[233] [277]Georg Weerth
Großbritannien
Seit Wochen und Monaten füllen die sogenannten großen Männer des Ober- und des Unterhauses ihre Abende wieder mit jenen unendlichen Reden aus, in denen sich der Spleen und die Langeweile den Rang streitig machen.
Die Schiffahrtsgesetze, die Änderung des parlamentarischen Eides, die Umgestaltung der Lokaltaxen, das irische Armengesetz, die irische Emigration, die Verwicklungen des Kontinents, die Lage der Kolonien und die britischen Feldzüge in Indien, alles das waren Punkte, welche mit wahrhaft haarsträubender Gewissenhaftigkeit durchdebattiert wurden.
Während wir dem Zuge der Revolution durch Italien, durch Frankreich, durch Deutschland und durch den Osten Europas folgten, war es wirklich oft nicht der Mühe wert, diesen Debatten der großbritannischen Lords eine flüchtige Übersicht zu widmen. Doch was auch von der Donau bis zum Rheine geschah, wir vergessen darüber nicht das geringste Ereignis in der Weiterentwicklung jenes großen Landes, das mit seiner chartistischen Arbeiterbevölkerung dazu bestimmt ist, einst in der revolutionären Bewegung der Welt den Ausschlag zu geben.
Den schlechten Ernten von 1845 und 1846, der Überproduktion in Manufakturartikeln, den Eisenbahnspekulationen [277] und ähnlichen übertriebenen Unternehmungen folgte endlich in den letzten drei Monaten von 1847 eine Geldkrise, welche Alt-England bis in seine Grundfesten erschütterte.
Wiederum war man auf dem Punkte angelangt, wo die Matadore der Londoner City, die sonst im Gefühl ihres weltbeherrschenden Einflusses so stolz durch Lombard und Threadneedle Street marschieren, die Hände in den Schoß legten, da alle Mittel des regulären Verkehrs erschöpft waren und jene düstern Arbeitermassen von Lancashire und Yorkshire aufs neue so drohend emporfuhren, als wollten sie mit einem Schlage das morsche Gebäude veralteter Institutionen in Staub und Asche zusammenschmettern.
Seit den Tagen der Reform Bill hatte man in England keine ähnliche Bewegung gesehen. Doch das Erheben der Massen sollte erst seinen Gipfel erreichen, als die Nachricht der Februarrevolution eintraf und eine Demonstration veranlaßte, welche 200000 Konstabler zum Schutz der sogenannten britischen Freiheit in die Londoner Straßen jagte.
Es wäre damals für die Chartisten der Moment gewesen, ihre Bewegung zu einem Resultate zu bringen und dadurch der französischen Revolution jene Bedeutung zu geben, die durch das Fehlschlagen des Meetings vom 10. April auf Kennington Common verlorenging. Aber zu sehr hing das Volk an jenen veralteten Führern, an jenem Poltrer O'Connor, als daß es gegen seinen Willen den entscheidenden Schlag gewagt hätte, auch vergaß man namentlich in London, daß während der allgemeinen Aufregung im Süden von England der Norden durch eine Besserung des Geschäftes und eine Steigerung [278] der Arbeitslöhne schon wieder so weit beruhigt war, daß alle ideologischen Gründe an der sehr materiellen Stimmung der Arbeiter scheiterten, und die ganze Bewegung zerplatzte daher ebenso jämmerlich, wie sie großartig unternommen wurde.
Man konnte sich durch diese Niederlage der revolutionären Partei in England entmutigen lassen, wenn es nicht eine unumstößliche Wahrheit wäre, daß die chartistische Bewegung Großbritanniens zu sehr mit der ökonomischen Entwicklung des ganzen Landes verknüpft ist, als daß nicht die letzte Maßregel, welche die alte englische Gesellschaft zu ihrer Rettung ergreifen wird, mit ihrem unwiederbringlichen Falle und dem Siege des britischen Proletariats zusammentreffen wird.
Eine dieser letzten Maßregeln wurde durch die Bill der Abschaffung der Korngesetze ergriffen, welche in diesem Augenblick schon dieselbe Misere in den Agrikulturdistrikten verbreitet, welche sie in den Industriedistrikten nur momentan zu lindern imstande war. Die Abschaffung der Schiffahrtsgesetze, welche man vor wenigen Tagen bei der zweiten Lesung der betreffenden Bill im Oberhause mit einer zwar kleinen, aber entscheidenden Majorität beschloß, folgt der Auflösung der Korngesetze auf dem Fuße nach und wird neue Verwicklungen im Gefolge haben.
Immer verzweifelter greift die Bourgeoisie nach den letzten Mitteln, die sie retten können. Bald wird sie sich vergebens nach neuen Auswegen umsehen, und die eherne Notwendigkeit wird dann jenen Sieg der Chartisten herbeiführen, der das Signal der sozialen Umwälzung der alten Welt ist.
Schon bereitet sich im Norden eine neue Industriekrisis [279] vor, sie wird diesmal mit einer Agrikulturkrise und einem allgemeinen Kriege zusammentreffen. Diese äußern Verwicklungen mit diesen innern Wirren vereinigt werden den Sturz des alten Englands herbeiführen. Der Sturz Alt-Englands ist der Sturz der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der Sturz der Bourgeois-Herrschaft, der Sieg der arbeitenden Klasse.
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