[74] Aufruhr

»Und hörst du ein Brausen nicht, grollend und hohl?

Horch, das ist das Echo von künftigen Tagen;

Es kommt, uns die Kunde der Zukunft zu sagen ...«

(John Henry Mackay.)


An meinem Lager hält die Nacht
Schweigend ihre Leichenwacht.
Nur draußen über Häuserdächer streift
Ein ruheloser Luftgeist, –
Wie Trauergewandung
Über Sargesdeckel schleift.
Unter den Dächern
Modert es zahllos
Wie unter herbstlichen Bäumen
Gestorbenes Laub ...
Die Völker sind tot!
Wohl sickert warmes Blut
Durch ihre Adern,
Wohl heben sie im Morgengrau
Augenlider und Häupter:
Doch mürrisch wie Gefangne;
Und mürrisch strömt es durch die Straße
[75]
Zu kerkerhaften Mauern,
Wo Menschenleiber sich wandeln
Zu Räderwerk und Balken,
Zu stumpfen Riesenmaschinen,
Die stampfen und schaffen und stampfen,
Bis draußen der sonnige Tag
Wehmütigen Blicks zur Neige geht.
Und wieder auf die Straße strömt es,
Aufthun sich die dumpfigen Häusersärge,
Die Völker strecken sich nieder
Und liegen tot.
Nur heimlich in den Häupten
Keimen Träume, –
Wie krankhaft bleiche Keime
An Wurzelknollen, die im Keller lagern,
Sehnlich tasten
Nach warmem Sonnenbade. –
An meinem Lager hält die Nacht
Finster ihre Leichenwacht.
Doch draußen über die Dächer
Geht ein Seufzen;
Das wird zum Stöhnen,
Zu murrender Klage;
Zornig stößt ein Wind das Haus,
Ein andrer Wind heult auf,
Und heran stürmt es
Bedrohlich brausend,
Wie tobende Aufruhrrotten.
[76]
Thüre schlottert, Fenster rasselt,
Luke klappt, Dachsparren knarren,
Losgelöste Ziegel scharren
Übers Dach und krachen auf das Pflaster.
Aus schnarchendem Schlaf in Federn
Schrickt der Bürger empor
Und horcht,
Wie's im Kamine schaurig heult
Und durch den Thürspalt zischt:
»Herbei, und schlüpft in die Kammer!
Blaset den Narren, blaset!«
Und wie am Kirchthurm droben
Die Wetterfahne ängstlich kreischt, –
Bis ein wuchtiger Windstoß
Von verbogener Stange
Die Rostige abbricht;
Sie schollert übers Kirchendach
Und prasselt auf das Pflaster
Dem Pfarrer vor das Fenster.
Der Straßenwächter fährt zusammen,
Entweicht zur nahen Hausthür
Und schmiegt sich fröstelnd in die Nische.
Drüben an der Anschlagsäule
Zerren spöttische Geister
Am Papierbefehle
Der hohen Obrigkeit
Und wirbeln den Fetzen mit Straßenspreu.
[77]
Hinter der Mauer im Hofe
Hebt der einsame Baum
Zu den Lüften flehende Arme
Und stöhnt und wimmert:
»Nehmt mich mit!
Reißt mich aus!
Fort aus steinerner Wüste,
Aus dumpfigen Kerkermauern
Hinaus ins himmlische Freie
Zu sonnefrohen Geschwistern!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Einsiedler und Genosse. Der Genosse. Aufruhr. Aufruhr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A868-E