Lieder aus Lancashire

Es war ein armer Schneider

Es war ein armer Schneider,
Der nähte sich krumm und dumm;
Er nähte dreißig Jahre lang
Und wußte nicht warum.
Und als am Samstag wieder
Eine Woche war herum:
Da fing er wohl zu weinen an
Und wußte nicht warum.
Und nahm die blanken Nadeln
Und nahm die Schere krumm –
Zerbrach so Scher und Nadel
Und wußte nicht warum.
Und schlang viel starke Fäden
Um seinen Hals herum –
Und hat am Balken sich erhängt
Und wußte nicht warum.
Er wußte nicht– es tönte
Der Abendglocken Gesumm.
Der Schneider starb um halber acht,
Und niemand weiß warum.
[199]

Die hundert Männer von Haswell 1

Die hundert Männer von Haswell,
Die starben an einem Tag;
Die starben zu einer Stunde;
Die starben auf einen Schlag.
Und als sie still begraben,
Da kamen wohl hundert Fraun;
Wohl hundert Fraun von Haswell,
Gar kläglich anzuschaun.
Sie kamen mit ihren Kindern,
Sie kamen mit Tochter und Sohn:
»Du reicher Herr von Haswell,
Nun gib uns unsern Lohn!«
Der reiche Herr von Haswell,
Der stand nicht lange an;
Er zahlte wohl den Wochenlohn
Für jeden gestorbnen Mann.
Und als der Lohn bezahlet,
Da schloß er die Kiste zu.
Die eisernen Riegel klangen,
Die Weiber weinten dazu.

Fußnoten

1 In den Kohlengruben zu Haswell kamen im September v.J. hundert Menschen ums Leben. – Das Verdikt lautete: »Visitation of God«. Man versichert aber, es sei dies Unglück durch die Nachlässigkeit der Grubenbesitzer entstanden.

[200] Der alte Wirt in Lancashire

Der alte Wirt in Lancashire,
Der zapft ein jämmerliches Bier.
Er zapft' es gestern, zapft es heute,
Er zapft es immer für arme Leute.
Die armen Leut in Lancashire,
Die gehen oft durch seine Tür;
Sie gehn in Schuhen, die verschlissen,
Sie kommen in Röcken, die zerrissen.
Der erste von dem armen Pack,
Das ist der bleiche, stille Jack.
Der spricht: »Und was ich auch begonnen –
Hab nimmer Seide dabei gesponnen!«
Und Tom begann: »Schon manches Jahr
Spann ich die Fäden fein und klar;
Das wollene Kleid mocht manchem frommen –
Bin selbst aber nie in die Wolle gekommen!«
Und Bill darauf: »Mit treuer Hand
Führt ich den Pflug durch britisch Land;
Die Saaten sah ich lustig prangen –
Bin selbst aber hungrig nach Bett gegangen!«
Und weiter schallt's: »Aus tiefem Schacht
Hat Ben manch Fuder Kohlen gebracht;
Doch als sein Weib ein Kind geboren –
Goddam – ist Weib und Kind erfroren!«
[201]
Und Jack und Tom und Bill und Ben –
Sie riefen allesamt: »Goddam!«
Und selbe Nacht auf weichem Flaume
Ein Reicher lag in bösem Traume.

Der Kanonengießer

Die Hügel hingen rings voll Tau;
Da hat die Lerche gesungen.
Da hat geboren die arme Frau –
Geboren den armen Jungen.
Und als er sechzehn Jahre alt:
Da wurden die Arme strammer;
Da stand er in der Werkstatt bald
Mit Schurzfell und mit Hammer.
Da rannt er den Öfen in den Bauch
Mit schweren Eisenstangen,
Daß hell aus Schlacken und aus Rauch
Metallne Bäche sprangen!
Kanonen goß er – manches Stück!
Die brüllten auf allen Meeren;
Die brachten die Franzen ins Ungelück
Und mußten Indien verheeren.
[202]
Die warfen Kugeln, leidlich schwer,
Den Chinesen in die Rippen;
Die jauchzten Britanniens Ruhm daher
Mit eisernen Kehlen und Lippen!
Und immer goß der lust'ge Held
Die blitzenden Geschütze:
Bis ihm das Alter ein Bein gestellt,
Die Fäuste wenig nütze.
Und als sie versagten den Dienst zuletzt,
Da gab es kein Erbarmen:
Da ward er vor die Tür gesetzt
Wohl unter die Krüppel und Armen.
Er ging – die Brust so zornig weh,
Als ob sie der Donner duchgrollte
Von allen Mörsern, die er je
Hervor aus den Formen rollte.
Doch ruhig sprach er: »Nicht fern ist das,
Vermaledeite Sünder!
Da gießen wir uns zu eignem Spaß
Die Vierundzwanzigpfünder.«
[203]

Sie saßen auf den Bänken

Sie saßen auf den Bänken,
Sie saßen um ihren Tisch,
Sie ließen Bier sich schenken
Und zechten fromm und frisch.
Sie kannten keine Sorgen,
Sie kannten kein Weh und Ach,
Sie kannten kein Gestern und Morgen,
Sie lebten nur diesen Tag.
Sie saßen unter der Erle –
Schön war des Sommers Zier –
Wilde, zorn'ge Kerle
Aus York und Lancashire.
Sie sangen aus rauhen Kehlen,
Sie saßen bis zur Nacht,
Sie ließen sich erzählen
»Von der schlesischen Weberschlacht.«
Und als sie alles wußten,
Tränen vergossen sie fast,
Auffuhren die robusten
Gesellen in toller Hast.
Sie ballten die Fäuste und schwangen
Die Hüte im Sturme da;
Wälder und Wiesen klangen:
»Glück auf, Silesia!«
[204]

Herüber zog eine schwarze Nacht

Herüber zog eine schwarze Nacht.
Die Föhren rauschten im Sturme;
Es hat das Wetter wild zerkracht
Die Kirche mit ihrem Turme.
Zerschmettert das Kreuz, zerdrückt der Altar,
Zermalmt das Gebein in den Särgen –
Die gotischen Bögen wälzen sich
Donnernd hinab von den Bergen.
Zum Dorfe stürzt sich Turm und Chor
Als wie zu einem Grabe –
Da fährt entsetzt vom Lager empor
Und spricht zur Mutter der Knabe:
»Ach Mutter, mir träumte ein Traum so schwer,
Das hat den Schlaf mir verdorben.
Ach Mutter, mir träumte, soeben wär
Der liebe Herrgott gestorben.«

Das ist das Haus am schwarzen Moor

Das ist das Haus am schwarzen Moor!
Wer dort im letzten Winter fror,
Der friert dort nicht in diesem Jahr –
Er sank schon längst auf die Totenbahr.
[205]
Das ist das Haus am schwarzen Moor,
Das Haus, wo der alte Jan erfror.
Zur Tür gewandt das weiße Gesicht,
Starb er und wußt es selber nicht.
Er starb. – Da kam, wie ein scheues Reh,
Der Tag und hüpfte über den Schnee.
»Guten Morgen, Jan! Guten Morgen, Jan!« –
Der Jan keine Antwort geben kann.
Da erhuben die Glocken ihr hell Geläut,
Sie sangen und klangen und riefen so weit:
»Guten Morgen, Jan! Guten Morgen, Jan!« –
Der Jan keine Antwort geben kann.
Da kamen die Kinder aus der Stadt:
»Wir wissen, wie lieb er uns alle hat;
Guten Morgen, Jan! Guten Morgen, Jan!« –
Der Jan keine Antwort geben kann.
Tag, Glocken und Kinder er nicht verstund.
Da nahte die sonnige Mittagsstund,
Da nahte ein armes Weib: »Mein Jan,
Willst essen und trinken nicht, alter Mann?
Sieh, was ich brachte dir aus der Stadt;
Sollst froh nun werden und warm und satt!« –
Die Alte sah lange auf ihren Jan,
Da fing sie bitter zu weinen an.
[206]
Da weinte sie an dem schwarzen Moor,
Am Moor, wo der alte Jan erfror;
Da weinte sie ihr brennend Weh
Hinunter in den kalten Schnee.
[207]

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TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Lieder aus Lancashire. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-96F2-5