Die lügin

Geh durch die welt, o meine seel,
der welt undankbarkeit zu sehen,
sag jedem ohn scheu seinen fehl,
die warheit selbs soll dir beistehen:
kan ja die welt nichts dan betriegen,
so heiß sie offentlich rund liegen.
Dem hof sag, daß sein pracht und ehr
wie faul holz unbeständig scheinen;
der kirchen sag, was ihre lehr
gut heißet, ihre werk verneinen;
und sagen sie, du bist betrogen,
so sag ohn scham: es ist erlogen.
Den fürsten sag, ihr stand und hab
könd nicht ohn andrer hilf lang wehren,
und daß man pfleg mehr ihre gab,
dan sie zu loben und zu ehren;
[136]
und sprechen sie: du bist betrogen,
so sag ohn forcht: es ist erlogen.
Den herren sag, die sich beseits
in ihren hohen ämptern spreißen,
daß sie des ehrgeiz und neids
mehr dan der billichkeit befleissen;
und sagen sie: du bist betrogen,
antwort du rund: es ist erlogen.
Sag denen, welche für der welt
mit zeug und kleidern statlich prangen
sie wolten gern dardurch mehr geld
und größern dienst und ruhm erlangen;
antworten sie, man sei betrogen,
so antwort du: es ist erlogen.
Sag, buhlerei sei böser lust,
sag, ehr mög bald verkehret werden,
sag, schönheit kürzlich werd ein wust,
sag, alter neig sich zu der erden;
antworten sie, man sei betrogen,
so sag du frech: es ist erlogen.
Dem rechten sag, es sei voll zank,
sag, klugheit pfleg sich zu bethören,
der arznei sag, sie sei selbs krank,
sag, keinen grund die schulen lehren;
und sagen sie, man sei betrogen,
so antwort du, es sei erlogen.
Der gunst sag, sie sei voll betrug,
dem glück sag, es sei ganz verblindet,
der reichtum sag, sie hab nie gnug,
sag, daß die kunst nicht wol gegründet;
[137]
antworten sie, man sei betrogen,
so sag du rund: es ist erlogen.
Der dapferkeit halt dise sprach,
daß sie trag selten ein mitleiden,
sag der natur, daß sie werd schwach
und könd den abgang nicht vermeiden;
antworten sie, man sei betrogen,
so sag du bald: es ist erlogen.
Der freindschaft zeig an, wie sie mag
für ihre freind so wenig sorgen,
und der gerechtigkeit selbs sag,
sie lig gefangen und verborgen;
antworten sie, man sei betrogen,
so sag du gleich: es ist erlogen.
Den stätten sag, wie treu, glaub, ehr
und redlichkeit aus ihnen fliehen,
den dörfern sag, wie sie so sehr
an grobheit und an irrtum blühen;
und sagen sie: du bist betrogen,
so sag du rund: es ist erlogen.
Letztlich die tugend selbs bericht
(wa du sie anders soltest finden),
daß man mehr ihrer achtet nicht
und sie allein bleib gar dahinden;
antwortet sie, man sei betrogen,
so sag du frei: es ist erlogen.
Wolan, wan du nu mit warheit
die welt ganz zornig soltest machen,
so kanst du noch auch mit frechheit
ohn forcht die ganze welt auslachen,
dan wer will, seel, mag dich verklagen,
auch um den kopf die geigen schlagen.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Weckherlin, Georg Rodolf. Gedichte. Gedichte. Die lügin. Die lügin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-947A-1