, bleich vor Zorn, und pflügte mit den Fingern durch die schütter gewordene Lockenmähne, »das werden wir ja sehen. Marsch hinaus jetzt mit dir, ich habe nicht Lust, mich von einer solchen undankbaren Kröte um den wohlverdienten Schlaf bringen zu lassen. Morgen reden wir weiter.«
Am andern Morgen eilte Dorothea zu Herrn Carovius. »Onkelchen,« stammelte sie, »er will mich an den Mehlsack verkuppeln.«
»So? Da werd ich dem Dreipfennigmusikanten wieder einmal auf die Bude steigen müssen,« sagte Herr Carovius. [513] »Nur ruhig, Kindchen, nur ruhig!« fügte er hinzu und streichelte zärtlich ihre braunen Haare, »der alte Carovius lebt noch.«
Dorothea schmiegte sich an ihn und lächelte. »Was würdest du sagen, Onkelchen,« begann sie mit schelmischem und zugleich sehr aufmerksamem Blick, »wenn ich den Daniel Nothafft zum Mann nähme? Der gefällt dir doch,« fuhr sie schmeichelnd fort und hielt ihn, als er zurückwich, bei den Schultern fest, »der muß dir doch gefallen. Einen will ich endlich haben, eine alte Jungfer will ich nicht werden, und beim Vater halt ich's nimmer aus.«
Herr Carovius riß sich los. »Ins Tollhaus mit dir, du Kanaille!« schrie er. »Da wollt ich lieber, du gingst mit dem Mehlsack ins Bett. Ist der Gottseibeiuns in dich gefahren, Dirne? Juckt dich die Haut, dann kratz dich, oder nimm dir meinetwegen einen Stallknecht dazu wie die selige Kaiserin Katharina. Schaff dir schöne Kleider an, behäng dich mit Firlefanz, geh tanzen und sauf Champagner, mach Musik oder schmeiß deine Geige auf den Misthaufen, treib was du willst, ich geb dir Geld, soviel du willst, aber den grünäugigen Phantasten, den habergasigen Rattenfänger, den Weiberfresser und Unmusikanten, den schick seiner Wege, das tu mir um Gottes und seiner Heiligen willen nicht an, sonst ist's aus zwischen uns, sonst hab ich nichts mehr mit dir zu schaffen.«
Ein solcher Haß, eine solche Angst war in Herrn Carovius' Gesicht, daß Dorothea staunte. Seine Haare waren verwirrt wie die Reiser eines Vogelnests, aus seinen Mundwinkeln rann Nässe, die Augen loderten rötlich, der Zwicker saß auf der Spitze der Nase.
Nichts hätte Dorothea mehr locken und reizen können als die Worte, die sie über Daniel vernommen, als das Gebaren des Herrn Carovius. Ihre Augen blickten groß, ihr Mund öffnete sich lüstern. War noch ein Schwanken in ihr gewesen, jetzt war keines mehr. Sie liebte das Geld; sie war mit Habsucht in der Brust geboren; aber wenn Herr Carovius [514] ihr alle seine Schätze zu Füßen gelegt und dagegen gefordert hätte, sie solle Daniel entsagen, sie hätte es nicht vermocht, jetzt nicht mehr.
Etwas grauenhaft Angenehmes zog sie nun zu dem hin, den sie so verfluchen hörte, so gefürchtet sah. In seiner Nähe war das Prickeln sinnlicher Gefahr heftiger als in der Nähe aller andern Männer, die sie kannte. Er war ihr rätselhaft und unzugänglich; sie wollte ihn erraten und aufschließen. Er hatte so viele besessen, gewiß mehr, als er bekannt hatte; sie wollte ihn besitzen. Er war so still, so klug, so fest; sie wollte Stille, Klugheit und Festigkeit von ihm haben, alles wollte sie haben, allen Zauber, alle Menschenmacht und alles, was er verbarg, alles wollte sie von ihm haben.
Sie dachte fortwährend an ihn, nur an ihn. Ihre Gedanken umflatterten sein Bild, scheu, begierig und spielerisch. Er hatte es verstanden, einen Willen und eine Einheit in ihre Sinne zu bringen. Sie wollte ihn haben.
Der Regen klatschte ans Fenster. Voll Schrecken über Dorotheas Versonnenheit preßte Herr Carovius beide Hände an die Backen. »Ich seh schon, du willst mich allein lassen,« wehklagte er schauerlich, und es klang wie das Geheul eines Hundes in der Winternacht; »betrügen willst du mich, zum Feind willst du übergehen, und ich soll meine vier Wände anglotzen. Ich seh schon, ich seh schon.«
»Sei still, Onkelchen, es geschieht ja nichts, es war ja nur ein Scherz,« sagte Dorothea heuchlerisch begütigend und ging mit zögernden Schritten, bisweilen lächelnd zurückschauend, zur Tür.
Es war zur frühen Mittagsstunde, als Dorothea an Daniels Wohnung läutete. Philippine machte das Gatter auf und wollte sie nicht in die Stube lassen. Sie erzwang [515] sich den Eingang und musterte von der Zimmerschwelle aus Philippine hochmütig.
»Paß auf, Philippin', da stinkt's nach Unrat,« murmelte diese vor sich hin.
Daniel saß bei der Arbeit. Er erhob sich stumm und blickte Dorothea an, die behutsam die Türe schloß.
»Da bin ich, Daniel,« sagte sie und atmete wie ein Schwimmer, der ans Land kommt.
»Was bedeutet's?« fragte Daniel regungslos.
»Daß ich getan hab, was Sie wollten, Daniel. Weg von denen. Beim Vater kann ich nimmer bleiben. Wo anders sollt ich hin als hierher?«
Daniel ging auf sie zu und legte beide Hände schwer auf ihre Schultern. »Mädelchen, Mädelchen!« sagte er mahnend und erschüttert.
Sie sahen sich eine unendlich scheinende Zeit in die Augen. Es war, als wolle Daniel bis in die verborgensten Falten ihrer Seele schauen. Dorotheas Blick funkelte verwegen, sie senkte die Lider nicht. Plötzlich beugte Daniel den Kopf und küßte ihre Stirn.
»Du weißt, wer ich bin,« sprach er und schritt im Zimmer auf und ab. »Du weißt, wie ich gelebt habe und wie ich lebe. Ich bin ein schuldvoller Mann, ich bin ein einsamer Mann. Meine Natur verlangt nach Zärtlichkeit, aber Zärtlichkeit hergeben kann sie nicht. Mein Los ist hart, und wer es mit mir teilt, muß entschlossen sein, die Härte zu ertragen. Ich bin oft mein eigener Feind und oft der Feind derer, die es gut mit mir meinen. Ich bin kein Spaßmacher und kein Gesellschafter. Ich kann grob, beleidigend, hämisch, unversöhnlich und rachsüchtig sein. Ich bin häßlich, ich bin arm, ich bin nicht mehr jung. Fürchtest du nicht für deine dreiundzwanzig Jahre, Dorothea?«
Dorothea schüttelte energisch den Kopf.
»Prüfe dich, Dorothea,« fuhr er eindringlich fort, »nimm [516] es nicht ungenau mit dir und mir, nimm es ganz und tief genau, damit wir nicht falsche Rechnung mit dem Schicksal machen. Liebe kann meiner mächtig werden, mehr, als ich selbst meiner mächtig bin, und dann setz ich alles dran, dann muß ich vertrauen können, ohne Maß. Könnt ich nicht mehr vertrauen, ich wäre wie ein zur Hölle Verstoßener, ein böser Geist. Prüfe dich, Dorothea, du mußt wissen, was du tust, es ist eine heilige Sache.«
»Ich kann nicht anders, Daniel!« rief Dorothea und warf sich an seine Brust.
»Dann also sei Gott uns gnädig,« sagte Daniel.
Daniel brachte Dorothea zu Sylvia von Erfft nach Siegmundshof. Er hatte ihr geschrieben, ihr die Verhältnisse geschildert und sie gebeten, sie möge Dorothea bis zum Tag der Hochzeit bei sich aufnehmen. Sylvia hatte sich herzlich bereit gezeigt, seine Bitte zu erfüllen.
Zwei Nächte hatte Dorothea noch zu Hause verbracht, und es war ihr gelungen, allen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater aus dem Weg zu gehen, indem sie sich drei Tage Bedenkfrist erbeten hatte. Am Morgen des dritten Tages, als der Vater zur Musikschule gegangen war, hatte sie ihre Habseligkeiten gepackt und das Haus verlassen.
Andreas Döderlein fand folgenden Brief von ihrer Hand vor: »Lieber Vater, mach dir keine Hoffnungen mehr bezüglich des Herrn Weißkopf. Ich bin großjährig und kann heiraten, wen ich will. Meine Wahl ist bereits getroffen, der Mann, mit dem ich vor den Altar trete, heißt Daniel Nothafft. Er liebt mich mehr als ich's vielleicht verdiene, und ich will ihm eine gute Frau sein. Daran ist nichts mehr zu ändern, und sicherlich kommst du auch zur Einsicht, daß es edler ist, [517] dem Zug des Herzens zu folgen, als sich von materiellen Vorteilen locken und blenden zu lassen. Deine dich liebende Tochter Dorothea.«
Es schwindelte Andreas Döderlein. Das Briefblatt glitt ihm aus den Fingern und zu Boden. Am ganzen Körper zitternd, schritt er zum gedeckten Tisch, ergriff ein Wasserglas und schleuderte es gegen die Wand, daß es in zahllose Scherben zersplitterte. »Ich werde dich erdrosseln, Kröte!« keuchte er, streckte die geballte Faust empor, ging in Dorotheas Zimmer und warf in seiner unmäßigen Wut die Stühle und den kleinen Toilettetisch um.
Die Magd war erschrocken in die Wohnstube geeilt. Sie sah Dorotheas Brief auf dem Boden liegen, hob ihn auf und las ihn. Als sie ihren wütenden Herrn zurückkommen hörte, flüchtete sie, lief ins Erdgeschoß, läutete an Herrn Carovius' Tür und zeigte ihm den Brief. Sein Gesicht wurde gelb, während er die Zeilen überflog. Da stieß die Magd einen leisen Schrei aus, riß Herrn Carovius den Brief aus der Hand und rannte in den Hof, denn von oben kam Andreas Döderlein herunter. Er wollte auf die Polizei und dort fordern, daß man den Entführer seiner Tochter verhafte. Als er Herrn Carovius im Flur gewahrte, blieb er stehen und fixierte ihn mit einem haßerfüllten Blick, in welchem gleichwohl etwas wie eine scheue Frage enthalten war. Ja, es hatte fast den Anschein, als ob ein einziges versöhnendes Wort, eine Gebärde nur des Langgemiedenen alles Vergangene hätte auslöschen und jenen zum Bundesgenossen beim Werk der Strafe und Rache hätte machen können.
Aber Herr Carovius war fertig mit der Welt. Seine Züge verzerrten sich zu einer Grimasse der Bosheit und der Verachtung, dann kehrte er sich um und schlug die Türe seiner Behausung krachend hinter sich zu.
Andreas Döderlein ging nur bis zum Portal des Rathauses. Dort überfielen ihn plötzlich allerlei Bedenklichkeiten, [518] er starrte eine Weile düster auf das Pflaster und begab sich dann wieder auf den Heimweg, mit Schritten, die nur halb so ungestüm waren wie vorher und auf eine gebrochene Tatkraft deuteten.
Kaum war er zu Hause angelangt, so wurde ihm Daniel gemeldet. »Sie erkühnen sich, Herr?« schrie er dem Eintretenden entgegen, »Sie erkühnen sich, vor meinem Angesicht zu erscheinen? Beim Himmel, das ist viel!«
»Ich nehme jeden Kampf auf,« sagte Daniel mit der kalten Würde, die ihm bei solchen Gelegenheiten eigen war und die einschüchternd wirkte. »Ich habe nichts zu fürchten. Mit dem Vater meines Weibes möcht ich gern in Frieden leben, deshalb bin ich da.«
»Wissen Sie denn auch, was Sie mir tun? Sie haben mir die Tochter gestohlen, Mann!« rief Döderlein mit Pathos. »Aber ich werde Ihre Absichten durchkreuzen, verlassen Sie sich darauf, ich werde Ihnen meine Macht zu spüren geben.«
Daniel lächelte verächtlich. »Dessen bin ich sicher,« antwortete er. »Ich kenne diese Macht, so lang ich lebe. Nur hab ich mich ihr nie unterworfen, und bisweilen ist es mir gelungen, sie zu brechen. Denken Sie ein wenig über mich nach, und über Ihr Kind, und über sich selbst. Adieu.« Damit ging er.
Andreas Döderlein war beunruhigt. Das Lächeln des Menschen verfolgte ihn. Was mochte der Desperado wieder einmal im Schilde führen? Böses Gewissen lähmt böse Entschlüsse. Länger als eine Woche rang Döderlein mit seinem Stolz, und als Daniel nichts mehr von sich hören ließ, auch von Dorothea keine Nachricht kam und zu allem Unheil der Mühlenbesitzer das Darlehen zurückforderte, sagte er sich, daß an dem Geschehenen nichts mehr zu ändern sei, und eines Tages stieg er die drei Treppen des Hauses am Egydienplatz empor.
»Das freut mich,« sagte Daniel und streckte dem Besucher die Hand hin.
[519] Andreas Döderlein sprach von einem blutenden Vaterherzen, von der Vernichtung großer Hoffnungen, von der Pietätlosigkeit der Jugend und der Einsamkeit des Alters, dann, ziemlich unvermittelt, mit den Fingern seiner gewaltigen Hand auf die Tischplatte trommelnd, von der Zwangslage, in die er gegenüber dem Mühlenbesitzer geraten sei. Er habe für einen Freund Bürgschaft geleistet, sei zur Zahlung genötigt worden und habe sich nur helfen können, indem er bei dem reichen Bewerber um Dorotheas Hand eine Anleihe aufgenommen habe.
Daniel mußte zugeben, daß die Sorge demütigend sei und die Schuld beglichen werden müsse. Es seien fünfzehnhundert Mark, sagte Döderlein; er war selbst überrascht, als er diese Summe nannte, die ihm fünfzig Prozent Gewinn sicherte; es war ein kluger Einfall gewesen, der zugleich dazu diente, die Generosität des künftigen Schwiegersohnes auf die Probe zu stellen. Im Grunde fand er seine Handlungsweise nicht honett und war daher gerührt, als Daniel, der die Schmälerung seiner Ersparnisse nur kurz bedachte, ihm das Geld am andern Tag zu bringen versprach.
»Sie beschämen mich, Daniel,« sagte er, »wahrlich, Sie beschämen mich. Lassen Sie uns die Streitaxt begraben und gute Freunde werden. Sind wir doch ohnehin Kollegen in Apoll. Oder nicht? Nennen Sie mich Vater, ich will Sie Sohn heißen, sagen Sie du, ich will ein gleiches tun.«
Daniel reichte ihm schweigend die Hand.
Döderlein fragte nach Dorothea, und als ihm Daniel mitgeteilt, wo sie sich aufhielt, zeigte er sich sehr zufrieden darüber. »Mein Haus und meine Arme sind ihr geöffnet, unterrichte sie davon, melde ihr die veränderte Konstellation,« sagte er weich; »wir haben unrecht aneinander gehandelt, beide; wir haben es beide gebüßt.«
Daniel erwiderte trocken, er halte es für besser, wenn Dorothea bei Sylvia von Auffenberg bleibe.
[520] »Wie du willst, mein Sohn,« sagte Andreas Döderlein, »ich füge mich den Forderungen eures jungen Glückes. Nun aber sollten wir eine Flasche Malvasier oder Mosel haben und auf die Zukunft meines lieben Wildfangs trinken. Oder widerstrebt es dir?«
Daniel ging hinaus, um Philippine ins goldene Posthorn zu schicken. Philippine war aber mit Agnes fortgegangen; er gewahrte eine der Mägde des Hauses auf der Stiege und bat sie um die Besorgung. Es dauerte lange, bis sie mit der Flasche kam, und als der Wein eingeschenkt war, erwies es sich, daß Döderlein keine Zeit mehr hatte, weil er um sieben Uhr eine Unterrichtsstunde erteilen mußte. Er leerte sein Glas nur halb und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händeschütteln von Daniel.
Eine Weile war Daniel sinnend gesessen, da pochte es an der Tür, und der alte Jordan trat ein. »Ist's erlaubt?« fragte er.
Daniel nickte, und er nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem Andreas Döderlein gesessen. Forschend schaute er Daniel ins Gesicht; plötzlich sagte er: »Ist's denn wahr, Daniel, daß du wieder heiraten willst? Daß du die Döderleinsche heiraten willst?«
»Ja, Vater, es ist wahr,« antwortete Daniel. Er holte ein frisches Glas, goß Wein hinein und schob es dem alten Mann hin. »Trink, Vater!« sagte er.
Der Alte nippte andächtig. »Es dürften wohl, meiner Schätzung nach, neun bis zehn Jahre vergangen sein, daß ich leinen Wein getrunken habe,« redete er vor sich hin.
»Dein Leben ist nicht gut gewesen,« erwiderte Daniel.
»Ich beklage mich nicht, Daniel. Ich trag's, weil ich's tragen muß. Und wer weiß, vielleicht ist mir noch ein kleines Glück beschert. Vielleicht; wer weiß.«
Dann saßen sie schweigend und tranken hie und da. Es war so still, daß sie die Flamme der Lampe rauschen hörten.
[521] »Wo bleibt denn die Philippine?« fragte Daniel endlich.
»Ja, die Philippine, das hatt' ich ganz vergessen,« begann der alte Jordan sorgenvoll. »Am Nachmittag ist sie zu mir hinaufgekommen und hat mir mitgeteilt, sie gehe zur Frau Hadebuschin und werde mit der Agnes dorten bleiben, bis die Hochzeit vorüber ist. Sie hat sich aber so verworren ausgedrückt, daß ich ihren Worten nicht entnehmen konnte, was sie damit bezweckt. Auch hat es so geklungen, als wollte sie überhaupt aus dem Hause gehn. Ob das Frauenzimmer nicht ein wenig gestört im Kopfe ist? Vorgestern war ein Geklapper und Gepolter in der Küche, und wie ich nachsehe, liegen mindestens sechs Teller zerbrochen auf der Erde, dabei droht sie noch, mich mit dem Spülwasser anzuschütten und schimpft gotteslästerlich. Wie ist denn das? Kann sie denn so mir nichts dir nichts mit dem Kind zur Hadebuschin übersiedeln?«
Daniel blieb die Antwort schuldig. Der Gedanke an Philippine erfüllte ihn auf einmal mit Angst vor Unheil. Es schien ihm, daß er sie gewähren lassen müsse.
In der Nacht bemächtigte sich Daniels eine tiefe Erregung. Er verließ das Haus, und trotz der Finsternis und des fallenden Schnees ging er weit vor die Stadt, merkte die Nässe, die Kälte und den Wind nicht.
Er lauschte in sein Inneres, hielt letzten Rat mit sich und schaute oft, als flehe er um Erleuchtung, zum schwarzen Himmelsgewölbe empor. Schwärzer noch dünkte ihn das Morgen, in Bangigkeit verlor er sich, und es trieb ihn zu den Gräbern.
Erst auf dem Weg zum Kirchhof bedachte er, daß das Tor in der Nacht zugesperrt sein mußte, dennoch ging er weiter. [522] Lange suchte er nach einer Stelle an der Mauer, wo er hinüberklettern konnte. Endlich fand er eine, klomm hinauf, schürfte sich die Hände wund, sprang in schneebedecktes Strauchwerk hinab und irrte mit beklommener Brust über das stürmische, öde Gefilde. Als er dann vor Gertruds Grab stand, überwältigte ihn das Gefühl der Stunde, Stimmen waren im Sturm, Grauen und Erinnerung wollten ihn schier zu Boden reißen, aber vor Lenores Grab wurde es ruhig in seiner Brust, auch öffneten sich plötzlich in der Tiefe des Horizonts die Wolken, und ein Mondstrahl zitterte hindurch.
Spät, der Morgen war schon nahe, kam er heim.
Acht Tage darauf holte er Dorothea von Siegmundshof ab.
Sylvia und Dorothea kamen ihm durch eine beschneite Allee entgegen. Sie gingen Arm in Arm, und Sylvia lächelte zu Dorotheas Geplauder. Sie schienen in gutem Einverständnis, das Bild konnte nicht täuschen, und Sylvia sagte auch, als sie mit Daniel allein war, daß sie Dorothea liebgewonnen. Ihrem Frohsinn könne niemand widerstehen, und mit den Kindern werde sie selber zum Kind.
Trotzdem betrachtete Sylvia Daniel, und wenn Dorothea dabei war, auch diese bisweilen mit einem schnellen, forschenden, sonderbar unsicheren Blick.
Es war ein sonniger Dezembertag, als Daniel und Dorothea Hochzeit hielten.
[523]Seit vierzehn Tagen wohnten Philippine und Agnes bei Frau Hadebusch; da kam eine Botschaft von Daniel, die beiden sollten nach Hause zurückkehren, oder wenn es Philippine vorziehe, zu bleiben, solle sie Agnes schicken, und zwar sogleich.
»Da ham Se's,« sagte Frau Hadebusch, »der Herr befiehlt.«
»Der befiehlt mir lang gut,« antwortete Philippine tückisch. »Das Kind bleibt bei mir, und ich geh nit hin, basta. Was, Agneslein?«
Agnes hockte auf der Ofenbank neben dem schwachsinnigen Heinrich und las in dem abgeschmierten Heft eines Kolportageromans. Bei Philippines Anruf blickte sie zerstreut empor und lächelte stumpf. Das zwölfjährige Mädchen hatte ausdruckslose Züge und, da sie selten ins Freie kam, eine von der Zimmerluft fast gelbgewordene Haut.
»Nutzt nix,« fuhr Frau Hadebusch fort, die uralt aussah und einer bösen, verkrüppelten Zwergin glich, »er kann das Madel fordern, und er muß es kriegen. Da käm ich am End noch mit dem hohen Gesetz in Umständlichkeit.«
»No, was is, Agneslein, willst zurück zu dein' Vatter?« wandte sich Philippine an das Mädchen und sah die Habebuschin bedeutungsvoll an.
Agnes Gesicht verfinsterte sich. Sie haßte ihren Vater. So weit hatte es Philippine durch ihre steten Einflüsterungen, ihre gehässigen Erzählungen gebracht. Agnes war überzeugt, daß sie ihrem Vater im Wege sei, und seine Heirat hatte diesen Glauben nur noch mehr befestigt. In ihrem dumpfen Innern trug sie das Bild ihrer früh verstorbenen Mutter als das einer Gemordeten, einer Geopferten. Gar [524] schauerlich hatte ihr Philippine den Selbstmord der Mutter zu schildern gewußt; es war der immer wieder erneute Gesprächsstoff vieler Winterabende, vieler Dämmerstunden gewesen. Dereinst, wenn sie groß sein, wenn sie würde reden können, wollte Agnes Rechenschaft vom Vater verlangen.
Wenn sie würde reden können! Dies war ihr heißester Wunsch. Denn sie war eine Stummgeborene, ihre Seele schmachtete in viel härterer Gefangenschaft als ehemals die ihrer Mutter, weil sie keines Aufblicks und Aufschwungs fähig war, weil nichts in ihr bloß schlief, sondern alles hoffnungslos verdorrt war.
»Zu der Döderleinischen geh ich nicht,« grollte sie.
Aber am Abend kam Daniel. Er zog Philippine beiseite und hatte mit ihr eine ernste Auseinandersetzung. Er erklärte ihr die Gründe seiner Heirat, so gut er es vermochte, ohne auf das Tiefere einzugehen. »Ich hab eine Hausfrau gebraucht, eine junge Gefährtin. Dir, Philippin', schuld ich Dank, doch es muß auch eine neben mir sein, die mich höher stimmt, denn von meinem schweren Beruf weißt du ja nichts. Also bock nicht, Philippin'; schnür dein Bündel und komm heim. Was sollen wir ohne dich anfangen?«
Zum erstenmal sprach er mit ihr wie mit einem Weib und wie mit einem Menschen. Philippine starrte ihn an. Sie schlug eine wilde Lache auf und höhnte: »Joi, Daniel, wie du einen flattieren kannst. Das hätt ich nit von dir gedacht, bist immer ein ekelhafter Griesgram gewesen. Gut! Sag: liebe Philippine. Sag ganz langsam: liebe Philippine, dann komm ich.«
Daniel schaute verwundert in das nie jung gewesene und schnell alt gewordene Gesicht Philippines. »Narrenspossen,« sagte er unwillig und kehrte sich ab.
Philippine stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Der idiotische Heinrich trat in den Flur und hielt ein Lämpchen hoch.
[525] »Wohnt der fromme Schreiber noch da?« fragte Daniel und schaute voll Erinnerung an der windschiefen Treppe empor.
»Gott sei Dank, nein,« schnarrte Philippine, »das tät noch fehlen. Mir wird übel, wenn ich ein Mannsbild seh.«
Abermals schaute Daniel in ihr häßliches, boshaft verzerrtes Gesicht. Er war gewohnt, alle Dinge, alle Augen, alle Körper um ihr Dasein in Tönen, ihre Verwandlung in Töne zu befragen. Hier fühlte er plötzlich das Tonlose, so wie man beim Anblick eines Tiefseefisches fühlen würde: das Lichtlose. Er dachte an Eva, er sehnte sich in diesem Augenblick nach seiner Eva, und da eben kam Agnes aus der Tür, um nach Philippine zu sehen.
Er legte die Hand auf Agnes' Haar und sagte gutmütig zu Philippine hinüber: »Na also, – liebe Philippin', komm heim!«
Agnes duckte sich hastig und entzog sich seiner Hand, so daß er das Mädchen mit finsterer Überraschung musterte. Philippine jedoch faltete ihre Hände, senkte den Kopf und murmelte ganz demütig: »Is recht, Daniel, wir kommen morgen.«
Um zehn Uhr vormittags erschien Philippine vor dem Wohnungsgatter. In der einen Hand schleppte sie ihr Bündel, an der andern führte sie die ängstlich dreinblickende Agnes.
Dorothea öffnete die Tür. Sie war sauber und adrett angezogen, trug ein blaugeblümtes Kattunkleid, darüber eine weiße Schürze mit Spitzenumsäumung, und um den Hals ein goldenes Kettchen, an welchem ein Medaillon hing.
»Och, die Kinder!« rief sie lustig, »die Philippine und die Agnes! Grüß Gott, Kinder, seid ihr endlich da?« Sie wollte Agnes umarmen, die aber wich ebenso scheu zurück, wie sie es gestern vor ihrem Vater getan.
[526] Philippine verzerrte hämisch die Lippen, als sie von der um zehn Jahre Jüngeren ein Kind genannt wurde und maß Dorothea von oben bis unten.
Dorothea bemerkte es kaum. »Die Kochfrau, denken Sie bloß, Philippin', ist heut nicht gekommen, und da wollt ich's selber probieren,« erzählte sie mit zungenfertiger Wichtigkeit, »aber ich weiß nicht, das Suppenfleisch ist noch immer steinhart. Schauen Sie einmal nach.« Sie zog Philippine in die Küche.
»Der Topf muß einen Deckel haben,« urteilte Philippine mit geringschätziger Miene, »und außerdem brennt das Feuer nicht or'ntlich.«
Aber Dorothea war bereits bei einer andern Sache. Sie hatte ein Glas mit eingemachten Früchten entdeckt, öffnete es, nahm einen langstieligen Holzlöffel, brachte ihn gefüllt an ihren Mund und naschte vorsichtig. »Das schmeckt gut,« sagte sie, »das schmeckt wie Zitronat. Versuchen Sie's doch, Philippin'.« Sie hielt Philippine den Löffel an die Lippen, damit sie kosten solle. Philippine stieß den Löffel unwirsch beiseite.
»Das gibt's nicht, Sie müssen versuchen, ich will's, ich will's,« beharrte Dorothea und hielt den Löffel eigensinnig dicht vor Philippines Nase. »Ich will's, ich will's,« wiederholte sie, halb bittend, halb befehlend, so daß Philippine, die diesem Wesen gegenüber den rechten Widerstand nicht gleich zu finden wußte, um Ruhe zu haben, sich den Löffel in den Mund schieben ließ.
Da kam der alte Jordan auf den Flur und hinter ihm der Schlotfeger, der den Kamin putzen sollte.
»Herr Inspektor! Herr Inspektor!« rief Dorothea lachend, und als der Alte ihrem Ruf folgte, reichte sie ihm ebenfalls einen vollen Löffel, und dann mußte auch der Schlotfeger einen nehmen, und zuletzt kam Agnes an die Reihe.
Jetzt lachten alle, sogar über Agnes' blasses Gesicht flog [527] ein heller Schimmer, und Daniel, durch den Lärm aus seinem Zimmer gescheucht, stand in der Küchentür und lachte mit.
»Siehst du, Daniel, siehst du!« sprach Dorothea befriedigt. »Alle fressen mir aus der Hand. So hab ich's gern. Laßt's euch nur schmecken, Leutlein.«
Mit einem offenen Brief in der Hand schoß Dorothea eines Nachmittags in Daniels Stube, wo er arbeitete.
»Du, Daniel, die Kommerzienrätin Feistmantel fleht mich an, morgen auf ihr Kränzchen zu kommen. Darf ich?«
»Du störst mich jetzt, Liebe. Siehst du nicht, daß du mich störst?« fragte Daniel vorwurfsvoll.
»Ja, ja, verzeih,« hauchte Dorothea und blickte hilflos auf den mit Notenpapier bedeckten Tisch. »Ich soll auch meine Violine mitbringen,« fuhr sie fort, »ich soll vorspielen.«
Mit gesammeltem Ausdruck schaute Daniel, ohne ihre Worte aufzufassen, ins Leere.
Dorothea wurde ungeduldig. Plötzlich trat sie zu der Stelle an der Wand, wo, seit Daniels Heimkehr, wieder die Maske der Zingarella hing. »Schon lang wollt ich dich fragen, Daniel, was das Ding da soll. Wozu hast du's, wozu brauchst du's? Es ärgert mich mit seinem ewigen Grinsen.«
Daniel wachte auf. »Das nennst du Grinsen?« fragte er kopfschüttelnd. »Ist's möglich, dies Lächeln aus der Überwelt grinst dir?«
»Ja,« erwiderte Dorothea trotzig, »es grinst. Und ich mag's nicht, mag die Fratze nicht leiden, grad' weil du sie so gern hast. Hast sie wohl lieber gar als mich?«
»Keine Kindereien, Dorothea!« sagte Daniel ruhig; »mußt deinen Sinn ein wenig höher richten, mußt mir auch meine Geister respektieren.«
[528] Dorothea schwieg. Sie verstand ihn nicht. Sie sah ihn mit leisem Mißtrauen an. Sie dachte, die Maske sei ein Bildnis einer von seinen früheren Geliebten. Und sie verzog spöttisch die Lippen.
»Du hast eben etwas von Vorspielen erwähnt, Dorothea,« begann Daniel wieder; »weißt du, daß ich dich noch nie spielen gehört habe? Ich gesteh dir aufrichtig, daß ich bisher Furcht davor gehabt. Nur das vortreffliche ertrüg ich; auch die Verheißung; beides könnte ja sein, und doch, woher kommt mir die Angst? Du hast lange nicht geübt, nicht ein einziges Mal, seit wir beisammen leben; trotzdem willst du dich vor Fremden produzieren? Das ist wunderlich, Dorothea. Sei doch so gut und hol deine Geige und spiel mir vor.«
Dorothea ging ins Nebenzimmer, brachte den Geigenkasten, bestrich den Bogen mit Kolophonium, und während sie die A-Saite stimmte, fragte sie mit emporgezogenen Brauen: »Willst du's wirklich?«
Sie preßte die Lippen aufeinander und spielte eine Etüde von Fiorillo. Als sie fertig war und Daniel nichts verlauten ließ, setzte sie das Instrument wieder an und spielte ein ziemlich lamentables Stück von Wieniawski.
Wieder schwieg Daniel lange. »Recht hübsch, Dorothea,« sagte er endlich; »das ist unter Umständen ein ganz netter Zeitvertreib für dich.«
»Wie meinst du das?« erwiderte Dorothea hastig, und eine dunkle Röte stieg in ihre Wangen.
»Soll es mehr sein, Dorothea?«
»Wie meinst du das?« wiederholte sie verlegen und unwillig, »ich denke schon, daß es mehr ist.«
Daniel stand auf, trat zu ihr hin, nahm ihr den Bogen sanft aus der Hand, ergriff ihn an beiden Enden und zerbrach ihn in zwei Teile.
Dorothea stieß einen bestürzten Schrei aus und sah ihn fassungslos an.
[529] Tiefernst sagte Daniel: »Ist die Musik, die ich höre, nicht ein Niedagewesenes, so ist sie ein hunderttausendmal Dagewesenes. Für ein leidlich wohlklingendes Dilettieren muß sich mein Weib für zu gut halten.«
Dorotheas Augen füllten sich mit Tränen. Abermals fehlte ihr das Verständnis, und nun so völlig, daß sie sich einbildete, Daniel sei mit Absicht grausam gegen sie.
Ihr war das Geigenspiel ein Mittel gewesen, um zu gefallen, sich selbst zu gefallen, der Welt zu gefallen, ein Mittel, sich zu steigern, andere zur Bewunderung zu zwingen und zu blenden. Nur deshalb hatte sie sich der strengen Zucht ihres Vaters von früh an gefügt. Sie besaß auch Ehrgeiz, doch verdingte sie sich jedem Lob, ohne des Lobers zu achten, und was eine Übereinkunft von unbekannter Entstehung an Gefühl forderte, wähnte sie zu geben, indem sie beim Spielen an ihre persönlichen Wünsche, Freuden und Vergnügungen dachte.
Daniel umarmte sie und küßte sie. Sie riß sich los und stellte sich trotzig ans Fenster. »Hättest es ja nur sagen müssen, daß ich dir zu schlecht spiele,« stieß sie hervor und schluchzte zornig auf, »hättest nicht gleich so roh den Bogen zerbrechen müssen. Ich spiel ja nimmer. Wär mir gar nicht in den Sinn gekommen, dich zu belästigen.« Und sie weinte wie ein verzogenes Kind.
Daniel ließ sich's viele Worte kosten, sie zu beschwichtigen. Schließlich sah er ein, daß keine Worte fruchteten, und seufzend schwieg er still. Nach einer Weile nahm er ihr das Taschentüchlein aus der Hand, trocknete lächelnd ihre Tränen und sagte: »Ich hätte ja lieber gewollt, daß du nicht zur Kommerzienrätin aufs Kränzchen gehst. Denn siehst du, ich halte nicht viel von einem solchen Verkehr. Er bereichert nicht und zieht allerlei Gelüstchen groß. Aber weil ich dir so weh getan hab, magst du ruhig hingehen, vielleicht vergißt du dann den Schmerz, du Närrchen.«
[530] »Dank dir schön, ich verzichte,« antwortete Dorothea schnippisch und ging aus dem Zimmer.
Desungeachtet erklärte Dorothea am andern Tag beim Mittagessen, daß sie der Einladung der Kommerzienrätin doch folgen werde. Es sei viel einfacher, hinzugehen, äußerte sie mit einer Miene, als ob ihr der Entschluß schwer geworden wäre, als sich den Vorwürfen und dem beständigen Gefrage auszusetzen.
»Tu es nur,« ermunterte sie Daniel, »ich hab dir ja selbst dazu geraten.«
Sie hatte sich ein dunkelblaues Sammetkleid machen lassen; es war sehr schön, und sie wollte es bei dieser Gelegenheit zum erstenmal tragen.
Als nun Daniel gegen fünf Uhr ins Schlafzimmer trat, sah er Dorothea mit dem neuen Kleid vor dem Spiegel stehen. Es war ein hoher, schmaler Spiegel auf einer Konsole. Dorothea hatte ihn von ihrem Vater als Hochzeitsgeschenk erhalten.
Was ist mit ihr? fuhr es Daniel durch den Kopf, da er die seltsame Regungslosigkeit des jungen Weibes gewahrte. Sie war wie verloren in den Anblick ihres Spiegelbildes; ihr Auge hatte etwas Starres, Saugendes und krankhaft Entzücktes. Sie bemerkte nicht, daß Daniel in der Stube stand; als sie den Arm rührte und den Kopf drehte, geschah es, um diese Gesten im Spiegel zu genießen.
»Dorothea!« rief Daniel leise.
Sie zuckte zusammen, schaute ihn sinnend an und lächelte benommen.
Da ward es Daniel angst und bang.
»Ich bin eine Verwandte von Daniel, und wir müssen uns duzen,« sagte Philippine zu Dorothea. Dorothea war damit einverstanden.
Jeden Morgen, wenn Dorothea in die Küche kam, erkundigte sich Philippine: »Was hast denn geträumt?«
»Ich war auf dem Bahnhof, es war Krieg, und Zigeuner haben mich fortgeschleppt,« antwortete Dorothea einmal.
»Bahnhof bedeutet unerwarteten Besuch, Krieg bedeutet Zwietracht mit verschiedenen Persönlichkeiten, und Zigeuner bedeuten, daß du's mit leichtsinnigen Menschen zu tun bekommst,« ratschte Philippine im Hochdeutsch ihres Geheimbuchs.
Philippine wußte auch in der Punktierkunst Bescheid; oft saß Dorothea bei ihr und stellte Fragen, z.B. ob der oder der in sie verliebt sei, oder ob die und die den und den liebe; Philippine malte Punkte auf ein Blatt Papier, schrieb die Zahlen daneben, schlug das Verzeichnis auf und teilte die Antwort des Orakels mit.
Binnen kurzem waren die beiden ein Herz und eine Seele. Bei ihren Ausgelassenheiten durfte Dorothea stets auf das Beifallsgelächter Philippines zählen, und wenn Agnes apathisch zuschaute, stieß Philippine sie in den Rücken und fuhr sie an: »Dummes Luder, kannst gar nit 's Maul aufmachen?«
Da schlich Agnes traurig zu ihren Schulheften und saß stundenlang über einer einfachen Rechenaufgabe. Dorothea brachte ihr bisweilen ein Stück Gugelhupf; den wickelte sie ein, steckte ihn in die Tasche und gab ihn am andern Morgen einer Kameradin, aus deren Heft sie die Aufgabe abschreiben durfte.
Der Provisor Seelenfromm hielt Philippine auf der Gasse an und fragte: »Na, wie stehts denn bei euch? Wie macht sich die junge Frau?«
[532] »Joi, wir leben wie Gott in Frankreich,« versetzte Philippine, und ihr Mund dehnte sich bis an die Ohren, »jeden Tag Braten, jeden Tag Kuchen, der Wein steht immer auf'm Tisch, und ein Besuch gibt dem andern die Tür in die Hand.«
»Da muß der Nothafft aber hundsmäßig reich geworden sein,« meinte der Provisor verblüfft.
»Muß wohl so sein, ums Geld sorgt sich keiner mehr bei uns, unsere Frau wenigstens hat alleweil das Portemonnaie voll.«
Der Himmel war blau, die Sonne schien, der Frühling war gekommen.
Jeden Sonntag mittag aß Andreas Döderlein bei seinen Kindern. Er liebte eine saftige Schweinskeule, einen Salat in Eierbrühe und eine Torte mit Zuckeraufguß. Der alte Jordan, der an den sonntäglichen Mahlzeiten teilnehmen durfte, ließ die einzelnen Bissen auf der Zunge zergehen. In seinem ganzen Leben waren ihm so leckere Dinge nicht vorgesetzt worden, und bisweilen warf er einen verwunderten Blick auf Daniel.
Ins Gespräch mischte er sich selten. Wenn die Teller abgetragen wurden, erhob er sich und ging in seine Kammer hinauf.
»Höchst sonderbarer Greis,« sagte eines Sonntags Andreas Döderlein, indem er sich die Zähne stocherte.
»Mit dem hat man auch seine liebe Not,« schalt Dorothea; »ist ein unverbesserlicher Topfgucker; zehnmal am Tag kommt er in die Küche, steckt die Nase in die Luft, fragt, was es zu essen gibt, und steht im Flur herum, daß die Gäste über ihn stolpern.«
Andreas Döderlein gab ein bedauerndes Brummen von sich.
»Wie sieht es denn eigentlich mit deinen Finanzen aus, [533] mein Sohn?« wandte er sich leutselig an Daniel. »Möchtest du nicht zur Verbesserung deiner wirtschaftlichen Lage neben dem Organistenamt eine Stelle an unserer Anstalt übernehmen? Herold geht in Pension, er ist über fünfundsiebzig und ist den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Mein Fürwort genügt, dir seine Stelle zu sichern. Dreitausend Mark jährlich, Versorgung der Witwe nach zehnjähriger Dienstzeit, Stundengelder, ich denke, das ist verlockend. Oder nicht?«
Dorothea lief jubelnd zu ihrem Vater, umschlang seinen ungeheuren Rumpf und küßte ihn auf die schlotternde Backe.
»Keinen Dank, mein Kind,« wehrte der Olympier, »euch zur Seite zu stehen ist meine selbstverständliche Pflicht.«
Was sitzt da für ein aufgequollener fremder Mensch? fuhr es Daniel durch den Kopf; was will der Mensch von mir? warum dringt er in meine Stube und sitzt an meinem Tisch? warum duzt er mich und haucht mich mit seinem Atem an? Er schwieg.
»Ich begreife ja, lieber Sohn, daß du deine Muße nicht gern aufgibst,« fuhr Döderlein mit verstecktem Sarkasmus fort, »aber wer von uns kann völlig seiner Neigung leben? Der Alltag ist das Mächtige; Ikarus muß zur Erde stürzen. Jetzt, wo dein Weib einem freudigen Ereignis entgegensieht, gibt es doch vernünftigerweise kein Schwanken.«
Dorothea warf Daniel einen bösen Blick zu.
»Ich will mir's überlegen,« sagte Daniel, erhob sich und ging aus dem Zimmer.
»Es ist ihm unbequem,« grollte Dorothea; »seine Bequemlichkeit geht ihm über alles. Aber ich werd ihn schon dazu bringen, Vater; tu nur, was du tun kannst, er wird sich nicht sperren.«
Somit lag es am Tage, daß Daniel der Geheimnisvolle und Unergründliche längst nicht mehr für sie war. Sie hatte ihn geöffnet, sie hatte ihn erraten, nach ihrer Weise freilich. [534] Es war viel einfacher gewesen, als sie gedacht, und sie zürnte ihm, daß er ihrer Neugier ein so nahes Ziel gesteckt hatte. Was sie für interessant, für aufregend, für berauschend gehalten, hatte sich als etwas ganz Simples und Gewöhnliches entpuppt; es waren gar keine Reize mehr da, und das einzig Spannende lag noch darin, durch ihre Jugend, durch ihre Sinne eine ausschließliche Herrschaft über ihn zu erlangen.
Daniel spürte es, daß sie enttäuscht war; er hatte Angst davor gehabt. Die Angst wuchs, denn alles, was er tat und sagte, vermehrte ihre Enttäuschung sichtlich. Aus Angst wurde er nachgiebig, wo er früher unerbittlich gewesen wäre. Der Unterschied der Jahre machte ihn geduldig und jeder Einrede fügsam; er fürchtete, ihr nicht so viel Liebe geben zu können, wie sie in ihrer Frische und natürlichen Derbheit begehrte, deshalb verzichtete er auf manches, was er vordem nicht hätte entbehren, ertrug er manches, was er vordem nicht hätte ertragen können.
Es bedurfte nur einer Stunde in der Nacht, und Dorothea hatte ihm die Zusage abgeschmeichelt, daß er die Stelle des alten Herold übernehmen werde. Er, so karg an Worten wie in der Äußerung von Gefühlen, erlag dem kätzchenhaften Anschmiegen, dem übermütigen Spott, der prickelnden Hurtigkeit eines jungen Leibes. Da walten dunkle Mächte, die zwischen Mann und Weib Abhängigkeiten stiften; da ist nichts berechenbar, nichts mehr dem angeborenen Wesen gemäß, da kann, in einer Stunde der Nacht, die heiligste Wahrheit eines Lebens zur Lüge umgebogen werden.
Es erwies sich auch als notwendig, daß Daniel für eine Vermehrung des Einkommens Sorge trug. Dorothea hatte viele neue Anschaffungen gemacht. Sie hatte einen Toilettetisch, [535] ein paar Schränke und eine Badewanne gekauft. Lampen, Gläser, Vorhänge, Decken waren ihr zu unmodern gewesen, und sie hatte sie durch schönere ersetzt.
Ihr Hauptvergnügen war, in die Geschäfte zu gehen und einzukaufen. Dann kamen die Rechnungen, und Daniel schüttelte den Kopf. Er bat sie eindringlich, sich zu beherrschen, aber sie hing sich ihm an den Hals und bettelte so lange, bis er sich in jeden ihrer Wünsche seufzend ergab.
Mit leeren Händen kam sie selten heim. Und wenn es nur ein paar billige Nippsachen waren, ein Männchen aus Porzellan mit Zylinder und Regenschirm, oder eine Pagode mit einem Wackelkopf, sogar eine Mausefalle konnte es sein, aber Geld mußte sie ausgeben.
Dann wurde Philippine herbeigerufen; Philippine sollte bewundern. Und Philippine sagte scheinbar entzückt: »So was Liebes aber auch! Gott, wie lieb!« Oder: »Grad eine Mausfall brauchen wir; gestern nacht war eine Maus auf'm Spülrahm, Ehr und Seligkeit, Daniel.«
Und die Hüte, die Kleider, die Strümpfe und Schuhe, die Spitzen und Blusen, darin hatte Dorothea kein Maß und keine Bescheidenheit. Sie wollte mit den reichen Bürgersfrauen wetteifern, deren Kaffeekränzchen sie besuchte, neben denen sie im Theater und in der Konditorei saß.
Für die Theater und Konzerte bekam sie Freikarten. Aber einmal, als sie zu Daniel sagte, der Direktor habe ihr eine Freikarte geschickt, erfuhr er von Philippine, daß sie sich die Karte gekauft habe. Er stellte sie nicht zur Rede, aber es ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, daß sie geglaubt hatte, ihn belügen zu müssen.
Er begleitete sie nicht zu ihren Vergnügungen; er wollte bei der Arbeit bleiben und selbst die kleinste Ausgabe nicht durch sein Mittun verdoppeln. Dorothea hatte sich darein gefunden. Seine Abneigung gegen das Theater und die geselligen Zerstreuungen nahm sie für Schrulligkeit und [536] Grillenfängerei. Sie erwog nicht, was an Erfahrung hinter ihm lag, sie hatte vergessen, was er ihr in einer entscheidenden Stunde gebeichtet.
Wenn sie spät abends mit glühenden Wangen und blitzenden Augen nach Hause kam, fand Daniel den Mut nicht zu der ernsten Mahnung, mit der er ihr entgegentreten gewollt. Weshalb sie aus ihrem Himmel reißen? dachte er, die wilde Lust wird sich schon legen.
Er hatte Angst vor ihrer schmollenden Miene, vor ihren Tränen, vor ihrem ratlosen Blick, vor ihrem trotzigen Hinausgehen. Aber es fehlte ihm auch das Wort. Er kannte die Vergeblichkeit von Vorhaltungen und Vorwürfen; leeres Räsonieren war ihm unleidlich, und seine menschliche Rede blieb ohne Widerhall. Sie faßte den Ton nicht, sie mißdeutete alles, mißverstand alles. Sie lachte, zuckte die Achseln, grollte, schalt ihn einen Brummbären, gurrte wie eine Taube; sie schaute ihn nicht mit wirklichen Augen an, keine flutende Seele war zu spüren.
In seinem Gemüt wurde es finster.
Der Verbrauch im Haushalt stieg von Woche zu Woche. Daniel wäre sich als ein Krämer erschienen, wenn er seine Ersparnisse vor seinem Weib verborgen, ihr nur in verrechneten Beträgen davon gegeben hätte. Und so war alles Geld bald dahin. Um die Wirtschaft kümmerte sich Dorothea kaum; sie erteilte ihre Befehle und geriet in Zorn, wenn sie von Philippine nicht pünktlich ausgeführt wurden.
»'s is ihr halt zu fad; mein Gott, so eine junge Person,« sagte Philippine mit hinterhältigem Bedauern zu Daniel; »die will sich erlustiern, die will ihr Leben genießen, mein Gott, das kann ihr der Feind nicht verdenken.«
Philippine war die Herrin im Hause. Sie ging auf den Markt, bezahlte die Rechnungen, beaufsichtigte die Kochfrau und Waschfrau und frohlockte heimlich, als sie merkte, wie alles bergab ging, unaufhaltsam bergab.
Als die Schwangerschaft vorschritt, verließ Dorothea nur noch selten das Haus. Sie blieb bis um elf Uhr vormittags im Bette, dann frisierte sie sich umständlich, hielt Musterung unter ihren Kleidern und schrieb Briefe.
Sie hatte eine seltsam ausgebreitete Korrespondenz, und die Empfänger der Briefe rühmten ihren amüsanten Stil.
Nach Tisch legte sie sich wieder ins Bett, und spät am Nachmittag kamen Besuche, nicht nur Frauen, sondern auch allerlei junge Männer. Meist wußte Daniel gar nicht, wie die Leute hießen. Er zog sich dann in die Kammer zurück, wo Lenore einst gehaust hatte, und hörte Gelächter und lautes Reden über die Stiege heraufschallen.
Des Abends war Dorothea müde; ein wenig verdrossen saß sie im Schaukelstuhl und las die Zeitung oder die »Wiener Mode«.
Daniel hoffte zuversichtlich, daß all dies nach der Geburt des Kindes besser werden, daß Muttergefühl, Mutterpflicht belehrend und bekehrend wirken würde.
Im Spätherbst brachte Dorothea einen Knaben zur Welt, der auf den Namen Gottfried getauft wurde. Sie konnte sich nicht genug tun an Überzärtlichkeit; ihr Entzücken äußerte sich in kindischen Ausdrücken.
Sechs Tage lang reichte sie dem Säugling die Brust; als es kein Spiel mehr sein konnte und die Freundinnen sie warnten, wurde sie des Stillens überdrüssig. »Es verdirbt einem die Figur,« sagte sie zu Philippine, »Kuhmilch ist so gut wie Menschenmilch, wenn nicht besser.«
Philippine sperrte Mund und Augen auf, als Dorothea mit nacktem Oberkörper vor den Spiegel trat und ihr Ebenbild mit einem Ernst anschaute, der sonst nie an ihr zu bemerken war.
[538] Dorothea wurde kalt gegen ihr Kind, und es schien, als habe sie vergessen, daß sie Mutter war. Der Säugling lag bei Philippine und Agnes in der Stube, und beide pflegten ihn an Stelle der Mutter.
Wie wenn sie Versäumtes nachholen und sich entschädigen müßte für die Leiden und Beschwerden der vergangenen Zeit, stürzte sich Dorothea mit gesteigerter Gier in Vergnügungen. Bald aber fand sie sich durch Geldmangel auf allen Seiten gehemmt. Gütig und fest stellte ihr Daniel vor, daß die Gehälter, die er als Organist und als Lehrer bezog, gerade für das Hauswesen reichten und er seine eignen Bedürfnisse ohnehin so viel wie möglich beschränke, um es in der bisherigen Wohlhäbigkeit weiterzuführen. »Wir sind keine Bürger,« sagte er, »und daß wir nicht ganz von Zufalls Gnaden leben, ist eher mein Makel als mein Vorzug.«
»Och, du Knauser,« schmollte Dorothea. Häßliche Falten zeigten sich auf ihrer Stirn. »Hättest du mir nicht meine Kunst verekelt, so könnt ich auch was verdienen,« fügte sie hinzu.
Er sah stumm zu Boden. Sie aber sann auf Mittel und Wege, um zu Geld zu kommen. Onkel Carovius, der könnte mir helfen, dachte sie. Sie ging nun oft zu ihrem Vater ins Haus und wartete eine Weile vor der Stiege, ob sich Herr Carovius nicht zeigen würde. Eines Tages trat er endlich aus seiner Tür; sie wollte grüßen, wollte freundlich lächeln, aber ein einziger Blick in dieses von einem gefrorenen Ingrimm erfüllte Gesicht belehrte sie darüber, daß jeder Versuch, den Alten umzustimmen, fruchtlos war.
Der Zufall ließ sie auf dem Heimweg Edmund Hahn begegnen. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie verheiratet war. Der Schauspieler schien hocherfreut, sie zu treffen. Sie gingen zusammen weiter, und es entwickelte sich ein eifriges Gespräch, das zuerst laut, dann immer leiser geführt wurde.
An dem Tag, an welchem Dorothea geheiratet hatte, war Herr Carovius zum Notar gegangen, um das Testament, das er in der Nacht zuvor niedergeschrieben, beglaubigen zu lassen. In diesem Testament hatte er sein ganzes Barvermögen, das Haus und sämtliche Mobilien einer nach seinem Tod zu errichtenden Erziehungsanstalt für adelige Waisen vermacht. Zum Protektor des Instituts wie zum Verwalter des Nachlasses war der Freiherr Eberhard von Auffenberg bestimmt.
Von der Musik wollte Herr Carovius nichts mehr wissen. Der lange schmale Flügel, den er hatte, bekam eine Lederhülle und glich einem ausgestopften Tier. Seiner Leidenschaft für die Kunst gedachte er wie einer jugendlichen Verirrung, doch daß er seinen Geist kasteite, blieb ihm dabei, oft bis zum Schmerz, trotzig bewußt.
Recht eigentümlich war die Beschäftigung, der er sich ergab, um nicht in Langeweile zu verkommen. Er durchsuchte nämlich alle Bücher seiner Bibliothek nach Druckfehlern. Viele Stunden des Tages widmete er dieser Arbeit, las die wissenschaftlichen Werke und die der schönen Literatur mit einer nur am Buchstaben haftenden Aufmerksamkeit, und wenn es ihm gelungen war, ein falsch gesetztes Wort oder gar einen grammatikalischen Schnitzer zu entdecken, war ihm wie einem Fischer zumut, dem nach langem Harren endlich ein Fisch an der Angel zappelte.
Sonst war es trübselig um ihn bestellt. Der schöne Gleichschnitt seiner Haare am Nacken hatte sich in eine struppige Wildnis verwandelt; auf der Straße sah man ihn mit einem Rock voll Flecken, und der Kalabreser hatte Ähnlichkeit mit einem zerschossenen Kriegszelt.
Er hatte sich wieder angewöhnt, zwei- oder dreimal wöchentlich ins Paradieschen zu gehen, nicht etwa, um sich [540] wehmütigen Erinnerungen zu überlassen, sondern weil dort der Kaffee noch zwanzig Pfennige kostete, nicht fünfundzwanzig, wie in den neumodischen Kaffeehäusern. Und sein ganzes Abendbrot bestand aus einer Schale Kaffee und ein paar Semmeln.
Es fügte sich, daß auch der alte Jordan das Paradieschen zu seiner Zuflucht wählte. Lange Zeit studierten sich die beiden von Tisch zu Tisch, dann kam ein Tag, wo sie sich zueinander setzten, zuletzt wurde es die Regel, daß sie sich in der Ecke beim Ofen zusammenfanden, und ohne daß sie mehr als die äußerlichsten und plattesten Redensarten wechselten, entwickelte sich zwischen den beiden einsamen Greisen eine stille Kameradschaft.
Herr Carovius gab sich zwar den Anschein, als ob er den alten Jordan bloß dulde; doch vertiefte er sich erst dann in die Lektüre der Zeitung, wenn dieser gekommen war und sich mit achtungsvollem Gruß an das winzige Tischchen gesetzt hatte. Jordan seinerseits verhehlte nicht seine Freude, Herrn Carovius auf dem Stammplatz zu sehen, und während er seine Tasse Kaffee schlürfte, ließ er die Augen nicht von dem bösen Gesicht seines Gegenübers.
Philippine wurde Dorotheas Vertraute.
Anfangs war es nur die Lust am Schwatzen gewesen, die Dorothea zu Philippine hindrängte; später gewöhnte sie sich daran, ihr alles zu sagen. Vor ihr konnte sie sich schmucklos geben. Die regungslose Aufmerksamkeit, mit der ihr Philippine zuhörte, schmeichelte ihr und benahm ihr jeden Argwohn. Sie hielt Philippine für zu dumm und ungebildet, als daß sie sie fähig glaubte, ihr Treiben zu überschauen und zu beurteilen.
[541] Es reizte sie, dem alten Mädchen, das so ergötzlich über die Mannsbilder zu schimpfen wußte, verführerische Bilder auszumalen. Wenn sie einen kecken Plan hatte, sprach sie mit Philippine darüber wie von etwas Geschehenem; auf diese Art prüfte sie die Möglichkeit der Ausführung und verschaffte sich einen Vorgeschmack des Genusses.
Hauptsächlich war es Philippines Häßlichkeit, die sie sorglos stimmte. Ein so häßliches Geschöpf war in ihren Augen kein Weib, kaum ein Mensch, und mit ihm konnte man alles reden, was einem durch den Kopf ging. Und da Philippine nie anders als wegwerfend und höhnisch von Daniel sprach, wurde Dorothea immer argloser.
Sie kam zu Philippine in die Küche, setzte sich auf das Bänkchen und erzählte; von einem Seidenkleid, das sie in einer Auslage gesehen hatte; von den Elogen, die ihr der Hofrat Finkeldey gemacht; von den Liebesverhältnissen dieser und der Ehescheidung einer andern Bekannten; von den Perlen der Kommerzienrätin Feistmantel, und daß sie zehn Jahre ihres Lebens dafür gäbe, wenn sie auch solche Perlen hätte. Das Auch war überhaupt ihr großes Wort. Alles in ihr zitterte und dampfte vor Begierden und Wünschen, von niederer Unruhe und trüber Lust.
Oft erzählte sie Geschichten aus ihrer Münchener Zeit. Wie sie eines Nachts, des Schabernacks halber, mit einem Maler in sein Atelier, und einmal zu einem Offizier in die Kaserne gegangen sei; was für schöne, stramme Leute ihr da die Cour geschnitten; alle hinter ihr her und sie, eh die Schafsköpfe sich besonnen, um die Ecke. Ein Kuß, das wohl; ein Kuß in der Dunkelheit; ein Arm- in Armliegen in einem Wäldchen, mehr nicht. Zur rechten Zeit Polizeistunde, das dürfe man bei solchen Sachen nicht vergessen, sonst könne es schief gehen. Zum Beispiel sei da ein schwarzer Italiener gewesen, ein richtiger Conte, der habe ihr nachgestellt wie verrückt. Einmal sei er in ihr Zimmer gestürzt und habe ihr [542] einen Revolver vor die Stirn gehalten, da habe sie geschrien, daß das ganze Haus zusammengelaufen sei.
Als Daniel sich bemühte, ihrer Verschwendungssucht zu steuern, erhob sie bei Philippine Klagen darüber. Philippine hetzte sie auf. »Laß dir's nicht gefallen,« sagte sie, »einen Geizkragen hätt'st du mit deiner Visage nicht zu heiraten brauchen.«
Auch als sie wieder mit Edmund Hahn verkehrte, berichtete sie es Philippine. »Den solltest du mal sehen, Philippine,« flüsterte sie geheimnisvoll, »das ist ein wahrer Don Juan, verdreht allen Weibern die Köpfe.« Seit zwei Jahren schon sei er närrisch in sie verschossen, jetzt habe er ihr zugesagt, in einem Spielklub für sie zu spielen, einem intimen Zirkel, wo nur ganz vornehme Leute verkehrten. »Wenn ich gewinn, Philippine, schenk ich dir was Hübsches,« versprach sie.
Von da an wurden ihre Erzählungen ziemlich wirr. Sie war viel vom Hause weg, und wenn sie heimkehrte, war sie nicht selten in einem aufgelösten Zustand. Sie ließ sich von Philippine für die Nacht frisieren, und was sie sagte, war gelogen. Einmal aber gestand sie, daß sie nicht im Theater gewesen, wie Daniel annahm, sondern bei einer Frau Bäumler, einer Freundin Hahns, bei der auch gespielt wurde. Sie habe sechzig Mark gewonnen. Scheu blickte sie nach der Tür, zog ihre Börse heraus und zeigte Philippine drei Goldstücke.
Philippine mußte schwören, daß sie Dorothea nicht verraten würde. Ein paar Tage danach wurde Dorothea wieder besorgt, und Philippine mußte den Schwur erneuern. Philippine schwor mit einer Leichtigkeit und Gefälligkeit, als wünsche sie gute Mahlzeit. Im Innern erteilte sie sich während des Eides Absolution für den Meineid. Einstweilen wollte sie sammeln, sich alles merken, dem Wild auf allen Fährten folgen; zudem lag für sie eine Befriedigung finsterer Sinnentriebe darin, von Verhältnissen und Situationen zu erfahren, die ihr nie zum Erlebnis werden konnten.
[543] Immer tiefer verstrickte sich Dorothea. Ihre Augen waren wie Irrlichter, ihr Lachen klang flüchtig und krampfhaft. Sie hatte nie Zeit, nicht für ihren Mann, nicht für ihr Kind. Bisweilen wurden ihr durch Boten Briefe gebracht, die sie gierig las und schnell zerriß. Einmal trat Philippine unerwartet ins Zimmer, da versteckte sie erschrocken eine Photographie, die sie in der Hand gehalten hatte. Als Philippine über die Heimlichkeit entrüstet war, sagte Dorothea schnippisch: »Das verstehst du nicht, Philippine, davon kann ich mit niemand sprechen.«
Aber Philippines Verdrossenheit setzte sie in Angst. Sie zeigte ihr die Photographie. Es war das Bild eines jungen Mannes, der kalt und mürrisch dreinblickte. Dorothea sagte, es sei ein Amerikaner, den sie bei der Bäumler kennen gelernt; er sei steinreich und alle seien ganz weg von ihm.
Jeden Abend wollte nun Philippine etwas vom Amerikaner wissen. »Erzähl vom Amerikaner,« drängte sie.
Eines Abends, schon spät, kam Dorothea im Nachtkleid zu Philippine in die Stube. Agnes und der kleine Gottfried schliefen. »Morgen hat der Amerikaner eine Loge im Theater, wennst mich abholst, kannst ihn sehen,« raunte sie.
»Ich halt's schon nicht mehr aus vor Neugier,« erwiderte Philippine.
Eine Weile saß Dorothea stumm, dann rief sie aus: »Wenn ich Geld hätt, Philippinchen, wenn ich nur Geld hätt!«
»Hab gemeint, der Amerikaner hat so viel,« versetzte Philippine trocken.
»Natürlich, der hat Geld wie Heu,« sagte Dorothea, und ihre Augen loderten, »aber –«
»Was, aber?«
»Denkst du denn, die Männer tun umsonst was?«
»Ach so,« machte Philippine nachdenklich, »ach so.« Sie kauerte sich auf einen Schemel zu Füßen Dorotheas. »Wie hübsch du bist, wie niedlich,« schnarrte sie mit ihrer Baßstimme; [544] »was für zierliche Füßli du hast! Und wie glatt das Fleisch ist, Marmorstein ist nix dagegen.« Mit einer grauenhaften Lüsternheit legte sie ihre Hand um Dorotheas Bein und streichelte die Haut bis zum Knie hinauf.
Dorothea schauderte zusammen. Als sie zu der hockenden Philippine niederblickte, sah sie, daß an deren Jacke ein Knopf gerissen war; durch die Öffnung gewahrte sie zwischen den schlaffen Brüsten etwas Braunes. »Was hast du denn da am Leibe?« fragte Dorothea.
Über Philippines Gesicht schoß eine jähe Röte. »Nix für dich,« antwortete sie rauh und hielt die Jacke mit der Hand zu.
»So sag's doch, Philippinchen, sag's doch,« bettelte Dorothea, die es nicht ertrug, wenn man Geheimnisse vor ihr hatte; »ist's vielleicht dein Brautschatz? Hast dir deinen Busen als Sparkasse eingerichtet?« Sie lachte belustigt.
Philippine erhob sich. »Ja, es ist mein Geld,« bekannte sie mit Widerstreben und schaute Dorothea feindselig an.
»Sicher ist's eine ganze Masse. Gib nur acht, daß dir's keiner stiehlt. Mußt dich auf den Bauch legen beim Schlafen.«
Daniel kam von der Arbeitsstube herunter und hörte Dorotheas Lachen. Dunkler Kummer fraß an seinem Herzen, und er schritt eilig an der Tür vorüber.
Eines Abends trat Philippine von der Straße in den Flur, da kam ihr aus dem Schatten ein Mann entgegen, der sie beim Namen rief. Die Stimme erschien ihr bekannt, und als sie näher hinschaute, sah sie, daß es ihr Vater war.
Seit zehn Jahren hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Hin und wieder hatte sie ihn auf der Gasse von fern gesehen, war ihm aber in weitem Bogen aus dem Weg gegangen.
[545] »Was gibt's?« fragte sie unfreundlich.
Jason Philipp räusperte sich und suchte aus dem beleuchteten Teil des Flurs wieder in den unbeleuchteten zu gelangen. Er wollte seinen schäbigen Anzug vor den Augen seiner Tochter verbergen.
»Na, hör mal, du,« begann er mit erzwungener Unbefangenheit, »du könntest dich auch hin und wieder nach deinen Eltern umsehen; die paar Schritte täten dir keinen Beinbruch zuziehen. Ehre Vater und Mutter, damit es dir wohlergehe. Deine Mutter hat's schließlich um dich verdient; ich selbst, na, ich hab dich zuzeiten ein bißchen gezwiebelt, aber nur wenn's dringend nötig war. Ein Racker warst du ja, das mußt du zugeben.«
Er lachte, jedoch seine Äuglein glänzten furchtsam. Philippine schwieg.
»Was ich sagen wollte,« fuhr Jason Philipp eilig fort, wie um keine feindseligen Erinnerungen in seiner Tochter entstehen zu lassen, »leih mir mal ein kleines Goldstück. Hab morgen früh eine dringende Zahlung zu leisten und bin ganz auf dem Trockenen. Die Jungens, weißt du, deine Brüder, sie benehmen sich ja sonst tadellos, geben mir am Monatsersten gewöhnlich von ihrem Salär was ab; wegen so ner Lappalie mag ich sie aber nicht behelligen. Da hab ich gedacht, weil du so in der Nachbarschaft bist, könnt ich dich ja auch mal bitten.«
Jason Philipp log. Seine Söhne unterstützten ihn nicht. Willibald lebte in Breslau, hatte einen geringbezahlten Buchhalterposten und schlug sich kümmerlich durch; Markus war ein Tunichtgut und steckte bis über die Ohren in Schulden.
Nachdem Philippine eine Weile überlegt hatte, wies sie ihren Vater an, zu warten und ging die Stiege hinauf. Jason Philipp stellte sich unters Tor und pfiff leise. Seit er in edlem Geistesaufruhr die staatlichen Gewalten bekriegt hatte, waren viele Jahre verflossen; und viele Jahre [546] auch, seit er seinen Frieden mit ihnen gemacht hatte. Nichtsdestoweniger pfiff er noch immer die Marseillaise.
Philippine polterte die Stiege herunter, schlurfte zum Tor und gab ihrem Vater ein Fünfmarkstück. »Da,« fuhr sie ihn an, »mehr hab ich selber nicht.«
Aber Jason Philipp war auch mit der Hälfte der geforderten Summe zufrieden. Er konnte nun wieder einmal ins Gasthaus zum Essigbrätlein gehen und zu frischem Bier ein Paar Weißwürste verzehren.
Von da an kam er öfter in das Haus am Egydienplatz, lauerte im Flur auf Philippine und bat sie um Geld. Mit immer kleineren Beträgen speiste ihn Philippine ab; zuletzt gab sie ihm nur noch zehn Pfennige, wenn er kam.
Häufig geschah es, daß Daniel gar nicht antwortete, wenn man eine Frage an ihn richtete. Sein Ohr verlor die Worte, sein Auge die Bilder, die Zeichen, die Gesichter, die Gebärden. Er war sich selbst im Wege, sich selbst eine Qual.
Dahin trieb es ihn, dorthin; heim trieb es ihn und wieder fort. Flüchtig gewahrte er, daß Menschen über ihn lächelten, spürte, daß sie hinter ihm die Achseln zuckten. In den Mienen seiner Schüler las er Spott; die Mägde im Haus kicherten, wenn er vorüberging.
Was konnten sie wissen? was verhehlen? Vielleicht war seinem Innersten nicht unbekannt, was sie wußten und verhehlten, aber er wollte es nicht in den Bereich der benennbaren Dinge treten lassen.
Als ob ein unsichtbarer Ohrenbläser ihm nicht von der Seite wiche, wuchs eine stille Verzweiflung. Was hast du getan, Daniel, schrie es in ihm, was hast du getan! Die schwesterlich umschlungenen Schatten standen auf.
[547] Das Gefühl eines nicht wieder gut zu machenden Irrtums, einmal zur Gewißheit geworden, brannte wie Feuer. Das Werk, so nah der Vollendung, starb ihm plötzlich ab.
Um des Werkes willen zwang er sich in den Nächten zur Ruhe, gab zaghafter Hoffnung Raum, lullte sein ahnungsvolles Gemüt ein.
Der Blick, mit dem ihn Philippine betrachtete, peinigte ihn am ärgsten.
Seit der Geburt des Kindes wohnte er in Lenores Kammer. Der alte Jordan war die Rücksicht selbst und ging in seiner Stube auf Strümpfen, um ihn nicht zu stören.
Eines Nachts ging Daniel hinunter und trat mit der Kerze in der Hand an Dorotheas Bett. Sie erwachte, stieß einen Schrei aus, schaute verstört, dann erkannte sie ihn und war ungehalten; schließlich lachte sie spöttisch und sinnlich.
Er setzte sich an den Rand des Bettes und nahm ihre rechte Hand zwischen seine beiden. Doch es war ihm auf einmal so eigen unbehaglich, ihre Hand zu spüren, und er sah die Finger an. Sie waren ohne Feinheit in der Form, an den Spitzen dicker als in der Mitte; sie konnten nicht ruhig liegen, beständig zuckten sie.
»Es geht so nicht weiter, Dorothea,« sprach er liebreich, »du zerstörst deine und meine Existenz. Was sollen die vielen Menschen um dich? Ist denn dein Vergnügen an ihnen so groß, daß es dein Gewissen übertäubt? Ich weiß nicht, was du treibst. Sag mir doch, was du treibst. Die Wirtschaft verkommt, es ist keine Ordnung mehr. Wie's da draußen im Wohnzimmer nach Zigarrenrauch riecht! Ich hab die Fenster aufgemacht. Und dein Kind; es entbehrt die Mutter. Schau dir doch sein Gesichtchen an, wie kränklich und gelb es ist.«
»Och, da kann ich nichts dafür, die Philippine tut ihm Mohn in die Milch, damit es langer schläft,« antwortete Dorothea nach der Art schuldiger Weiber, aus vielen Vorwürfen [548] einen herauszugreifen, der ihnen ungerecht dünkt. Aber diese Antwort brachte Daniel zum Verstummen.
»Ich bin so müd und schläfrig,« klagte Dorothea und schielte wieder mit dem spöttischen und sinnlichen Ausdruck nach ihm. Da er regungslos blieb, gähnte sie laut und fuhr ärgerlich fort: »Was weckst du einen denn mitten in der Nacht, wenn du bloß schimpfen willst? Geh doch hinaus, du ekelhafter Mensch!«
Sie kehrte ihm den Rücken und stützte den Kopf auf die Hand. Dem Bett gegenüber hing ein goldgerahmter Spiegel. Sie erblickte ihr Bild darin, sie gefiel sich in ihrer beleidigten Haltung und begann zu lächeln.
Daniel, der so hart und grausam gegen edle, nun zu Schatten gewordene Wesen hatte sein können, sah, wie sie sich verliebt anlächelte, im Spiegel, und fühlte Erbarmen mit dieser kindlichen Eitelkeit.
»Es gibt ein chinesisches Märchen von einer Prinzessin,« sagte er und beugte sich über Dorothea, »die bekam von ihrer Mutter als Brautgabe eine Garnitur von Schachteln. In jeder Schachtel war ein kostbares Geschenk, nur die letzte, innerste, kleinste Schachtel war zugesperrt, und die Prinzessin mußte versprechen, sie niemals zu öffnen. Eine Weile hielt sie das Versprechen, aber die Neugier quälte sie immer heftiger, sie vergaß ihr Gelöbnis und machte die letzte, kleine Schachtel mit Gewalt auf. Da war ein Spiegel drinnen, und als sie nun ihr Bild erblickte und sah, wie schön sie war, fing sie an, ihren Gatten schlecht zu behandeln, und quälte ihn so, daß er sie eines Tages tötete.«
Erschrocken starrte ihn Dorothea an. Dann lachte sie und erwiderte: »Och, wie dumm! Solche Schauergeschichte.« Sie legte die Wange auf das Kissen und blinzelte wieder in den Spiegel.
Am andern Morgen erhielt Daniel einen anonymen Brief folgenden Inhalts: »Haben Sie acht auf Ihre Frau, denn Sie erweisen dadurch Ihrer Ehre einen Dienst. Ein [549] Gutgesinnter.« Er zerriß den Brief und warf die Fetzen in den Ofen.
Ein kaltes Fieber schüttelte ihn. Ein paar Tage lang schleppte er sich wie mit vergiftetem Körper herum, allen im Hause wich er aus; eines Nachts wieder trieb es ihn neuerdings zu Dorothea. Als er in ihr Schlafzimmer treten wollte, fand er die Türe zugeriegelt. Er klopfte und bekam keine Antwort. Er klopfte stärker, da rührte es sich in den Kissen drinnen. »Laß mich schlafen!« rief Dorothea zornig.
»Mach auf, Dorothea!« bat er.
»Nein, ich mach nicht auf, ich will schlafen,« schallte es heraus.
Noch drei- oder viermal drückte er auf die Klinke, drei- oder viermal flehte er, daß sie ihn einlassen möge, aber sie gab keine Antwort. Da wollte er nicht weiter lärmen, stand noch eine Weile und schaute vor sich hin wie in ein schwarzes Loch und kehrte dann in seine Dachkammer zurück.
Friedrich Benda befand sich wieder in Europa. Alle Zeitungen hatten die Auffindung des Forschungsreisenden gemeldet. Im Herbst des vergangenen Jahres hatten ihn arabische Elfenbeinhändler im Lande der Niam-Niam getroffen, hatten sich seiner angenommen und den schwer Erkrankten zum Nil transportiert. In England wurde er als Held und kühner Pionier gefeiert, die Geographische Gesellschaft ernannte ihn zu ihrem Ehrenmitglied, und seine Erlebnisse bildeten das Tagesgespräch.
Ende April kam er nach Nürnberg, um seine Mutter zu besuchen. Man hatte die blinde Greisin mit äußerster Behutsamkeit vorbereitet; dennoch erlag sie fast der Freude, und eine Zeitlang war ihr Leben in Gefahr.
[550] Benda hatte nur eine Woche bleiben gewollt; seine Geschäfte und seine Arbeiten riefen ihn nach London zurück; er sollte Vorträge halten und den Druck eines Buches überwachen, in dem er die in Afrika verbrachten Jahre geschildert hatte.
Die inständigen Bitten seiner Mutter bewogen ihn, seinen Aufenthalt zu verlängern. Zudem erlitt er gleich in den ersten Tagen einen Anfall jenes furchtbaren Fiebers, das er aus den Tropen mitgebracht hatte, und das ihn das Bett zu hüten zwang. Allmählich verbreitete sich in der Stadt das Gerücht von seiner Anwesenheit, und er wurde durch die Neugierde vieler belästigt, die sich vordem nicht im mindesten um ihn gekümmert hatten.
Zu Daniel zog ihn eine tiefe Unruhe, und jede versäumte Stunde wurde zum Vorwurf. Aber seine Mutter wollte ihn tagsüber nicht von ihrer Seite lassen; er mußte immer bei ihr sitzen und erzählen.
Als er von den äußeren Ereignissen hörte, die sich in Daniels Leben abgespielt, erfüllte ihn Schrecken. Den stärksten Eindruck übte auf ihn die Kunde von seiner Verheiratung mit Dorothea Döderlein. Dann trug man ihm allerlei Nachrichten über die Ehe der beiden zu, und mit jedem Tag dünkte ihn der Gang zu Daniel schwerer. Eines Abends hatte er sich entschlossen, hinzugehen und befand sich schon auf dem Egydienplatz, da überfiel ihn eine solche Furcht vor der Veränderung, die durch Zeit und Schicksale mit dem Freund geschehen sein mochte, daß er wieder umkehrte. Es war ihm zumut, als könne er durch ein Bild getäuscht werden, das vielleicht noch die Züge des Daniel aus vergangenen Jahren zeigte, aber so verwandelt im Innern war, daß Worte nicht mehr imstande waren, sie zueinander zu führen.
Es verlangte ihn, mit einem Menschen zu sprechen, der Daniel liebte und seinen Weg mit reinen Gesinnungen begleitet hatte. Da mußte er freilich lange Umschau halten. [551] Endlich fiel ihm der alte Herold ein, und er besuchte ihn. Ohne Umschweife lenkte er die Unterhaltung auf den Punkt, der ihm wichtig war, und um den Alten vertrauensvoller zu stimmen, erinnerte er ihn an eine Nacht, wo sie selbdritt, Daniel, Herold und Benda, im Mohrenkeller Wein getrunken und von kleinen und großen Dingen des Lebens gesprochen hatten.
Der Greis nickte. Mit einer Bescheidenheit und Ehrfurcht, die Benda das Herz weit machte, sprach er von Daniels Genie. Er hob den Zeigefinger und sagte mit seinem schönen Feuerblick: »Für den steh ich ein. Da prophezei ich nach dem Wort der Bibel: Es wird ein Stern aufgehen aus Jakob.«
Dann schwärmte er von Lenore, erzählte, wie sie ihm einst das herrliche Quartett gebracht und von Begeisterung und Helferdrang geglüht habe. Auch von Gertrud wußte er manches, von ihrer Verstörung und von ihrem Tod.
Zugleich beruhigt und noch schmerzlicher aufgewühlt verließ Benda den Alten. Gedankenvoll schritt er lange Zeit dahin. Als er emporschaute, befand er sich vor Daniels Haus. Er ging hinein.
Daniel wußte, daß Benda zurückgekehrt war. Philippine hatte es in der Zeitung gelesen und ihm gesagt. Dorothea, die es von ihrem Vater erfahren, hatte gleichfalls darüber gesprochen. Auch andere Leute hörte er davon reden.
Die erste Kunde hatte ihn erbeben gemacht. Ihm war, als müsse er hineilen, hinfliehen zu dem Freund. Dann kam die nämliche Furcht über ihn, von der Benda beseelt war: Ist es noch zwischen uns wie einst? kann es noch so werden, wie es einst gewesen? Und der Gedanke an die Begegnung erweckte eine Scham in ihm, der sich Bitterkeit beimischte, als Tag um Tag verging, ohne daß Benda etwas von sich[552] hören ließ. Es ist vorbei, dachte er, er hat vergessen. Da wollte auch er vergessen, und er konnte es, denn sein Geist wandelte ruhlos in der Irre.
Als er an einem Regenabend über den Platz schritt, sah er, daß die Fenster seiner Wohnung strahlend erleuchtet waren. Er trat in die Küche, wo Agnes an der Anricht saß und Zwetschgen auskernte.
»Wer ist denn wieder da?« fragte er. Lautes Sprechen und Lachen drang aus der Wohnstube.
Agnes, kaum aufblickend, leierte Namen her: »Der Hofrat Finkeldey, der Herr von Ginsterberg, der Herr Samuelsky, der Herr Hahn, noch ein fremder Herr, die Kommerzienrätin Feistmantel und ihre Schwester.«
Daniel schwieg eine Weile. Dann ging er zu Agnes, faßte sie mit der Hand unter dem Kinn, hob ihren Kopf und murmelte: »Und du? und du?«
Agnes zog die Brauen zusammen und war fast ängstlich bemüht, seinem Auge nicht zu begegnen. Plötzlich sagte sie: »Heut ist Mutters Sterbetag,« und heftete einen stechenden Blick auf ihn.
»So?« erwiderte Daniel, setzte sich an die schmale Seite der Anricht und stützte den Kopf in die Hand. Drinnen in der Stube spielte jemand Klavier; Dorothea hatte sich, da Daniel den Flügel oben in seiner Kammer hatte, aus einer Leihanstalt ein Pianino kommen lassen. Man hörte das rhythmische Schlürfen von Tanzpaaren.
»Möcht fort aus dem Haus,« begann Agnes wieder und warf eine wurmige Zwetschge in den Blechkübel; »in der Beckschlagergasse wohnt eine Weißnäherin, die will mich's Nähen lehren.«
»Geh nur fort,« antwortete Daniel, »ist ganz vernünftig. Aber wird's auch der Philippine recht sein?«
»Ja, der Philippine ist's recht, wenn ich nur am Abend und alle Sonntag bei ihr bin.«
[553] Es läutete am Gatter, und Agnes ging hinaus. Jemand fragte nach Daniel. Zögernd trat Daniel auf die Schwelle, zuckte zurück, ergriff mit bebender Hand das Küchenlämpchen, um zu sehen, ob ihn die Halbdunkelheit nicht trog; aber es war kein Zweifel, es war Benda.
Sie blickten einander erschüttert an. Benda streckte zuerst die Hand hin, Daniel gab die seine, es löste sich etwas in ihm, ein Schwindel befiel ihn, seine starr aufrechte Gestalt wankte, und er stürzte dem Freund, den er siebzehn Jahre lang entbehrt hatte, an die Brust.
Benda war auf eine so schreckliche Bewegung nicht gefaßt und konnte kein Wort hervorbringen. Alsbald machte sich Daniel los, strich die wirren Haare aus der Stirn und sagte hastig: »Komm mit mir hinauf; droben sind wir ungestört.«
Nachdem Daniel in seiner Kammer die Lampe angezündet hatte, sah er nach, ob der alte Jordan daheim sei. Aber es war finster in dessen Stube; er schloß die Tür wieder und setzte sich Benda tiefaufatmend gegenüber.
Was bedeuten nach solchem Wiedersehen erste Fragen und Antworten? Wie geht's dir? wie lange bleibst du? du lebst also noch in der alten Weise? nun mußt du aber erzählen. Was können solche Wendungen bedeuten? Es soll nichts gesagt werden; man gräbt die verschütteten Wege auf, will neue Brücken an Stelle der zerbrochenen schlagen.
Benda war noch dicker geworden. Sein Gesicht war braungelb wie altes Leder, und die tiefgehöhlten Furchen um den Mund und auf der Stirn sprachen von erduldeten Leiden und Strapazen. Sein Auge hatte einen völlig veränderten Ausdruck; es besaß den starken, lebhaften, dabei ruhigen Blick der Jäger und der Bauern.
»Du kannst dir denken, daß ich schon hundertmal und immer auf dieselbe Weise meine Abenteuer zum besten gegeben habe,« sagte Benda. »Es ist alles niedergeschrieben, [554] und in kurzer Zeit kannst du's lesen. Es war eine Kette von Mühsalen, oft war ich dem Tod so nah wie hier der Wand. Chinin hab ich vertilgt, so viel, daß man einen Frachtwagen damit füllen könnte, und trotzdem Fieber, immer wieder Fieber, sechs Monate im Jahr. Meine Gesundheit hab ich vertan, lang wird's das Herz nicht mehr aushalten, fürchte ich. Und das ewige Aufderhutsein, der unablässige Kampf um den Pfad, um Nahrung, um Wasser; die Sonne eine Plage, der Regen eine Plage, ohne Bequemlichkeit, oft ohne Bett, niemals eine Ansprache, nirgends Sicherheit. Aber schau ich jetzt zurück, so möcht ich doch keine Stunde von allen im Gedächtnis missen. Ich habe Großes erreicht, wichtige Entdeckungen gemacht, Arbeit für Jahre mitgebracht, sechsunddreißig Kisten mit Pflanzenpräparaten, obgleich mir die Ausbeute der sieben ersten Jahre in einem Zelt bei den Nembos verbrannt ist. Aber außerdem hat es so etwas unendlich Wahres und Feierliches, ein solches Leben, nur mit dem Himmel über sich und den wilden Menschen um sich. Diese Wilden, sie sind wie Kinder. Freilich wird's bald anders werden, Europa haucht schon seine Pest ins Paradies; ihre Unarten, Schwächen und Laster haben das Rührende wie beim Tier. Einen Knaben hatt ich mir mitgenommen, einen Zwerg aus dem ungeheuern Urwald nördlich vom Kongo. Er war mir ergeben auf den Wink, und ich hab ihn liebgehabt, das kann ich ruhig sagen. Als wir zu den italienischen Seen kamen, wo ich des klimatischen Übergangs wegen eine Weile bleiben wollte, eh ich nach England fuhr, ergriff ihn beim Anblick der schneebedeckten Berge eine lähmende Angst, er bekam Heimweh, und nach ein paar Tagen starb er mir an einer Lungenentzündung.«
»Wieso hat man so lange nichts von dir gehört?« fragte Daniel mit einer Schüchternheit, die Benda weh tat.
»Das ist eine weitläufige Geschichte,« antwortete er. »Hat es doch zwei Jahre gedauert, bis ich durch jenen fürchterlichen [555] Wald gekommen war, an einen See, der Albert-Njansa heißt. Von dort wollt ich nach Ägypten durchdringen, aber das Land war noch immer in Aufruhr und von den Kriegern des Mahdi besetzt. Ich wurde nach Nordwesten gedrängt, in weglose Wildnisse, und war fünf Jahre in Gefangenschaft bei einem Stamm der Wadai. Die Niam-Niam, die mit ihnen Krieg führten, befreiten mich; ich konnte ziemlich nach meinem Gefallen unter ihnen leben, doch aus ihrem Lande ließen sie mich nicht fort, denn sie schätzten mich als Medizinmann und fürchteten, ich könne sie verzaubern, wenn sie meiner Person nicht mehr versichert waren; ich hatte auch keine Leute mehr, kein Geld, um Träger anzuwerben. Was ich brauchte, um mit meiner verfeinerten Beschaffenheit nicht zu verkommen, ließ mir der Häuptling durch die arabischen Händler bringen, vor denen er mich verborgen hielt, aber endlich gelang es mir doch, mich mit einem der Scheichs zu verständigen, und es war die höchste Zeit, ich hätte kein Jahr mehr überlebt.«
Daniel schwieg. Es war so seltsam; er konnte sich in Bendas Art und Stimme kaum finden. Die Erinnerung versagte; die Sphäre, aus der jener trat, hatte etwas Allzufremdes, und was er selber fühlte, mußte dort ohne Gewicht sein, ja fast ohne Sinn. Mit düsterm Trotz lockte er das Gespenst der Enttäuschung zu sich heran, und sein Gemüt war von nächtiger Schwärze bedrückt wie das Glas des Fensters.
»Nun genieß ich die Heimat,« sagte Benda versonnen, »freu mich am milderen Licht, am geordneten Wesen. Ich habe Deutschland als Gestalt begriffen, als Gebilde lieben gelernt. Die Natur, die wirkliche große Natur, die meiner Sehnsucht einst kaum erreichbar schien, die mir Idee und Ahnung der Vollkommenheit war, die ist mir nun Erfahrung geworden; sie hat mich gelockt, hat mich belehrt und beinahe zerstört. Alle menschliche Organisation hat sich mir dagegen mehr und mehr zur Idee entwickelt. In Stunden, die so voll [556] vom Gefühl der Dinge waren, wie das Herz voll von Blut ist, hab ich die Schalen mit den Gewichten zweier Welten schwanken sehen. Die Einsamkeit, die Nacht, der nächtliche Himmel, der Wald, die Wüste haben mir ihre wahren Gesichter gezeigt, und das Grauen, das bisweilen von ihnen ausgeht, hat kein Gleichnis in irgendeinem andern Zustand des Daseins. Da hab ich erst das Gesetz begriffen, das Familien, Völker und Staaten zusammenhält. Da hab ich alle Rebellion abgeschworen und nur mitzuwirken beschlossen, nichts andres als mitzuwirken. Ich will dir etwas gestehen: ich habe früher nichts vom Rhythmus des Lebens gewußt. Ich hatte gewußt, wie langsam ein Baum wächst, wie viele Metamorphosen eine Pflanze hinter sich haben muß, um das zu sein, als was sie sich darstellt, aber die Anwendung auf unser Leben zu machen, war mir nie in den Sinn gekommen. Ich hatte zu viel gefordert und alles zu rasch. Egoistische Ungeduld hatte mir falsches Maß und Gewicht in die Hand gespielt. Was ich in der schweren Schule vieler Jahre gelernt habe, ist Geduld. Es geht alles so sehr, sehr langsam. Die Menschheit ist noch ein Kind, und wir verlangen schon Gerechtigkeit von ihr. Gerechtigkeit! wie weit ist es noch bis dahin! So weit wie vom Urwald zum Garten. Wir müssen Geduld üben für viele Generationen, die nach uns kommen.«
Daniel erhob sich und ging auf und ab. Nach einer Stille, die Benda marterte, sagte er gepreßt: »Laß uns fortgehen, in ein Wirtshaus oder auf den Gassen herum, wohin du willst. Oder wenn ich dir lästig bin, begleit ich dich ein Stück und bleib dann allein. Nur hier kann ich nicht länger sein.«
»Mir lästig, Daniel?« erwiderte Benda vorwurfsvoll. Das war der Ton von ehemals, der Blick von ehemals. Und Daniel spürte plötzlich, daß er seinerseits nicht nötig hatte, viel zu erzählen; diesem Ton und Blick entnahm er, daß Benda vieles wußte, alles ahnte. Es wurde ihm leichter ums Herz.
Sie gingen hinunter.
Daniel bat Benda, an der Stiege zu warten, sperrte das Gatter auf und nahm seinen Hut vom Haken. Im Wohnzimmer herrschte großer Lärm und ununterbrochenes Gelächter. Philippine trat aus ihrer Kammer und brummte: »Was die heut wieder treiben; machen einen Spektakel wie die B'soffenen.«
»Was ist denn los?« erkundigte sich Daniel scheu, nur um etwas zu sagen.
»Blindekuh spielen s' halt,« versetzte Philippine geringschätzig, »lauter alte Menschen, und spielen Blindekuh.«
Da erschallte ein Klirren wie von einem zerbrechenden Teller, ein durchdringender Schrei folgte, dann ein kurzes Schweigen, dann wieder jenes allgemeine, widrig klingende Gelächter.
In der schreienden Stimme hatte Daniel die Dorotheas erkannt. Er eilte zur Tür und öffnete sie jäh.
Sein zorniger Blick umfaßte den Tisch, auf dem sich Kannen, leere Tassen und Bäckereien befanden, die beiseite geschobenen Stühle, den neuen Gaslüster, den Dorothea angeschafft, mit seinen fünf in Milchglaskugeln brennenden Flammen, und sieben oder acht Personen, die um Dorothea gruppiert waren und, immer noch lachend, einen zu Boden gefallenen Gegenstand betrachteten.
Dorothea hatte die weiße Binde, die sie während des Blindekuhspiels vor den Augen gehabt, auf die Stirn geschoben. Sie war die erste, die Daniels ansichtig wurde und rief aus: »Da ist ja mein Mann. Zank nicht, Daniel, es ist bloß das dumme Gipsgesicht.«
Der Hofrat Finkeldey, ein weißbärtiger Faun, nickte begeistert in die Richtung, wo Daniel stand. Es war seine Art, Dorothea zu huldigen, daß er alles, was sie sagte, mit einem begeisterten Nicken begleitete.
Daniel aber sah, daß die Maske der Zingarella zertrümmert war.
[558] Ohne zu grüßen, ohne einen von den Gästen eines Blickes zu würdigen, schritt er in den Kreis, kniete nieder und versuchte, die zerbrochnen Stücke der Maske wieder zusammenzulegen. Aber es waren der Trümmer zu viele; die Nase, das Kinn, Teile der herrlichen Stirn, ein Stück mit dem wehen Mundbogen, ein anderes von der Wange, es ließ sich nichts fügen.
Da schleuderte er mit einer einzigen Bewegung die Scherben auseinander und richtete sich wieder empor. »Philippine, den Besen!« befahl er laut. Und als Philippine den Besen brachte, fügte er hinzu: »Kehr den Dreck hinaus und wirf ihn auf den Mist!«
Philippine kehrte, und Daniel verließ ohne Gruß, wie er gekommen war, die Stube.
Die Kommerzienrätin Feistmantel machte ein entrüstetes Gesicht, Edmund Hahn blies den Atem durch die Nase, Herr Samuelsky, ein dicker Mensch mit einem roten Bart, murmelte eine verächtliche Bemerkung. Dorothea standen vor Ärger und Verdruß die Tränen in den Augen.
Benda hatte am Gatter still gewartet. »Sie hat mir die Maske zerbrochen,« sagte Daniel mit verzerrtem Lächeln, als er zu ihm trat; »die Maske, die du mir einst geschenkt hast, erinnerst du dich? Sonderbar, daß es gerade heute ist, gerade bei unserm Wiedersehen.«
»Man kann sie vielleicht kitten,« wagte Benda zu trösten.
»Ich bin nicht fürs Kitten,« antwortete Daniel, und hinter den Brillengläsern funkelte es grün.
Als die Gäste fort waren, räumte Philippine die Stube auf. Dorothea saß auf dem Kanapee; sie hatte die Hände im Schoß, und ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst.
»Warum kommt denn eigentlich dein Amerikaner nie zu uns herauf?« fragte Philippine plötzlich.
[559] Dorothea schrak zusammen. »Mach die Tür ganz zu, Philippine,« flüsterte sie, »ich muß dir was sagen.«
Philippine schloß die angelehnte Tür und näherte sich dem Sofa. »Der Amerikaner muß mich sprechen,« fuhr Dorothea mit scheu irrendem Auge fort; »er sagt, es ist etwas, was für mein ganzes Leben wichtig ist; er wohnt im Hotel, ins Hotel kann ich aber nicht gehen. Daß er hierher ins Haus kommt, will ich auch nicht, und auf der Straße will ich mich auch nicht mit ihm zeigen. Er hat einen Ort vorgeschlagen, wo ich mich mit ihm treffen soll, aber ich trau mich nicht, ich weiß nicht, wer die Leute sind. Weißt du mir keinen Rat, Philippine? Weißt du niemand?«
In Philippines Augen zeigte sich das böse, wilde Glitzern. Sie dachte einige Sekunden lang nach, dann erwiderte sie: »O ja, ich wüßt schon wen. Die Hade busch'n, meine Freundin, das ist ein verläßliches Weib. Bei der kann geschehn, was will, da kümmert sich keine Katz drum. 's ist eine Witwe und wohnt allein in einem Häusla, vermieten tut sie nimmer, weil's zu viel Schererei macht bei ihrem Alter, nur einen Sohn hat's; aber der is schwach im Kopfe.«
»Geh einmal zu ihr hin und sprich mit ihr!« sagte Dorothea zaghaft.
»Gut, ich geh morgen zu ihr hin,« versetzte Philippine, lächelte gefällig und legte die schwielige Hand auf Dorotheas zarte Schulter.
»Du, Philippin', daß du mir aber vorsichtig bist!« mahnte Dorothea, und ihre Augen wurden groß und drohend. »Schwör mir, daß du stumm bist, wie das Grab.«
»So wahr ich da steh!« sagte Philippine. Im selben Moment bückte sie sich, um eine Haarnadel vom Boden aufzuheben.
Am andern Vormittag eilte Philippine zu Frau Hadebusch. Auf dem ganzen Weg trällerte sie vergnügt vor sich hin.
[560]Ungeachtet des Regens wanderten Daniel und Benda bis nach Mitternacht um den Stadtgraben.
Von dem, was ihn so sichtlich erfüllte und quälte, sprach Daniel mit keiner Silbe. Er berichtete von seinen Arbeiten, von seinen Reisejahren, von seiner Stellung an Sankt Egydien und von der andern an der Musikschule, jedoch so allgemein, so abgerissen und hinwerfend, so müd und auch zerstreut, daß Benda schließlich vor Beklommenheit kaum mehr zuhören konnte.
Um eine offenere Rede zu erzwingen, deutete er an, er habe von Gertruds und Lenores Tod erst nach seiner Rückkunft erfahren; es hätte ihn schrecklich angefaßt, und er müsse fortwährend darüber grübeln. Doch sei es ihm nicht um nähere Wissenschaft zu tun, jetzt nicht; er wäre froh, wenn er die Überzeugung gewinnen könne, daß Daniel all des Trüben innerlich Herr geworden sei.
Statt darauf zu antworten, sagte Daniel mit einem Zucken um den Lippen: »Ja, ich weiß, du bist schon lange hier. Hab mich auch im stillen gewundert. Aber es ist nicht leicht, mit einem so problematischen Individuum, wie ich es bin, neuerdings anzuknüpfen.«
»Du fühlst, daß du unrecht hast, während du das sagst,« entgegnete Benda ruhig, »und drum verschmäh ich's auch, mein Warten zu erklären. Problematisch warst du mir nie, bist du mir nicht. Ich finde dich heute noch so ganz und so wahr, wie du immer gewesen bist, obgleich du dich vor mir duckst und verschanzest.«
Daniels Brust hob sich wie im Krampf. Er sagte stockend: »Laß erst das alte Vertrauen wieder wachsen. Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen, daß einer da ist, der [561] mit mir empfindet. Zwar, du willst, daß ich reden soll. Ich kann aber nicht reden, wenigstens von dem nicht, was du erwartest. Mir graut davor, ich hab's verlernt, die Worte schänden mich, und wenn ich einmal gute Träume hab, bin ich in ihnen so wohlig-, so heiligstumm wie das Tier. Mir graut's, daß ich in mein Inneres langen und dir verrostete Dinge zeigen soll, verschimmelte Früchte, Schlacken- und Steinzeug, dir, der einst alles kristallen gekannt hat.«
Sein Auge richtete sich nach oben, dann fuhr er fort: »Doch gibt's vielleicht noch ein anderes Mittel, Friedrich. Schaue, Freund, schaue! Deine Sache war von je das Schauen. Schau, aber mach, daß ich mich nicht dabei krümme wie ein Wurm. Und wenn du geschaut hast, – Weisheit braucht nur ein einziges gesagtes Wort für zehn verschwiegene. Das eine wirst du mir schon entlocken.«
Benda, tief ergriffen, antwortete lange nichts. »Liegt's an einem Weibe?« fragte er sanft, als sie über die Zugbrücke in das öde Tor der Burg gingen.
»An einem Weibe? Nein. Eigentlich nicht an einem Weibe. Mehr am Manne, mehr an mir. Manches Schicksal erreicht seinen entscheidenden Punkt im Glück, manches erst in der Schuld. Der letzte Fall ist bitter. An einem Weibe!« wiederholte er mit einer Stimme, die im Gewölb des Durchgangs ein schauriges Echo gab; »freilich, es ist da ein Weib, wenn man mit der zu tun hat, bleibt einem nichts weiter übrig als die Augen zum Weinen.«
Sie verließen den Torweg. Benda legte Daniel die Hand auf die Schulter und wies mit der andern Hand stumm in die Höhe. Es waren keine Sterne am Himmel, nur Wolken, aber Benda meinte die Sterne. Daniel verstand die Gebärde; seine Lider schlossen sich, um seinen Mund war der Ausdruck eines gewaltigen Schmerzes.
Benda hatte die Gewißheit, nicht bloß, daß ein großes Unheil geschehen, sondern auch, daß ein größeres im Werden war.
Sooft er an Dorothea dachte, wurde ihr Bild furchteinflößender. Immerhin müssen wunderbare Eigenschaften in ihr sein, die Daniel bestimmt haben, sie zur Lebensgefährtin zu wählen, sagte er sich. Und er wollte sie nun endlich sehen.
Sie ließ ihn durch Daniel zum Tee bitten. Früh am Nachmittag ging er hin.
Sie empfing ihn mit Äußerungen lebhafter Freude. Sie sagte, sie habe es kaum erwarten können, ihn zu sehen, denn es gebe nichts in der Welt, was solchen Eindruck auf sie mache wie ein Mann, der wirkliche Gefahren bestanden, sein Leben aufs Spiel gesetzt habe. Sie wurde nicht satt, zu fragen; bei jeder seiner spärlichen Antworten schüttelte sie verwunderungsvoll den Kopf, dann stützte sie die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf auf die Hände, und weit vorgebeugt starrte sie ihn an wie ein Wundertier.
Sie fragte, ob er bei den Kannibalen gewesen, ob er Wilde totgeschossen, ob er Löwen gejagt habe und ob es wahr sei, daß jeder Negerhäuptling Hunderte von Weibern besitze. Dabei machte sie ein verfängliches Gesicht und meinte, das täten auch die Europäer, wenn man's ihnen freistellte, und nicht bloß die Häuptlinge.
Hierauf sagte sie, daß sie sich nicht erinnere, ihn, als sie noch Kind war, im Haus ihres Vaters gesehen zu haben, und darüber wundre sie sich jetzt, da er doch so was ganz Eigenes an sich habe. Und ihre Augen verschlangen ihn; sie begannen zu brennen wie jedesmal, wenn sie einen Fang tun wollte und die blinde Gefräßigkeit über sie kam. Sie entfaltete sich, sprach mit ihren süßesten Lauten, und ihr Lachen und Lächeln hatten in der Tat etwas Unwiderstehliches[563] wie bei einem zutraulichen und guten, nur zuweilen ein wenig eigensinnigen Kind.
Aber sie merkte, daß dieser Mann sie betrachtete, als sei sie nicht ein junges Weib, das sich bemühte, ihm zu gefallen und seine Sympathie zu erobern, sondern wie eine kuriose Spielart. Es war etwas in seinem Blick, das sie zittern ließ vor Gereiztheit, und auf einmal war in ihren Augen Argwohn und Haß.
Benda fühlte Mitleid. Dies Haschen nach der verführerischen Gebärde und dem beziehungsvollen Wort, dieser Selbstverrat, dieser Rausch um nichts, es stimmte ihn traurig. Dorothea erschien ihm nicht schlecht; welches Vergehens man sie auch bezichtigt hätte, schlecht wäre sie ihm nicht erschienen, nur mißleitet und vergiftet, Trugbild und arme Törin.
Er dachte an gewisse äthiopische Frauen im verschlossensten Kernland des Kontinents, an ihren adeligen Gang, an die stolze Ruhe ihrer Züge, an ihre keusche Nacktheit und wie sie eins waren mit der Luft und mit der Erde.
Dennoch begriff er den Freund; der Musiker mußte dem Trugbild verfallen, der Einsame dem uneinsamsten aller Wesen.
Während er diesen Schluß zog, trat Daniel ein. Er begrüßte Benda und sagte zu Dorothea: »Es ist ein Mädchen draußen und behauptet, sie habe Straußfedern für dich. Hast du Straußfedern bestellt?«
»Richtig,« erwiderte Dorothea mit Hast, »es ist ein Geschenk von der Emmy Büttinger.«
»Wer ist das?«
»Das weißt du nicht? Die Schwester der Kommerzienrätin doch. Da müssen Sie mir helfen,« wandte sie sich an Benda, »Sie sind ja wahrscheinlich ein Sachverständiger; dort, wo Sie waren, laufen ja die Strauße herum wie bei uns die Hühner.« Lachend ging sie hinaus und kam mit einer ziemlich umfangreichen Schachtel zurück, der sie vorsichtig [564] und beglückt zwei große Federn entnahm, eine weiße und eine schwarze. Indem sie sie an den Stielen hielt, legte sie beide über ihr Haar, trat vor den Spiegel und schaute sich mit trunkener Miene an.
In dieser Miene, dieser Haltung war etwas so Außerordentliches, beinahe Unheimliches, daß Benda einen erschrockenen Blick auf Daniel heftete.
Ich habe bisher nicht gewußt, was ein Spiegel ist, sagte er zu sich selbst.
Am Abend ging Daniel mit Benda in dessen Wohnung. Benda zeigte ihm Waffen und Geräte, die er aus Afrika mitgebracht und verbreitete sich bei einigen der merkwürdigsten Stücke über die Sitten der Negervölker.
Dann bekam er Kopfweh, setzte sich in den Lehnstuhl und schwieg lange. Er sah plötzlich wie ein Greis aus; die Zerstörung, die sein Körper erlitten hatte, wurde augenscheinlich.
»Hast du einmal Dorotheas Mutter gesehen?« fragte er, das tiefe Schweigen endend.
Daniel schüttelte den Kopf. »Es heißt, sie vegetiert nur noch da draußen in der Anstalt,« erwiderte er.
»Ich habe mir sagen lassen, daß sich weder Andreas Döderlein noch seine Tochter in all den vielen Jahren um die unglückliche Frau gekümmert haben,« fuhr Benda fort. »Nun, was von Andreas Döderlein zu halten ist, weiß ich ohnehin.«
Daniel blickte empor. »Du hast mir einmal eine Andeutung gemacht, als hätte Döderlein in bezug auf die Frau eine Schuld auf sich geladen. Entsinnst du dich? Hängt das mit Dorothea und ihrem Leben zusammen? Kannst du darüber sprechen?«
[565] »Ja, ich kann's,« antwortete Benda. »Es hängt auch mit Dorothea zusammen, und vielleicht erklärt sich manches in ihrer Art daraus, daß sie unter einem solchen Vater aufwachsen und eine solche Mutter verlieren mußte. Es ist eine eigene Verkettung, daß ich nun in dein Schicksal verflochten bin.«
Er schwieg erinnerungsvoll, dann begann er: »Hättest du Margaret Döderlein gekannt, sie wäre dir ebenso unvergeßlich, wie sie es mir ist. Sie und Lenore, das waren die beiden musikhaften Frauen, denen ich im Leben begegnet bin, ganz Natur, ganz Seele. Margarets Jugend war ein Kerker. Ihr Bruder Carovius war der Kerkermeister. Als sie Döderlein heiratete, glaubte sie dem Kerker zu entrinnen, aber sie vertauschte ihn nur. Trotzdem wußte sie kaum, wie ihr geschah. Sie nahm alles auf sich, alles mit gleicher Treue, gleicher Sanftmut; ihr Inneres blieb unzernagt und unverbittert.«
Er stützte den Kopf auf; seine Stimme wurde leiser. »Wir liebten uns, ehe wir noch miteinander gesprochen hatten. Ein paarmal trafen wir uns auf der Straße, ein paarmal im Park, ein paarmal kam sie heimlich in die Galerie herauf. Ich war nicht rückhältig, ich habe ihr mein Leben angeboten, aber sie antwortete stets, ohne ihr Kind könne sie nirgends glücklich sein. Ich achtete dies Gefühl und bezwang mein eigenes. Eine Weile blieb es so, wir quälten uns, wollten verzichten, wurden wieder zueinander gezogen, da fügte es sich, daß Döderlein Verdacht schöpfte; ob durch fremde Einflüsterungen oder durch bloße Beobachtung der Frau, die zu heucheln nicht fähig war, kann ich nicht entscheiden. In perfider Weise fing er an sie zu martern, ihr Gewissen zu beunruhigen, und eines Nachts tritt er an ihr Bett, hält ihr ein Kruzifix vor, zwingt sie durch Drohungen und große Worte, ihm einen Eid zu leisten, zwingt sie, bei dem Leben ihres Kindes zu schwören, daß sie ihn niemals betrügen würde. Sie schwor.«
[566] »Ja, Freund, sie schwor, und dieser Schwur dünkte ihr viel feierlicher und verpflichtender als der erste vor dem Altar. Ich wußte nichts davon, sie entzog sich mir; ich ertrug es nicht. Da kam sie noch einmal, um Abschied zu nehmen, und es gab einen Augenblick, wo unsere Kraft und Besinnung dahin war. Nun trat das Verhängnis ein; das zarte Wesen erlag unter dem Schuldgefühl, Herz und Geist verdüsterten sich ihr, sie hatte den Wahn, das Kind sieche unter ihren Händen zu Tode, und eines Tages brach sie zusammen.«
Benda erhob sich, trat ans Fenster und schaute in die Dunkelheit.
Daniel war es, als schnüre sich ein Strick um seinen Hals. Er stand gleichfalls auf, murmelte einen Gruß und ging.
Am Behaimdenkmal mäßigte er seinen Schritt. In geringer Entfernung vor sich erblickte er einen Mann und eine Frau. Er erkannte sofort Dorothea in der Frau.
Sie sprachen hastig und mit unterdrückten Stimmen. Daniel folgte ihnen, und als sie sich am Platz zum Haustor wandten, blieb er im Schatten der Kirche stehen.
Der Mann schien ungehalten, ja aufgebracht, Dorothea redete beschwichtigend auf ihn ein. Sie stand dicht bei ihm, hatte seine Hand ergriffen und behielt sie in der ihren, bis sie das Tor aufsperrte. Zuletzt flüsterte sie, schaute besorgt am Haus empor und sagte dann ziemlich laut: »Gute Nacht, Edmund. Träum süß.«
Der Mann entfernte sich, ohne den Hut zu lüpfen; Dorothea huschte ins Tor.
Daniel zitterte am ganzen Leibe. In seinen Augen war etwas mystisch Flehendes. Er sah, wie oben Licht angezündet wurde und der Vorhang über das Fenster fiel. Die Stille [567] des Platzes folterte ihn, und als die Glocke vom Turm elf Uhr schlug, glaubte er, sein Blut brülle in den Ohren.
Mit schweren Schritten schleppte er sich endlich ins Haus. Dorothea, schon im Schlafrock, saß in der Wohnstube am Tisch und nähte ein Band an dem Kleid fest, das sie getragen.
Sie wechselten den Gruß, Daniel stellte sich in ihrem Rücken an den Ofen und starrte wie gebannt auf ihren niedergebeugten Nacken. Es fröstelte ihn fortwährend.
»Von wem sind die Straußfedern?« fragte er auf einmal rauh. Die Frage entfuhr ihm selbst unerwartet. Er hatte etwas anderes sagen wollen.
Mit einem Ruck hob Dorothea den Kopf. »Ich hab dir's ja gesagt,« erwiderte sie, und er nahm wahr, daß sie sich verfärbte.
»Ich kann nicht glauben, daß dir eine fremde Person, und noch dazu eine Frau, so wertvolle Geschenke macht,« sagte Daniel langsam.
Dorothea stand auf und sah ihn unsicher an. »Gut, wenn du's absolut wissen willst, ich hab sie mir gekauft,« stieß sie trotzig hervor. »Aber brauchst mich nicht anzuschnauzen, ich werd mir das Geld schon verschaffen. Das paßt mir einfach nicht, daß ich mir jede Ausgabe soll vorschreiben lassen.«
»Es ist nicht wahr, daß du die Federn gekauft hast,« schnitt Daniel ihr das Wort ab.
»Nicht gekauft und nicht geschenkt bekommen, also was denn sonst? Gestohlen vielleicht?« höhnte Dorothea mit feig entfliehendem Blick.
Niemals hab ich so mit Menschen gesprochen, niemals haben Menschen so mit mir gesprochen, durchzuckte es Daniel. Er wurde furchtbar bleich, trat zu ihr, schloß seine Hand wie eine Eisenklammer um ihren Arm und sagte: »Es soll mir recht sein, wenn du mein Geld verschwendest. Es soll mir recht sein, daß du in nichtswürdiger Gesellschaft deine Zeit vertändelst. Es soll mir recht sein, daß dir mein Wohlbefinden [568] und meine Seelenruhe gleichgültig ist und daß du dein armes Kind verkommen läßt. Ich will mich in alles dieses fügen. Wozu brauch ich regelmäßiges Essen; wozu muß mein Frühstückskaffee warm, mein Wecken frisch vom Backofen, wozu muß meine Wäsche ausgebessert, mein Fenster geputzt, mein Spind in Ordnung gebracht, meine Stube gekehrt sein? Es ist mir ja nicht an der Wiege gesungen worden, daß ich soll behaglich leben dürfen.«
»Och, du tust mir weh, Daniel,« sagte Dorothea in bangem Ton, »laß, bitte, meinen Arm los.«
Er lockerte den Druck, ließ aber den Arm nicht los. »Geh du, mit wem du willst. Mögen die dich schätzen, die dir wert sind. Und was das Geld betrifft, da hast du alles, da ist all mein Geld.« Er zog einen gestrickten Beutel aus der Tasche, der voll Münzen war, und schleuderte ihn auf den Tisch. »Ich will, damit du schöne Kleider hast, am Sonntag die Orgel spielen. Ich will, damit du Maskenbälle und Christbaumverlosungen besuchen kannst, noch zwanzig unmusikalische Idioten mehr unter die Fuchtel nehmen. Ich will ein übriges tun und mich verpflichten, nie eine Frage über dein Treiben zu stellen, nicht, wo du herkommst, noch, wo du hingehst; aber hör mich an, Dorothea,« hier schwoll seine Stimme, und sein Gesicht sah furchteinflößend aus, »vergreif dich an meinem Namen nicht! Er ist mein einziges Gut. Mit ihm bin ich bei der Menschheit in höchster Schuld. Er gibt mir nicht bloß das, was man bürgerliche Ehre heißt, er gibt mir die Ehre, mit der ich vor meinem Geschaffenen bestehe. Womit du dich an ihm vergreifst, das ist die Lüge. Durch die Lüge besudelst und erniedrigst du ihn. Nicht so sehr, wie du dir vielleicht einbildest, zittere ich davor, als Hahnrei verschrien zu werden. Zwar, die Vorstellung macht mein Blut heiß; ich bin Mann genug, um Mordgelüste zu spüren, wenn ich mein Weib in den Armen eines andern denke. Aber der unterste Schlund der Verdammnis wär es für mich, wenn [569] du mir die Wahrheit, die ich dir gegeben habe, mit Lüge heimzahlst. Du kannst mich nicht für so gemein und selbstsüchtig halten, daß ich's nicht begreifen sollte, wenn sich dein Herz verändert. Doch nur in der Wahrheit kann ich mit einem andern Menschen Seite an Seite leben; die Lüge zerstört mein göttliches Teil, sie ist mir wie Aas und Verwesung. So sage mir also, ob du wahr gegen mich bist. Fürchte dich nicht, Dorothea, schäm dich nicht; noch kann alles gut werden, sage mir, ob du mich hintergehst.«
»Ich dich hintergehen?« hauchte Dorothea und schaute ihm, ohne daß ihre Wimpern sich regten, wie hypnotisiert in die Augen, »wieso denn hintergehen? Traust du mir eine solche Niedertracht wirklich zu?«
»Du hast keinen Geliebten? Kein anderer Mann hat dich berührt, seit du meine Frau bist?«
»Einen Geliebten? ein anderer Mann mich berührt?« wiederholte sie mit demselben hypnotisierten Blick. In ihrem Kindergesicht war der Glanz lauterster Redlichkeit und Unschuld.
»Auch hast du keine heimlichen Zusammenkünfte gehabt, keine verräterischen Briefe empfangen oder geschrieben, nichts versprochen, auch nicht im halben Spaß?«
»Och, im Spaß, Daniel, das weiß ich nicht, man redet so manches, du kennst mich doch.«
»Und du versicherst, daß all der dunkle Schimpf, der um mich raunt, und zu dem du ja manche Veranlassung gegeben hast, nur Bosheit und Verleumdung ist?«
»Ja Daniel; Bosheit und Verleumdung.«
»So soll dir also Gott keine ruhige Stunde mehr schenken, wenn du mich belogen hast? willst du das, Dorothea?«
Dorothea stockte; sie blinzelte ein wenig. Dann antwortete sie leise: »Das sind gräßliche Worte, Daniel. Aber wenn du darauf bestehst, mag's so sein.«
Daniel atmete auf, als fiele ihm eine Zentnerlast von [570] der Brust. In dankbarer Bewegung drückte er die Frau an sich.
Doch da widerte ihn etwas. Ihm war, wie wenn er gar keinen Rhythmus in dem Geschöpf verspüre, wie wenn er ein Wesen ohne Schwingung, ohne Gefüge, ohne Gesetz umarme. Ganz von neuem und von einer neuen Richtung her begann die Qual an ihm zu nagen.
Als er die Tür zum Flur öffnete, raschelte es draußen, und eine dunkle Gestalt floh gegen die hofwärts gelegene Kammer.
Allein geblieben, schaute Dorothea eine Weile regungslos vor sich nieder, dann nahm sie Geige und Bogen aus dem Kasten, – sie hatte einen neuen Bogen an Stelle des zerbrochenen längst gekauft –, und fing an zu spielen. Eine Kadenz, einen Triller, Takte einer Tanzmelodie. Ihre Züge bekamen einen harten und entschlossenen Ausdruck.
Bald ließ sie das Instrument sinken und dachte angestrengt nach. Sie legte die Geige weg, schlüpfte aus ihren Pantoffeln, schlich in Strümpfen aus der Stube, über den Flur und lauschte an Philippines Kammer. Als sie vorsichtig öffnete, vernahm sie von Philippines Bett her, das der Tür am nächsten stand, ein breites Schnarchen.
Das Ölflämmchen, das in einem Glas ersterbend flackerte, gab so wenig Licht, daß die Linnen des Bettes nur undeutlich schimmerten.
Lautlos, Schritt vor Schritt, ging sie zu Philippines Lagerstatt. Sie duckte sich, streckte den Arm aus, tastete mit der Hand über den Leib der Schläferin, wollte die Decke heben und nach der Brust greifen; da hörte Philippine plötzlich auf, zu schnarchen, erwachte so jäh, als hätte sie der Strahl einer Blendlaterne getroffen, schlug die Augen empor [571] und schaute Dorothea stumm drohend an. Keine Muskel veränderte sich in ihrem Gesicht.
Dorothea faßte sich schnell. Wie eine, der ein ausgelassener Scherz gelungen ist, warf sie sich mit ihrem ganzen Körper über Philippine und legte die Wange auf deren Gesicht, obgleich ihr vor dem Bett-und Atemgeruch ekelte.
»Du, Philippine, der Amerikaner will dir was schenken,« wisperte sie.
»Gottich, du drückst ei'm ja den Bauch ein,« erwiderte Philippine und schnappte nach Luft. Als sich Dorothea aufgerichtet hatte, fragte sie: »Hat er denn dir schon was geschenkt? Das ist doch die Hauptsache.«
»Na, die Straußenfedern, ist das nichts?« versetzte Dorothea; »und einen Rubinschmuck will er mir auch verehren.«
»Ich wollt, du hättest's schon. Scheint mir nicht von Gebersdorf zu sein, der Amerikaner. Hab mir sagen lassen, daß er gar nicht so reich ist. Wann triffst ihn denn wieder, deinen Liebsten?«
»Morgen abend, zwischen sechs und sieben. Ich freu mich, ich freu mich. Er ist so jung, Philippinchen.«
»Ja, jung; das ist schon was, jung!« murmelte Philippine geringschätzig.
»Er hat ein so hübsches Muttermal am Hals, ganz unten am Hals, da,« sie zeigte die Stelle an Philippines Hals; »grad da. Kitzelt's dich? kitzelt's dich?«
»Lach nicht so laut, du weckst mir den Gottfriedl auf,« sagte Philippine unwirsch; »und jetzt marsch mit dir, mich schläfert.«
»Also gut Nacht, du Schlafratz,« spottete Dorothea und verließ die Kammer.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, so fuhr Philippine wie ein Dämon aus dem Bett, ballte die Faust und zischte: »Diebshure! Stehlen hat sie wollen, die Diebshure, stehlen! Wart nur du, du hast bald ausgeschnattert dahier, dir wird das Handwerk gelegt.«
[572] Sie zog ihren roten Unterrock über die Beine, schnürte ihn fest und ging zur Tür, um den Riegel vorzuschieben. Er war seit langem schadhaft und trotzte ihrer Bemühung. Da trug sie einen Stuhl hin, setzte sich, verschränkte die Arme und blieb so über eine Stunde mit böse blickenden Augen sitzen.
Als sie sich dann des Schlafes nicht mehr erwehren konnte, schob sie den Wickeltisch vor die Tür und stieg unter gehässigem Gemurmel wieder in ihr Bett.
Der folgende Tag begann mit stürmischen Regenschauern. Daniel hatte wenig geschlafen und begab sich früh an die Arbeit. Aber der Kopf war ihm so schwer, daß er ihn beständig aufstützen mußte. Seine Ideen waren ohne Blut und ohne Schwung.
Gegen acht Uhr kam der Postbote und fragte nach dem Inspektor Jordan. Der Alte mußte einen Schein unterschreiben, wofür ihm ein feierlich versiegelter Geldbrief überreicht wurde.
In dem Brief befanden sich zweihundert Dollar in Noten nebst einem Schreiben von Benno. Dieses war aus Galveston datiert, und Benno schrieb, er habe Erkundigungen eingezogen und erfahren, daß sein Vater noch am Leben sei. Er habe es in der Neuen Welt zu etwas gebracht und sende als Beweis davon und als Ersatz für die Auslagen, die er einst verursacht, die beiliegende Summe mit den besten Grüßen.
Eine kalte Epistel; doch der Greis war außer sich vor Freude, lief zu Daniel, zu Philippine, hielt die Geldnoten in die Höhe und stammelte: »Seht nur, Kinder, er ist reich. Zweihundert Dollar hat er mir geschickt! Er ist ein honetter Mensch geworden; er gedenkt seines alten Vaters! Wahrlich, [573] ein gesegneter Tag; auch im Hinblick auf etwas andres, lieber Daniel,« fügte er mit seinem mysteriösen Lächeln hinzu, »im Hinblick auf eine große Sache ein gesegneter Tag.«
Er kleidete sich an und ging in die Stadt, um die Nachricht seinen Bekannten mitzuteilen.
Daniel rief um sein Frühstück hinunter, aber niemand hörte ihn. Da ging er selbst in die Küche und holte sich ein Töpfchen mit Milch und ein Stück Brot. Nach einer Weile kam ihm Philippine nach, trat mit struppigen Haaren in die Kammer und fuhr ihn grob an, ob er nicht warten könne, bis der Kaffee gekocht sei.
»Laß mich zufrieden, Philippine,« sagte er, »ich brauche Ruhe.«
»Ruhe,« höhnte sie, »Ruhe! immerfort Ruhe.« Sie warf einen verächtlichen und wilden Blick in die offene Kiste, in welcher Daniels Handschriften lagen, dann stellte sie sich an den Tisch, drückte die Spitzen ihrer schmutzigen Finger auf das Notenblatt, das er eben vor sich hatte und stieß heraus: »Da ist das ganze Malheur! Das ganze Malheur ist die saudumme Schmiererei! Tag für Tag und Jahr für Jahr sich hinsetzen und schmieren! Was soll denn das bedeuten, sag mir nur! Geht ja alles den Krebsgang dabei. Ein Mannsbild und alleweil schmieren, – schämen tät ich mich!«
Auf diesen rätselhaften Ausbruch der Wut und des Hasses nicht gefaßt, blickte Daniel bestürzt in Philippines Gesicht. »Geh,« sagte er dann unwillig und wies mit dem Arm zur Türe, »geh.«
Sie ging. »Die verdammte Schmiererei,« maulte sie tückisch vor sich hin.
Von zehn bis zwölf mußte Daniel Unterricht in der Musikschule erteilen. Sein Herz klopfte beängstigend, aber er hätte den Grund der Erregung nicht sagen können. Es war mehr als Ahnung, es war fast, wie wenn er eine schreckliche [574] Nachricht empfangen hätte, deren Sinn jedoch seinem Gedächtnis entschwunden war.
Zu Mittag kehrte er nicht heim, sondern aß in einer Wirtschaft am Karthäusertor. Dann strich er lange auf den Feldern und Wiesen herum; der Regen hatte aufgehört, der starke Wind erfrischte ihn. Er stand am Ufer des Kanals und schaute bei einer Ziegelbrennerei zu, wie Steine aufgeschichtet wurden. Von Zeit zu Zeit griff er nach einem Stück Papier in die Tasche und schrieb mit dem Bleistift Noten.
Einmal schrieb er neben ein Motiv: Leb wohl, mein Saitenspiel, und seine Augen füllten sich mit einem schaurigen Naß.
Als er in die Stadt zurückkehrte, war ein feuerglänzender Sonnenuntergang. Zwischen zwei schwarzen Sturmwolken glühte der Himmel wie eine Schmiedeesse. Da mußte er an Lenore denken.
Er trat in die Wohnstube und wanderte auf und ab. Philippine kam herein und fragte, ob sie ihm die Suppe wärmen solle. Ihr singender, unnatürlicher Ton erweckte seine Aufmerksamkeit, so daß er sie mit festem Blick musterte.
»Wo ist meine Frau?« fragte er.
Ein abgründig schlimmes Lächeln erschien auf Philippines Lippen. Sie antwortete nicht.
»Wo ist meine Frau?« fragte er nach einer Pause zum zweitenmal.
Das Lächeln Philippines wurde breiter. »Ist's kalt draußen?« erkundigte sie sich und war plötzlich aus dem Zimmer. Daniel starrte ihr nach, als zweifle er an ihrem Verstand. Es verflossen aber nur wenige Minuten, da trat sie wieder auf die Schwelle; sie hatte unterdessen einen Mantel angezogen, der ihr zu kurz war und den karierten Rock sehen ließ.
»Komm einmal mit mir, Daniel,« sagte sie mit einer [575] besorgten Stimme, die ihm geheimnisvoll und furchtbar klang, »komm mit mir, ich zeig dir was.«
Er erblaßte, setzte den Hut auf und folgte ihr. Schweigend gingen sie über den Platz, durch die Bindergasse, die Rathausgasse, über den Markt. Daniel blieb stehen. »Was hast du vor?« fragte er heiser.
»Komm nur, wirst schon sehen,« raunte Philippine.
Sie gingen weiter, über die Fleischbrücke, die Kaiserstraße, durch den weißen Turm zum Jakobsplatz. Einige Leute schauten dem sonderbaren Paar nach. Als sie zum Häuschen der Frau Hadebusch kamen, war die Dunkelheit angebrochen. »Wirst du jetzt endlich reden?« knirschte Daniel.
»Pscht!« machte Philippine. Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und wisperte: »Geh nauf über zwei Stiegen, aber schnell, du kennst dich ja aus in dem Häusla, pumper an die Tür, und wenn s' zug'sperrt ham, schlag die Tür ein. Ich geh derweil zur Hadebusch'n, daß sie dich nicht zurückhält.«
Da begriff Daniel.
Vor seinen Augen wurde es blutrot. Ein Schüttelfrost packte ihn.
Er war Philippine in einem traurigen, schlaffen Gefühl von Ekel, Furcht und Zwang gefolgt; jetzt wußte er, sah am Anfang der Ereignisse schon ihre Mitte und ihr Ende, sah vor der verschlossenen Türe, was sich hinter ihr begab, und ein Ungeheures rauschte auf in seinem Gemüt, ungeheurer Zorn, ungeheures Weh, Verachtung und Grauen in Wirbeln von Besinnungslosigkeit.
Über die knarrende Stiege gelangte er in vier Sprüngen. Er stand vor der Türe, hinter der er einst gedarbt und geträumt, gefroren und geglüht; da hätte Stille sein müssen, [576] damit auf dem Grab vieler Hoffnungen die Andacht rückschauender Geister nicht gestört wurde.
Er riß an der Klinke; drinnen erschallte ein Schrei. Die Tür war verriegelt. Er preßte seinen Körper so ungestüm wider das zerbrechliche Holz, daß beide Angeln sich zugleich mit dem Riegelhalter lösten und die ganze Tür mit dumpfem Gepolter ins Zimmer stürzte.
Der Schrei wiederholte sich gellend. Dorothea lag bis aufs Hemd entkleidet auf einem breiten Bett, das die kupplerische Hadebusch von einem Händler entliehen hatte und das beinahe die Hälfte des Mansardenraums einnahm. Sie hatte einen Teller voll Kirschen neben sich stehen und hatte sich damit belustigt, die Kerne gegen ihren Liebhaber zu schnellen, der, gleichfalls in mangelhafter Bekleidung, rittlings auf einem Stuhl saß und eine kurze Pfeife rauchte.
Als Daniel mit blutenden Händen, er hatte sich an der Klinke verletzt, mit wild ums Gesicht flatternden Haaren, keuchend und totenbleich über die Türe stieg, fing Dorothea abermals zu schreien an, und schrie sieben- oder achtmal verzweifelt und voll entsetzlicher Angst.
Daniel stürzte auf den jungen Menschen zu und fuhr ihm mit beiden Händen an den Hals. Während er die Haut dieses Menschen anfaßte, während er, wie in rosigem Nebel, Dorothea mit aufgehobenen Armen aus dem Bett flüchten sah und ihr durchdringendes Geschrei vernahm, während ein seltsam betrachterischer Geist trotz der Raserei, die in ihm tobte, sogar die Kirschen bemerkte, die über das Bettuch gerollt waren, die grünen Stiele sah, die dunkleren Stellen an einzelnen, die anzeigten, daß sie faul waren, und er zuletzt noch einen Geschmack auf der Zunge spürte, als ob er selber Kirschen gegessen hätte, während all dem dachte er: das ist der Untergang, das ist das Chaos.
Der Amerikaner, von dem sich später herausstellte, daß er ein wandernder Artist war, der sich frech und geschickt [577] in die bürgerliche Gesellschaft gedrängt hatte, stieß den Angreifer mit Wut zurück und nahm eine Boxerposition ein. Aber Daniel verstattete ihm keine Zeit zum Schlag, er überfiel ihn, umschlang ihn, riß ihn zur Erde, drückte ihm die Gurgel zusammen. Jener stöhnte, bäumte sich, befreite seine Faust, schlug um sich; »damned fool,« röchelte er und versetzte Daniel einen Schlag ins Gesicht, »damned fool!«
Unten im Haus erschallte Lärm. Auf der Gasse sammelten sich Leute an. »Polizei! Polizei!« gilfte eine Weiberstimme, und nun kamen sie die Stiege herauf.
»Och, och, och!« wimmerte Dorothea. In einer halben Minute hatte sie ihr Kleid über den Körper gezogen; »fort, fort, fort!« hauchte sie und suchte ihre Handschuhe und ihren Schirm.
Händeringend zeigte sich Frau Hadebusch im engen Flur. Hinter ihr stand Philippine. Zwei Männer drangen über die Schwelle, stürzten sich auf Daniel und den Amerikaner und wollten sie auseinanderreißen. Aber sie hatten sich gleichsam ineinander verbissen wie zwei wütende Hunde. Andere mußten zu Hilfe kommen, ein Soldat und ein Milchmann griffen noch zu, endlich erschienen zwei Polizisten.
»Muß nach Hause,« wimmerte Dorothea unter dem Gekreisch der Weiber, »meine Sachen holen, fort, fort, fort!«
Mit einem Gesicht, das grauenhaft dem einer stummen Besessenen glich, stahl sich Philippine aus der Mitte der aufgeregt Schreienden und Schwatzenden und folgte Dorothea. Sie spürte ihren Schritt nicht, das Pflaster nicht, die Luft nicht. Jene wilde Begeisterung war über sie gekommen, die sie schon einmal in ihrem Leben empfunden, damals, als sie auf den Dachboden gegangen war und gesehen hatte, daß Gertrud am Balken hing.
Eine glühende Zerstörungslust durchrann alle ihre Adern. Zünde an! dröhnte es wieder in ihrem Hirn, zünde an! Heute wollte sie ein besseres Werk tun, als Feuer an einen Kehrichthaufen legen. Sie ging immer schneller und schneller; [578] schließlich fing sie an zu laufen und sang dabei mit rauher Stimme. Der Mantel war nicht zugeknöpft und flog im Winde. Die Leute, an denen sie vorüberraste, blieben erstaunt stehen.
Herr Carovius und der alte Jordan saßen im Paradieschen.
»Wie sich doch alle Verhältnisse wandeln und wie sich alles klärt und ordnet,« sagte der alte Jordan.
»Ja, die offenen Gräber gähnen schon,« antwortete Herr Carovius zynisch.
»Ich meinerseits,« fuhr Jordan fort, ohne den Unwillen zu bemerken, den seine Redseligkeit bei Herrn Carovius erweckte, »ich meinerseits kann dem Tod nun zufrieden ins Auge sehen. Meine Mission ist beendet; mein Werk ist vollbracht.«
»Das klingt ja gerade, als ob Sie den Stein der Weisen gefunden hätten,« spottete Herr Carovius.
»Vielleicht,« erwiderte Jordan leise und beugte sich über den Tisch; »Sie haben nicht so ganz unrecht, geschätzter Freund. Wollen Sie sich selbst überzeugen? Wollen Sie mir die Ehre Ihres Besuches schenken?«
Herr Carovius war neugierig geworden; sie zahlten ihre Zeche und begaben sich auf den Weg zum Egydienplatz.
Als sie in Jordans Kammer waren, zündete der alte Mann die Lampe an und verriegelte sorglich die Türe. Dann öffnete er den geräumigen Wandschrank und nahm zum Erstaunen des Herrn Carovius eine große Puppe heraus, die nach Art einer Älplerin gekleidet war, mit einem geblümten Rock, einer Leinenbluse und einem rosa Schürzchen. Das messinggelbe Haar war in Zöpfe geflochten, und auf dem Kopf trug sie ein grünes Filzhütchen.
[579] »Das alles ist meiner Hände Arbeit,« sagte Jordan stolz; »hab selber das Maß genommen, selber geschneidert; sogar die Schühchen hab ich verfertigt. Und nun passen Sie auf, lieber Freund!«
Er stellte die Puppe in die Mitte der Stube. »Sie wird sprechen,« fuhr er mit strahlender Miene fort: »sie wird singen. Sie wird ein Liedchen aus ihrer Tiroler Heimat vortragen. Wollen Sie sich gütigst in diesen Sessel setzen; nicht so sehr nahe, wenn ich bitten darf, es sind da noch störende Geräusche, denen ich erst abhelfen muß. Die Illusion ist stärker, wenn Sie sich in einer gewissen Distanz halten.«
Er kauerte sich hinter die Puppe, machte sich am Rumpf zu schaffen, das Surren eines Räderwerks wurde vernehmbar, der alte Mann trat rasch wieder vor und sagte: »So, mein kleines Fräulein, laß hören, was du kannst.«
Ein unheimlich heiseres, girrendes Stimmchen erscholl aus dem Leib der Puppe; es ähnelte dem Vibrieren von Metallfäden, verbunden mit den gedämpften Tönen einer Wasserpfeife. Schloß man die Augen, so konnte man beinahe an einen fernen Gesang glauben; sah man aber hin und erblickte das tote, larvenhaft freundliche Wachsgesicht, aus dessen Innern schrille und dumpfe Laute ohne Artikulation und ohne Rhythmus kamen, so war es gespenstisch. Herr Carovius spürte einen kalten Schauder im Rücken.
Als die Maschine abgeschnurrt war, fielen die Augendeckel und die Lippen der Puppe zu. Jordans Blick war voll Spannung auf Herrn Carovius geheftet. »Nun, was ist Ihre Meinung?« fragte er. »Seien Sie ganz aufrichtig; ich vertrage jede Kritik.«
Herr Carovius hatte Mühe, seine Lachlust zu bezwingen; es zuckte ihm um Kinn und Mund. Plötzlich aber vergingen ihm Hohn und Verachtung, es wurde ihm unbehaglich ernst zu Sinn, eine lästige und seit undenklichen Zeiten nicht empfundene Weichheit regte sich in ihm, und er sagte: »Ja, [580] das ist eine famose Sache; unbestreitbar eine famose Sache; obschon der Verbesserung bedürftig.«
Jordan nickte eifrig und erfreut. Er wollte sich über den Mechanismus und seine kunstreiche Zusammensetzung verbreiten, da vernahmen beide Männer aus dem Nebenzimmer ein Geräusch. Sie horchten auf. Ein Möbelstück wurde vom Platz gerückt, Schritte gingen hin und her, dann erschallte ein Klopfen und Knarren, als wenn mit einem Meißel eine Kiste aufgesprengt würde. Dann raschelte es laut und lange wie von zu Boden geschleudertem Papier, dann schimpfte eine Stimme, dann erhob sich ein eigentümlich grausiger Singsang in Tönen wie: Joi! und Huh! und auf einmal knisterte es wie von Flammen.
Der alte Jordan riß die Tür auf und schrie gleich einem Kind.
Philippine stand in einem Haufen brennenden Papiers. Sie hatte Daniels Truhe geöffnet, alle Handschriften herausgeworfen und sie in Brand gesteckt. Der Anblick, den sie bot, war fürchterlich. Ihre Haare hingen verworren über die Schultern, mit den Armen machte sie unablässige Bewegungen, als ziehe sie an einem Brunnenschwengel, aus ihrem Mund kamen hohe, lallende, gurgelnde Töne, die nichts Menschenähnliches hatten, ihr von den Flammen bestrahltes Gesicht zeigte eine grauenvolle Wollust, und während Herr Carovius und der alte Jordan wie gelähmt auf der Schwelle standen, fing sie an zu hopsen und streckte dabei die Hände gegen das Feuer aus, welches immer höher schlug.
Herr Carovius, aus seiner Erstarrung erwachend, sah, daß es höchste Zeit war, sich zu retten, und mit dem Arm sein Gesicht bedeckend, floh er, so schnell ihn seine Füße trugen, zur Flurtür und zur Stiege. Dem alten Jordan rannen die Tränen über die Wangen, der Schrecken machte ihn unfähig zu überlegen, er rannte in seine Stube zurück, öffnete das Fenster und brüllte auf den Platz hinunter, dann erinnerte [581] er sich seiner geliebten Puppe, eilte hin und nahm sie in den Arm; aber als er das Zimmer verlassen wollte, strömte ihm der Qualm betäubend und beizend entgegen, er taumelte hindurch, gelangte bis zur Stiege, tat einen Fehltritt, stürzte, die Puppe krampfhaft fest umschließend, kopfüber die Stiege hinunter, zuckte noch einige Male und blieb dann regungslos liegen.
Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gemacht.
Dorothea, die in der Wohnung ihre Habseligkeiten zusammengerafft hatte, eilte, den Koffer schleppend, mit fahlem Gesicht an seiner Leiche vorüber, ohne einen Blick darauf zu werfen, und verschwand in dem Gewühl aufgeregter Menschen.
Im Haus der Frau Hadebusch hatten die Polizisten Daniel und den Amerikaner endlich voneinander gerissen. Daniel fiel auf einen Stuhl und starrte stupid vor sich hin. Frau Hadebusch brachte Wasser herbei, der Amerikaner kleidete sich unter dem Gelächter der Zuschauer an.
Danach wurden die beiden Männer auf die Wache geführt, und der Kommissär schrieb auf, was er für die spätere Amtshandlung wissen mußte. Daniel gewahrte eine Gaslampe, einen Federstiel, mehrere grinsende Gesichter, seine eigene blutige Hand, sonst nichts. Der Amerikaner wurde zur Verhütung weiterer Feindseligkeiten noch zurückbehalten, indes man Daniel gehen hieß. Er hörte, daß der junge Mensch in seinem radebrechenden Deutsch und mit wuterstickter Stimme allerlei erzählte, aber er nahm es nicht in sich auf.
Er hörte einen Hund bellen, einen Wagen rasseln, eine Glocke schlagen, er hörte sprechen, murmeln, rufen und das Scharren von Füßen, aber es klang alles wie durch die Mauern eines Gefängnisses. Taumelnd setzte er seinen Weg fort.
[582] Als er zur Frauenkirche kam, wandte er sich rechts gegen den Obstmarkt und sah plötzlich das Gänsemännchen vor sich.
»Geh heim,« schien das Männchen zu sagen, und seine Stimme war traurig, »geh heim!«
Wer bist du und was willst du von mir? fragte es in Daniel. Aber da war es, als ob die Figur unsichtbar würde und erst in der Ferne wieder, in einem lichten Glanz, wahrzunehmen sei.
Über den Egydienplatz rannten Leute, und einzelne schrien: »Feuer!« Daniel bog um die Ecke und konnte sein Haus sehen. Hinter den Fenstern seiner Stube loderten Flammen. Er preßte die Hände gegen die Schläfen und drängte sich mit angstvoll geweiteten Augen durch die Menge bis ans Haus. »Um Gottes-, Himmelswillen,« stieß er hervor, »rettet mir die Truhe!«
Viele sahen ihn an. Eine Gestalt zeigte sich oben am Fenster, viele Arme deuteten hinauf. »Das Weibsbild! schaut das Weibsbild!« wurde gerufen; und dann wieder: »die hat gezündelt! die hat das Feuer gelegt!«
Daniel stürzte ins Haus. Feuerwehrmänner überholten ihn. Da sah er im Flur, in der Beleuchtung von hastig hin und her getragenen Laternen, notdürftig und in Eile aufgebahrt, die Leiche des alten Jordan; die Leiche und neben ihr, wie überirdischen Hohn, die Puppe, die Älplerin mit der Maschine im Bauch. Dumpf seufzend fiel er nieder, und seine Stirn berührte die tote Hand des Greises.
Wie im Schlaf vernahm er das Zischen aus den Wasserschläuchen, die Kommandos, das geschäftige Vorbeirennen der Männer, dann war es ihm, als tauche ein Schatten flüchtig auf, eine Gestalt wie aus der Unterwelt; eine geballte Faust öffnete sich und warf zerknitterte Blätter vor ihn hin, und wie er emporblickte, sah er nur die rings um ihn sich drängenden Menschen, die Gestalt hatte sich zwischen ihnen hindurchgeschoben, [583] und niemand hatte in der Verwirrung ihrer geachtet.
Mit abwesender Gebärde griff Daniel nach dem Blatt, das ihm zunächst lag. Es war auf das Gesicht der Puppe gefallen. Er entknitterte es und gewahrte die von seiner Hand geschriebenen Noten aus der »Harzreise im Winter«. Und unter den Notenzeilen standen die Worte:
Aber abseits, wer ist's?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
hinter ihm schlagen
die Sträuche zusammen
das Gras steht wieder auf,
die Öde verschlingt ihn.
Melodie und Rhythmus, die über den Worten sich spannten, waren von grandioser Düsterkeit, gleich einem Gesang verfolgter Schatten in der Nacht, überm Meer. Daniel erinnerte sich der Stunde, in der er dies geschaffen, erinnerte sich an Gertruds Blick und Antlitz, als er es ihr vorgespielt; und Lenore stand da, in einem weißen Gewand, mit einem Myrtenkranz im Haar, und die Töne dröselten das Gewebe der unendlichen Zeit auf. Aber abseits, wer ist's? klagte es tief und schwer, fragte es prophetisch groß; da verhüllte er sein Gesicht und schluchzte, daß ihm zumut war, als breche sein Herz auseinander.
Der tote alte Mann und die Puppe lagen gleich still da.
Nach einer halben Stunde war das Feuer gelöscht. Die beiden Stuben unterm Dach waren völlig ausgebrannt, sonst war kein Schaden geschehen.
Philippine war spurlos verschwunden. Da niemand bemerkt hatte, daß sie das Haus verlassen, glaubte man zuerst, sie sei in den Flammen umgekommen. Doch als man nachforschte, erwies sich diese Annahme als irrig. Die Polizei fahndete überall nach ihr, es war ganz vergebens, sie war nicht aufzufinden. Einige Leute, die sie näher gekannt hatten, [584] verfochten unerschütterlich die Meinung, sie sei mit Haut und Haar verbrannt, und nichts weiter sei von ihr übriggeblieben als ein Häuflein schwarzen Aschenstaubes.
Wie dem auch sein mochte, Philippine kehrte nicht mehr ins Haus zurück, und nie wieder hörte und sah man etwas von ihr.
[585]Spät am Abend kam Benda. Er war über das Vorgefallene ziemlich genau unterrichtet. Im Flur hatte er Agnes getroffen und die sonst so Einsilbige wider Erwarten mitteilsam gefunden. Sie hatte aber nur bestätigen können, was er von den Leuten schon erfahren hatte.
Sie begleitete ihn in den Oberstock, und er stand lange vor den ausgebrannten Räumen, in denen zwei Männer von der Feuerlöschtruppe Wache hielten. »Alle seine Noten sind verbrannt,« sagte Agnes, und Benda dünkte es kaum möglich, dem Freund nach einem solchen Ereignis gegenüberzutreten. Doch schämte er sich seiner Scheu und ging hinunter zu Daniel.
Es war im Haus wieder ruhig geworden.
Daniel hatte in der Wohnstube eine Kerze angezündet. Als es ihm nach einer Weile zu düster schien, zündete er noch eine Kerze an.
Er schritt auf und ab. Der Raum wurde ihm zu klein, er öffnete die Tür zum Zimmer Dorotheas und ging nun auch durch dieses, immer auf und ab. Wenn er in die dunkle Stube kam, bewegten sich jedesmal seine Lippen zu einem Murmeln, und wenn er in die beleuchtete zurückkehrte, sah er ein paar Sekunden lang ins Kerzenlicht.
Seine Züge hatten den Ausdruck eines Leidens, das größer nicht mehr sein konnte. Den eintretenden Benda schien er nicht zu gewahren.
»Alles hin? alles vernichtet?« fragte Benda, nachdem er Daniels Wandern fast eine Viertelstunde zugesehen hatte.
»Ein Grab neben andern Gräbern,« murmelte Daniel mit einer Stimme, die nicht wie seine eigene klang. Er hob dann auch den Kopf, gleichsam erstaunt über die Stimme. [586] Ihm schien, es sei ein Fremder unhörbar ins Zimmer getreten.
»Und auch das letzte, das große Werk, von dem du mir erzählt hast, die Frucht vieler Jahre?« fragte Benda weiter.
»Alles,« entgegnete Daniel in die Luft hinein, »alles, was ich an Musik geschaffen habe, seit ich Ursache haben durfte, an mich zu glauben. Die Sonaten, die Lieder, das Quartett, der Psalm, die Harzreise, Wanderers Sturmlied und die Symphonie, alles bis aufs letzte Blatt.«
Ja, es war ein Fremder da, denn man hörte ihn leise lachen. »Warum lachst du?« fragte Daniel streng und rückte seine Brille zurecht.
Benda antwortete erschrocken: »Ich habe nicht gelacht.«
»Das Gras steht wieder auf, die Öde verschlingt ihn,« sagte der Fremde. Er trug einen altertümlichen Anzug, ein komisches Mützchen und hatte Stulpenstiefel an den Beinen. Den sollt ich doch kennen, fuhr es Daniel durch den Sinn, und mit trübem Blick überlegte er.
Das ist ja wie Mord, unerhörter Mord, schrie es in Benda; wie kann er es ertragen, was wird er tun?
»Was ist nun zu tun?« nahm Daniel laut den Gedanken Bendas auf und schielte im Hin- und Hergehen bisweilen nach dem Fremden, der langsam durch das Zimmer gegen den Erker schritt; »was kann irgendeine menschliche Phantasie sich vorstellen, daß man danach tut? Nichts! Versinken; in Verrücktheit versinken.«
»Oho!« ließ sich der Fremde vernehmen, »das ist stark.«
Wenn er doch schwiege, dachte Daniel gequält. »Du wirst ja wissen, was sich mit der begeben hat, die ich mein Weib genannt habe,« fuhr er fort. »Daß ich mich an diesen eitlen und seelenlosen Geist eines Spiegels weggeworfen habe, ist unerheblich. Sind schon Gewaltigere als ich ins Netz geraten und haben sich verstrickt. Den Wahn hab ich nie gehegt, als wär ich gefeit gegen alles Blendwerk dieser Erde. [587] Obwohl ich der Meinung war, daß ich Wahrheit und Lüge wittern und voneinander unterscheiden könne wie eine Hand das Trockene vom Feuchten. Aber den Zusammenhang mit dem andern fass' ich nicht, die Notwendigkeit dieses Gräßlichen fass' ich nicht.«
»Recht ist dir geschehen,« sagte der Eindringling mit den Stulpenstiefeln. Er hatte sich auf einen Stuhl beim Erker gesetzt und sah ganz freundlich aus.
»Warum?« brüllte Daniel stehenbleibend.
Mit bestürztem Gesicht erhob sich Benda. »Sprich dich aus, Daniel,« drängte er liebevoll, »sprich dir alles von der Seele!«
»Könnt ich's, Friedrich, könnt ich's nur! Wär mir nur die Zunge gegeben! Oder daß es einer mit mir fühlte und sagen könnte!«
»Versuchs; das erste Wort ist oft wie ein Funken und erzeugt Flammen.«
Daniel schwieg. Der Eindringling sagte an seiner Stelle bedächtig: »Das geht tief hinab in die Höhlen der Brust und hoch hinauf zu den unsterblichen Dingen.«
Da blickte Daniel scharf zu ihm hinüber und sah, daß es das Gänsemännchen war.
Alle Anstrengung, Daniel zum Reden zu bringen, war vergeblich, und gegen Mitternacht verabschiedete sich Benda. Agnes sperrte ihm das Tor auf, und er sagte zu ihr: »Sorg du für ihn, er hat niemand jetzt.«
Die Hände hinter dem Haupt verschränkt, lag Daniel auf dem Kanapee und stierte gegen die Decke. Seine Augen waren heiß, manchmal überlief ihn ein Zittern.
»Ungemütlich ist's hier,« sagte das Gänsemännchen, »die [588] Luft ist noch voll Rauchgestank, und von der finstern Stube dorten zieht's herein.«
Daniel erhob sich, machte die Tür zu und legte sich wieder hin.
Das metallische Äußere des Gänsemännchens schien biegsam zu werden, ungefähr wie wenn ein hartgefrorener Körper auftaut. »Viel hast du erlebt,« fuhr es nachdenklich fort. »Daß einer, der schaffen will, auch erleben muß, ist klar; da ist seine Muttermilch, da ist sein Wurzelreich, da schießen die Säfte zusammen, aus denen ihm Formen und Gestalten werden. Aber erleben und erleben, das ist zweierlei.«
»Überflüssiger Tiefsinn,« murmelte Daniel ärgerlich, »Leben heißt erleben.« Er ging mit sich zu Rate, wie er sich von dem lästigen Schwätzer befreien könnte.
Das Gänsemännchen ließ wieder sein leises Lachen hören. Es antwortete: »Viele leben und leben doch nicht, leiden und leiden doch nicht. Worin besteht Menschenschuld? Im Nichtfühlen, im Nichttun. Man muß da erst einen ganz bestimmten und ganz falschen Begriff von Größe beseitigen. Was ist denn Größe? Nichts weiter als die Erfüllung einer unendlichen Reihe kleiner Pflichten.«
»Es ist ein Unterschied zwischen dem Schöpfer und allen andern Menschen,« gab Daniel zurück, den dieses Gespräch aufregte und peinigte.
»Berufst du dich nun auf die Musik?« fragte das Gänsemännchen, und sein gutmütiger Blick wurde spöttisch.
»In der Musik ist jede Hervorbringung strenger an ein Unbedingtes und Äußerstes gebunden als in allem, was der Mensch sonst dem Menschen gibt,« antwortete Daniel. »Der Musikergenius steht Gott am nächsten.«
Das Gänsemännchen nickte. »Aber sein Sturz beginnt einen Schritt von Gottes Thron und ist tief. Weißt du, was du bist? weißt du endlich, was du nicht bist?«
Daniel drückte die Hand auf die Brust. »Hab ich mich [589] um vergänglichen Lorbeer gebalgt? Hab ich das unmündige Volk mit Surrogaten abgespeist oder den Himmelsflug durch Veitstänze nachgeahmt? Hab ich nicht nach meinem innersten Wissen und Gewissen gehandelt? War ich ein Lügner?«
»Nein, nein, nein,« beruhigte das Gänsemännchen, nahm sein Mützchen ab und legte es auf seine Knie. »Du warst in deiner Sache; gar kein Zweifel, du warst in deiner Sache. Alles Leben ist in deine Seele geströmt, und du hast im elfenbeinernen Turm gewohnt. Wohlverwahrt war deine Seele, von Anfang an wohlverwahrt. Wie wenn ein Schwimmer sich mit Fett einreibt, bevor er sich ins Wasser stürzt. Du hast gelitten; das Gift des Nessushemds, das du getragen, hat deine Haut verbrannt, und der Schmerz hat sich in süßen Klang verwandelt. So sind sie, die Schöpfer, unverletzlich und unnahbar, so denkst du sie, nicht wahr? Unmenschen, die das Kreuz der Welt auf sich nehmen und doch im Schmerz über ihr eigenes Schicksal hinüberwachsen. So bist du, so siehst du aus, heute, in deinem zweiundvierzigsten Jahr.«
Der Ton von Bitterkeit traf Daniel unerwartet, und er drehte das Gesicht gegen die Richtung, wo das Gänsemännchen saß. »Ich versteh dich nicht,« sagte er langsam. Von der Hofkammer her erschallte das jämmerliche Weinen des kleinen Gottfried und dann Agnes' beschwichtigender Singsang.
»Hättest du doch lieber nicht im elfenbeinernen Turm gewohnt!« rief das Gänsemännchen aus. »Wärst du empfindlicher gewesen und weniger wohlverwahrt! Hättest du doch gelebt, gelebt, gelebt, ganz wahr und ganz nah wie ein Nackender im Dornendickicht! Dann hätt es dich niedergetreten, aber deine Liebe wäre wirklich gewesen, der Haß, den du erfahren, wirklich, das Unglück wirklich, die Lüge wirklich, Spott und Verrat wirklich, und noch die Schatten deiner Toten hätten Wirklichkeit gehabt. Und das Gift des Nessushemds hätte nicht bloß deine Haut verbrannt, es wäre [590] dir ins Blut gedrungen, bis in die stillste, heiligste Tiefe deines Herzens, da wäre dein Werk nicht im Ringen gegen deine Finsternis und beschränkte Qual gewachsen, unfrei vor den Menschen, ungesegnet von Gott. Bilde dir nur nicht ein, daß du das Leiden der Welt getragen hast, dein eigenes hast du getragen, liebend-lieblos, selbstlos-selbstsüchtig, Unmensch, der du warst, Unbürger!«
»Wer bist du? was nimmst du dir heraus?« kam es stockend von Daniels blassen Lippen.
»Ei, siehst du denn nicht, wer ich bin? Das Gänsemännchen bin ich,« war die mit treuherzigem Bückling gegebene Antwort. »Das Gänsemännchen, einsam hinterm Gitter, einsam auf der Wasserschale, aber mitten auf den Markt hingestellt. Ein unbedeutendes Wesen, faßbar jedem, der vorübergeht, obwohl man mir eine Art von Monumentalität zugedacht hat. Doch ich mache mir nichts aus der Monumentalität, ich pfeife drauf. Ich verleihe dem Markt, auf dem die Bürger um Äpfel und Kartoffel feilschen, ein bißchen Würde, das ist alles. Sie sehen mich immer aufrecht unter dem Himmel stehen, und trotz meiner ausgezeichneten Position haben sie mich stets wie einen Vetter betrachtet. Eine Zeitlang haben sie dir meinen Namen angehängt, aber ganz mit Unrecht, scheint mir, ganz mit Unrecht. Ich hab meine Gänse treu gehütet, da kann mir keiner was nachsagen.«
Das Gänsemännchen lachte harmlos und glücklich, und als Daniel den Blick wieder gegen den Erker wandte, war der Stuhl leer, der seltsame Gast verschwunden.
Aber er kam wieder, und als Daniels Geist und Körper vollends niederbrach und er sich zu Bett begeben mußte, wurden seine Besuche regelmäßig. Er saß neben Benda, [591] denn Benda war oft vom Morgen bis in die Nacht in Daniels Stube, doch Daniel wurde immer stiller und antwortete bisweilen gar nicht auf Bendas Fragen.
Hinter dem Doktor Dingolfinger trat das Gänsemännchen ein und reckte sich neugierig, um ihm über den Arm zu blicken, wenn er seine Rezepte schrieb. Denn es war klein von Gestalt und reichte dem Doktor kaum bis zur Hüfte.
Es trippelte um Agnes herum, wenn sie die Suppe brachte und äußerte sein Mitleid über das schlechte Aussehen des Mädchens, das mit seinen dreizehn Jahren einen betrübenden Eindruck der Reife machte und dessen Augen furchtsam und verstohlen nach einem liebevollen Blick aus andern Menschenaugen Ausschau hielten. »Die müßte man auch pflegen,« sagte das Gänsemännchen kopfschüttelnd, »der müßte man auch ein gutes Süpplein kochen.«
Ohne daß man es aufdringlich hätte nennen können, bekümmerte es sich um alles, was im Hause vorging. Als die Gerichtspersonen kamen, um Daniel wegen des Brandes zu vernehmen, zeigte es sich ungehalten und wollte die Herren nicht über die Schwelle lassen. »Gönnt ihm doch endlich Ruhe,« beschwor es sie, »endlich kann er sich sammeln, endlich zurückschauen.« Und in der Tat entfernten sich jene bald wieder.
Dabei war es stets guter Laune, stets zu einem Scherz aufgelegt. Manchmal pfiff es leise vor sich hin und zog dabei sein Röcklein glatt. Eine gewisse Bauernschlauheit trat an ihm zutage, aber seine liebenswürdigen Manieren und seine kindliche Heiterkeit ließen diese Eigenschaften nicht unangenehm erscheinen. Zumeist redete es im Nürnberger Dialekt, nur wenn es mit Daniel allein war, sprach es im getragenen Hochdeutsch, und seine natürliche Bildung wie der Reichtum seiner Ausdrucksmittel war dann zum Erstaunen.
Zehnmal des Tags lief es zum kleinen Gottfried in die Kammer und bezeigte sein Entzücken über das hübsche Kind. [592] »Wie beneidenswert bist du, daß so ein lebendiges Geschöpf in deinem Haus herumkrabbelt,« sagte es zu Daniel, und allmählich spürte Daniel eine ganz neue Zärtlichkeit gegen das Kind in sich erwachen.
Als sich das Gänsemännchen heimisch fühlte, brachte es immer seine beiden Gänse mit und setzte sie behutsam in einen Winkel der Stube. Eines Abends saß es bei ihnen und scherzte mit ihnen, da läutete es draußen, und Andreas Döderlein stürmte herein. Er machte großen Lärm und begehrte zu wissen, wo seine Tochter sei.
»Meiner Treu, ein alter Bekannter,« sagte das Gänsemännchen lustig zwinkernd. »Ich seh ihn jetzt öfter im Wirtshaus sitzen, als seiner Gesundheit zuträglich ist.«
»Ich muß dringend bitten, sich zu mäßigen,« wandte sich Benda beherrscht zu Andreas Döderlein und deutete auf das Bett, in welchem Daniel lag.
»Meine Tochter ist nicht schlecht, das rede man andern ein, die leichtgläubiger sind,« rief Döderlein mit der Miene und Gebärde des königlichen Lear und schüttelte die Mähne; »gewaltsam hat man sie ins Verderben gehetzt; durch niedrige Kniffe hat man mir die Liebe meines Herzblättchens geraubt. Wo ist es hin, das unglückliche, verratene Kind, womit wird es seine Blöße decken?«
Da geschah das Wunderliche, daß sich das Gänsemännchen an den riesigen Arm des Olympiers hing, seinen Mund dessen fleischigem Ohr näherte und ihm mit trauriger und vorwurfsvoller Miene etwas zuflüsterte. Döderlein wurde rot und blaß, schaute zur Erde und ging mit seinem dröhnenden Schritt schweigend davon. Das Gänsemännchen verschränkte die Arme über der Brust und blickte ihm in tiefen Gedanken nach.
»Er soll sich dem Trunk ergeben haben,« sagte Benda, »soll ein wüstes Leben führen. Es scheint mir unglaubhaft. Die Döderleins begnügen sich gewöhnlich damit, am Ufer des Sumpfs zu lustwandeln und andere Leute hineinplumpsen [593] zu lassen. Die Döderleins werden im falschen Hermelin geboren und sterben auch im falschen Hermelin.«
»Und doch ist er ein Mensch,« sagte das Gänsemännchen, nur für Daniel vernehmlich.
Daniel seufzte.
Es war tiefe Nacht. Daniel konnte nicht schlafen. Das Gänsemännchen kauerte ihm zu Füßen auf dem Bettrand und schaute ihn an, wie man einen teuren Bruder anschaut, der leidet.
»Ich kann's nicht leugnen, daß es schwer für dich ist, dein Leben fortzuführen,« begann das Gänsemännchen und gab sich Mühe, seine helle Stimme zu dämpfen. »Wenn man so bedenkt, Tag reiht sich an Tag, Nacht an Nacht, und mit nichts kann man sich freuen. Alles abgeschnitten, alle Fäden zerrissen, der Grund, auf dem man gebaut hat, zerstört. Du bist wie die Mutter von vielen Kindern, die an einem Tag mit einem Schlag alle Kinder verloren hat. Das jahrelange Ringen unbelohnt, umsonst die Arbeit, umsonst das Herzblut vergossen, umsonst entbehrt, die ganze Vergangenheit wie ein böser wilder Traum. O, ich begreif es, es ist hart, sehr hart, und schwer scheint es, nicht zu verzweifeln.«
Daniel bedeckte das Gesicht mit den Händen und stöhnte.
»Hast du dich schon gefragt, wie die Mörderhand über dein Schicksal gekommen ist? Ei, diese Philippine! Diese Jasonphilippstochter! Bin doch fast vierhundert Jahre alt, aber so eine hab ich noch nie gesehen. Aber blick einmal zurück; öffne deine Augen, jetzt sind sie rein und fähig, zu schauen. Hast du es nicht geduldet, daß der Teufel an deinem Leben teilgenommen hat, und warst du nicht unduldsam gegen die Engel, die ihre Fittiche an dich geschmiegt wie die Gänse ihre an mich? Der Teufel ist fett geworden bei dir, der [594] Vampir hat sich gemästet. Das kommt davon, wenn man nicht geben will, wenn man immer bloß nimmt, nimmt, nimmt; da wird der Teufel fett, der Vampir immer gieriger. Ach, viele gute Genien sind vor dir geflohen, viele hast du verscheucht, du Behexter, du; du Verzauberter, du. Nun, die Hölle hat jetzt ihre Beute, der Himmel kann sich deinem neugeborenen Herzen wieder auftun.«
»Es ist kein Himmel,« ächzte Daniel, »es ist nur Schwärze, nur Finsternis.«
»Dein Atem geht, dein Puls schlägt, und an jeder Hand hast du noch fünf Finger,« versetzte das Gänsemännchen ruhig. »Wer bezahlt hat, ist ein freier Mann. Du hast deine Schuld bezahlt.«
»Meine Schuld bin ich selbst. Leb ich weiter, so schuld ich weiter. Lebt' ich zurück, ich entginge nicht der gleichen Schuld.«
»Es gibt aber eine Verwandlung, und durch die wird einem Absolution. Wende deinen Blick ab vom Phantom und werde erst Mensch, dann kannst du Schöpfer sein. Bist du Mensch, wahrhaft Mensch, dann bedarf es vielleicht gar nicht des Werkes, dann strahlt vielleicht die Kraft und die Herrlichkeit von dir selber aus. Sind denn nicht alle Werke nur Umwege des Menschen, nur unvollkommene Versuche zu seiner Offenbarung? Wenn das Werk alle Liebe verschlingt, wo bleibt der Mensch? Hast du nicht eine Maske aus Gips mehr geliebt als die Antlitze, die rings um dich geweint haben? Hast du nicht einem Larven- und Spiegelwesen Gewalt über dich verliehen und so deine Seele befleckt und deinen Geist mit Lahmheit geschlagen? Wie kann einer Schöpfer sein, der die Menschheit in sich verkürzt und betrügt? Es geht nicht ums Können, Daniel Nothafft, es geht ums Sein.«
Daniel wälzte sich gemartert in den Kissen. »Hör auf, hör auf!« würgte er hervor.
[595] Das Gänsemännchen beugte sich über ihn und kroch wie ein Tier, das nach Wärme verlangt, näher an seinen Leib. »Löse den Krampf!« mahnte es; »zerbrich die Kette! Deine Musik kann den Menschen nichts geben, solang du in dir selbst gefangen bist. Fühl ihre Not! Fühl ihre grenzenlose Einsamkeit! Schau sie an! schau sie an!«
»Es ist so viel,« antwortete Daniel in höchster Qual, »hunderttausend Gesichter verwirren mich, hunderttausend Bilder engen mich ein. Ich kann nicht unterscheiden, muß flüchten, immer flüchten.«
Etwas unsäglich Zartes, unsäglich Beteuerndes und Hinreißendes war im Klang, als das Gänsemännchen sagte: »Wie Christus sprech ich zu dir: steh auf und wandle! Steh auf und wandle, Daniel! Geh mit mir auf meinen Platz. Sei ich, vom Morgen bis zum Abend sei einmal ich, und ich will du sein.«
Da stand Daniel auf, und eh er sich noch recht besonnen, hatte er seine Kleider an und befand sich mit dem Gänsemännchen auf der Straße. Sie gingen zum Obstmarkt, und Daniel, in einem dämmerigen Zustand der Sinne, stieg mit Hilfe des Gänsemännchens auf die Wasserschale hinter dem Gitter und nahm die beiden Gänse unter die Arme. Und blieb stehen, still und steif, genau wie das Gänsemännchen und wartete der Dinge, die da kommen sollten.
Aber es ereignete sich nichts Außerordentliches. Alles was vorging, war ganz alltäglich und scheinbar ganz gewohnt.
Der Morgen brach an und die Marktweiber nahmen die Schnüre und die Decken von ihren Körben. Frische Kirschen und junge Birnen und überwinterte Äpfel leuchteten in ihren Farben, und zahllose Sperlinge pickten im Stroh, das auf [596] dem Pflaster lag. Die Sonnenaufgangsröte am Himmel wich morgendlichem Blau, und Wolken zogen über das Kirchendach, und die Weiber schwatzten miteinander, und Karren rasselten, und die Knechte schrien, und von den Fenstern wurden die Vorhänge weggezogen, und Gesichter von Frauen und Männern schauten heraus und sahen nach dem Wetter; verschlafene Gesichter, versorgte Gesichter, böse Gesichter und gute Gesichter, junge und alte.
Da kamen Mägde und Bürgerfrauen, um ihre Einkäufe zu machen. Prüfend betrachteten sie die Früchte und suchten den Preis herunterzuhandeln. Die Bäuerinnen lockten, und wenn ihr Locken vergeblich geblieben war, schimpften sie. Und wenn ein Kauf abgeschlossen wurde, nahmen sie ihre Wage in die Hand, taten Gewichte in die eine Schale und die Früchte in die andre und priesen die Waren so lange, bis sie das Geld eingestrichen hatten. Hierauf überzählten sie die Münzen und betrachteten sie mit einem Ausdruck, als ob sie sagen wollten: verdienen, das ist fein.
Aber diejenigen, die das Geld hergaben, hatten die Miene ängstlicher Genauigkeit, schienen in ihren Gedanken zu rechnen und, was ihnen auszugeben verstattet war, noch einmal zu überlegen. Was dabei so sonderbar war, Daniel bemerkte es immer deutlicher, war, daß sie gleichsam bis an die Grenze des ihnen wie von einem geheimnisvollen Gebieter gesteckten Bereichs gingen, und daß sie aussahen, als ob jenseits dieser Grenze das Verderben laure. Es war so viel Bedacht in der Art, wie die Pfennige hingereicht und so viel Siegerglück in der Art, wie sie genommen wurden, daß es rührend wirkte und all das Kleinleben sich plötzlich ungemein seltsam, seltsam gesetzesheilig darbot.
In respektierten Formen, die nicht verschleiert waren, spielte es sich ab; die Fülle störte nicht die Ordnung, die Worte verdunkelten nicht den Sinn. Da war die Ware, da war die Münze; Regel und Richte gaben die Schalen der [597] Wage. Die Früchte wanderten von Korb zu Korb, und Arme trugen sie nach Hause. Jeder holte sich nach seinem Bedarf und nach dem Maß seines Vermögens, jeder hielt sich in seiner Grenze.
Und die Turmuhr schlug, und die Schatten wanderten um ein jedes Ding im Kreis. So war es heute, so war es schon vor vierhundert Jahren gewesen.
So waren die Häuser dagestanden, mit denselben Fenstern, und aus den Fenstern hatten Menschen geblickt, mit sanften oder finstern Augen. Immer dasselbe Gesetz, immer derselbe Handel, immer die nämlichen Früchte, die zur nämlichen Zeit reif geworden waren. Spatzen zwitscherten unterm Kirchendach, Wolken zogen am Himmel, Wind lief durch die Gassen, das Herz der Welt schlug in seinem ewigen Rhythmus.
Ist das nicht Therese Schimmelweis, die dort um die Ecke schleicht? Wie alt, wie gebrechlich, wie gebeugt von Jahren und Sorgen! Ihr Haar ist steingrau, ihr Gesicht wie Kalk. Sie ist ärmlich gekleidet und sieht die ihr Begegnenden nicht an. Nur auf die vollen Obstkörbe wirft sie einen Blick, der begehrlich ist und den Daniel hinter seinem Gitter mit schmerzlicher Verwunderung bemerkt.
Und humpelt da nicht Frau Hadebusch einher? Ist ihr Gesicht auch das einer abgefeimten Verbrecherin, in den Augen liegt es doch wie Panik und Schrecken. Sie hat keinen Halt als den Boden unter ihren Füßen, sie ist arm, eine verlorene, arme Seele.
Da taucht Alfons Diruf auf, der sich längst ins Privatleben zurückgezogen hat und fett und finster seinen Morgenspaziergang gegen den Stadtgraben antritt. Und da geht der Schauspieler Edmund Hahn mit Erobererblicken, und auf seinem übernächtigen Gesicht drücken sich Krankheit und stumpfe Begierden aus. Und da kauft sich der Bildhauer Schwalbe heimlich ein paar Äpfel, die er zu Hause braten will, weil er sonst nichts Warmes zu essen hat. Und ist dies nicht Herr [598] Carovius, der da trippelt, anzusehen wie ein irrender Geist, trübselig und matt?
Und es kommen Bettler, es kommen Reiche vorbei; es kommen Geehrte, die man grüßt, und Verachtete, die man meidet; es kommen Frohe und von Sorgen Beladene, es kommen Eilende und Zaudernde; es kommen solche, die ihr Leben wie eine junge Braut umfassen, und solche, die heute noch sterben werden. Einer führt ein Kind an der Hand, einer ein Weib am Arm. Jene schleppen Lasten, und jene gehen aufrecht und frei. Den fordert das Gericht zum Zeugen, der andere sucht den Arzt zur Heilung. Der flieht vor häuslichem Unfrieden, der lächelt in Gedanken an ein Glück. Der hat seinen Geldbeutel verloren, der liest einen schicksalsvollen Brief. Der geht in die Kirche, um zu beten, jener ins Wirtshaus, um seinen Kummer zu betäuben. Der strahlt in der Erwartung guter Geschäfte, der ist niedergeschmettert, weil die Armut vor seiner Türe steht. Ein schönes Mädchen hat sich festtäglich geschmückt, ein Krüppel rastet unter einem Tor. Ein Knabe singt ein Lied, eine Matrone geht mit verweintem Gesicht. Der Bäcker trägt Brot vorbei, der Schuster Stiefel; Soldaten ziehen zur Kaserne, Arbeiter kommen aus den Fabriken.
Es ist Daniel, als sei ihm keiner fremd. Es ist ihm, als sei er in eines jeden Dasein enthalten. Auf seinem umgitterten Hochplatz ist er ihnen näher, als da er mitten unter ihnen gegangen ist. Der Wasserstrahl, den er spendet, ist wie Schicksal, das rinnt und sich im Becken sammelt. Aus der Quelle empor strömt es ihm wie ewige Weisheit zu, die Stunde wird zum Säkulum. Wie auch sonst die Menschen beschaffen sind, wenn er in ihre Augen sieht, ergreift es ihn mit überirdischem Gefühl. In allen Augen ist das Gleiche; das gleiche Feuer, die gleiche Angst, das gleiche Bitten, die gleiche Einsamkeit, das gleiche Los, der gleiche Tod; in allen ist Gottes Seele.
[599] Und er selbst spürt seine Einsamkeit nicht mehr, er spürt sich ausgeteilt; sein Haß ist zerflattert wie Rauch. Was jetzt in Tönen webt, kommt aus der tiefen Quelle herauf, es ist das Blut all derer, die auf dem Markt gehen, und Wasser ist etwas anderes als es war; Wasser wäscht manche Seele rein, daß kein Engel mag lichter sein.
Es wurde Mittag, es wurde Abend, ein Tag der Schöpfung. Und wie es Abend geworden war, sank ein Nebel herab, da stieg Daniel von der Brunnenschale, setzte sorglich die Gänse hin und ging heim. Er trat auf den Vorplatz und auf die Schwelle der Hofkammer, da bot sich ihm ein wunderlicher Anblick.
Das Gänsemännchen saß bei Agnes und dem kleinen Gottfried und spielte mit ihnen. Es hatte aus buntem Papier Silhouetten geschnitten und sie mit umgebogenen Rändern auf den Tisch gestellt. Dort schob es sie gegeneinander und ließ sie so lustige Sachen reden, daß Agnes, die nie in ihrem Leben ordentlich gelacht hatte, auf einmal zu dem Kind wurde, das sie ja noch war, und von Herzen lachen mußte.
Der kleine Gottfried konnte nur lallen und in die Händchen patschen, und wenn er auf dem Tisch, wo er hockte, eine ungeschickte Bewegung machte, schob ihn das Gänsemännchen sacht und mit kundiger Hand wieder zurecht.
Als Daniel in die Türe trat, erhob sich das Gänsemännchen und begab sich an seine Seite. Er grüßte ihn und sagte zutraulich: »Schon wieder zurück von der Reise? Wir haben uns die Zeit ganz artig vertrieben.«
Im Zimmer war aber nun derselbe Nebel, der sich über den Brunnen gesenkt hatte, als Daniel herabgestiegen war. Da fühlten die Kinder, Agnes und Gottfried, eine schreckliche Bangigkeit und Furcht; der Knabe begann zu weinen, und Agnes schlang die Arme um ihn und weinte gleichfalls.
Daniel ging zu ihnen hin und sagte: »Weint doch nicht, ich bin ja bei euch, ihr braucht nicht mehr zu weinen.«
[600] Er setzte sich auf denselben Platz, auf dem das Gänsemännchen gesessen, schaute sich die papierenen Figürchen an und fuhr lächelnd in demselben Spiel fort, welches das Gänsemännchen angefangen.
Der Knabe beruhigte sich, und Agnes wurde auch wieder froh.
»Gute Nacht,« rief das Gänsemännchen, »jetzt bin ich wieder ich, und du bist du.«
Es winkte freundlich und verschwand.
Noch am nämlichen Abend kamen sechs von Daniels Schülern, die gehört hatten, daß er von seiner Stelle an der Anstalt entlassen worden war.
Es war kein bloßes Gerücht. Andreas Döderlein hatte diese Maßregeln getroffen. Auch seines Organistenamtes war Daniel entsetzt worden. Der stadtkundige Skandal, zu dem er Anlaß gegeben, hatte die kirchliche Behörde gegen ihn aufgebracht.
Die sechs Schüler traten in die Kammer, wo er bei seinen Kindern saß, und einer, den sie zum Wortführer ernannt hatten, sagte, daß sie beschlossen hätten, nicht von ihm zu lassen, und er möge sie nicht abweisen.
Es waren kluge und lebhafte junge Leute; in ihren Augen war ein Enthusiasmus, der noch nicht durch Feigheit und Dünkel getrübt war.
»Ich bleibe nicht in der Stadt,« sagte Daniel zu ihnen, »ich will nach Eschenbach, in meine Heimat ziehen.«
Die Schüler blickten einander an. Hierauf sagte der Sprecher: »Wir wollen mit Ihnen gehen.« Und alle nickten.
Daniel erhob sich und reichte jedem einzelnen die Hand.
Zwei Tage nachher, Daniels Hausstand war schon in [601] voller Auflösung, kam Benda, um sich zu verabschieden. Ihn rief die Arbeit, rief seine große Pflicht.
Zuerst hatte es Benda kaum zu fassen vermocht, daß Daniel noch sollte wirken können, daß da noch ein ganzes Leben sein sollte und nicht Trümmer einer Existenz, Ruinen eines Herzens. Und doch war dem so.
Es war etwas Befreites an Daniel, den Gewöhnlichsten entging es nicht. Obgleich noch wortkarger als ehedem, hatte sein Auge einen neuen Glanz, ernst und heiter zugleich; seine Stimmung war milder, sein Gesicht voll Ruhe.
Die Freunde gaben einander die Hand. Benda ging langsam hinaus, langsam die Stiege hinunter, langsam durch die Gassen. Er fühlte sich so gering; er fühlte sich so sonderbar gering.
Und Daniel zog nach Eschenbach, in das elterliche Häuschen. Seine Schüler mieteten sich bei einigen Bürgern ein.
Den Leuten im Ort galt er als ein Original, und sie lächelten, wenn von ihm die Rede war oder wenn sie ihn versunken, nach seiner Art, durch die Gassen wandeln sahen. Doch es war kein böses Lächeln; der anfängliche Spott darin verschwand bald und machte einer ungewissen Empfindung des Stolzes Platz.
Er gewann eine heimliche Macht über die Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, und viele fragten ihn in schwierigen Lebensumständen um Rat. Insbesondere seine Schüler beteten ihn an. Er hatte die Gabe, sie zu spannen und hinzureißen. Die Mittel, deren er sich dabei bediente, waren die einfachsten. Die selbstleuchtende Persönlichkeit, der Einklang zwischen Wort und Tun, der Menschenernst, der Menschenblick, die Hingebung an eine Sache und das große Gefühl von ihr, das waren seine Mittel.
[602] Er wurde ein berühmter Lehrer, mit jedem Jahr mehrte sich die Zahl derjenigen, die seiner Unterweisung teilhaftig werden wollten. Aber er nahm nur wenige an, die besten nur, und die Sicherheit, mit der er wählte und sonderte, war untrüglich.
Keine Lockung konnte ihn bewegen, den abgeschiedenen Ort, auf dem er zu leben gewillt, zu verlassen.
Er hatte meist ein freundliches Wesen, war auch nicht zerstreut und beobachtete mit Genauigkeit und Schärfe, was sich rings um ihn ereignete. In Zorn geriet er nur, wenn er irgendwo Zeuge von Tierquälereien wurde, und einst hatte er, zum Hallo der Gassenjugend, einen heftigen Streit mit einem Fuhrmann, der seinen mageren Gaul vor dem schwerbeladenen Wagen unter wütenden Peitschenschlägen vorwärtstrieb. Da lachten die Leute ergötzt und sagten: »Er ist halt närr'sch, der Professor.«
Agnes führte ihm den Haushalt und sorgte treu für alle seine Bedürfnisse. Wenn er vom Hause ging, brachte sie ihm Hut und Stock, und jeden Abend, bevor sie sich schlafen legte, küßte sie ihn auf die Stirn. Sie sprachen fast nie miteinander, doch auf stille Weise war ein Einverständnis zwischen ihnen entstanden.
In Gottfried wuchs ihm ein wohlgeartetes Kind heran. Er hatte Daniels Körperformen und die Augen Lenores. Ja, es waren die Augen mit dem blauen Feuer, auch hatte er Lenores märchenhafte Unberührbarkeit und ihren Abscheu gegen alle Lüge und Verstellung. Daniel erblickte darin ein Naturspiel von ergreifendem Tiefsinn; alle Gesetze des Bluts schienen wesenlos, und oft irrte sein Gefühl zwischen Dank und Staunen.
Von Dorothea hörte er eines Tages, daß sie ihr Leben als Violonistin bei einer Damenkapelle friste. Er forschte weiter nach, die Spuren führten nach Berlin, dann verloren sie sich. Ein paar Jahre später wurde ihm mitgeteilt, sie sei [603] die Mätresse eines böhmischen Gutsbesitzers und fahre im Automobil an der italienischen Riviera spazieren.
Auch der Tod des Herrn Carovius wurde ihm berichtet. Seine letzte Stunde, hieß es, sei schwer gewesen, und er habe in einem fort gerufen: »Meine Flöte, gebt mir meine Flöte!«
An einem Augusttag des Jahres 1909 feierten Daniels Schüler den fünfzigsten Geburtstag ihres Meisters. Sie brachten ihm allerlei Geschenke und veranstalteten ein Essen im Gasthaus zum Ochsen.
Einer der Schüler, ein bildhübscher Jüngling, dessen Zukunft Daniel besonders am Herzen lag, überreichte ihm einen großen Strauß Feuerlilien, wie sie dort in den Wäldern wachsen. Er hatte sie selbst gepflückt und in eine kostbare Vase getan.
Es gab frugale Speisen, und dazu wurde fränkischer Landwein getrunken. Während des Mahles stand Daniel auf, ergriff sein Glas, und mit fernsehendem Blick sagte er: »Ich trinke auf ein Wesen, das keiner von euch kennt, das hier in Eschenbach aufgewachsen und mir seit vielen Jahren geheimnisvoll entschwunden ist. Aber ich weiß, in dieser Stunde ist sie glücklich und geliebt.«
Alle erhoben die Gläser. Sie sahen ihn an und waren von der Kraft und Klarheit seiner Züge bewegt.
Danach begab er sich mit den Schülern in die Kirche. Er ließ beide Torflügel öffnen, so daß das Tageslicht hereinströmte und in der dunkel gewesenen Höhe eine milchige Helligkeit verbreitete.
Er stieg zur Orgel hinauf und fing an zu spielen. Ein paar Männer und Frauen, die über den Platz hatten gehen wollen, traten in die Kirche und setzten sich still neben den [604] Schülern auf die Bänke. Dann kamen Kinder; schüchtern trippelten sie durch das Tor, blieben stehen und machten große Augen. Und immer mehr Leute kamen, denn die mächtigen Klänge fluteten bis in die Wohnungen. Alle schauten schweigend und ernst zur Orgel empor, deren erhabene Harmonien sie dem Alltag und seiner Niedrigkeit unerwartet entrückten.
Die Töne schwollen an wie ein Gebet aus übervollem Herzen. Als der rauschende Hymnus zum Schluß gediehen war, drang aus den Reihen der Zuhörer ein leises Mädchenweinen.
Es war Agnes, die weinte. Wurde das Leben in ihr völlig aufgeweckt? Rief Liebe sie hinaus ins Unbekannte? Wiederholte sich in ihr, was ihrer Mutter geschehen war?
Kinder wachsen auf und werden von ihrem Schicksal ergriffen.
Gegen Abend machte Daniel mit seinen neun Schülern einen Spaziergang über die Wiesen. Sie gingen weit; letzte Vogelstimmen erschallten, das Rot des Himmels verblaßte.
Da fragte der schöne Jüngling, der an Daniels Seite schritt: »Und das Werk, Meister?«
Daniel lächelte bloß; sein Blick schweifte über die Landschaft.
Die Landschaft hat vielfaches Grün; an den Weihern steht das Gras höher, so hoch oft, daß man von den Gänseherden nur die Schnäbel gewahrt, und wäre das Geschnatter nicht, man könnte die Schnäbel für wunderlich bewegte Blumen halten.
Ende