Maria Luise Weissmann
Skizzen

[111] Kleines impromptu im Herbst

Ich glaubte damals, daß es das Unglück war, das mich belauerte. Ich glaubte es für einen Augenblick; für den entscheidenden. So blieb es ungeschehen, denn es will nicht erkannt sein, ehe es getroffen hat. Es stahl sich leise fort aus seiner wundersamen Verwandlung, aus diesem großen roten Heidekrautbusch zu meinen Füßen. Oder sollte es doch nicht das Unglück gewesen sein? Ich weiß es nicht. So jedenfalls ging es zu:

Ich fuhr im Herbst – aber ich muß erst von mir und dem Herbste berichten. Ich muß erst sagen, daß der Herbst die größere Seligkeit ist. Die ewige steht arm neben ihr. Wie kann man ein Glück auskosten, von dem man weiß, daß es morgen und alle Tage sein wird? Die Seligkeit des Herbstes ist so: Du gehst durch eine Luft, die unendlich ist, du atmest sie ein und sie verbindet dich noch mit den fernen und violetten Gipfeln. Sie trägt die Atome deines Leibes in sich, sie hat sich in dich ergossen und schwellt dich mit sich ins Unermeßliche. Du reichst bis an die gläserne Bläue des Himmels, Kaskaden des Lichtes durchströmen dich, die unerhörte Farbe des Laubes rinnt durch dein Blut, du schmeckst die weite Leere des Feldes und den fern aufsteigenden Rauch der Kartoffelfeuer, hörst noch den Laut der Okarina, die ein Hirt auf einsamer Weide seinen Kühen vorklagt, du preist das Leben, das Leben, du bist erschüttert von Leben, oh, und du atmest doch rings schon die ungeheure Wollust der Verwesung [111] in dir, um dich: den Tod; aber du lebst, aber du lebst, nur jetzt, nur diesen Augenblick gewiß...

Aber ich wollte vom Unglück erzählen, wie es mich belauerte in einem Erikabusch, er war rot und betörend. Ich bin ein einsamer Mensch und ein Heide: ich konnte niemals niederknien und anbeten, wunschlos verehrend. Was mich berauscht, das will ich mir gesellen, daß meine Einsamkeit sich in der Liebe betäube. Ich wünsche zu sein, was mich entflammt: dieser Herbst, zum Beispiel, als Kind spürte ich ihn wie heut. Ich wäre gern ein Blatt gewesen, ein rot und gelbes Blatt. Ich wäre ebenso sanft geschaukelt in Kreisen zur Erde geglitten; wie schwer mein Körper, da er nur fallen konnte. Und weil er traurig war und seiner schwerfälligen Nüchternheit sich schämte, webte ich ihm aus Ahornblättern, aneinandergeheftet mit den Nadeln der Kiefer, ein buntes Gewand, ein schleppendes Gewand aus hundert bunten Blättern: so ward ich, kindlich, der Herbst. So ging ich als Kind über die leere Wiese, eingehüllt in Herbst, überschüttet von Herbst, sollte ich heute nicht die Hand ausstrecken dürfen nach diesem kleinen Blütenbusch zu meinen Füßen?

Aber ich sagte schon, daß ich fuhr. Ich stand auf der Plattform des Zuges, weil diese Luft, die unendlich ist und dich noch mit den fernen und violetten Gipfeln verbindet, weil du sie hast, nur jetzt, nur diesen Augenblick gewiß...

Ich weiß nicht, warum der Zug gerade an dieser Stelle hielt. Es mochte die Gewalt des Unglücks sein, das mich zu treffen suchte und das ihn zwang, hier plötzlich stehen zu bleiben, wo der Erikastrauch zwischen den Steinen [112] wuchs. Ich konnte keinen andern Grund für diesen Aufenthalt entdecken. Die Gegend war einsam und unbewohnt; es zog sich ein Nadelwald die eine Seite des Bahndamms entlang; er stand ernst und unbewegt wie im Sommer, er wußte gar nichts vom Herbst. Dicht aber zu meinen Füßen – ich brauchte mich nur zu bücken – blühte die Erika, blühte sie brennend rot und betörend. Es war nur ein einzelner Busch, der, wohl als Same hierher verweht, zwischen den spitzen Steinen die Wurzeln zur Erde senkte, doch er verströmte die Röte einer unendlichen Heide. Er war vollendet; ich glaubte, niemals schönere Blüten gesehen zu haben, der betäubende Duft des Honigs schwebte zu mir empor.

Meine Seele erzitterte. Treulos verstieß sie die zahllosen Wünsche ihrer Sehnsucht und klammerte sich an einen einzigen: an die Begierde nach dieser Blüte. Was blieb meinem Leib, meinen bestürzten Gliedern übrig, als der Versuch, ihre Lust zu stillen?

Der Zug stand. Ich schlug das eiserne Schutzgitter hoch; ich begann die Treppe hinabzusteigen. Auf der untersten Stufe beugte ich mich hinaus und streckte die Hände aus. Da war es, daß ich das Unglück sah. Mitten in dem traumhaft schönen Strauß dieser Blüten öffnete es ein wenig sein weißliches Lid. Mag sein, daß es ein Stein war, der, geformt wie ein gestorbenes Auge, mich schreckte: ich sah meine Hände zermalmt, meine Füße verblutend, meinen Atem in seufzendem Kreis entschweben – ich griff nach der Stange, zitternd, zog mich empor, stand oben, gerettet, wie vorher: der Zug hielt, die Erika blühte zu meinen Füßen.

[113] Und so stehe ich nun in dieser Luft, die unendlich ist, ich atme sie ein und sie verbindet mich noch mit den fernen und violetten Gipfeln. Sie trägt die Atome meines Leibes in sich, sie hat sich in mich ergossen, sie schwellt mich mit sich ins Unermeßliche. Ich reiche bis an die gläserne Bläue des Himmels, Kaskaden des Lichts durchströmen mich, ach, und ich begehre nichts, als was meine Hände beinah erreichen könnten: diese Handvoll Blüten zu meinen Füßen.

Aber ich beuge mich nicht mehr, seht, und der Zug hält noch immer. Ich stehe und sehe auf diese Blumen, die zu besitzen Seligkeit wäre oder der Tod – da plötzlich nun das Rad, rasch rollend, mich vorüberträgt, weiter in Herbst und fernen Laut der Okarina: wer mag entscheiden, wem ich vorüberging?

[114]

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TextGrid Repository (2012). Weissmann, Maria Luise. Erzählungen. Skizzen. Kleines impromptu im Herbst. Kleines impromptu im Herbst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9AE1-D