Ein Sang der Freuden

O, das frohlockendste Jubellied anzustimmen!
Voll Musik, voll Mannheit, Weibheit, Kindheit,
Voll gewöhnlicher Beschäftigungen – voll Korn und Bäumen.
O, die Stimmen der Tiere!
Die Geschwindigkeit und das Gleichgewicht der schwimmenden Fische,
Das Fallen der Regentropfen im Liede.
O Sonnenschein und Wellenbewegung in einem Gesang!
O Freude meines Geistes – uneingekerkert strahlt er Blitze!
Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben,
Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben!
O, die Freuden des Ingenieurs, mit einer Lokomotive zu fahren!
Das Zischen des Dampfes zu hören, das fröhliche Schrillen der Dampfpfeife – die lachende Lokomotive,
Mit unaufhaltsamer Schnelligkeit in der Ferne zu verschwinden ...
O, das glückselige Streifen über Felder und Hügel!
Die Blätter und Blüten des gewöhnlichsten Unkrauts, die feuchte Frische des stillen Waldes,
Der köstliche Erdgeruch bei Tagesanbruch und den ganzen Vormittag hindurch.
O, die Freuden des Reiters und der Reiterin!
[143] Der Sattel, der Galopp, der Druck auf den Sitz, das kühle Säuseln der Luft um Ohren und Haare ...
O, die Freuden des Feuerwehrmannes!
Ich höre den Alarm in der Stille der Nacht,
Höre Glocken, Rufe – ich laufe, ich hole die Menschenmenge ein,
Der Anblick der Flammen macht mich rasend vor Vergnügen.

O, die Freude des muskelkräftigen Fechters in der Arena; hochaufgerichtet steht er in tadelloser Verfassung, kraftbewußt, dürstend nach dem Gegner!


O, die Freude des mächtigen ursprünglichen Mitfühlens, das nur die menschliche Seele zu erzeugen und auszugießen vermag in steten, unaufhörlichen Fluten ...

O, die Freuden der Mutter!
Das Behüten, das Ertragen, die unendliche Liebe, die Seelenqual, das geduldig hingegebene Leben.
O, die Freuden des Wachsens und der Erneuerung,
Die Freude des Tröstens und Beruhigens, die Freude des Einverständnisses, des Einklangs,
O, an den Ort zurückzukehren, wo ich geboren!
Die Vögel noch einmal singen zu hören,
Noch einmal durch Haus und Scheunen und über die Felder zu streifen,
Durch den Obstgarten und die alten Redderwege ...

[144] O, an Meeresbuchten, Lagunen, Schluchten oder am Meeresstrand aufgewachsen zu sein,

Dort zu bleiben und das ganze Leben beschäftigt zu sein:

Der feuchte Salzgeruch, das Ufer, der Tang, der bei Ebbe bloßgelegt wird,

Die Arbeit der Fischer, der Aalfischer und Muschelfischer –

Ich komme mit Muschelharke und Spaten, ich komme mit meinem Aalstecher.

Ist schon Ebbezeit? Ich gehe mit den andern Muschelgräbern auf die Sandbänke,

Ich lache und arbeite mit ihnen und bin lustig dabei wie ein übermütiger Bursche.

Im Winter nehme ich meinen Aalkorb und Speer und gehe hinaus aufs Eis,

Ich habe eine kleine Axt, um Löcher ins Eis zu hauen;

Dann sieht man mich warm angezogen, fröhlich hinauswandern, oder nachmittags zurückkommen,

Eine Bande von derben Jungen begleitet mich,

Meine Brut erwachsener oder halbwüchsiger Jungen, die bei keinem so gern sein mögen wie bei mir,

Am Tage mit mir arbeiten und nachts bei mir schlafen.

Ein andermal bei warmem Wetter draußen im Boot, um die Hummerkörbe aufzuholen, wo sie mit schweren Steinen versenkt sind (ich kenne die Bojen),

O, die Frische des Morgens des fünften Monats auf dem Wasser, wenn ich eben vor Sonnenaufgang nach den Bojen hinrudere;

Ich ziehe die Körbe schräge herauf, die dunkelgrünen Hummer wehren sich verzweifelt mit ihren Scheren während ich sie herausnehme,

[145] Ich schiebe Holzkeile in die Gelenke ihrer Kneifzangen,

Ich rudere nach allen Stellen hin, eine nach der an dern, und dann zum Strand zurück,

Dort in einem großen Kessel mit kochendem Wasser sollen die Hummer kochen, bis sie scharlachrot werden.


Ein andermal beim Makrelenfang;

Gefräßig und wild, schnappen sie nach dem Haken dicht unter der Oberfläche des Wassers, scheinbar meilenweit kann man sie verfolgen;

Ein andermal beim Klippenfischfang in Chesapeake- Bay, und ich einer von der gebräunten Mannschaft;

Ein andermal beim Blaufischfang in Schleppnetzen vor Paumanok,

Ich stehe mit straffgespanntem Körper,

Mein linker Fuß auf dem Außenbord, mein linker Arm wirft die aufgerollten dünnen Leinen weit hinaus,

Ringsum im Gesichtskreis das flinke Wenden und Halsen von fünfzig Schaluppen, meinen Begleitern.


O, das Bootfahren auf den Flüssen! den Lawrencestrom hinunter, die herrliche Scenerie, die Dampfer, die Segelschiffe, die tausend Inseln,

Die Holzflöße und die Floßlenker mit ihren langen Schwungrudern,

Die kleinen Hütten auf den Flößen, mit den Rauchsäulen, wenn das Abendessen gekocht wird.

O! Auch etwas Verderbliches und Grausiges,
Etwas weitab von dem kleinlichen und frommen Leben!
[146] Etwas Unbewiesenes, Etwas in der Verzücktheit!
Etwas vom Anker Losgerissenes und frei Treibendes!
O, in Minen zu arbeiten, oder das Eisen zu schmieden!
Eisen zu gießen, die Gießerei selbst, das grobe, hohe Dach, der weite schattige Raum,
Der Hochofen, die heiße Flüssigkeit, wie sie ausgegossen dahinläuft ...
O, die Freuden des Soldaten wieder zu durchleben!
Die Gegenwart eines tapferen Offiziers zu fühlen und seine Sympathie,
Seine kaltblütige Ruhe – erwärmt durch die Strahlen gütigen Lächelns,
In die Schlacht zu ziehen, die Hörner zu hören und die Trommeln,
Das Krachen der Artillerie, das Glitzern der Bajonette und Gewehrkolben in der Sonne,
Männer fallen und sterben zu sehen ohne zu klagen,
Den wilden Blutgeschmack zu schmecken – so teuflisch sein zu können!
So zu triumphieren über den Tod und die Wunden der Feinde.

O, die Freuden des Walfischfängers!

Ich segle wieder meine frühere Kreuzfahrt,

Fühle die Bewegung des Schiffes unter mir, fühle wie die atlantische Brise mich fächelt,

Höre wieder den Ruf, vom Mastkorb gemeldet: »Da – bläst schon einer!«

[147] Wieder klettere ich mit den andern am Takelwerk hinauf und wieder hinunter, toll vor Aufregung,

Ich springe in das hinuntergelassene Boot, wir rudern auf unsere Beute zu, wo sie still liegt,

Wir kommen heran, vorsichtig und schweigend,

Ich sehe die bergartige Masse schläfrig sich sonnend,

Sehe den Harpunier aufrecht stehen – wie die Waffe seinem kräftigen Arm entsaust! –

Und wieder zieht mich der verwundete Wal weit hinaus in den Ozean, untertauchend, windwärts entfliehend, schleppt er uns hinter sich her.

Ich sehe ihn an die Oberfläche kommen, um Luft zu holen,

Wir rudern näher heran,

Ich sehe wie eine Lanze in seine Seite getrieben und tief in der Wunde umgedreht wird,

Wieder rudern wir rückwärts von ihm ab, ich sehe wie er nochmals niedersinkt, das Leben schwindet ihm rasch,

Beim Auftauchen speit er Blutstrahlen, ich sehe wie er im Kreise herumschwimmt – immer enger und enger, das Wasser scharf durchschneidend,

Und zuletzt, wie er stirbt: er macht einen krampfhaften Sprung im Zentrum des Kreises und fällt dann flach auf die Seite, ganz bewegungslos in dem blutigen Schaum.

O mein Greisenalter! die edelste aller Freuden!
Meine Kinder und Kindeskinder, mein weißes Haar und mein Bart,
Und die volle Reife, die Ruhe und Würde – gewonnen aus der langen Strecke meines Lebens ...
O gereifte Freuden der Weibheit – O Glück doch zuletzt!
[148] Ich bin über achtzig Jahre alt, die ehrwürdigste der Mütter,
Wie klar ist mein Geist, wie fühlen sich alle zu mir hingezogen!
Was für Anziehungskräfte sind denn das, mehr als alle früheren Reize?
Solch ein Blühen, mehr als das Blühen der Jugend?
Was ist das für eine Schönheit, die sich auf mich herabsenkt und aus mir emporsteigt?
O, die Freuden des Redners!
Mit voller Brust den Donner der Stimme aus Hals und Rippen zu entsenden,
Die Menge mit mir rasen, weinen, hassen und begehren zu machen,
Amerika zu führen! – Amerika mit gewaltiger Zunge zu bezwingen!

O, die Freude meiner Seele, die mit sich selbst im Gleichgewicht, alles Gleichartige empfängt durch die Materie und sie liebt, Charaktere beobachtet und in sich aufnimmt,

Meine Seele wird von andern zurückgestrahlt aus Gesicht, Gehör, Gefühl, Verstand, Lautbildung, Vergleichung und Erinnerung,

Das wirkliche Leben meiner Sinne und meines Fleisches geht über mein Fleisch und meine Sinne hinaus,

Mein Körper hat die Materie erledigt, mein Sehen mit den leiblichen Augen ist abgetan,

Heute ist es mir über jeden Zweifel erwiesen, daß es nicht meine materiellen Augen sind, welche endgültig sehen,

Noch mein materieller Leib, welcher endgültig liebt, geht, lacht, ruft, umarmt und sich fortpflanzt!

[149] O, des Farmers Freuden!
Die Freuden von Ohio, Illinois, Wisconsin, Kanada, Jowa, Kansas, Missouri, Oregon!
Beim Tagesgrauen aufzustehen und gleich zur Arbeit zu eilen,
Im Herbst das Land zu pflügen für die Wintersaat,
Im Frühjahr zu pflügen für die Maissaat,
Obstgärten zu pflegen, Bäume zu pfropfen und im Herbst die Äpfel zu pflücken.
O, im Schwimmbassin zu baden oder an einer günstigen Stelle am Ufer,
Im Wasser zu platschen, knöcheltief darin zu waten, oder nackt am Ufer entlang zu rennen!
O, sich des unbegrenzten Raumes bewußt zu werden!
Des Überflusses von allem, daß es keine Grenzen gibt,
Aufzutauchen und eins zu sein mit dem Himmel, der Sonne, dem Mond und den fliehenden Wolken ...
O, die Freude des männlichen Selbstbewußtseins!
Niemandem unterwürfig zu sein, keinem der bekannten oder unbekannten Tyrannen zu dienen,
Einherzugehen in aufrechter Haltung mit leichtem, federndem Schritt,
Mit ruhigem Blick oder mit funkelndem Auge dreinzuschauen,
Mit voller, tiefer Stimme aus breiter Brust zu sprechen,
Und die eigene Persönlichkeit allen andern Persönlichkeiten der Erde entgegenzustellen.
Kennst du die köstlichen Freuden der Jugend?
[150] Freuden lieber Gefährten, das Scherzwort und die lachenden Gesichter?
Freude des frohen, licht-strahlenden Tages? Freude der hochatmenden Kampfspiele?
Freuden süßer Musik, des erleuchteten Ballsaals und der Tänzer?
Freuden der reichlichen Mahlzeit, des kräftigen Gelages und Trinkens?

Dennoch, o meiner Seele Höchstes!

Kennst du sie, die Freude des ruhigen Denkens?

Die Freude des freien und einsamen Herzens, des zärtlichen, trauernden Herzens?

Die Freuden des einsamen Spazierganges, wann das Gemüt niedergedrückt und doch stolz ist, das Leiden und mit sich Ringen?

Die geistigen Wehen, die Ekstasen, die Freuden des feierlichen Sich-Vertiefens, tags oder nachts?

Der Gedanke an den Tod, an die großen Sphären: Zeit und Raum?

Die ahnungsvollen Freuden besserer, höherer Liebesideale, die göttliche Ehegattin, der süße, der ewige, der vollkommene Kamerad?

Das sind deine eigenen, unsterblichen Freuden, deiner würdig, o Seele!


Während man lebt ein Herrscher, nicht ein Sklave des Lebens zu sein,

Dem Leben wie ein Eroberer entgegenzutreten,

Keine trüben Dünste, keine Langeweile, keine Klagen mehr noch höhnische Kritiken,

[151] Nur die stolzen Gesetze der Luft, des Wassers und der Erde, die mir beweisen, daß mein Innerstes unerschütterlich ist,

Und daß nichts außer mir jemals Gewalt über mich gewinnen soll.


Nicht die Freuden des Lebens allein besinge ich, sondern auch wieder die Freuden des Todes:

Die schöne Berührung des Todes, für einen Augenblick besänftigend und betäubend, der Natur gehorchend,

Ich lege meinen ausscheidenden Körper ab, um verbrannt, zu Staub gemahlen oder begraben zu werden,

Mein wirklicher Leib bleibt mir sicherlich für andere Sphären,

Mein leerer Körper ist mir nichts mehr; er kehrt zurück zu der Reinigung, zur weiteren Verwertung und zum ewigen Nutzen der Erde.

O! Anzuziehen mit mehr als gewöhnlicher Anziehungskraft!
Wie es möglich ist, weiß ich nicht – doch sieh, etwas, das keinem andern gehorcht,
Immer angreifend, niemals widerstehend – wie magnetisch zieht es an.
Gegen eine Übermacht zu kämpfen, Feinden unerschrocken zu begegnen,
Ganz allein mit ihnen zu sein, zu erproben was man ertragen kann,
Streit, Schmerz, Gefängnis und öffentlicher Ächtung fest ins Antlitz zu blicken,
[152] Das Schafott zu besteigen oder mit Gleichmut den Mündungen der Kanonen entgegenzusehen,
Wirklich ein Gott zu sein!
Auf einem Schiff in See zu stechen –
Dieses gleichmäßige, unerträgliche Land hinter sich zu lassen,
Die ermüdende Gleichheit der Straßen, der Bürgersteige und Häuser,
Dich, du unbewegliches festes Land zu verlassen und ein Schiff zu besteigen
Und segeln, segeln, segeln! ...
O, das Leben hinfort wie ein Gedicht voll neuer Freuden zu haben!
Tanzen, händeklatschen, frohlocken, hüpfen, springen, weiter rollen, weiter schwimmen,
Ein Seefahrer der Welt zu sein, nach allen Häfen bestimmt,
Selber ein Schiff (sieh' doch, wie ich meine Segel der Sonne und Luft entgegenbreite!):
Ein schnelles, schwellendes Schiff, voll reicher Gedanken und Freuden.

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TextGrid Repository (2012). Whitman, Walt. Lyrik. Grashalme (Auswahl). »Ein Sang der Freuden«. Ein Sang der Freuden. Ein Sang der Freuden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A590-C