[28] [53]Georg Weerth
Aus dem Tagebuche eines Heulers

Kapitel 1. Die Heuler

Kapitel I

Die Heuler

Wohl dem, der des Tages Last und Hitze getragen hat und in den Schenken der heiligen Stadt Köln seinen kühlen Schoppen Moselwein trinkt!

So dachte ich oft, wenn ich zu Hut und Hausschlüssel griff und die Straße hinabschritt nach jenen Häusern der Fröhlichkeit, die allen Völkern geöffnet sind, den Christen wie den Juden, den Heiden wie den Türken, den Ägyptern wie den Chinesen, auf daß alle ihre Leiden vergessen, ihre Schulden, ihre bösen Frauen, ihre hungrigen Kinder, ihre langweiligen Vettern, ihre kahlen Glatzen, ihre Hühneraugen, ihre Zukunft wie ihre Vergangenheit.

Der Gott des Weines ist ein freundlicher Gott. Lächelnd und rebengeschmückt sitzt er mit seinen nackten und prallen Schenkeln wie ein Reiter flott auf dem Faß. »Heran! Heran!« – so ruft er und winkt mit gefülltem Römer, und durstige Musikanten nahen und feiste Küster und lange Regierungsräte und krumme Fruchthändler, ja Ritter und Banditen zu des Weingötzendienstes erhabener Feier.

Der Wein ist billig. Vier Groschen der Schoppen. So trinket denn Wein, auf daß es euch wohl gehe.

Ich aber saß gestern abend wie gewöhnlich bei.... auf [53] der.... straße und rings um mich her der Bekannten vertraulicher Kreis.

Zuerst der alte Steuerkontrolleur Ehrlich. Ein Fünfziger. Weiß an Haaren, doch rötlichen Antlitzes. Schon seit zwanzig Jahren kenn ich den Ehrlich. Er hat noch nie gelacht; er spricht wenig und ist dennoch unterhaltend. Jeden Abend trinkt er drei Schoppen und zwei halbe. Er ist ein wohlbehäbiger Mann; nicht zu seinem Nachteil kontrollierte er sein Leben lang. Der böse Leumund sagt, daß er nie ein Weib berührt; er ist Junggeselle und hält sich Kanarienvögel und Goldfische; man sagt, er sei sehr geizig, er nähe sich selbst die Hosenknöpfe an und stopfe sich selbst die Strümpfe. Weiß nicht, ob es wahr ist. Ehrlich ist ein höchst achtungswerter Mann; er versteht sich aufs Wetter wie ein Laubfrosch; er weiß immer, wieviel Grad Wärme oder Kälte wir haben. Er raucht.

Zweitens der Rentner Dürr. Er ist lang und hager, wie aus seinem Namen hervorgeht; er gleicht niemandem, denn er ist einzig in seiner Art. Er trägt schwarze kurzgeschorene Haare; Blässe auf den Wangen, keinen Bart und eine Fastnachtsnase. Immer ist er in sehr weißer Wäsche, namentlich, wie alle andern Menschen, im Anfang der Woche. Im schwarzen Frack sieht er ungefähr wie ein Gespenst aus, das auf den Ball gehen will. Ich habe ihn nie etwas anderes essen sehen als Heringssalat. Er machte Seereisen und legte in der Bank eine Sammlung seiner Münzen an; das letztere war nicht zu seinem Schaden. Rentner Dürr weiß viel zu erzählen. Er ist in der Geographie bewandert wie eine Posttaube; er kennt die ganze Erde und sehnt sich daher bisweilen nach dem Himmel.

[54] Seine Hauptbeschäftigung besteht darin, daß er sich entsetzlich langweilt. Er schnupft.

Drittens der Maler Pinsel. Dieser gute Freund ging immer mit dem festen Vorsatze um, ein großer Mann zu werden, und wurde deshalb keiner. Ursprünglich Landschafter, machte er dreißig Jahre Wolkenstudien. Er vergaß darüber die Erde und sich selbst und malt nun Porträts, die sich alle gleichen. Selber kein Genie, begnügt er sich damit, alle Genies gekannt zu haben. Er ist ein wunderlicher Kauz. Vierzehn Tage lang stierte er einst in ein Holzfeuer, um einen Kopf rotflammender Haare zu malen; auch goß er schon Rowlands Macassar-Öl in die Farben und meinte, die Locken seiner Porträts würden besser danach wachsen – half aber alles nichts. Seinen eignen Namen malt er immer am schönsten. In vertraulicher Stunde sagte er mir neulich, die Menschen ennuyierten ihn allmählich; er werde sich auf die Tiere legen; es sei dies der beste Übergang vom Menschen aus, der richtigste Fortschritt. Von Löwen und Tigern wird er sich zunächst auf das Pferd werfen; vom Pferd kommt er ohne Zweifel auf den Esel – schließlich auf den Hund. Hiermit wird er wahrscheinlich seine Laufbahn beschließen.

Maler Pinsel ist ein Vierziger. Er ist ein großer schöner Mann mit ungeheuerm Barte. Seine Figur und sein Barthaar haben es übernommen, der Welt für den ganzen Kerl Respekt abzutrotzen. Er raucht und schnupft.

Der vierte in unserm Bunde ist der Professor Fuchs. Wie alle Schulmeister hat er dünne Beine und noch jämmerlichere Arme. Er sitzt in den Schultern; seine Haare hängen ihm pastoralisch glatt an den Schläfen hinunter. Auf seinem Nasenbein reitet eine große silberne [55] Brille. Er macht lateinische Verse, die niemand lesen kann, und deutsche, die niemand lesen will. Er zitiert alle Augenblick die Griechen und die Römer. Niemand sieht einem Griechen oder einem Römer weniger ähnlich als der Herr Professor Fuchs.

Als fünften Freund haben wir den Herrn Salomon Geyer. Er ist ebenso breit wie lang. Er spekulierte in Quadratfüßen, ohne dabei auf den Strumpf zu kommen. Er sieht deswegen seit einem halben Jahre so böse aus wie der Domkranen bei Regenwetter. Mit aller Welt ist er zerfallen. Er fürchtet sich vor seiner Frau. Trinkt sehr viel.

Der sechste Bekannte ist der Herr von der Windmühle. Ohne Haar, ohne Zahn, ohne Fleisch, ohne Blut, ohne Stimme, ohne Verstand, ohne Geschäft, ohne Liebhaberei, ohne Willen, ohne Leidenschaft – ein Waschlappen von einem Mann – reich wie Krösus.

Der siebte: Herr Puff, ist ein Mann von einnehmendem Äußern. Rund wie die Welt und stark wie ein Elefant. In seiner Jugend fraß er zum Scherz oft ein Branntweinglas, in seinem Alter zog er Kapaunen vor und Enten in Trüffeln. Er wuchs mit Eichen und Buchen auf und wurde ein Holzhändler. Jetzt lebt er vom Fett seiner Jugend. Er kennt nur reiche und dicke Leute. Alle übrigen Menschen sind unter seiner Würde. »Ich heiße Puff!« pflegt er zu sagen, wenn man nach seinem Namen fragt. Die Fenster klirren vom Ton seiner Stimme.

Ein achter Bekannter ist noch Herr Kreuz – sieht aus wie eine chinesische Figur, die man auf die Kommode stellt. Er lebte immer, aber niemand weiß wovon. Vor allen Dingen zeichnet er sich durch seinen Appetit aus. Er ißt zwei Teller Suppe, sieben Stück Rindfleisch, neun [56] Gurken, einen halben Pudding, viel Braten und trinkt den Wein mit Wasser. Glücklich der Wirt, der ihn zu seinem Gast hat!

Der Advokat Verdammlich ist der neunte Mann in unsrer Mitte. Er ist der Hort aller Witwen und Waisen. Er liebt Prozesse und Rheinwein und lebt im Andenken vieler Menschen. Er spricht das Gegenteil von dem, was er denkt, und denkt das Gegenteil von dem, was er spricht. Er kennt alle Menschen, und er kennt sich selbst. Sein Vorteil und der Vorteil andrer Menschen stehen in umgekehrtem Verhältnis. Das Gesetz gibt ihm zu essen, und die Gerechtigkeit gibt ihm zu trinken. Der Advokat Verdammlich ist ein Ehrenmann. Vor allen Dingen ist er ein schwacher und sterblicher Mensch, und der Herr wird Mitleid mit ihm haben am Jüngsten Tage – –.

Doch wozu diese ganze Schilderung? Weshalb suche ich sie alle zu zeichnen, meine treuen Bekannten, meine alten Freunde, die ich jeden Tag sehe, den Steuerkontrolleur Ehrlich, den Rentner Dürr, den Maler Pinsel, den Professor Fuchs, den Quadratfüßler Geyer, den Herrn von der Windmühle, den Holzhändler Puff, den Feinschmecker Kreuz, den Advokaten Verdammlich?

Sitze ich nicht täglich mit ihnen in den Schenken unsrer guten Stadt Köln, den kühlen Moselwein zu trinken, auf daß wir alle unsere Leiden vergessen, unsre Schulden, unsre bösen Frauen, unsre hungrigen Kinder, unsre langweiligen Vettern, unsre kahlen Glatzen, unsre Hühneraugen, unsre Zukunft und unsre Vergangenheit? Gewiß! Oh, verbunden sind wir in Liebe und Freundschaft, miteinander zu trinken, miteinander zu reden, uns zu wehren gegen die Laster des Jahrhunderts, gegen Revolution und Anarchie, gegen Kommunisten und [57] Republikaner. – – Ja, eine Phalanx sind wir, groß und gewaltig: der heiligen Stadt Köln berühmteste Heuler!

Kapitel 2. Ein Brief

Kapitel II

Ein Brief

Nie werde ich den schrecklichen Abend vergessen, an dem zuerst die Nachricht der französischen Revolution bei uns eintraf. Wir saßen wie gewöhnlich bei... auf der...straße, im hintern Zimmer; es mochte 10 Uhr sein. Der Steuerkontrolleur Ehrlich hatte schon seinen dritten Schoppen getrunken und faltete eben die Hände, um für zehn Minuten in Morpheus' Arme zu sinken – er nimmt sich prächtig in solchen Augenblicken aus: seine Nase verbirgt sich in der Hemdkrause; tiefe, grollende Töne entringen sich seinem Busen. Der Rentner Dürr saß wie immer steif an der Wand und trommelte den Sehnsuchtswalzer – er hatte eben seine Portion Heringssalat gegessen. Maler Pinsel rauchte wie der Schlot eines holländischen Schleppschiffes und blickte ernst hinauf in seinen eigenen Dunst, um eine neue, höchst interessante Wolkenstudie zu machen. Der Professor Fuchs war nicht weniger mit sich selbst beschäftigt. Auf seiner Stirn konnte ich lesen, daß da drinnen irgendein erbärmliches Gedicht fabriziert wurde. Der Quadratfüßler Geyer dachte über die Vergänglichkeit alles Irdischen nach und schaute bisweilen hinüber nach dem reichen Herrn von der Windmühle, der wie ein dünner Spazierstock in der Ecke des Zimmers lehnte. Holzhändler Puff befand sich ausnehmend wohl. Dieser Chimborasso von einem Mann hatte wie gewöhnlich den ganzen Abend hindurch eine unendliche [58] Menge Neuigkeiten erzählt, da senkte sich die Müdigkeit auf ihn herab, und sein Haupt fiel auf die Brust – nun ruhen alle Wälder. Herr Kreuz und der Advokat Verdammlich waren die einzigen, welche die Konversation noch aufrechterhielten.

»Es ist herrlich«, bemerkte Herr Kreuz, »in was für ruhigen und friedlichen Zeiten wir jetzt leben.« – »Leider!« erwiderte der Advokat. »Vielzuwenig Prozesse.« – Da schwiegen auch sie, und während mehrerer Minuten lag nun über der ganzen Gruppe jene selige Stille, jene tiefe Sabbatfeier einer an- und festgetrunkenen antiken Wirtshausgesellschaft.

Da öffnet sich plötzlich die Tür, und herein tritt der Literat Warze. Sein Erscheinen ist beunruhigend. Man liest in seinen wirren Blicken, daß er nicht ohne Grund noch so spät durch die Wirtshäuser eilt. Seine Knie schlottern. Dicke, schwere Tropfen des köstlichsten Schweißes entrieseln seiner göttlichen Stirn; er nimmt den Hut ab – seine Haare stehen zu Berge. Die ganze Gesellschaft erwacht aus ihrer Lethargie.

»Was fehlt Ihnen?« fragte der alte Ehrlich.

»Sie haben gewiß etwas zuviel!« setzte der Rentner Dürr hinzu.

»Hat man Sie irgendwo hinausgeschmissen?« erkundigte sich der Maler Pinsel.

»Gewiß haben Sie ein Manuskript zurückbekommen!« bemerkt der Professor Fuchs aus Erfahrung und als Menschenkenner.

»Oder ist Ihre Frau niedergekommen?« wirft der Quadratfüßler Geyer hin.

»Sollten Sie im Landsknecht verloren haben?« lispelt der Herr von der Windmühle.

[59] »Sprechen Sie, Herr Warze!« donnert da der Chimborasso Puff.

»Sprechen Sie!« wiederholt der Herr Kreuz.

»Und in des drei Teufels Namen, sprechen Sie!« macht der Advokat Verdammlich den Schluß.

Da ist der Literat Warze zu Atem gekommen. »Mitbürger!« beginnt er. »Es ist ein großes Unglück geschehen; eins der geachtetsten Handlungshäuser hat soeben auf außerordentlichem Umwege den folgenden Brief erhalten und mir zur Veröffentlichung übergeben.«

»Lesen Sie, lesen Sie, Herr Warze!« tönt es von allen Seiten. Warze stellt sich auf den Stuhl. »Ein Pariser Korrespondent schreibt:


Ew. Wohlgeboren hab ich die Ehr
Einliegend zu remittieren:
Zweitausend Taler vista, auf Köln;
Die wolln Sie mir kreditieren.« –
»Nun, das ist eben kein großes Malheur«, murmelt man von allen Seiten. –
»Sie sehen hieraus, mein werter Freund:
Ich habe Sie nicht vergessen.
Mit meinem nächsten Briefe send
Ich anderweit'ge Rimessen.« –
»Das ist ja sehr erfreulich!« brüllt der Herr Puff. »Dieser Korrespondent ist ein Ehrenmann.« –
»Es ist mir lieb, daß Sie bestellt
Noch sechzehn Fässer Bourgogne.
Dagegen wünsch ich per chemin de fer
Noch etwas Eau de Cologne.« –

[60] »Aber Herr Warze«, unterbricht ihn hier der Rentner Dürr, »Sie verstehen das freilich nicht: es kann ja nichts Besseres auf der Welt geben als 2000 Taler auf Köln, weitere Rimessen versprochen und eine neue Bestellung – ich begreife Sie nicht.« –


»Ich bitt um die beste Qualität,
Sie ist für Export nach China.
Man kauft sie gen über dem Jülichsplatz
Bei Johann Maria Farina.« –

»Allerdings!« schreit die ganze Gesellschaft. »Keine bessere Eau de Cologne als die Farinasche. Der Pariser hat ganz recht. Aber wo bleibt das Unglück?« –


»Im übrigen hab ich leider nicht
Viel Gutes zu melden heute:
Paris litt sehr in der letzten Nacht
An einer fatalen Emeute.«
Alles wird plötzlich still. Niemand unterbricht mehr. Dem Maler Pinsel entsinkt die Pfeife.
»Schon frühe mußt ich schließen die Tür,
Verriegeln Fenster und Laden;
Man baute in jeder Straße schier
Ein halb Dutzend Barrikaden.«

Die Stimmung der Anwesenden wird immer peinlicher. Der Herr von der Windmühle fängt an zu zittern. Rentner Dürr will eine Prise nehmen, aber die Finger versagen ihm den Dienst.


»Heute morgen hat sich der Streit erneut,
Und die Truppen, sie mußten fliehen.
[61]
Im Sturme rückte das Volk heran –
Nahm Louvre und Tuilerien.«

Hier tut der Herr von der Windmühle einen der größesten Seufzer, deren der Mensch fähig ist. Der Holzhändler Puff schnaubt und pustet wie eine Lokomotive. Der Rentner Dürr fürchtet, ohnmächtig zu werden, und bestellt eine zweite Portion Heringssalat, und der alte Steuerkontrolleur Ehrlich greift krampfhaft nach seinem Römer.

Über Warzes fahle Wangen rollt aber eine Träne, und unter Wimmern und Schluchzen fährt er fort:


»Man drang hinein in die Königsburg,
Der Pöbel jauchzte so munter –
Und Ludwig Philipp purzelte, ach!
Von seinem Throne herunter.«

Das Gastzimmer erdröhnt von Wehgeschrei; Flaschen und Gläser stürzen übereinander. Der Kellner, der Wirt, die Mägde, Katzen und Hunde schauen verwundert zur Tür hinein. Der Nachtwind reißt die Fenster offen; die Gaslichter flackern, und unheimlich bewegen sich Warzes emporstehende Haare.


»Der Julithron, der ist verbrannt,
Leer stehen die stolzen Hallen;
Zertrümmert ist die Dynastie –
Die Kurse werden noch fallen.« –

»Die Kurse noch fallen?« stöhnt der Rentner Dürr. »Hilfe! Hilfe! Ich bin bei der Nordbahn interessiert. O meine Fünfprozentigen!« – Da erlischt seine Stimme. Wie ein gewaschenes Hemd sinkt er in Falten zusammen, den Kopf voran, die Nase in den Fidibusbecher.


[62]
»Fort ist die Familie Orléans,
Proklamiert ist die République –
Es muß die Eau de Cologne gut
Verpackt sein in Kist' und Stricke.
Weiß Gott, wie's ferner gehen wird,
Ich erwarte noch große Misere.
Agréez, Monsieur, mes salutations
Respectueuses et sincères.«

Warze stürzt erschöpft in die Arme des Holzhändlers Puff. Er ist leichenblaß geworden. Der Kellner schüttet ihm ein Glas Moselwein 1843er über das Antlitz. Der Wirt zieht ihm die Stiefel aus – man ruft nach einem Doktor. »Wasser! Wasser! Ein Aderlaß!« brüllt der Holzhändler – da legt man den unglücklichen Literaten über zwei Rohrstühle. Er ist kalt und steif wie ein toter Rohrdommel.

Der Rest der Gesellschaft überläßt sich indes ganz seinem Schmerze. »Ich habe es immer gedacht!« ruft der Steuerkontrolleur. »Ich sah es vorher, es mußte so kommen. – O der Napoleon des Friedens!«

»Auch mir schien es«, fährt der Maler Pinsel fort, »auch mir war es, als wenn dieser Tage etwas Außerordentliches passieren müßte, es roch in ganz Köln nach Pulver und nach frisch angestrichenen Särgen – o über die Lasterhaftigkeit des Jahrhunderts!«

»In acht Tagen stehen die Franzosen am Rheine!« bemerkte der Quadratfüßler Geyer. »Rettet! rettet!« jammert der Herr von der Windmühle, und wie sich auch der Advokat Verdammlich, der Professor Fuchs und der Herr Kreuz in das allgemeine Geschrei mischen, da erhebt sich aufs neue ein solches Geheul, daß der ohnmächtige [63] Warze wie ein Toter beim Blasen der jüngsten Posaune von seinem Lager emporfährt und, wie von Furien gepeitscht, hinaus in die Gassen rennt.

Doch genug. Es war ein schrecklicher Abend. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht durch die ganze Stadt verbreitet, und während wir dem Fall der Edlen unsere Tränen weihten, begann auch bei uns schon der wühlerische Pöbel sein entsetzliches Treiben und:

»Allons enfants de la patrie«, klang es wild durch die Straßen unsrer alten, unsrer heiligen Stadt.

Kapitel 3. Einflüsse der Revolution

Kapitel III

Einflüsse der Revolution

Seit einer Woche habe ich nichts für mein Tagebuch geschrieben – es ist eine wahre Schande. Aber die Unterbrechung war zu arg. So eine Revolution wie die französische bringt einen ehrlichen Mann ganz außer Fassung. Wenn die Kronen von den Köpfen fliegen wie die Äpfel von den Bäumen, da hört alles auf. Man kommt ganz aus seinem alten Gleis; es ist, als ob Feuer in der Stadt gewesen wäre, als ob man irgendwo eingebrochen und gestohlen hätte, und ehe man schlafen geht, sieht man noch einmal unter die Bettstelle, und die ganze Nacht träumt man von Mord und Totschlag, von Bosco und Schinderhannes.

Ich bin keineswegs furchtsamer Natur; ich kann ein Gewehr losschießen, ohne die Augen zuzukneifen; ich kann dabeistehen, wenn man einen Hahn schlachtet, und ich werde nicht unwohl, wenn ich sein Blut sehe. Auf der Spitze eines Kirchturms werde ich nicht schwindlig, und [64] ohne Grausen ginge ich nachts über einen Kirchhof; aber so eine Revolution – es ist gar zu unkomfortabel, Gott verzeih mir.

Wie schlimm ist die Geschichte doch dem armen Herrn von der Windmühle bekommen! Ich besuchte ihn gestern; er sah so kümmerlich runzelig aus wie eine getrocknete Pflaume. Den ersten Tag nach Ankunft der verhängnisvollen Nachricht soll sein Zustand wirklich bedauernswert gewesen sein. Die Köchin versicherte mir, er habe sich die Haare stückweise ausgerissen, es sei nicht anders gewesen, als ob ihn vierzig Millionen Flöhe plagten. Mit dem Bauch habe er sich auf den Boden gelegt und den Steiß mit Fäusten geschlagen. »O meine Fünfprozentigen! O meine Bankanteile! O meine Nordbahnaktien!« – so schrie er, daß man es auf der Straße hören konnte. Niemand ist doch mehr zu bedauern als ein reicher Mann.

Der Rentner Dürr wußte sich schon eher zu trösten. Dieser Bindfaden von einem Mann glaubt an ein besseres Leben nach dem Tode, wenigstens an kein schlechteres. Er nahm einen Schweinslederband und eine Portion Heringssalat und schloß sich damit ein: den Schmerz durch aufmerksame Studien, durch Gebet und stille Betrachtungen zu überwinden.

Das Leben ist eine Dummheit, meint der Herr Dürr, eine Dummheit, die nur durch den Tod wiedergutgemacht wird. Der Mensch ist kristallisierter Dreck, und erst in jener Welt, wo man weder die Marseillaise singt noch den Cancan tanzt, da wird es uns gut gehn – frei von allem Irdischen. Der Rentner Dürr ist ein frommer Rentner. Er liebt die Pastöre und das ewige Leben. Wenn er einst am Jüngsten Tage von den Toten aufersteht, da [65] wird er aus seinem Grabe emporschießen wie ein Spargel aus dem Gartenbeet.

Daß der Holzhändler Puff über die französische Revolution im höchsten Grade erbost ist: das versteht sich von selbst. Er hat in den letzten acht Tagen wenigstens vierzig neue Flüche erfunden. Er trägt ein großes Baummesser in der Hosentasche, und seine Stimme hat einen brüllenden Ton angenommen.

»Wenn wir jetzt noch einmal an den Franzosen leiden sollen«, sagte er mir gestern, »so können Sie sicher sein, daß wir sie nicht wieder loswerden. Was hilft uns jetzt das Beckersche Rheinlied?« – Der Herr Puff hat recht. Gegen die Weiber sind die Franzosen stets galant. Aber wehe, wenn sie über die Männer kommen! – Der Advokat Verdammlich gehört zu den Leuten, die der Zukunft am ruhigsten entgegensehen. Unsereins begreift so etwas nicht; aber bei einem Advokaten ist alles möglich. In der Sünde auf- und großgezogen, ist ihm selbst das Böse recht, wenn es nur mit dem Gesetz zu vereinbaren ist.

»Der Code ist meine Moral«, pflegt der Advokat Verdammlich zu sagen. »Solange der Code besteht, wird die Welt trotz aller Revolutionen nicht untergehn.« – Vielleicht hat er recht. Jedenfalls heult er mit den Wölfen, und ich liebe ihn daher.

Der Professor Fuchs versichert mir, daß er seit den Februartagen auch nicht ein einziges Gedicht mehr gemacht habe. Dies mag nun, im Grunde genommen, ein Glück für die Welt sein. Er sagte mir, die Revolution habe ihn gelähmt; nichts sei unpoetischer als dieser Wirrwarr; man könne eher einen Pagoden besingen als ein provisorisches Gouvernement. Aller Firlefanz der Poesie falle weg, wenn man nicht mehr an das Althergebrachte [66] glaube. »Wie kahl müssen sich alle Gedichte in Zukunft ausnehmen«, bemerkte er mir, »wenn man nicht mehr von Kronen, von Hermelinmänteln, von Szeptern, von Majestäten, von Kammerjägern und königlichen Zofen singen darf! Es ist entsetzlich. Die beste Zutat der Poesie geht uns durch diese Revolutionen verloren. Wie nackt und nüchtern ist doch alles Demokratische! Ein Republikaner ist ein ganz unpoetischer Gegenstand. Man weiß bei einem solchen Kerl hintereinander, was er will; er hat nichts Verschleiertes, nichts Geheimnisvolles. Eine Welt ohne Könige ist ein Himmel ohne Götter. Alles Brimborium der Poesie geht zum Teufel. Für einen demokratischen Zeitungsschreiber, für einen republikanischen Advokaten werde ich mich wahrhaftig nie begeistern, und stände er auch an der Spitze eines Reiches und geböte über Millionen.

Sie sollen mal sehen, für die nächste Zeit ist es mit der Poesie vorbei.

Vergebens werden sich die Besten anstrengen, aus Rosen und Lilien die schönsten Verse zu flechten – der demokratische Dunst unsres Jahrhunderts wird wie ein garstiger Höh'rauch darüber herwehen und das Geschaffene auf eine unheimliche Weise verderben. Mit den Königen sinken die Dichter.«

»Aber, lieber Herr Professor«, versetzte ich meinem Freunde, »Sie können auch nicht verlangen, daß die ganze Welt nur für die Poesie in der alten Weise fortexistiere.« – »Allerdings«, meinte er, »allerdings kann ich das verlangen. Die Poesie ist das einzige, was Wert hat. Die ganze Welt der Griechen existierte nur, damit wir einen Homer bekämen.«

Der Gourmand, der Herr Kreuz, ist nicht so geistig[67] ausgebildet wie der Professor. Er versicherte mir gestern, alles wanke, nur nicht sein Appetit. Als ich ihn in seinem Hotel nach dem Essen abholte, da lagen auf seinem Teller sieben Heringsschwänze. »Ich esse nichts anderes mehr als Heringe«, bemerkte er, »von wegen meines Durstes nach Franzosenblut. Ich empfehle dies allen Wohlgesinnten.«


Hier trägt das Manuskript des ehrenwerten Tagebuchschreibers einen großen Tintenklecks.

Gleich darunter sind nur noch die Worte gekritzelt: »Der Literat Warze stürzt atemlos ins Zimmer – es muß ein neues Malheur in der Welt los sein.« – –

[68]

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TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Skizzen, Feuilletons, Reportagen. Aus dem Tagebuche eines Heulers. Aus dem Tagebuche eines Heulers. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-973E-6