[10] Meinem Freunde Karl Gatter gewidmet
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[10] Meinem Freunde Karl Gatter gewidmet
Personen.
Kretin! Er setzt sich zum Schreibtisch, blättert in den Akten, lehnt sich nachdenkend zurück, sieht dann plötzlich auf die Uhr und läutet hierauf am Tischtelephon. Ins Sprechrohr. Verbinden Sie mich mit dem Präsidium! – Ja, hier Landesgerichtsrat Doktor Groll –Freundlich. Habe die Ehre, Herr Collega – Bitte, teilen Sie mir doch endlich einen anderen Schriftführer zu! – Wie mein jetziger heißt? Ironisch. Doktor Samuel Zwirn! Der Name sagt, glaube ich, alles – Gereizt. Warum denn nicht? Seit wann ist so ein Mangel an Schriftführern? Die Diaspora ist doch bei uns sehr ausgiebig! Lacht maliziös. – So? – So? Plötzlich sehr unangenehm. Dann ersuche ich Sie, dienstlich zur Kenntnis zu nehmen, daß der Rechtspraktikant Doktor Zwirn, trotz wiederholter Mahnung wegen Zuspätkommens, heute um einhalbzehn Uhr noch nicht im Amte ist. Ergebener Diener. Während er das Hörrohr auf das Gestell legt, klopft es an der Tür im Hintergrund. Mit Kopfhaltung. Herein!
Nicht im geringsten! Bitte doch einen Augenblick Platz zu nehmen! Mit Betonung. Die Vertreter der Anklagebehörde sehe ich, ganz abgesehen von allen privaten Sympathien, immer gerne bei mir.
Hoffentlich sind in meinem Falle Ihre Sympathien für meine private Persönlichkeit lebhafter als die für meine amtliche!
Das würde nicht allzuviel heißen! Denn – seien Sie mir [17] nicht böse! – Sarkastisch. mit Ihnen als Staatsanwalt bin ich nicht immer so ganz einverstanden.
Mitunter. Ganz richtig. Aber das kommt schon noch. Falschfreundlich. Wie geht es übrigens der Frau Gemahlin und den Kindleins?
Sehen Sie, das gehört auch zu den Dingen, die ich in meinem arbeitsreichen Leben glattwegs versäumt habe: Frau und Kinder –
Ich weiß, daß meine Rüstigkeit vielen meiner Hintermänner ein Dorn im Auge ist. Aber gerade deswegen trachte ich, mich möglichst frisch und tüchtig zu erhalten, und heirate eben nicht. Ganz abgesehen davon, daß ich immer das Gefühl hatte: Nicht ohne Größe. ein Richter soll sein wie ein [18] Priester, an nichts Irdisches mit seinem Herzen gebunden, unvermählt. Geieraugen, dann mißvergnügt abbrechend. Na ja.
Ja, ja, ja! Für zehn Uhr. Ich höre aber, daß sich einige verdächtige Gestalten bereits seit neun Uhr auf dem Gange herumtreiben. Herr Collega haben übrigens die Einvernahme eines gewissen Kritzenberger zu beantragen geruht. Wurde natürlich vorgeladen, obwohl ich nicht einzusehen vermag, was der Mann aussagen soll. Er war gar nicht Tatzeuge.
Ich weiß. Es will mir aber scheinen, als ob hinter dieser Sache etwas steckte, worüber noch nicht volle Klarheit herrscht. Zwischen dem Anlaß zur Tat und ihrer ganz unvermittelten, förmlich übertriebenen Ausführung ist kein rechtes Verhältnis. Ich bin nicht abgeneigt, an irgendeine Psychose zu glauben.
Psychose?! Diesen Ausdruck habe ich bisher nur von Verteidigern gehört, und was ich von dieser Menschenklasse [19] halte, dürfte Ihnen ja bekannt sein. Wir Richter, die es wirklich sind, wissen, Stark. daß es ein An-sich-Böses gibt!
Ich glaube mit Ihrer Genehmhaltung auch jetzt noch daran! Der Fall Gschmeidler ist ja das Schulbeispiel dafür. Dieses Individuum hat vor siebenundzwanzig Jahren seinen Dienstherrn wegen eines Frauenzimmers umgebracht und wurde zum Tode verurteilt. Statt ihm aber den Garaus zu machen, hat man ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, und nach siebenundzwanzig Jahren gibt man ihm auf einmal die Freiheit zurück, in der falschen Voraussetzung, das Böse in ihm sei durch die lange Haft ausgetilgt. Aber das Böse erweist sich stärker als der Verstand der Leute, die an die Besserungsmöglichkeit eines Verbrechers glauben. Einen Monat nach Entlassung aus der Strafanstalt begeht der Mann ein ganz ähnliches Delikt wie das erste Mal, nur daß der Anschlag diesmal gegen ein Weibsbild gerichtet war und der Mord nicht gelungen ist. Wahrscheinlich stecken ähnliche Ursachen dahinter.
Eine Diskussion über Ihre Annahme, Herr Rat, würde [20] uns zu weit führen, zumal ich persönlich keineswegs davon überzeugt bin, daß wirklich ein Mordversuch vorliegt.
Wieso denn nicht?! Es nimmt einer einen Fleischschlägel, also ein absolut taugliches Werkzeug, und drischt damit einer Frauensperson auf den Kopf! Noch dazu in tückischer Weise von rückwärts! Ein Gesellschaftsspiel ist das doch nicht! Sie werden hoffentlich nicht glauben, daß man so planmäßig in der beliebten Sinnesverwirrung vorgehen kann!
Immerhin gibt es gewisse Fälle, in denen ein bloß psychisch mißhandeltes Individuum als letzten Ausweg aus lange und wehrlos erduldeter Qual einen Exzeß verübt, der scheinbar in keinem Verhältnis zu dem steht, was ihm zugefügt wurde.
Ich habe allerdings die persönliche Empfindung, daß wir diesen Fall nicht vor die Geschworenen bringen können werden.
Ach so! Mit steigender Heftigkeit. Ich verstehe bereits. Die Staatsanwaltschaft interessiert sich nicht für den Fall. Die [21] Staatsanwaltschaft möchte die causa gerne an das Bezirksgericht abtreten, und da kommt die hohe Staatsanwaltschaft in Ihrer geschätzten Person zu mir, um mir quasi nahezulegen, in der Voruntersuchung durch die Finger zu sehen. Natürlich! Man kann ja einen Dieb auch so verhören, daß es schließlich den Anschein hat, als habe ihm jemand das gestohlene Gut heimlich in die Tasche gesteckt. Gewiß kann man auch so verhören, aber Mit mühsam gebändigtem Grimm. diese Zumutung –!
Hoffentlich irre ich mich! Denn andernfalls läge der Versuch vor, an meine richterliche Unabhängigkeit zu tasten, und darin bin ich sehr empfindlich, Herr Collega, sehr empfindlich!Geieraugen.
Ich werde also die Untersuchung, meiner Überzeugung gemäß, so lange in der Richtung des Verbrechens führen, als die Abtretung an das Bezirksgericht nicht rechtskräftig verfügt ist.
[22]Er behält die Schnalle der noch offenen Tür in der Hand und läßt den Staatsanwalt, vor dem er sich verbeugt, abgehen, schließt dann die Tür und bleibt, den Blick auf den Rat gerichtet, einige Augenblicke nächst der Tür stehen.
Herr Doktor Zwirn, ich teile Ihnen mit, daß ich mich über Sie soeben in aller Form beim Präsidium beschwert habe.
Bitte, rufen Sie mir jetzt die Zeugin Marie Dworschak auf! Da er bemerkt, daß Zwirn unschlüssig steht, unangenehm. Kann ich Ihnen mit etwas dienen?
Ich erwähn' das nur, weil ich täglich mit der Bahn hereinfahr' [24] in die Stadt und weil mein Zug heute gehabt hat fünfunddreißig Minuten Verspätung. Ein großes Unglück ist passiert! Mein Wort, ich bin noch ganz erschüttert davon.
In einer Station will aufspringen ein Mann auf den fahrenden Zug, kommt unter die Räder, und beide Füße werden ihm abgeführt. Ich hör' schreien, was sag' ich, brüllen, beug' mich hinaus zum Fenster, und ausgerechnet vor mir liegt der Mann im Blut! Ganz schlecht ist mir geworden.
Abgesehen davon, daß dem Manne nur recht geschehen ist, da man ja bekanntlich auf fahrende Züge nicht aufspringen darf, so ist Menschenblut doch – schön! Wieder erregter werdend, sich vergessend und mit immer steigender Benommenheit im folgenden. Ich bin einmal zweiundsiebenzig Stunden hin und zurück nach Paris gefahren, für einen Tag, um einer Guillotinierung bei zuwohnen. Jawohl, um entfesseltes [25] Menschenblut zu sehen! Das war gewiß der stärkste Eindruck meines Lebens. – Ich habe ja auch bei uns schon Hinrichtungen mitgemacht. Aber das Hängen reicht an das Köpfen bei weitem nicht hinan. Eine Justifikation, der das Pathos des Blutes mangelt, ist nur Surrogat. Erst das vergossene Menschenblut gibt eine Idee von der Größe der Gerechtigkeit. Nur wer Blut sehen kann, hat das Recht, ein Todesurteil zu fällen. Jawohl! – Dazu kommt in Frankreich, daß die Hinrichtungen öffentlich stattfinden. Und das ist recht so. Denn der von unabhängigen, gerechten Richtern verhängte Tod soll keine lichtscheue Beseitigung, sondern ein öffentliches Fest sein, das die beleidigte Rechtsordnung allen, die daran teilzunehmen geeignet sind, veranstaltet. Jawohl! Geieraugen, die sich höhnisch an dem ratlos betroffenen Gesichte Doktor Zwirns weiden. Dann plötzlich wegwerfend. Rufen Sie mir jetzt die Zeugin Marie Dworschak herein! Blickt wieder in die Akten, seine Erregung sichtlich niederkämpfend.
Sie heißen Marie Dworschak. Ihre Generalien sind bereits im Akt. Sie werden als Zeugin vernommen. Das heißt, daß Sie in allem und jedem, worum ich Sie befragen werde, die volle und reine Wahrheit zu sagen haben. Andernfalls würden Sie das Verbrechen des Betruges begehen. Verstehen Sie mich?
Sagen Sie einfach: nein! – Sie sind bereits bei der [27] Polizei einvernommen worden. Geben Sie acht, ich werde Ihnen den Sachverhalt, wie er aus Ihrer polizeilichen Aussage hervorgeht, kurz rekapitulieren. Das Folgende, das er aus den Akten entnimmt, spricht er nicht ohne Genugtuung über die eigene Darstellung. Sie leben mit dem Zahlkellner Leopold Kritzenberger in gemeinsamem Haushalt und haben mit diesem eine aus Zimmer und Küche bestehende Wohnung im vierten Stocke des Hauses V. Phorusgasse 11 inne. – Anfangs September vorigen Jahres machte Ihr Geliebter in dem Kaffeehaus, besser gesagt, in der Kaffeeschänke, in der er angestellt ist, die Bekanntschaft des Beschuldigten. Er nahm denselben in die Wohnungsgemeinschaft auf, wogegen sich der Beschuldigte verpflichten mußte, Ihnen und Ihrem Geliebten seinen gesamten Verdienst aus der Arbeit während der Strafzeit und seine Pfründe im Betrage von zwanzig Kronen monatlich abzuliefern. Ist das wahr?
Antworten Sie anständig! – Außerdem verwendeten Sie den Gschmeidler zu kleinen Verrichtungen in der Wirtschaft wie: zu Botengängen, zum Aufräumen, Schuheputzen usw.
[28]Das ist nicht wahr. Nur eigenes Bett hat er aufräumen müssen, nur eigene Schuh' putzen. Bin ich vielleicht Dienstbot' von ihm?
Lassen Sie alle Nebenbemerkungen! – Für die genannten materiellen und persönlichen Leistungen erhielt er von Ihnen Wohnung und Verpflegung in Ihrem Haushalte, außerdem von Zeit zu Zeit kleine Geldbeträge.
Schön! – Am Vormittag des 22. Jänner dieses Jahres geschah es nun, daß der Beschuldigte zu Ihnen in die Küche kam, wo Sie mit der Zubereitung des Mittagessens befaßt waren. Er trat auf Sie zu und verlangte, angeblich in barschem Tone, etwas zu essen.
Unterbrechen Sie mich nicht! – Sie sagten ihm, daß Sie momentan nichts für ihn zu Hause hätten, und wiesen ihn [29] an, er solle zum Greisler gehen und sich etwas zum Essen kaufen. Hat er denn Geld gehabt?
Gleichzeitig ersuchten Sie ihn, Ihnen etwas, dessen Sie zum Kochen benötigten, vom Greisler mitzubringen. Gschmeidler lehnte dies ab und begann, Sie zu beschimpfen.
Da Sie mit dem Gschmeidler allein in der Wohnung waren und sich angeblich vor ihm fürchteten, ließen Sie sich in keinen Streit mit ihm ein. Wieso hatten Sie übrigens Furcht vor ihm?
Und ob ich Furcht gehabt hab'! Hat dieser Gschmeidler schon drei Tage vorher zur Partei vis-à-vis gesagt, daß er mich umbringen wird!
[30]Sie kehrten sich also an die Schimpfreden des Gschmeidler nicht, sondern setzten zunächst Ihre Arbeit fort. Dann verabreichten Sie der Katze das Futter. Worin bestand dieses Futter?
Sie fütterten also die Katze und knieten zu diesem Behufe auf dem Fußboden der Küche nieder. Dabei wendeten Sie dem Gschmeidler den Rücken. Dieser hatte sich inzwischen scheinbar beruhigt. Da hörten Sie plötzlich, wie sein Atem [31] in ein heftiges Schnaufen überging. Sie waren im Begriffe, sich nach ihm umzuwenden, Sie vernahmen noch, daß er mit heiserer Stimme die Worte: »Jetzt bring' ich dich um, du Luder!« keuchte, Sie wollten aufspringen – erhielten jedoch im nächsten Momente mehrere wuchtige Schläge mit einem harten Gegenstande auf den Kopf.
Sie verloren im ersten Augenblicke das Bewußtsein, kamen jedoch alsbald wieder zu sich, sahen den Gschmeidler über Sie hingebeugt, nahmen Ihre Kräfte zusammen und liefen mit Hilferufen auf den Gang. – Soweit Ihre Aussage bei der Polizei. Halten Sie dieselbe aufrecht?
Herr Schriftführer, schreiben Sie: Die Zeugin hält ihre polizeiliche Aussage vollinhaltlich aufrecht und gibt über Befragen an – Nach einem Moment des Nachdenkens. Sie Dworschak, haben Sie das Gefühl gehabt, daß Sie der Beschuldigte umbringen wollte?
[32]Ja, schön! – Sagen Sie mir, wie sind Sie, respektive Ihr Geliebter in den ersten drei Wochen Ihres Beisammenwohnens mit dem Gschmeidler ausgekommen?
So? Das wissen Sie nicht? – Na, dann werde ich es Ihnen später sagen. Sie Dworschak, in Ihrer Aussage befindet sich nämlich irgend ein Haken. Unterbrechen Sie mich nicht! – Irgend etwas stimmt da nicht. Wenn es tatsächlich wahr wäre, daß Sie der Gschmeidler nur deswegen, weil Sie ihn zum Greisler schickten und weil Sie momentan nichts für ihn zu essen hatten, zu ermorden versuchte – wenn dies, wie gesagt, wahr wäre, dann hätten wir es mit der Tat eines Irrsinnigen zu tun Mit lauernder Beobachtung. und müßten den Gschmeidler, anstatt ihn zu bestrafen, in ein Narrenhaus stecken. Haben Sie Anzeichen von Irrsinn an ihm bemerkt?
Protokollieren Sie, Herr Schriftführer: Der Beschuldigte war am kritischen Tage nüchtern. – Sie sagen, der [34] Beschuldigte sei in den ersten drei Wochen verträglich gewesen und erst infolge eines Streites mit Ihrem Geliebten »rabiat« geworden. Fiel dieser Streit vielleicht nach einer Nacht vor, die Ihr Geliebter nicht zu Hause verbracht hatte?
Das weiß ich nicht. Mein Geliebter hat jeden zweiten Tag Nachtdienst und kommt erst um sieben Uhr früh nach Hause.
Aber es ist möglich, daß der bewußte Streit nach einer solchen Nacht, die Ihr Geliebter nicht zu Hause verbrachte, vorfiel! Ich erinnere Sie nochmals an Ihre Pflicht, die Wahrheit zu sagen.
Es ist durch die Hausmeisterin, die ich als Zeugin vernommen habe, erwiesen, daß Sie einige Tage vor der Tat um zwölf Uhr nachts mit einem fremden Menschen in Ihre Wohnung gingen, und weiter erwiesen, daß derselbe fremde Mensch um vier Uhr früh das Haus, respektive Ihre Wohnung verlassen hat.
Die Hausmeisterin hat als Zeugin vor Gericht ausgesagt. Wenn Sie also nicht behaupten wollen, daß sie falsch ausgesagt und dadurch das Verbrechen des Meineides begangen habe, dann geben Sie diesen Umstand ruhig zu.
Sie sind Zeugin. Und deshalb haben Sie auch die Pflicht die volle und reine Wahrheit auszusagen. Sie dürfen aber [37] auch nichts verschweigen, was Ihnen bekannt ist. Nur in dem Falle, daß Ihnen die Aussage strafgerichtliche Verfolgung oder Schande zuziehen könnte, haben Sie das Recht, dieselbe zu verweigern –
Das ist aber hier nicht der Fall. Denn: da Sie mit dem Kritzenberger nicht verheiratet sind, so begründet eine Untreue gegen ihn nicht die Übertretung des Ehebruches, kann Ihnen daher auch nicht strafgerichtliche Verfolgung zuziehen. Da Sie ferner, wie erhoben ist, vor Ihrem Verhältnisse mit dem Kritzenberger Prostituierte und daher an den gleichzeitigen Umgang mit mehreren Männern gewöhnt waren, so kann Ihnen nicht zugemutet werden, daß Sie einen gelegentlichen Rückfall in Ihre früheren Gewohnheiten als Schande empfinden.Plötzlich mit Gewalt. Antworten Sie mir daher, hatten Sie in der bewußten Nacht einen fremden Menschen bei sich oder nicht?!
Also ein Bekannter aus Ihrer früheren Praxis!Zynisch lächelnd. [38] Das kommt auf's selbe heraus. Jedenfalls war es ein anderer Mann als Ihr Geliebter. Protokollieren Sie das, Herr Schriftführer! – Sie Dworschak, ich habe Sie um diese Umstände nicht deshalb befragt, weil Ihnen das Gericht aus Ihrer Handlungsweise etwa einen Vorwurf machen wollte. Im Gegenteil, das Gericht hat nicht die Absicht, Ihr Vergnügen zu stören. Wohl aber konnte der Beschuldigte, der Sie vielleicht bis zu jener Nacht für eine anständige Person gehalten haben mag, durch jenen Vorfall, dessen Zeuge er sein mußte, auf den Gedanken gekommen sein, etwas von Ihnen zu wollen, was Sie außer Ihrem Geliebten auch einem anderen Manne gewährten. Das wäre nur menschlich. Ich frage Sie daher: war der Beschuldigte nach jener Nacht eifersüchtig? Oder hat er Ihnen vielleicht sogar Anträge gemacht, die darauf ausgingen, Sie so zu besitzen, wie Sie in seiner Gegenwart vermutlich besessen worden sind?
Wenn dieser alte Vagabund, dieser Zuchthäusler, dieser abgestrafte Falott vielleicht gesagt hat –! Hält keuchend inne.
Ich bin anständige Person! Ich hab' niemand Anträge gemacht! – Was gewesen ist, ist vorbei! Jetzt bin ich anständige Person. Seit drei Jahren bin ich treu meinem Geliebten. Nur einmal, ausnahmsweise, ist was passiert! Kann mir kein Mensch was nachsagen. Geht niemand was an! Mit Klassenhaß. Wenn armes Mädel Kind kriegt, muß Geld nehmen, wo's liegt! Kann's nicht verhungern lassen! Und wenn auf Straßen gehn muß! Mit weinerlicher Wut. Kann's nicht verhungern lassen! Kann's nicht verhungern lassen! Schluchzt ein paarmal kurz auf, dann wieder rauh. Und niemand mach' ich Anträge!
Regen Sie sich nur nicht auf, Dworschak. Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie dem Gschmeidler, sondern ob der [40] Gschmeidler Ihnen Anträge gemacht hat. Nur das letztere interessiert das Gericht. Für das indirekte Geständnis, daß Sie der aggressive Teil waren, haben wir keine Verwendung.
Jetzt werd' ich alles erzähl'n. Wie's war, werd' ich sagen. Nichts als die Wahrheit werd' ich sagen –
Wie fremder Gast weg war – um vier Uhr früh – ist Gschmeidler zu meinem Bett kommen und hat g'sagt – Sie stockt und sieht zu Boden.
Alles wird er meinem Geliebten sagen, hat er g'sagt, wenn – Einen Moment zögernd, dann mit Entschluß. wenn ich ihm nicht auch –
[41]Ah, ich genier' mich nicht. Was brauch ich mich genieren? Ich hab' ihm nicht Antrag gemacht! Mit Selbstaufmunterung. Er hat mir Antrag gemacht!
Sie Dworschak, kann ich das, was Sie jetzt über den Gschmeidler gesagt haben, protokollieren lassen? Überlegen Sie sich's gut! Denn wenn es Ihnen vielleicht auch die irdische Gerechtigkeit nicht nachweisen können sollte, falls Sie gelogen haben, Mit wohlberechnetem Pathos. es ist ein Gott im Himmel! An den glauben Sie doch, Dworschak! Nicht?
[42]Bleiben Sie also dabei, daß Ihnen der Beschuldigte nach den Vorgängen der bewußten Nacht die angegebenen Anträge gemacht hat? Ja oder nein?
So? – Ihre Aussage resümiert sich also dahin: Sie haben vor der Tat an dem Beschuldigten keinerlei Anzeichen eines abnormalen Geisteszustandes bemerkt. Hingegen hat sich derselbe zu einer Frau im Hause verlauten[43] lassen, daß er Sie noch einmal umbringen werde. Am Tage der Tat war der Beschuldigte vollkommen nüchtern. Der Anlaß war der mehrfach erwähnte Streit, den Sie konform mit Ihrer Aussage bei der Polizei schildern. Sie geben zu, daß Sie in der bewußten Nacht einen fremden Mann bei sich gehabt haben, und behaupten, daß nach Entfernung dieses Mannes der Beschuldigte Ihnen erpresserische Anträge in einer gewissen Richtung gestellt hat. Haben Sie sonst noch etwas anzugeben?
Lesen Sie sich das Protokoll durch, Dworschak, und unterschreiben Sie es! Dann können Sie gehen. Er lehnt sich in seinen Sessel zurück und versinkt in Nachdenken.
Sie kennen das Leben nicht, junger Mann! – Übrigens wird es Sache der öffentlichen Verhandlung sein, darüber Klarheit zu schaffen. In ihr wird die Zeugin Gelegenheit haben, ihre Aussage zu wiederholen oder zu widerrufen.
Bis dahin hat sie sich aber möglicherweise an die Lüge gewöhnt und bringt sie ganz anders vor als bei uns. Wir haben sehen können, wie sie hat mit sich gekämpft, wie der Verdacht, daß sie dem Beschuldigten Anträge gemacht haben könnte, ihr weibliches Ehrgefühl verletzt und den Gedanken erzeugt hat, das Umgekehrte zu behaupten. Wir haben das gesehen, aber der Gerichtshof und die Geschworenen werden das wahrscheinlich nicht sehen! Hab' ich recht?
Herr Doktor Zwirn – Ihre Bemerkungen mögen an sich sehr lichtvoll sein, heben Sie sich aber Ihre Beredsamkeit für die Zeit auf, wo Sie Verteidiger sein werden. Höhnisch. Das werden Sie doch, nicht?
Na, wie Sie wollen. Rufen Sie mir jetzt den Zeugen Leopold Kritzenberger! Blickt ihm, der nach stummer Verbeugung zur Tür im Hintergrund geht, mit gehässiger Kopfhaltung nach.
Um so besser. Bei der Tat selbst waren Sie nicht anwesend, [47] können über dieselbe daher nichts aussagen. Sie werden lediglich darüber befragt werden, ob Ihnen vor der Tat an dem Beschuldigten Anzeichen einer geistigen Störung aufgefallen sind.
Aus dessen Grunde glaube ich, Herr kaiserlicher Rat, daß der Mensch verrückt gewesen sein muß, weil ein vernünftiger Charakter so etwas nicht tut.
Alsdann, Herr kaiserlicher Rat, ich muß vorausschicken, daß der Gschmeidler überhaupt ein rabiater Mensch ist. Er hat sich in meiner Anwesenheit erfrecht, meine Frau –
Es ist zum Verzweifeln! – Wieder gefaßt. Sie, schwätzen Sie nicht herum! Ich frage Sie nochmals: haben Sie vor der Tat irgendwelche Zeichen einer Geistesstörung, Verrücktheit oder überhaupt ein außergewöhnliches Betragen des Beschuldigten bemerkt? Ja oder nein?
Sie sollen aber einige Tage vor der Tat mit dem Gschmeidler einen Streit gehabt haben. Warum und wie ist es dazu gekommen?
Das hat sich folgendermaßen abgespielt, Herr kaiserlicher Rat: ich komm' in der Früh um zirka achte aus meinem Nachtdienst nach Hause. Da hör ich auf dem Gang vor meiner Wohnung in der Küche drinnen meine Frau schreien. »Ich lass' mir das nicht gefallen!« hör' ich s' schreien. Ich sperr' die Wohnungstür [49] auf, und wie mich die beiden ansichtig werden, sind s' auf'm Fleck still. Ich frag' meine Frau, sie gibt mir keine Antwort, ich frag' den Beschuldigten, er gibt mir keine Antwort. Mir ist das zu dumm, und ich schrei' den Gschmeidler an, was er mit meiner Frau herumzustreiten hat. Herr kaiserlicher Rat, da is Ihna dieser Mensch rot word'n wie a Piperhahn, und wissen S', was er g'sagt hat? – »Sie möchten auch eine bessere Frau verdienen, als dös Luder!«
Und haben Sie sich darüber keine Gedanken gemacht, wieso der Gschmeidler dazu kommen konnte, Ihre Geliebte so zu beschimpfen?
Wie man's nimmt. – Sagen Sie mir, haben Sie bemerkt, daß sich der Gschmeidler um Frauenzimmer gekümmert hat?
Haben Sie vielleicht bemerkt, daß er die Dworschak irgendwie angesehen hat, als ob er etwas von ihr gewollt hätte? Sie verstehen mich.
Sie sind nicht vorgeladen worden, um das Gericht zu befragen, sondern um vom Gericht befragt zu werden. Aber Sie wissen nichts oder wollen nichts wissen. Habe ich auch nicht anders erwartet.
Gut. So wer i mi selber derkundigern! Und wenn i was derfahr', dann kann sich der alte Zuchthäusler anschaun – und das Mensch a!
[52]Mir is alles wurscht! Aber i derfahr's! Schmerzlich gesenkt. I derfahr's!Plötzlich wieder demütig, außer sich. Herr kaiserlicher Rat – ich bitt' Ihnen um Gottes willen – i kenn' mi nimmer aus – i waß net, was i tua!
Pfui Teufel! Wie ein Weib sind Sie! Sich abwendend. Herr Schriftführer, schreiben Sie: Der Zeuge gibt an, daß er vor der Tat keinerlei Anzeichen einer Geistesstörung an dem Beschuldigten bemerkt habe. Derselbe sei auch kein Trinker gewesen und habe sich insbesondere am Abend vor der Tat nicht betrunken. Der Zeuge hat nicht bemerkt, daß der Beschuldigte es auf die Dworschak abgesehen gehabt habe, auch habe ihm dieselbe keine diesbezüglichen Mitteilungen gemacht. Zum Zeugen barsch. Sie haben gehört, was ich diktiert habe. Wenn Sie damit einverstanden sind, unterschreiben Sie das Protokoll!
[53]Schön. Herr Doktor, schreiben Sie: Der Zeuge verweigert die Anhörung des Protokolls und die Unterschrift. – Sie können schon gehen, Kritzenberger.
Also drei Kronen. Als wenn es ihm erst jetzt einfiele. Übrigens, stehen Sie denn als Zahlkellner im Tag- oder Wochenlohn?
Das Gesetz gewährt aber nur jenen einen Anspruch auf [54] Zeugengebühr, die im Tag- oder Wochenlohn stehn. Empfehle mich!
Herr Doktor, ich danke für Privatgespräche. Telephoniert. Vorführzimmer!! – Vorführen auf Abteilung siebenundsechzig den Anton Gschmeidler von Zelle einundachtzig! Aber rasch!!
Er steht an der Tür unschlüssig und niedergeschlagen. Der Justizsoldat entfernt sich nach militärischem Strammstehn und Gruß.
Dahersetzen! Rasch aus dem Akt. Sie heißen Anton Gschmeidler, sind 51 Jahre alt, katholisch, ledig, in Wien geboren und zuständig.
Sie sind vorbestraft und zwar wegen Mordes, begangen an dem Schlossermeister Gustav Wuck. – Nachdem Ihnen anläßlich der Amnestie der Rest Ihrer lebenslänglichen Kerkerstrafe nachgesehen wurde, haben Sie zuletzt bei dem Zahlkellner Leopold Kritzenberger und dessen Konkubine als Bettgeher gewohnt. Wie haben Sie diese Leute kennengelernt?
Ganz durch Zufall. – Ich hab' den Kritzenberger in seinem Kaffeehaus kennengelernt, wo er Marqueur ist. Er ist mir gleich gut zu G'sicht gestanden. Da hab' ich ihm halt alles erzählt, wer ich bin und woher ich komm' und daß ich halt gar keinen Unterstand hab'. Da hat er mich gleich eing'laden, daß ich bei ihm und seiner Frau wohn'. Na, ich war damals froh, daß ich so einen guten Menschen gefunden hab'.
Die Einladung bestand darin, daß Sie dem Kritzenberger [56] alles, was Sie an barem Gelde besaßen, abliefern und sich verpflichten mußten, auch Ihre monatliche Pfründe von zwanzig Kronen an ihn abzuführen. Also gar so weit her war es mit der Güte dieses Menschen nicht.
Na ja, das stimmt schon. Aber dafür hab' ich doch auch mein Wohnen gehabt und mein Essen. Wer nimmt denn gleich einen entlassenen Sträfling ins Haus? Umsonst kann man das nicht verlangen.
Aber, Herr Richter! Wer nimmt denn einen alten Mann, wo so viele junge gelernte Leute herumrennen und verhungern!
[57]Sie waren also im Hause Kritzenberger so gut aufgenommen, daß Sie zum Dank dafür die Dworschak erschlagen wollten.
Nein, nein! Vom Erschlagen kann keine Red' nicht sein. Züchtigen hab' ich s' wollen. Das geb' ich schon zu. Denn das hat s' verdient.
Da plagt sich so ein braver, fleißiger Mensch Tag und Nacht für das Weibsbild, nur daß er ihr alles schafft, was so eine in ihrem Übermut verlangt, und dann geht sie her und nimmt sich den ersten besten von der Straßen! – Ah, reden wir lieber net, Herr Richter –
Wohl, wohl, heilig kunnt' man schon werden, wenn man sechsundzwanzig Jahr' lang Pappschachteln g'leimt hat.
Sie wollen also offenbar sagen, daß Sie die moralische Entrüstung über das liederliche Verhalten der Dworschak zur Tat veranlaßt habe. Sie werden jedoch zugeben, daß man Ihnen ein so empfindliches sittliches Gefühl nicht gut zutrauen kann. Auch ist die Untreue einer Frauensperson gegenüber einem Manne, mit dem sie nicht verheiratet ist, kein solches Verbrechen, daß ein gänzlich Unbeteiligter wie Sie an ihr deshalb die Todesstrafe vollziehen dürfte. Oder Sie waren kein Unbeteiligter! Geieraugen.
Ah, reden Sie nicht! Sie haben schon einmal einen Menschen wegen eines Frauenzimmers umgebracht – aus Eifersucht!
Das war kein so ein Frauenzimmer! Das war meine Braut! Die hat mir Treue geschworen gehabt fürs ganze Leben! Und dann ist dieser Mensch – Gott hab' ihm selig – hinter meinem Rücken hergangen und hat ihr Verleumdungen über mich g'sagt und hat ihr selber das Heiraten versprochen und hat s' verführt, und dann hat er s' sitzen lassen. Weggeworfen wie was Schlechtes meine Hermine, meine Braut! Dafür hab' ich ihm umbracht! Net wegen Eifersucht.
Wie kommt es dann, daß die Dworschak hier vor Gericht als Zeugin ausgesagt hat, Sie hätten ihr in der bewußten Nacht, nachdem sich der fremde Mann entfernt hatte, ganz bestimmte unsittliche Anträge gestellt?
Geben Sie acht, was Sie sagen! Die Dworschak hat sogar weiter behauptet, daß Sie ihr gedroht haben, Sie [60] würden alles dem Kritzenberger mitteilen, wenn sie, die Dworschak, sich Ihnen gegenüber nicht auch gefügig erweisen sollte. – Lassen Sie mich ausreden! – Und in der Tat haben Sie auch den Versuch gemacht, dem Kritzenberger zu tratschen, sind aber von diesem »guten« Menschen mit Ohrfeigen abgespeist worden! Geieraugen.
So is dös net wahr, Herr Richter! – Wie der fremde Herr in der Nacht weg war, da hab' ich der Fräuln Marie g'sagt, daß ich alles g'hört und g'sehen hab' und daß sie sich schamen soll und daß ich's dem Kritzenberger erzählen werd', wenn sowas noch einmal vorkommt. Aber wie der Kritzenberger in der Früh nach Haus kommen is, da hat s' ihm glei mit die Wort' empfangen: »Du, Poldi, der alte Zuchthäusler behaupt', daß ich heut nacht an fremden Menschen bei mir g'habt hab'. Das laß ich mir net g'fall'n!« Mit gesenkter Stimme. Na, und da hat er ihr halt mehr geglaubt als mir und hat mich geschlagen. Wieder lebhaft. Aber von dem Tag an war's aus und g'schehn, Herr Richter! Von dem Moment an hat mir die Dworschak nix mehr zum Essen geben. Aber dafür hat s' mi den ganzen Tag umerdum g'hetzt: einmal zum Greisler, einmal zum Mehlmesser, zum Drogisten, in die Trafik, zum Branntweiner. Zehnmal im Tag fünf Stöck' auf und ab! I bin [61] ja ein alter Mann, Herr Richter! Und wenn i net glei hab' gehn woll'n, so hat s' g'sagt: »So kriegst nix zum Fressen, du Hund!« Da bin i halt gangen. Und wenn i dann zurückkommen bin und hab' s' bitt: »Fräuln Marie, geben S' mir jetzt a Schluckerl Kaffee!« – da hat s' g'lacht und g'sagt: »Am Gang is d' Wasserleitung. Das ist der beste Kaffee für an alten Zuchthäusler!« Gesenkt. So is das fortgangen durch vier Täg'!
Sie spielen sich jetzt auf den Märtyrer hinaus. Warum haben Sie sich nicht beim Kritzenberger beklagt?
Und wie war das am Tage der Tat? Da hat Sie die Dworschak wieder zum Greisler geschickt. Warum sind Sie nicht gegangen?
In der Verzweiflung, Herr Richter, in der Verzweiflung! – Denn wie ich der Fräuln Marie g'sagt hab', daß i net geh', da is sie zum Küchenkastel gangen, hat's aufg'sperrt und hat mir a Häferl zeigt, wo s' kalte Nudeln von gestern drin g'habt hat. Die hat s' mir unter's G'sicht g'halten und hat g'spott': »Siehgst, die Mehlspeis' hätt'st zum Fressen kriegt, wanns d' mir zum Greisler gangen warst! So kriegt's die Katz!« – I hab' ihr gar nix mehr antworten können und hab' s' nur ang'schaut. – Dann is sie hergangen und hat die Nudeln in a Reindl geben und Milch draufgossen aus an Flaschl. – I hab' immer nur g'schaut. – Und dann hat s' die Katz g'rufen. »Miez, Miez, Miez!« hat s' g'rufen. Aber die Katz is net kumma! Die is hinterm Herd g'hockt und hat kan Hunger g'habt. – Da hat s' a Wut kriegt und hat die Katz hinterm Herd fürizog'n. Dabei hat s' mi von der Seiten ang'schaut, was i für a G'sicht mach'. Und dann hat s' der Katz die Nasen in die Milch einig'stößen und hat g'sagt: »Friß, Miezerl, friß! Gut – gut! Sonst frißt's der alte Zuchthäusler!« Dabei hat sie sich auf d' Erd niederkniet und hat das Viech um jeden Preis nötigern wolln! – Da is mir plötzlich ganz schlecht wor'n, Herr Richter! I hab' nimmer g'wußt, was i tua! So wahr ein Gott im Himmel ist, i hab' nimmer g'wußt, was i tua!
[63]Sie Gschmeidler, Ihre Verantwortung ist sehr schön, aber sie hat ein Loch. Sie stellen die Sache so dar, als hätten Sie die Tat in einem momentanen unwiderstehlichen Zwange oder in Sinnesverwirrung verübt –
Dem ist aber nicht so. Sie sollen nämlich bereits geraume Zeit vor der Tat einer gewissen Frau Hansel gegenüber geäußert haben, daß Sie die Dworschak noch einmal umbringen würden. Also hatten Sie den Mord bereits erwogen. Oder leugnen Sie, jene Äußerung getan zu haben?!
Sie Gschmeidler, wenn das wahr ist, was Sie früher erzählt haben – und ich glaube es Ihnen beinahe – dann ist es Ihnen bei den Kritzenbergers ja sehr schlecht gegangen.
Wohl, wohl. Er hat mir fünf Gulden geben und hat mir viel Glück auf den Lebensweg gewünscht. Da bin i wieder fort.
Ah schon, aber die haben mich gar nimmermehr kennt. Und etliche, die haben mich net kennen wolln und haben mich ang'schaut wie einen verstorbenen Geist. – Na, i hätt' s' ja a nimmer kennt, wenn i sie auf der Straßen begegnet hätt'. Überhaupts, keinen Menschen hab' i mehr kennt in der ganzen Stadt. In die Vorstadt bin i gangen, wo meinem Vatern sein G'schäft war. Glauben S', i hab's g'funden? Net einmal das Haus steht mehr, wo's drin war! – Und wie ich dann endlich vor dem neuen Laden g'standen bin und les' gar an wildfremden Namen und nur ganz klein in der Klammer: Johann Gschmeidlers Nachfolger – da hab' i g'spürt, daß i g'storben bin für das Schild und für die Leut a. Immer mehr in sich versinkend. Ja, ja. – Und dann hab' i den Garten gesucht von meinem Vatern. Ja freilich! Dort steht jetzt a Fabrik. Und das Wirtshaus zur Roten Brezen is a net mehr. Und wo i früher jedes Gesicht gekannt hab' auf der Straßen, da sind lauter fremde Leut gangen. I hab' niemand mehr kennt. Und dann bin i in die innere Stadt hinein, Herr Richter. Du lieber Gott! Grad daß no der Stefansturm auf seinem alten Platz steht! – Es is a andere Stadt, Herr Richter, und i kenn' niemandn mehr, und mich kennt auch niemand mehr. Das is so viel wie g'storbn – aus und amen.
[66]Haben Sie sich da nicht in die Strafanstalt zurückgesehnt, Gschmeidler? – Dort waren Sie ja gut angeschrieben, und schlecht geht es einem ja nicht in der Strafanstalt, wenn man sich nur brav verhält, und Sie haben sich brav verhalten! Das weiß ich. Sie war ja Ihre zweite Heimat, die Strafanstalt, Ihr zweites Vaterhaus. Das andere haben Sie ja verloren.
Und dann: dort hat man Sie schon lange gekannt, und auch Sie haben Menschen gekannt, wenn es auch nur Ihresgleichen waren. Auch hat Ihnen dort sicher niemand vorgeworfen, daß Sie vor langer, langer Zeit einmal einen Menschen umgebracht haben! Denn dazu waren Sie ja dort, um es zu büßen und zu sühnen! – Haben Sie sich da nicht in die Strafanstalt zurückgesehnt, Gschmeidler?
Und andernteils haben Sie doch gewußt, daß es nur einen [67] einzigen Weg gibt, wieder dahin zurückzugelangen! Seine Stimme ist bei den letzten Worten aus der Rolle gefallen.
Daraus folgt, daß Ihre Absicht auf eine schwere Verletzung der Marie Dworschak gerichtet war, wenn nicht gar auf deren Tod!
Nun, Herr Doktor Zwirn? – Nicht wahr, Sie werden die Güte haben, das Protokoll aus dem Stenogramm ins reine zu übertragen! Aber nur das Wesentliche, Herr Doktor! Morgen werden wir es dann dem Beschuldigten vorlesen. Sind Sie damit einverstanden, Gschmeidler?
Das hat Sie, wie mir scheint, sehr hergenommen, Herr Doktor!Er zündet sich eine Zigarre an. Da werde ich schon selber telephonieren müssen, daß der Beschuldigte abgeführt werde. Oh, bitte sich nicht zu bemühen, Herr Doktor! Telephonierend. Vorführzimmer! – Bitte abführen von Abteilung siebenundsechzig! – Ja, danke. – So, und ich gehe jetzt zu einer Obduktion. Es ist gerade Zeit. Sowas lasse ich mir nicht gerne entgehen. Er steht aufgeräumt und Wolken passend auf.
Wann ich wenigstens was zum Rauchen hätt', Herr [70] Richter!Nach einem begehrlichen Blick in die Aschenschale auf dem Tische des Rates. Derfert ich mir das Stummerl da nehmen?
Hören Sie auf! Selbst wenn ich wollte, ich darf Ihnen nichts zu rauchen geben. Er geht in den Hintergrund, wo er sich ankleidet. Dann halbwegs freundlich. Adieu, Herr Collega. Ab durch die Mitteltür des Hintergrunds.
Zwirn steht ein paar Augenblicke in innerer Erregung, dann nimmt er vorsichtig, als fürchtete er überrascht zu werden, eine Zigarre aus seinem Etui. Ein paar Sekunden hält er sie unschlüssig in der Hand, dann streckt er diese mit der Zigarre langsam und zaghaft dem Gschmeidler über den Schreibtisch hin.
Eine plötzliche Freude tritt von innen in seine Augen. Ohne die Zigarre anzusehen, den Blick in Zwirns Antlitz gerichtet, nähert er seine Hand der Zigarre. Fast hat er sie ergriffen, da tritt der.
Im Moment seines Eintrittes ist Doktor Zwirn mit der Hand zurückgeschreckt, wobei ihm die Zigarre entfallen ist.
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