Von der tugend und mancherlei irrtumen der menschen

Nein, es ist nicht der tugend schein,
so uns die wahre freud kan geben,
sondern die tugend selbs allein
kan uns glückselig machen leben;
die tugend selbs hat das vermögen
müh und verdruß von uns zu legen.
Die tugend macht den menschen reich,
daß ihn die armut nicht beschweret;
glück und unglück gilt ihm ganz gleich,
der hagel sein feld nicht entehret;
got ihn mit solchem gut belohnet,
das allzeit mit und in ihm wohnet.
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Die tugend gibt ruhm, adel, ehr,
wer sie hat, der ist wolgeboren,
ob er wol weder fürst noch herr,
ist er doch von got auserkoren;
dan über sein herz er regieret
und über die welt triumfieret.
Ob wol der natur freie hand
nicht seine glider wolgestaltet,
wird der beharrliche wolstand
doch seiner seelen nicht veraltet:
»soll man nu wegen guter lehren
mehr das haupt oder den hut ehren?«
Die leibsgesundheit ist die gab,
damit uns die natur erlabet;
vil besser aber dessen hab,
der mit gesunder seel begabet,
seel, die kein zufall kan erschrecken,
bekränken, schwächen noch beflecken.
Was hilft es, daß in meinem hirn
der Platon selbs und Zenon stecket?
daß witzig scheinet meine stirn,
daß mein mund stets von weisheit gecket?
wan in der einfalt reinen seelen
die tugend sich pflegt zu verhehlen?
Was hilft es, daß ich geb bericht
von allem was jemal gewesen?
daß alle künstliche gedicht
der poeten ich wol gelesen:
wan sie durch ihr kunstreiches liegen,
mein zeit verkürzend, mich betriegen?
Was hilft es, das gemäld, gesang,
die zahl und maß wol zu verstehen,
der sternen lauf, der welt fortgang
und alle länder zu besehen:
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wan in sich selbs mein herz, verblindet,
kein zil, maß, zahl noch regul findet?
Was hilft es, andern rat, arznei,
wolredenheit theur zu verkaufen,
in fremde land um spezerei,
und mutig dem krieg zuzulaufen:
wan zank und krankheit mich selbs plaget
und mir der tod allzeit nachjaget?
Was hilft es mich, blind, taub und stum
an großer herren höf zu wohnen,
und durch gesundheit und willkom
des geists und leibs nicht zu verschonen,
erlangend nichts mit müh und sorgen
dan villeicht einen guten morgen?
Ist es nicht fein, eh man guts thut
ohn bit und schmieren die leut hassen;
mit aufgenagelt krummem hut
sich breiter machen dan die gassen,
und auch mit sauren spotsaugbrauen
den, der vil beßer, schlim anschauen?
Ist es nicht ein stück der misgunst,
daß die, so sunst die künsten fliehen,
gestigen hoch durch des gelts kunst
die leiter stracks nach ihnen ziehen,
damit die, deren werk bezeugen,
daß sie mehr wert, nicht hinachsteigen?
Ist es nicht artlich, andre leut
der seelen seligkeit berauben
und doch nicht wissen selbs den streit,
noch was, wie und warum zu glauben?
fein ist es, andre stets zu schmähen
und seine eigne fehl nicht sehen.
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Es ist gar höflich, seine sprach
mit fremden worten zu parlieren
und sie mit eines andern schmach,
mit fluchen, zotten, bossen zieren;
von spilen, schlemmen, stechen, schlagen,
von huren, hetzen, beizen sagen.
Wie lieb ist es, daß arme leut
sich für dir neigen zu der erden?
wie gut ist es, in kurzer zeit
bei seinem dienst gar reich zu werden,
und doch noch dolle wort ausgießen,
wie man dabei muß vil einbüßen.
Es ist fein, daß ein fremdling sich
kan in ein gutes haus einnisten,
und mit dem fuchsschwanz listiglich
ausbutzet fertiglich die kisten
und dan, als ein subtiler spötter
die götter rühmet seine vetter.
Es ist ein boß, ein reiches weib,
wie sie sunst sein mag, zu erdappen
und sich bei ihr in stetem keib
bedecken mit der narrenkappen;
wie auch ein jungfraubas zu freien,
damit die herren günstig seien.
Es ist ein kunst, wan einer kan
vil guts zu nichts verdistillieren;
es ist ein lob mit jederman
von jedem ding zu disputieren:
in gutem glück sich zu erfreuen
und weis zu sein sich selbs beschreien.
Nein. Der bemühet sich umsunst,
sein herz vernüget zu befinden
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(er sei gleich wie er wöll voll kunst)
der sich selbs nicht kan überwinden
und der sein freud und sein vernügen
will außerhalb sich selbs erkriegen.
Dan es ja nicht der tugend schein,
so uns die wahre freud kan geben,
sondern die tugend selbs allein
kan uns glückselig machen leben;
sie selbs, die einig sich verbindet
mit der gotsforcht, stets überwindet.

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TextGrid Repository (2012). Weckherlin, Georg Rodolf. Gedichte. Gedichte. Von der tugend und mancherlei irrtumen der menschen. Von der tugend und mancherlei irrtumen der menschen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9205-A