[44] Gefallen

»So und soviel Prozent, sagt man, müssen jährlich zu Grunde gehen. – Wahrscheinlich gehen sie zum Teufel, damit die übrigen frisch und gesund bleiben können. – Prozent! Wahrlich, schöne Erklärungen hat man jetzt ... solche beruhigend wissenschaftlichen Worte! Man spricht von Prozenten und braucht sich nicht zu alteriren.«

Dostojewskij.


Umhaucht vom Silberdufte
Des üppig blühenden Mondes,
Erschauert leise des Parkes
Glänzendes Laubgesproß –
Wie träumende Seelenjugend
Im Kusse lichter Gedanken.
Über den Wipfeln fern das Nachtgewölk
Flammt bisweilen von Blitzen –
Dem dumpfen Schläfer gleich,
Den heiße Leidenschaft
Zuckend rührt.
Aus Büschen und frischen Halmen
Atmet der süße Mai;
In lauschiger Blättertiefe
Dichtet träumend die Nachtigall;
Und vom stolzen bleichen Hause
An des Parkes Saum
Aus erhellten Fenstern
Klingt Musik
Wie perlendes Glück.
[45]
Im Garten aber am Eisengitter
Steht ein schimmernder Blütenbusch
Traurig über die Stäbe geneigt;
Die weißen Blüten blicken
Wie bange Kinderaugen
Auf ein dunkles Menschenbild,
Das zu des Busches Füßen
Draußen am Gittersockel
Reglos kauert.
Durch bebende Zweige fällt
Zerrissenes Mondlicht
Und huscht mit Scheu
Über des kauernden Mannes
Wüsten Rock und wirres Haar.
Seufzend streift vorbei der Nachtwind,
Und der weiße Blütenbusch
Sinnt in träumender Trauer:
»Arme Menschenblüte,
Die du gefallen liegst,
Verloren für die Sonne,
Das Angesicht verwüstet,
Auf Stein und Staub!
Welch liebeloser Gärtner
Ließ so dich darben, dürsten,
Daß du verwelkt, gesunken,
Zertreten bist in Staub und Stein?«
So sinnt in träumender Trauer
Der weiße Blütenbusch ...
Am Himmel aber flammt es
[46]
Und rollt und grollt,
Als rüsteten sich ferne Wetter
Zu heißem Zorne.
Das zarte Mondlicht flüchtet
Hinter finster ragende Wolken,
Und die Nachtigall verstummt ...
Nur vom stolzen Hause
An des Parkes Saum
Aus erhellten Fenstern
Klingt Musik wie perlendes Glück.
Aus der Thür des Hauses tritt
Ein Herr in feiner Tracht,
Grüßt zurück
»Gute Nacht!«
Und kommt gegangen,
Leise trällernd.
Mit kaltem Blicke
Streift er die Gestalt am Gitter
Und geht, sein Liedchen pfeifend,
Grade zur Laterne
An der Straßenmündung.
Die Flamme der Laterne flackert;
Trüber Staub
Wogt vorbei;
Rauschend, schaudernd schwanken
Des Parkes dunkle Wipfel;
Der weiße Blütenbusch
Sträubt entsetzt die Zweige,
Ringt mühesam zu fliehen
Und duckt sich sausend, klagend:
[47]
»Nun packt der Sturm mein schwankes Holz
Und schüttelt mich mit grimmer Faust;
Das junge Laub, den zarten Zweig
Trifft prasselnder Hagel, derbes Eis,
Und schlägt die weißen Blüten nieder
Zur gefallenen Menschenblüte.«
Grell am Himmel zuckt ein Blitz
Und flammt durch alle Wolken
Und flammt hernieder blendend
Durch des dumpfen Schläfers
Geschlossne Augenlider
In einen wüsten Traum.
Und der Mann auf hartem Stein
Hebt verstört vom wüsten Traum
Sein wirres Haupt empor,
Richtet stöhnend schwer sich auf
Und blickt mit wilden Augen
Hinan zu flammenden Wolken
Und sieht statt flammender Wolken
Zornglühende Gesichter,
Geballte Riesenfäuste,
Hört es droben krachen
Gleich zersprengtem Erze
Und dröhnen dumpf wie stürzende Mauern
Und hört vom stolzen Hause
Aus erhellten Fenstern
Musik wie perlendes Glück
Durch das tobende Wetter höhnisch klingen.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Einsiedler und Genosse. Der Genosse. Gefallen. Gefallen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A84A-3