Die große Luise
Luise, die wußte Bescheid unter der neuen Geschwisterschar, die kleine Luise, die allmählich groß geworden war, sie wußte nicht wie; und die Geschwister alle kannten Luise und riefen Luise und plagten Luise viel mehr als die Mutter, die, »obgleich sie am liebsten immer daheim geblieben wäre«, es doch um ihrer Kinder willen für heilige Pflicht hielt, sich nicht verrosten zu lassen, und darum häufig kleinere Ausflüge und größere Reisen machte.
Der Vater hatte seine Herzensfreude an Luise, und oft traten ihm Tränen in die Augen, wenn er so das kleine Mütterchen [98] unter den Geschwistern sah, wie sie das Kleinste auf dem Arm hielt, dem Größern Steinchen zum Spielen gab, den andern erzählte, für die fernen Brüder sorgte und dachte und keines vergaß als sich selbst. Über ihre Erziehung war er nicht so ganz beruhigt. Es hatte schwer gehalten, ihr nur zum regelmäßigen Besuche der Dorfschule zu verhelfen, und seit sie konfirmiert worden, war gar nichts mehr für ihre Ausbildung geschehen. Er hatte einigemal die Absicht, sie in eine auswärtige Bildungsanstalt zu bringen oder ihr wenigstens Musikunterricht bei dem Dorfschullehrer geben zu lassen; aber seine Frau bewies ihm in einer schönen Rede, wie die häusliche Wirksamkeit Luisens eigentümliches Element und allein ihrem Charakter angemessen sei; was den Musikunterricht betreffe, so müsse das ein rechter sein oder gar keiner; – es war kein großer Zweifel hier, daß für das letztere entschieden wurde. Man hatte sie zu der alten Nähterin gesetzt, die als stehender Gast im Pfarrhause das Weißzeug der Kinder im Stand halten mußte, und sie war ohne besondere Anleitung allmählich von den geringsten bis zu den feinsten Nähtereien aufgestiegen; je blöder die Augen der alten Kathrine wurden und je gröber ihre Stiche, desto feiner und geschickter lernte Luise ihre Nadel führen. Ebenso hatte sie der Schneiderin, welche die Mutter aus der Stadt kommen ließ, ihre Geheimnisse abgelernt, und sie betrachtete mit gerechtem Stolz die Schwesterlein, deren zierliche Kleidung ihr Werk war, denen zulieb sie sogar alle Eitelkeit der Putzläden studierte, wenn sie je einmal zur Stadt kam, um die dort gesehenen Herrlichkeiten auf wohlfeile Weise nachzuahmen.
Um aber doch auch für die geistige Bildung der Stieftochter zu sorgen, ordnete die Pfarrerin an, daß nachts, wenn endlich die Gabrielen, Adelgunden, Tuiskos und so weiter zur Ruhe gebracht waren, bildende Werke vorgelesen wurden. Es war recht schön; aber die gute Luise, die seit ihrem elften Jahr nicht mehr wußte, was ungestörte Nachtruhe sei, war meist so müde, daß sie bald fest eingeschlafen war und selbst bei den klassischen Stellen nicht erwachte.
[99] »Du siehst das gute Kind,« sagte die Pfarrerin mitleidig lächelnd; »wie lächerlich wäre es, ihr eine Bildung aufzudrängen, für die sie nicht Sinn und Bedürfnis hat! Ich habe es immer für die erste Mutterpflicht gehalten, jedes Kind nach seiner Individualität zu behandeln. Luise, meine Liebe!« rief sie mit erhobener Stimme, »ich glaubte, du wolltest noch den Butterteig auf morgen rüsten.« Luise erhob sich eilig und beschämt von ihrem Schläfchen und machte sich emsig an die Arbeit. »Siehst du?« sagte die Mutter leise und triumphierend zu dem Mann; »so etwas erhält sie munter, das ist nach ihrem Sinn!« Die Mama las für sich in dem bildenden Werke, bis sie, erbaut über sich selbst und ihre individuelle Erziehungsweise, zur Ruhe ging, während Luise noch bis tief in die Nacht emsig waltete im Hause und sich dann neben die kleine schreiende Adelgunde legte, um sie zur Ruhe zu bringen.
Man bewunderte allgemein, wie gut sich die Pfarrerin konservierte, wie sie immer noch Zeit und Frische für den geselligen Verkehr behielt. Auch wurde das gute Verhältnis zu der Stieftochter sehr gerühmt; man hörte hier nichts von Zank und Streit, nichts von unterdrücktem Ärger und Übelwollen, es ging alles in der größten Freundlichkeit: »Liebe Luise, besorge doch den Kaffee! Meine Liebe, du wirst dich wohl der Kleinen annehmen müssen!« usw., und wenn die Pfarrerin eine Landpartie mit ihren Gästen machte, so zog es Luise meist vor, daheim zu bleiben. Die Pfarrerin bemerkte dann freundlich gegen ihre Gäste: »Man muß sie gewähren lassen; sie ist ganz für den engsten Kreis der Häuslichkeit geschaffen.«
Und recht wohlgefällig nahm sie dann die Komplimente über die gelungene Erziehung der Stieftochter hin und bemerkte bescheiden: »Die Kleine selbst hat es mir wirklich erleichtert und vergilt mir jetzt die Mühe, die es mich gekostet, sie nach ihrer Individualität zu behandeln.«
Und Luise? – war sie ein willenloses Opferlamm oder die stille Dulderin eines freudlosen Daseins? Keins von beiden. Sie war noch gar nie dazu gekommen, sich ihrer Ansprüche ans Leben bewußt zu werden; sie dachte nur ihrer Pflichten, [100] denen sie nach ihrem demütigen Sinn so wenig genügte, und bat Gott von einem Tag zum andern um die Kraft, ihr Tagewerk besser vollbringen zu können. Von früher Kindheit an für andre bemüht, hatte sie fast unbewußt die schwere Kunst gelernt, die viele durch ein ganzes langes Menschenleben nicht lernen und nicht lernen wollen: die Kunst, sich selbst zu vergessen. Der beste Panzer gegen die Stacheln fremder Selbstsucht ist ein selbstloses Gemüt. Was andre als Last von sich wegschoben und auf ihre Schultern legten, das übernahm sie freudig als Zeichen ehrenden Vertrauens.
Ihr Leben war nicht freudlos; sie freute sich des Gedeihens der Geschwister, ihrer Zuneigung und Anhänglichkeit, besonders der unbeschreiblichen Liebe der ältern Brüder, denen sie immer das Nächste und Liebste auf Erden blieb; sie freute sich des Gartens, der ausschließlich ihrer Sorge übergeben war, ihrer Nelken und Monatrosen; unbewußt freilich, sie schrieb keine Reflexionen darüber in ihr Tagebuch; aber sie empfand den Segen dieser Freude in der ungebrochenen Kraft und Frische, mit der sie ihr mühevolles Tagewerk vollbrachte.
Bruno und Artur hatten längst das Alter erreicht, in dem Theodor und Fritz das Elternhaus verlassen hatten; die Mutter aber fand, daß es für ihre Individualität besser sei, sie zu Hause zu behalten, auch hätte es doch des Pfarrers Kasse kaum aufwenden können, für alle Söhne Kostgelder zu bezahlen. Da nun auch für Gabrielens und Kornelias aufkeimende Fähigkeiten der Unterricht des Dorfschullehrers nimmer zureichend befunden wurde, hielt es die Mutter für das beste, einen Vikar anzunehmen, der den Unterricht der Kinder gemeinsam mit dem Papa übernehme. »Wir haben zu große Opfer für unsre älteren Kinder gebracht,« sagte sie mit edler Selbstverleugnung; »ich muß suchen, die Erziehung meiner eigenen Kinder weniger kostspielig zu bestreiten, ich habe mich immer bestrebt, meine Mutterpflichten zu erfüllen.« Und sie schwieg wieder mit stiller Rührung über sich selbst.
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