[404] Das eilfte Abenteuer
»Wessen wird sie im Himmelreiche sein?«
[405]Als ein rechter Liebhaber eremitischen Lebens hausete ich auf der verödeten Abendburg, und es trieben die Tannen einen Sommerwuchs nach dem andern. Herbststurm und Schneewoge, Lenzhauch und Sonnenglut bezogen stets aufs neue in alter Reihe den Posten. Von meiner ragenden Warte sah ich die Morgendünste unter mir brodeln und dann den Tag sein glutig Auge auftun, – beobachtete, wie Wolken gleich Marmorburgen im Blauen schwebeten, und wie der Abend rote Rosen um sie spann – träumte und lauschte empor, wann in der nachtenden Halle vieltausend Himmelsbürger feierlich stunden und ganz lautlos, nur mit sanftem Lodern und buntem Funkeln zueinander redeten. Schauend und sinnend gewann ich Andacht und Erkenntnis und ward immer deutlicher inne, worin das wahre Gold der Abendburg bestehe.
Vom schnöden Golde gänzlich abgewandt, lebte ich ärmlich und mühselig. Neben dem Oheim, so von seiner Kopfwunde einen schwachen und irren Geist davongetragen, hatte ich nur den Hund zur Gesellschaft, Ziegen und Zicklein; auch ein paar Bienenschwärme, in hohlen Stämmen angesiedelt. Des Oheims Acker im Tale trug unser Brot, der Wald gab Beeren her und Pilze, Holz, Wildfleisch und Felle. Wiederhergestellt war unser traulich Balkengehäus. Nach Tages Arbeit las ich in Büchern, grub in den Tiefen des Geistes und war fleißig im Niederschreiben meiner Lieder, Abenteuer und Gedanken. Vor dem Schlafen sang ich zur Harfe, der Oheim lauschte, dazu erfreute sich das Herz an Beerenwein oder Meth. Nach Menschenumgang stund nicht unser Sinn. Seitdem ich die Schreiberhauer enttäuscht hatte, blieben sie abseits. Ich sei ein Schwarzkünstler, rauneten sie, der in seiner Grotte Dämonen dienstbar halte. Dem dörfischen Gottesdienste, den ein vom Kynast verordneter Pfaffe [406] abhielt, blieb ich fern, und nur wenn Glockengeläut, Festschalmei oder Begräbnischoral vom Tal erscholl, ward ich daran erinnert, daß man drunten schaffte und feierte, daß es Lachen und Weinen, Hochzeiten, Kindtaufen und Bestattungen gab. Hinweg über Menschengetriebe schaute ich gern in die Ferne und verlor mich in ihrem zarten Dufte. Dabei deuchte mich, dort müsse sich ein Ersehntes erfüllen. Was dies eigentlich war, wußt ich nicht zu fassen.
Versunken in den lockenden Himmel über mir, vernahm ich manchmal, wie er gütig mahnete: »Bleibe bei dir, Kind! In dir selber suche, was ich verheiße! Deinem Herzen bin ich ja nur ein Spiegel. So lerne dich selbst erkennen in mir. Verschmilz das Ferne mit dem Allernächsten, vergiß die trügende Scheidung zwischen dem Deinen und dem Andern! Besiegelst alsodann für dich den Friedenspakt der Kreatur mit Gotte – mag auch die verblendete Welt ihres Streitens kein Ende finden.«
Droben kreist ein Königsaar.
Auf zu ihm ins Blau der Lüfte
Über Tann und Höhlengrüfte!
Himmlische Ferne
Lockt und lächelt wolkenlos klar.
Bist du droben, Heimatland?
Sturm und Woge rauscht hienieden,
Und ein Pilgram seufzt um Frieden,
Weil er die Heimat
Immer nur ahnt – und nirgends fand!
Nur im Traume wird sie sein.
Bette, Fels, dies müde Haupt,
Das enttäuscht noch immer glaubt!
Kehre nun, Seele,
In die Gefilde tief innen ein!
Werde Hauch und Melodie,
Leiser Mondgesang auf Auen,
Sommernächtig Niedertauen!
Bräutliche Blumen
Wecken im Kuß dir fromme Magie.
[407]Dring ins Herz der Kreatur,
Hör aus jeder Tiefe tönen
Heimweh nach dem Allversöhnen!
Heim denn, versöhnt euch!
Gläubig verfolget des Lichtstroms Spur!
Schaut das Gnadenreich enthüllt –
Wo aus Zähren werden Wonnen
Und aus Sündern bunte Sonnen,
Wo sich der Liebe
Zärtlich Schmachten endlos erfüllt. –
Droben kreist ein Königsaar.
Auf zu ihm ins Blau der Lüfte
Über Tann und Höhlengrüfte!
Himmlische Ferne
Lockt und lächelt wolkenlos klar.
An einem sonnigen Tage Septembris wandelte ich längs des Schwarzen Berges, über der Schulter einen Sack voll gesammelter Pilze. Bedachte gerade, wie das menschliche Leben gar so traumhaft sei; sintemalen die Dinge kommen und gehen, nicht anders denn Traumbilder – unberechenbar, von einer rätselhaften Macht eingegeben. Bei solchem Sinnen beschlich mich ein bang Gefühl; sagte mir: dein neues Schicksal ist allbereits unterwegs und lauert im Dunkeln, um plötzlich auf dich zu stoßen. Wer weiß, was auf einmal hier aus diesen Waldgründen kommen mag. Da hast du nun endlich deine Ruhe gefunden als ein Eremit; doch eine auftauchende Veränderung möchte dich vielleicht stören und zu wilder Leidenschaft hinreißen.
Während mein Auge starr auf dem entfernten Waldpfade verweilte, sah ich zween Menschen daher kommen, einen Mann, in der Faust eine Partisane, auf dem Rücken eine Hucke, hinter ihm ein bäuerlich gekleidet Weib.
Ich ging ihnen entgegen und bot guten Tag. Freundlich gaben sie den Gruß zurück. Dann blieb der Mann stehen und sahe mich durchdringend an: »Seid Ihr Herr Johannes, der Buschprediger von der Abendburg?«
[408] »Der bin ich. Was ist euer Anliegen? So ihr in meine Hütte kommen möchtet, haben wir ein Stündlein zu gehen.«
Fragend blickte der Mann auf das Weibsbild und versetzte: »So der Herr Prädikant erlaubet, lässet sich auch an diesem Orte besprechen, was wir auf dem Herzen haben.«
Ich wies auf einen Felsen, von Heidelbeergesträuch umwachsen: »Lasset uns niedersitzen!«
Nun sah ich mir die beiden näher an. Der Mann von kurzer, breiter Gestalt mußte starke Kräfte haben. Haar und Bart waren ergraut; eine breite Narbe im braunen Gesicht und ein soldatischer Koller von Leder ließen vermuten, daß er in diesen Kriegszeiten die Waffe geführt.
Das Weibsbild mochte vierzig Jahre zählen, war gesund, etwas breit von Angesicht, doch angenehm anzuschauen. Ihr blaues Auge frei aufgetan und voll sanften Feuers. Sie sahe dem Manne ähnlich, wiewohl er verschlossen und streng blickte.
Da die beiden schwiegen, wollte ich ihnen Mut zum Reden machen: »Seid ihr Mann und Frau?«
»Geschwister!« versetzte der Mann. »Ich bin Heinrich Kiesewald geheißen, der Hirte vom Breiten Berge, und dies ist meine Schwester Sibylle.«
Da er wieder in Schweigen verfiel, forschte ich weiter: »Hat Er keine Frau?«
Er nickte. »Die hab ich, und um deren willen sind wir gekommen. Sie möchte etliches von Euch, Herr Prädikant, vernehmen.«
»Warum ist sie nicht selber gekommen? Ist sie krank?«
»Das nicht. Aber so verschämt, daß sie einem fremden Manne nicht leicht ihr Herz eröffnet.«
»Sie hat gleichwohl groß Vertrauen zu Euch, Herr Johannes,« sagte Sibylle eifrig. »Ihr Sinnen und Trachten, so dünket mich, ist wie das Eure darauf aus, das himmliche Reich hienieden auszuwirken. Kein ander Begehren hat sie, als immer nur treu und demütig ihre Pflicht zu erfüllen und [409] allen wohlzutun. Dazu ist sie klugen Geistes, eine feine Frau und gehört eigentlich nicht unter geringe Hirten; heget aber gar keinen Hochmut, sondern möchte immer nur Dienerin sein.«
Der Mann nickte, und ich wandte mich zu ihm: »Da ist Er glücklich zu preisen.«
»Hörst du?« sagte Sibylle in scherzender Munterkeit; dann erklärte sie: »Mein Bruder ist nämlich noch nicht zufrieden. Denkt sich halt, sein Glück solle noch größer sein.«
»Und was fehlt daran, Heinrich Kiesewald?«
»Ich habe einen Kummer, und meine Frau hat auch einen. Sie trägt an meinem Kummer mit. Darum aber sind wir kommen, daß Ihr unsere Herzen erleichtert. Wollet Ihr also tun, Herr Prediger? wollet Ihr mit Eurer Weisheit einen Zweifel heilen, so ich Gottes Worte gegenüber hege?«
»Wenn ich kann. Fraget nur frei! Welch Gotteswort ist es denn?«
»Es stehet geschrieben ...«. Hier verstummte der Mann und besann sich.
»Lucä 20 und Matthäi 22,« sagte Sibylle und fuhr für ihren Bruder fort: »Dorten wird erzählt von sieben Brüdern. Der erste nahm ein Weib und starb erblos. Da nahm der zweitgeborene Bruder selbiges Weib, nach dem Gebote Mose, damit ein Erbe entstehe. Doch auch er starb erblos. Nun nahm der dritte das Weib, es erging ihm jedoch nicht anders denn seinen älteren Brüdern. So heirateten auch die anderen Brüder der Reihe nach und starben insgesamt ohne Erben; zuletzt starb auch das Weib. Diese seltsamliche Begebenheit trugen die argen Sadducäer unserm Heilande vor und fragten: Nun sage, Herr, wie wird es in der Auferstehung sein? Alle sieben haben sie zum Weibe gehabt; wessen wird sie im Himmelreiche sein? – Sehet nun, Herr Johannes, die gleiche Frage richten wir an Euch, weil mein Bruder Heinrich hier mit Zweifeln sich bekümmert und auch noch seine Frau friedlos macht.«
[410] Ich erwiderte: »Warum genügt Ihm nicht der Bescheid, den Christus gegeben? Die Kinder dieser Welt freien und lassen sich freien; wer aber würdig sein will, ins Himmelreich einzugehen, der muß wissen, daß man dorten weder freiet noch sich freien läßt; denn im Himmel ist man den Engeln gleich und Gottes Kind.«
Nachdenklich nickte der Mann: »So saget auch Agnete, und so muß es wohl sein. Ich aber bin ganz irre an der verheißenen Seligkeit; denn wofern nicht wenigstens im Himmel meine Agnete gänzlich mein ist.« Hier preßte er die Lippen zusammen, düster blickte sein Auge.
»Nicht gänzlich Sein?« fragte ich. »Wie soll ich das verstehen? Ist sie denn nicht Seine liebe Ehefrau?«
Da der Mann schwieg, suchte Sibylle nach Worten: »Ja sehet, Herr Johannes, sein ist sie wohl, wen sollte die Gütige nicht lieben? Und ihm hat sie ja vor Gotte die Hand zur Ehe gereicht; nur ist das eine andere Ehe, denn die gewöhnliche.«
»Ihr habet keine Kinder?«
Hierauf Heinrich: »Was meine jetzige Frau ist, die hat von mir kein Kind. Sehet, Herr Prädikant, wir leben mitsammen nicht anders denn Bruder und Schwester.«
»Ist das euer freier Wille? Oder gehorchet ihr einem Zwange?«
»Ihr Wille ist es, und frei, ja frei muß er wohl sein. Denn mein weiser Lehrer Herr Albertus sagte: ein heilig Gemüte ist frei. Meine Agnete dünket mich eine Heilige; Geschwisterschaft hat sie mit mir ausgemacht, als sie mich zum Manne nahm.«
»Und warum nahm sie Ihn?«
Sein Auge lohte, als er zur Antwort gab: »Weil ich nicht leben konnte ohne sie – und weil sie mir Gutes anzutun gedachte. Dankbar wollte sie sein und glaubete, eine Schuld sühnen zu sollen, die sie gen mich habe. Aber Schuld hat sie keine, es war ja nur ein blind Geschick, das mir mein Kind [411] entriß, ... verzeih mir's Gott, wenn ich seine Schickung blind nenne. Will nur sagen: sie hat keine Schuld.«
»Nein, nein,« eiferte Sibylle, »sie hat keine. Denket nur, Herr, welche Heimsuchung uns betroffen. Erst stirbt meinem Bruder die Frau, seine erste Frau. Vor drei Jahren ist's gewesen, und sie hatte ein Kindlein hinterlassen. Was ein herzig frisch Mädelein war Anneliesel! Wie nun die Mutter auf dem Sterbebette gelegen ist, hat sie ihren Mann gebeten, dem Kindlein bald eine zweite Mutter zu geben. Das geschah auf der Reise, in einem Gasthause. Es war aber daselbst eine andre Mutter, eine unglückliche. Der hatte man ihr einzig Kind geraubt, dazu einen Dolchstoß versetzt. Ihr Kind zurückzuerlangen war ihr flehentlicher Wunsch; da half ihr denn mein Bruder ...« Heinrich faßte erregt meinen Arm: »Herr Johannes, das war ...« Doch seine Schwester erhub abwehrend die Hand: »Laß gut sein, Heinrich, schweig davon! Hast du vergessen, was Agnete uns ans Herz gelegt? Rege nicht die höllischen Geister auf! Sollen sie auch noch des Herrn Johannes Herz quälen?« – »Lasset gut sein!« entgegnete ich. »Ist Böses geschehen und nicht wieder gut zu machen, so mag man darüber schweigen. In der Hauptsache erzählet jedoch weiter! Sprachet von einer Mutter, so ihr Kind verloren. Mich dünket, die paßte zu dem Kinde, das seine Mutter verloren.« – Sibylle nickte lebhaft: »So ist es! Höchst liebreich war sie um Klein Anneliesel beflissen, als deren Mutter diese Welt verlassen hatte! Mochte sich von uns gar nicht trennen und zog mit mir und der Kleinen auf einem Troßwagen hinter dem Regimente her, als Heinrich noch Feldweibel war. Da sie auch von Antlitz und Gestalt holdselig war, hat mein Bruder keine andere als sie zur zweiten Ehefrau begehrt. Sie aber hat nein gesagt und hat innig gebeten, daß man ihr nicht grolle. Sie habe vor Jahren geheiratet und im Getümmel des Krieges ihren Mann verloren. Wahrscheinlich werde er tot sein; doch sei das unsicher. Drum widerrate ihr Gewissen den neuen Eheschluß ...«
[412] Bei diesen Worten stutzte ich, da ich an Thekla dachte, die mit der Frau in diesem Schicksal übereinstimmte. Doch Thekla war ja tot, und gar vielen Frauen war in den wirren Zeiten der Gatte abhanden gekommen, ohne daß sie von seinem fürdern Geschicke wußten.
»Welchen Namen hat das Weib?« fragte ich.
»Agnete! Es ist meines Bruders jetzige Ehefrau, von der er berichtet hat.«
Nicht ohne Enttäuschung vernahm ich solchen Bescheid, als wäre ich ganz heimlich ein wenig der törichten Hoffnung gewesen, in diesem Weibe Thekla zu finden. Und ich versank in trübes Sinnen, indessen Sibylle schwieg.
Endlich kehrte ich zur Gegenwart zurück: »Und nun weiter! Agnete hat also doch wieder geheiratet! Was hat sie denn andern Sinnes gemacht?«
»Fürnehmlich jene Heimsuchung«, antwortete Heinrich, und seine Stimme bebete. »O mein Anneliesel, warum hast du dich locken lassen von den Bachblumen?« Ratlos griff er an sein Haupt und seufzete. »Auf dem Marsche ist es gewesen, mein Regiment quartierte an der Unstrut. Maßen wir nun einen sonnigen Tag im Aprilmond hatten, ist Agnete mit dem Mädelein an den Fluß gangen und unter einem Weidenbaum niedergesessen. Im Sonnenschein ist die müde Frau eingenickt. Derweilen hat sich das Kindlein von ihrem Schoß gemacht, am steilen Flußranft zu den gelben Blumen hinunter begeben und ...«
Des Mannes Stimme versagte, indessen Sibylle die Hände vor ihr Antlitz schlug.
Dumpf fuhr Heinrich fort: »Naß und kalt ist klein Anneliesel gewesen, bleich und stumm, da man den Körper in meine Arme tat, das Händlein hat noch die gelben Blumen gehalten. Agnete ist schier von Sinnen worden, und wir haben besorgt, das Herz werde ihr brechen.«
»Schreibet sie sich denn Schuld an des Kindleins Tode zu?« fragte ich.
[413] »Ja,« antwortete Sibylle; »sie hat aber keine Schuld. Sie litt damals an Blutspeien und war so schwach. Mattigkeit hat sie überwältigt.«
»Schuld hat sie keine,« versicherte auch Heinrich. »Das hab ich ihr oft gesagt. Aber sie hat sich angeklagt, hat ihr Haar geraufet und mich um Vergebung angefleht, auf den Knien angefleht – und ich – ich habe sie emporgehoben – und begütigt – habe mich dann vor ihr auf die Knie geworfen – und unsere Tränen sind geflossen. Wie Agnete sich gesammelt, hat sie zu mir gesprochen: Ich will dir dienen, wie eine Magd. Und so du mich noch zur Frau begehrst, bin ich einverstanden. Nur grolle nicht, weil ich dir kein ander Kindlein schenken kann; denn sieh, ich hab ein Geheimnis, daß ich dir jetzo eröffnen will. Agnete hat mir hierauf alles gesagt, was Sibylle Euch, Herr, berichtet hat. Sie sei vor Jahren eines andern Weib worden, und dieser andere befinde sich vielleicht noch am Leben. Doch selbst wenn sein Tod gewiß wäre, vermöge sie mir nur Schwester zu sein. Nicht als ob sie eine Heilige wäre – hat sie gesagt, – sondern weil sie des andern Bildnis im Herzen trage und täglich in Treuen anschaue. Zuletzt hat Agnete gesprochen: So du mich nach dieser Enthüllung noch zum Weibe begehrest, so laß uns zum Prädikanten gehen; hat der nichts einzuwenden wider den Eheschluß, so will ich dir die Hand reichen. Dann hab ich freilich noch eine Bitte: Gib das Waffenhandwerk auf! Laß uns friedlich wohnen und lieber hart arbeiten, als von Blutvergießen und Beutemachen leben. – So hat Agnete gesprochen, und meine Schwester hier, längst von Abscheu wider das Soldatenleben erfüllt, ist mit Flehen und Beschwören der Bitte beigetreten. Da sich nun gerade Gelegenheit geboten, daß ich mit Fug meine Fahne verlassen gekonnt, sind wir unseren eigenen Weg gezogen. Der nächste Prädikant hat unsere Trauung vollzogen, nachdem er meiner Ansicht beigetreten, Agnete solle ihre Zweifel am Tode jenes andern getrost fahren lassen. Ich habe seitdem in einer seltsamen [414] Mischung von Frohsinn und Leide gelebt. Agnete hat für mich wohl ein Lächeln, hat traute Rede, Trost und gütig Tun, sie blickt mir liebevoll ins Aug und streichelt meine Hand. Doch lebt sie nur als Schwester neben mir. Da muß ich denn oftmals seufzen; und also merkt Agnete, wie mir zumute und bittet dann traurig: Vergib mir! – Doch nein, Schuld hat sie keine.«
Nach längerem Stillschweigen hub ich an: »Nicht Agnete hat eine Schuld, eher ist Er, Heinrich, in ihrer Schuld.«
»Das bin ich, Herr Prädikant – und dieweilen ich ihr so viel schulde, will ich alles tun, die Schwermut von ihr zu nehmen, mit der ich sie belaste, solange mein Herz nicht leicht. Drum, Herr Prädikant, erlaubet mir und den beiden Frauen, in Eurer Gemeinde anwesend zu sein, so Ihr wieder einmal eine Predigt haltet. Und ferner bitten wir Euch, alsdann zum Texte ein Wort der Schrift zu wählen, so meinen Kummer beschwichtigen kann.«
»In meiner Gemeinde?« fragte ich nicht ohne Bitterkeit. »Ich habe keine Gemeinde. Bin auch kein Prädikant. Woher kommt euch die Meinung, daß ich Predigten halte?«
Groß sahen die beiden einander an, und Sibylle versetzte: »Zu Petersdorf und Hermannsdorf nennen Euch die Leute einen Buschprediger, so unter den Schreiberhauern Anhang habe.«
»Vor Jahren hab ich Anhang gehabt und auch dem Wahne gelebt, eine Gemeinde, ja weit mehr, ein Reich des Lichtes, begründen zu können. Weil ich nun damals Predigten im Busch gehalten, ist der Name Buschprediger aufgekommen. Bald aber sind mir in herber Enttäuschung die Augen aufgegangen, daß ich eingesehen, wie närrisch mein Unternehmen, wie eitel meine Predigt. Seitdem hause ich als Einsiedler und habe zur Gesellschaft außer meinem Hunde und meinen Ziegen nur den greisen Oheim, der an Verstörung des Geistes leidet. Den Namen Buschprediger lasse ich mir auch jetzo noch gefallen, doch nur in dem Sinne, daß [415] ich den Büschen predige – was nicht so vermessen ist, als Menschenprediger zu sein.«
Da Heinrich und Sibylle verlegen drein schauten, fuhr ich fort: »Weil ihr jedoch eine Ausnahme unter den Menschen seid und nach meinem geistlichen Zuspruch verlanget, so will ich eine Ausnahme machen und euch dreien eine Predigt halten. Will auch gern zu diesem Zwecke zu euch auf den Breiten Berg kommen. Wann ist euch das genehm?«
»Wir danken,« sagte Sibylle erfreut, »und werden Euch einen Brief senden.«
»Ja, Dank Euch,« sprach Heinrich und drückte mir die Hand. »Doch mit Verlaub, ich habe noch einen Wunsch. So Eure Predigt vielleicht auf die sieben Brüder zu sprechen kommt, die ein und dasselbe Weib geehelicht, habet alsdann die Güte, uns auch die Frage zu beantworten: wo ist das Himmelreich? Denn Ihr werdet zugeben, daß hierauf alles ankommt. Bestehet nämlich das Himmelreich im Jenseits, so hat Christus von einer Kraft des Herzens gesprochen, die erst den Auferstandenen eigentümlich. Wir gebrechlichen Kinder der Erdenwelt sind dann wohl zu entschuldigen, so wir nicht die Gesinnung finden, die unser Heiland meint.«
Ich verwunderte mich über diese Tiefe des Nachdenkens, ungewöhnlich bei einem Hirten und ehemaligen Soldaten, und über seine wohlgesetzte Sprache, die einen unterrichteten Geist verriet. Drum fragte ich: »Ihr habet wohl viel über solche Fragen gesonnen und auch gelesen? Wes Standes waren Eure Eltern?«
»Mein Vater besaß reich Gut bei Schatzlar, und ich ward mit Sibylle unter Anwendung gelahrter Bücher erzogen. Drauf hat man meinem Vater den Prozeß gemacht wegen seiner Teilnahme an der böhmischen Glaubensverteidigung, hat unsere Güter konfisziert und uns an Leib und Leben bedräuet. Nach Sachsen sind wir entwichen, und da mein Vater bald darauf verstorben, hab ich die Muskete ergriffen und zur sächsischen Fahne geschworen – teils um das Leben[416] zu fristen, teils um den Glauben zu verteidigen. Nach jahrelangem Soldatenleben hat sich ereignet, was der Herr Prädikant bereits weiß. Meine Schwester Sibylle aber ist es gewesen, die mit Agnetens Hilfe mich dem blutigen Handwerk abspenstig gemacht. Laß uns in Frieden leben, hat sie gesagt, denn der Krieg ist die Hölle, das Himmelreich aber ist bei uns, wir brauchen nur seine Pforten aufzutun, so gehen wir allsogleich, noch im diesseitigen Leben, hinein, und kein hart Brot darf uns solch Himmelreich verleiden. Ein gnädig Geschick hat es damals gefügt, daß ich einem Offizier begegnet bin, dem ich bei Steinau das Leben gerettet. Der war invalide worden. Wie er nun vernommen, ich wolle den Kriegsdienst verlassen, hat er zu mir gesprochen: Ich bin ein Fiskal der konfiszierten Herrschaft Schaffgotsch, und so Er ein friedlich Leben in bäuerischer Arbeit führen mag, will ich Ihm Anstellung gewähren. So sind wir zuerst auf das Vorwerk Reibnitz, diese Ostern aber in die Baude am Breiten Berge gekommen. Vor drei Wochen haben wir erfahren, daß Ihr, Herr Johannes, auf der Abendburg hauset und einer Weisheit mächtig seid, so meine Zweifel heilen kann.«
Es dünkte mich, Sibylle habe noch etwas auf dem Herzen, und so sagte ich: »Rede Sie frei heraus, liebwerte Jungfer, so Sie zu reden begehret!«
Sie errötete. »Daß Ihr keine Predigten zu einer Gemeinde haltet, bedauern wir zwar; doch ist das Euer freier Wille, so wollen wir darob nicht mit Euch rechten. Sollten aber die Leute zu Schreiberhau, denen Ihr doch früher gepredigt habt, von Euch abgefallen sein ...«
Sie zögerte fortzufahren; ich half ihr: »Wären sie es nicht, auch dann hätte ich aufgehört, ihnen zu predigen. Zum Überflusse aber sind sie abgefallen. Einen Schwarmgeist schilt mich ihr neuer Kanzelprädikant, und manche Leute sagen mir Schlimmeres nach. Nicht wahr, ihr habet auch davon vernommen? Da nimmt es mich wunder, daß ihr überhaupt gekommen seid.«
[417] Verlegen schlug Sibylle die Augen nieder, um mich gleich darauf freundlich anzublicken: »Wir trauen Euch.«
Und Heinrich fügte hinzu: »Nun ja, ein Mann von Giersdorf hat Euch einen Schwarzkünstler geheißen, so in seiner Abendburghöhle Dämonen halte, die ihm bei der Goldbereitung zu Diensten. Weil aber die Leute gleichzeitig berichtet haben, daß Ihr in Dürftigkeit lebet, so ward ihnen von mir die Antwort: Ein armer Eremite kann doch kein Teufelsbündler sein; wer sich auf schwarze Kunst versteht, Gold machen und Dämonen beschwören kann, der nähret sich nicht von Beeren und Pilzen, sondern schwelget in Saus und Braus.«
Düster blickte ich drein; Waldhäusers Wort, niemand könne den Folgen seiner Werke entgehen, war an mir erfüllet. Ich selber war schuld an dem Gerede, daß ich Gold in der Abendburg bereite. Tötendes Gift war allbereits meiner Aussaat entsprossen, und noch wucherte sie weiter – das Vertrauen der Leute zu vergiften ...
Aus meiner Nachdenklichkeit weckte mich das Sausen der Tannen. Mein Blick schweifte hinüber zum Breiten Berge und suchte nun die Baude, bei der die seltsamliche Frau Agnete jetzo ihre Herde hüten mochte. Da meinte Sibylle: »Links an der Kuppe des Breiten Berges liegt unsere Baude, auf der grünen Matte, nahe dem Walde. Ihr sehet den Rauch emporsteigen. Aber nun lebet wohl! Wir müssen heim.«
Ich erhub mich: »So lebet wohl und habet Dank für euren Besuch. Entbietet eurer Agnete meinen Gruß und am nächsten Sonntage werde ich euch dreien die gewünschte Predigt halten.«
»Durch ein Briefel will ich Euch nähere Nachricht geben,« sagte Sibylle und drückte meine Hand.
Nun gingen die beiden, ich schaute nach, bis sie im Walde verschwunden.
»Wessen wird sie im Himmelreiche sein?« Diese Worte gingen mir durch den Sinn, und nicht auf Agneten, sondern [418] auf Thekla bezog ich sie. »Bestehet das Himmelreich im Jenseits?« hatte Heinrich gefragt. »In uns ist das Himmelreich; wir brauchen nur seine Pforten aufzutun, so sind wir darin, noch im diesseitigen Leben.« Also meinte Agnete, und ich stimmte ihr bei. »Dorten wird man nicht freien, noch sich freien lassen; denn im Himmel ist man den Engeln gleich und Gottes Kind.« Diese Antwort des Heilands hatte ich zur meinen gemacht. Nun aber fragte ich mich: »Und du selber? Beherzigest du für dich, was du anderen predigst? Bist du deiner Thekla genüber der himmlischen Minne fähig?«
Ach, ich suchte täglich in mir die verlorene Eheliebste, und zärtlich kam sie mir alleweil entgegen. Mein Herz war der Abendburgfelsen, sein heimlicher Schatz aber meine Thekla. Ein süßes Feuer rann durch meine Adern, wenn ich das dunkle Auge betrachtete und der Stimme lauschte, die weich wie einer Rose Schoß. Und am sanften Busen lag ich tausendmal, wie damals in der Gruft der magdeburgischen Kirche. War das nun jene Minne, die bei den Seraphim gilt? Allerdings nicht.
Immerhin verschmolz mit meiner Zärtlichkeit eine Anbetung, wie man sie Engeln erweist. Wenn ich gar bedachte, daß ich sie nimmer irdisch umarmen könne, erschien mir Thekla als eine rechte Geisterbraut, nicht unähnlich der weißen Königin im Felsendom.
Aus Bergen schleicht der Abendhauch, ein Raunen
Im wüsten Hain.
Das Tannenvolk umringt mit scheuem Staunen
Den Sagenstein.
Hie stund ein Schloß; sein Glitzern machte trunken
Wie Abendstrahl.
Verwunschen ward's. Und wo die Pracht versunken,
Bezeugt dies Mal.
Verdüstert hockt der Stein, wie seinen Sorgen
Ein Bettler grollt.
Verkappter Fürst! Im Grunde dir geborgen
Ruht Perl und Gold.
[419]Kein Gräber drang noch durch die Felsenrinde
Zum güldnen Schacht.
Ein Glimmen winkt nur dem Johanniskinde
In Zaubernacht.
Sein Träumeraug erschaut in Höhlenwildnis
Den Perlenschrein.
Auch marmorweiß ein Königinnenbildnis
Im Dom von Stein.
Ich kenne sie, die heilgen Heimlichkeiten
Der Innenschau.
Verwunschen sank auch mir ins Grab der Zeiten
Mein Königsbau.
Doch was dereinst an Seligkeit erblühte,
Ist nimmer tot,
Es bleibt mein Schatz, versunken im Gemüte,
Der magisch loht.
Ich selber bin das Schloß mit güldner Tiefe,
Der Sagenstein.
Und ob ich ganz der Oberwelt entschliefe,
Der Traum ist mein.
Die Königin ward diesen heißen Sinnen
Hinweggebannt.
Verklärt zum Engel weiht sie nun mein Minnen
Dem Geisterland.
Ein Dom von Tropfgestein, soll mich umflechten
Die Innenwelt.
Braut meiner Jugend, throne mir zur Rechten
Im Höhlenzelt!
Am Tage nach dem Besuch der Kiesewaldischen kam ein Brief, den ein Knabe vom Breiten Berge brachte.
»Lieber Herr Johannes! Nichts für ungut, daß ich nicht aufhöre, um Vergünstigungen zu bitten. Ihr habt uns eine Predigt zugesagt. Meine Schwäherin Agnete ist darob hoch erfreut. Doch hanget der Sache noch ein Bedenken an. Wie schon gesagt, hat Agnete ein sehr verschämt Gemüte. Nur mit Beben könnte sie Euch unter die Augen treten, nachdem Heinrich ihre Art Euch enthüllet hat. Später wird sie ihre [420] Schüchternheit Euch gegenüber abtun. Bei der allerersten Begegnung jedoch ist sie befangen und würde keinen vollen Gewinn von Eurer Predigt heimtragen, so Ihr nicht ihrer Schwäche schonet. Darum so hab ich zu Agneten gesprochen: Komm du getrost zur Predigt des Herrn Johannes; ich will ihn bitten, daß dabei jedes nahe Zusammensein mit uns vermieden werde, und daß weder vor der Predigt noch hinterher Gespräche mit uns erfolgen. Habet also die Gewogenheit, lieber Herr Johannes, einen derart geeigneten Ort zur Predigt zu wählen und Euch diesmal von uns zurückzuhalten, gleichwie ja auch ein Prädikant in der Kirche von erhabener Kanzel auf seine Gemeinde niederschaut. Mir ist allerdings nicht klar, wie dies zu ermöglichen. Ihr aber findet wohl Rat. Insonderheit wollet die Sache so einrichten, daß Agnete sich nicht vor Heinrich zu schämen braucht. Ist es möglich, lieber Herr, so werde von Euch der Vorschlag getan, es solle diesmal keinerlei Gespräch erfolgen. Bitt Euch! Ihr würdet zagen Frauenherzen eine Wohltat erweisen, so ihr ein Briefel an unsern Heinrich schriebet und darin ausmachtet, unter welchen Formen und Konditionen die Predigt erfolgen soll. Vielleicht könnet Ihr geltend machen, daß jedwedes nähere Beisammensein den Prediger wie die Gemeinde zerstreuen und die Andacht beeinträchtigen würde. Das ist ja auch keine Unwahrheit.
Dürfen wir nach der Predigt die Grabkreuze betrachten, so Ihr nahe Eurer Klause habt, so mag Euer Oheim uns den Ort weisen. Ehrerbietig grüßt Euch Eure Jüngerin Sibylle.«
Durch meinen Oheim ließ ich dem Knaben Speise und Trank reichen und überlegte, wie auf den Brief zu antworten. Kam zu dem Ende, Agnetens übergroße Schüchternheit müsse geschont, Sibyllens Vorschlag beherziget werden. Verfaßte dahero folgendes Schreiben:
»Lieber Heinrich Kiesewald! Euren Wunsch, ich solle in einer Predigt die Zweifel Eures seufzenden Herzens behandeln, [421] möchte ich am nächsten Sonntag erfüllen und lade Euch nebst Eurer Ehefrau und Eurer Schwester ein, um die Zeit des Kirchenläutens auf der Abendburg einzutreffen. Doch wollet mich entschuldigen, so ich an diesem Tage jedwedem Gespräche mit euch dreien ausweiche, also daß ihr von mir lediglich eine Predigt vernehmet. Ohne mein Beisein wird Euch mein Oheim Tobias empfangen. Alsodann wollet zunächst in meiner Stube rasten und einen Imbiß nehmen. Hernach wird euch Tobias in meinen Felsendom führen. Gleich nach der Predigt wollet den Heimweg antreten. Die Hand reichen wir uns eine Woche später, wann ich euch in eurer Baude besuche. Diesmal indessen wollet mir erlauben, daß ich nicht anders zum Vorschein komme, denn auf der Felsenkanzel. Halte nämlich dafür, daß es Herzen gibt, deren Sammlung gestört wird, so sie durch weltliche Unterredung beansprucht werden. Was aber den sogenannten Dom anlanget, das ist die große Höhle, so ich im Grunde der Abendburg entdeckt habe. Ihr brauchet nicht zu besorgen, daß sie Dämonen beherberge und mir als Laboratorium schwarzer Kunst diene. Ich wähle sie zur Stätte unserer gemeinsamen Erbauung, weil aus ihrem Schlunde ein Psalm erbrauset, unsern Schöpfer zu rühmen, und weil Felsen und Tropfgestein ein Gewölbe bilden, darin die menschliche Stimme voller Wohllaut erklingt. Auch dem Auge beut die Höhle Abenteuer. Es sind allda zwei Götterbilder, von einem Volke grauer Vorzeit aus Tropfgestein gemeißelt. Betrachtet sie mit Fleiß, bevor ich meine Predigt anhebe, und scheltet nicht die alten Heiden. Sie haben auf eigne Art ihr Sehnen und Glauben gestaltet. Mehr zu tun vermögen auch wir nicht. Euch eröffne ich den unterirdischen Dom. Sonsten mag ich ihn den Leuten nicht preisgeben, bin deshalb sogar ein wenig mit jenem bösen Leumund zufrieden, so die abergläubischen Gemüter vor der Abendburghöhle warnet. Seid aber gebeten, an niemand zu verraten, daß euch ein Geheimnis offen, so [422] außer mir und meinem Oheim keinem Lebenden bekannt. Wollet bedenken, daß ich vor Neugier und vor Goldgier die Höhle zu hüten habe. Eure Herzen weiß ich rein davon, inmaßen sie nach dem Schatz des Himmelreiches trachten. Folget also, ich bitte, meiner Einladung in den Felsendom und tut nach meinen Wünschen. Ich bin euer Freund
Johannes.«
Versiegelt übergab ich dies Schreiben dem Knaben, daß er es seinem Herrn Kiesewald bringe.
Seit diesen Begebenheiten schweifte mein Blick gern vom Hohen Stein zum Breiten Berge, und wenn mich der Ferne Holdseligkeit bezauberte, stellte sich der Wunsch ein: Bewahre mich mein Schicksal vor jener Enttäuschung, die nicht erspart bleibt, sobald die Ferne zur Nähe wird! Ach, von den Menschen gilt das wie von allen Dingen. Noch sind die Leute drüben in der Baude am Breiten Berge mir fern, und ein holdes Rätsel ist Frau Agnete. Wer weiß, ob nicht, wann sie nahe kommt, und wann ich eindringe in ihre Art, statt einer Heiligen ein krankes, wirres Weibsbild vor mir steht? Doch ich will beflissen sein, auch in der Nähe die Ferne zu schauen.
Da nun der Sonntag gekommen, unterwies ich in der Frühe meinen Oheim, wie er die Gäste von der Kiesewaldbaude bewirten, alsdann in den Felsendom einführen, nach der Predigt wieder hinausgeleiten und mit den Gräbern bekannt machen solle. Mit Oheims Hilfe tat ich die Steinplatte vom Eingang des unterirdischen Bereiches und legte Kienfackeln bereit.
In meiner Balkenklause meditierte ich, wie die Geschichte von dem Eheweibe der sieben Brüder auszulegen sei.
Ein Summen der Kirchenglocke von Schreiberhau drang an mein Ohr, als der Oheim die Stubentür auftat: »Sie kommen!« Durch das Fenster lugend gewahrte ich, wie die erwarteten [423] Gäste aus dem Walde getreten waren und über die Weidematte auf mein Gehäus zuschritten. Voran Heinrich, wie vormals auf dem Rücken die Hucke und in der Faust den Spieß. Etliche Schritte hinter ihm kam Sibylle mit der andern, einer schlanken, zarten Frauengestalt, deren Antlitz nahezu verhüllet war. Der Weg mußte Agneten schwer fallen, sie stützte sich auf ihre Schwäherin.
Wie ausgemacht war, mied ich meine Gäste, nahm die Harfe über die Schulter, begab mich zunächst in die Grotte, und, nachdem ich meinen Kienspan angezündet, durch das aufgetane Loch hinunter zur großen Höhle. Während ich die steinernen Stufen abwärtsstieg und mit dem Brande umherleuchtete, bedachte ich, wie meinen Gästen bei diesem Gange zumute sein werde.
Mit ihren Sinnen erlebte ich die düstern, triefend feuchten, rot angestrahlten Zacken, das Unheimliche der Schlucht, wo die Wasser mit dumpfem Tosen in jene Felsengurgel hinuntergeschluckt werden, der ich den heillosen Goldschatz überliefert hatte. Wie ich den Abgrund überschritt, glaubte ich noch einmal den Schrei zu hören, mit dem mein Bruder Zetteritz hinunterstürzte, seinen goldgierigen Mörder mit sich reißend. Und von der Raubtierwelt wandte sich meine Seele zur Friedenspforte, so mein sehnsüchtig Suchen entdeckt und auch schon aufgeschlossen hatte.
Ich tat den Aufstieg zum Dome. Das weiße Flinsgestein war wie ein Gewölb aus Schnee, von der Decke zum Boden strebten Säulen aus Tropfstein gleich riesenhaften Eiszapfen. Und lebendig ward das Gewimmel der Gestalten, vom tröpfelnden Kalkwasser gebildet; es regten sich die milchigen Behänge der Decke, in Grotten lauerten weiß vermummte Gestalten, Hulemännlein mit grauen Spitzkappen kamen durch enge Seitengänge aus der Tiefe geschlichen. Dazu wisperten die feinen Brünnlein, pinkten die fallenden Tropfen, gurgelten und tosten die Fluten der Schlucht. In feierlicher Starrheit aber schauten die beiden Götzenbilder vom Throne [424] über ihr Reich. Hoheit lag auf des Mannes gekrönter Stirne, trutzig rollte sein Aug; ein Adlerschnabel seine Nase, ein Wasserfall sein Bart. Wie zum Gerichte hielt er das Schwert erhoben. Lieblich hingegen wäre das Antlitz der weißen Königin, stünde nicht zu ihren Füßen die Steintruhe mit den Menschengebeinen, Pferdeschädeln und Waffen.
Von der Felsenkanzel beschaute ich dies Abenteuer, wie es beleuchtet ward durch den qualmenden Kienspan. Während düsterrote Lichter über die Zacken und Zapfen huschten, stimmte ich meine Harfe.
Da hörte ich des Oheims hohles Husten und sah ihn, eine Fackel in der Hand, die Kiesewaldischen herbeiführen. Auch ich entzündete eine Fackel, die stärker leuchtete als der Kienspan, und steckte sie in einen Felsenspalt bei der Kanzel. Staunend betrachteten meine Gäste den Dom und die Götterbilder. Nach einer Weile saßen sie nieder auf dem Stein, so unterhalb der Kanzel eine natürliche Bank bildet, und schauten erwartungsvoll zu mir hinan. Frau Agnete schien geflissentlich im Schatten zu bleiben und hielt noch immer das Angesicht verhüllt.
Auf der Harfe spielte ich ein Präludium; wie Glocken hallten die Akkorde. Dann hub ich diese Rede an:
»Liebe Freunde! Von der lichten Oberwelt sind wir herabgestiegen in ein düster Reich. Aber noch ist unser Sinn erfüllt von der Sonne, von dem blauen Himmel, dem grünen Walde und dem magischen Schimmern der Ferne. Blicket in euch hinein, findet dorten noch einmal all die Berge und Abgründe, waldigen Hügel und Weidematten: Bächlein blitzen, von den Bauden steigt der Rauch, jedwedes Ding blickt und haucht uns an mit seinem eigentümlichen Wesen. Eine besondere Kunde gehört dazu, sich zurecht zu finden in der Landschaft und auf dem ganzen Erdenball, und solche Wissenschaft von den irdischen Orten dünket jedem Menschen ein würdig Ziel. Wenige aber lassen sich träumen, wie not eine andere Ortskunde tut. Wir haben ja nicht bloß [425] ein leiblich Auge, sondern sind zu geistigem Schauen berufen. Auch im inneren Reiche gibt es Täler, dunkle Abgründe, sonnige Berggipfel und prangende Matten. Wohlan, liebwerte Gäste, suchet mit dem Geistesauge zu schauen, wenn ich euch jetzo ein Traumgesicht zeige, darin ich die Essentiam geistiger Ortskunde erfaßte. Ich befand mich in einem Felsenschlunde. Über Zacken klommen seltsame Wesen, und ich klomm mit ihnen, emporzukommen aus der Unheimlichkeit und das Licht zu erreichen, so von der Bergkuppe herniederfloß. Angst hatte ich vor denen, so mit mir um die Wette nach oben strebten; denn es waren reißende Wölfe und Bären, zischende Schlangen und feuerschnaubende Drachen. Argwöhnisch schnappte das wilde Geziefer, und ich schlug um mich mit einer Keule. Ein höllischer Zustand! Und ich hatte nur einen Trost: die Hoffnung, höher zu kommen und obzusiegen. Allmählich kam ich wirklich höher, die Finsternis ward Dämmerung, und je mehr Licht mich umfloß, desto minder feindselig erschienen mir die anderen Wesen. Mit Staunen erkannte ich, daß es keine reißenden Tiere waren, sondern Menschen, wiewohl sie allerdings Wölfen und Bären, Schlangen und Drachen ähnlich sahen. Wie ich nun inne hielt mit Keulenschlagen, so griffen auch sie mich nicht mehr an; alle waren wir müde der wechselseitigen Fehde. Und eine Stimme sprach: Mag jeder ungehindert seines Weges ziehen! Eine zweite Stimme fügte hinzu: Helfen wir einander! So kommen wir alle besser vorwärts! Da reichten etliche ihrem Nächsten hilfreiche Hand, und auf einmal waren die Gesichter der Menschen adlig. Mit Macht kamen wir nun empor; jauchzend begrüßten die Obersten das Sonnenlicht. Ich gelangte auf eine leuchtende Bergmatte, wo Blumen gleich bunten Sternen flammten. Schön waren die Menschen, und sie reichten sich die Hände und kreisten in feierlichem Reigen bei Flötenspiel und Harfenklang. An einer noch höheren Stelle des Berges stund ein Jüngling, blitzend seine Stirn; der rief mit starker Stimme:
[426] Noch höher! Hier ist schon das Schauen Musik. Neben mir folgten etliche meiner Menschenbrüder der Einladung.
Da wir nun die Höhe erreicht hatten, trat der Jüngling in unsere Mitte und sprach: Reichet euch die Hände und schauet einander tief ins Antlitz. Da findet ihr ein und dasselbe: den Menschensohn, dem ewigen Licht zum Tempel erkoren. Bisher habt ihr vermeinet, ein jeder sei dem Nächsten feind oder doch fremd. Bisher hat jeder gesprochen: Nur ich bin ich, du aber bist du! Nunmehr kündet das ewige Licht aus eures Tempels Fenstern: Aufgewacht vom wüsten Traum, mit dem die Finsternis verstörte! Du bist ich, und ich bin du; und alles Menschliche, aus dem einen Lichte geboren, ist nur ein einziger Mensch. Erkenne ein jeder sich selbst im Mitmenschen wieder, schlinge die Arme um ihn und bitte: Vergib mir, daß ich so lange dich verkannt!«
Hier stockte meine Rede, ich ward gewahr, wie Agnetens Blick sich glühend in mich bohrte. Und ich fuhr fort:
»Wird euch nun klar, liebe Freunde, was ich mit der geistigen Ortskunde meine? Wir müssen im Reiche des Geistes unterscheiden zwischen niedrig und hoch. Zwischen den finstern Abgrund der Nichtigkeit und die himmlische Höhe hineingestellt, fühlen wir uns berufen, zum bessern Zustand zu gelangen. Doch von Gier besessen, besorgen wir, das Bessere müsse unser Nächster uns streitig machen. Da ergrimmen wir und eifern widereinander als reißende Bestien. Und fahren so lange fort mit unseligem Tun, bis wir beim Emporklimmen endlich zur Eintracht uns bekehren. Was hold und schön, erfüllt mit süßer Minne; die heilige Weisheit macht licht und sanft, das klare Schauen der Schöpfung, das liebreiche Zusammenklingen mit allen Geschöpfen begnadet uns paradiesisch.
Ja, Freunde, was wir Himmelreich heißen, ist mitnichten hinter den Sternen und ist auch an keinem besonderen Punkte der Zeit, wie jene wähnen, so erst vom jüngsten Tage erwarten, daß er ihnen das Paradeis auftun werde. Nicht an [427] einem fernen Orte thronet der himmlische Geist, hat auch keine Wallmauer um sich gezogen, sich abzuschließen von seinen Geschöpfen. Sonsten redete ja unwahr der Psalmist: Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehest alle meine Wege. Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich in die Unterwelt, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meere, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Auch würde der Apostel irre reden zu den Männern von Athen am Altar des unbekannten Gottes: Er ist nicht fern von einem jeglichen unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir. Ja, allenthalben gegenwärtig ist der ewige Urgrund; alles ist aus ihm erboren und urkundet von ihm. Wer aber jemals das Versunkensein ins heilige Herz der Schöpfung empfunden, wer sich bezaubern ließ durch das magische Zusammenstimmen und in seliger Anbetung sich einer Mitseele geweiht, der hat in sich das Himmelreich, hat es jetzo und allhienieden. Nicht anders vermeinet der Heiland, indem er den Menschensohn, das ist den einen ewigen Menschen verkündet: So jemand zu euch wird sagen, siehe an diesem Orte ist der Menschensohn, an jenem – so sollt ihr es nicht glauben. Wenn sie zu euch sagen werden, siehe er ist in der Wüste, so gehet nicht hinaus, siehe er ist in der Kammer, so glaubet es nicht. Denn in einem Nu allgegenwärtig wie die Helle des Blitzes, der vom Aufgang bis zum Niedergang leuchtet, also wird auch sein die Anwesenheit des Menschensohnes.«
Nachdenklich hatten meine Gäste den Kopf geneigt, bis auf Agneten, die noch immer zu mir emporstarrte. Heinrich griff sich an die Stirn und blickte mit traurigem Ernste. Mit bezug auf ihn fuhr ich fort:
»Ihr habet den Wunsch geäußert, ich soll von den sieben Brüdern und der siebenfach vermählten Frau reden! Nun wohlan! Wollet selber das Urteil fällen und entscheiden, wem von den Sieben die Frau im Himmelreiche gehören soll. [428] Etwa dem Ältesten, der ihr erster Mann gewesen? Und soll ihr dann verwehrt sein, ihre späteren Gatten lieb zu haben? Wäre das ein Himmel für die Frau und für die sechs Brüder? Ist der älteste Bruder etwa paradiesischer Wonne teilhaftig, so er diese, wie einen irdischen Schatz, für sich allein begehret? Seid eins! so rauscht der Baum des Lebens im Garten Eden, und solche Einheit ist die wahre Minne. Alle Gattenminne soll sich dazu verklären; wer aber diese Verklärung verschmäht, hat erst hineingelugt zur Himmelspforte. Wahre Minne bleibet eingedenk, wie viel seliger geben denn nehmen. Will immer nur Liebes erweisen; und an all ihrem Sonnenschein schmilzt das letzte Eis der Fremdheit, so daß zwo Seelen zu Einem Menschen zusammengetraut sind. Drum heiße ich die wahre Minne das Tor zum Himmelreiche.
Wohlan, liebende Seele, bleib nicht unter dem Torbogen stehen, ganz geh hinein! Fürchtest du aber, in all dem Lichte zu verlieren, was du insonderheit liebst, so sei getrost: Innen findest du auf Schritt und Tritt alles wieder, was du zuvor lieben gelernt hast, und die geliebte Seele schaut dir entgegen aus den Augen aller Verklärten. Drum so gibt es im Himmelreiche kein eifersüchtig Minnen mehr, nicht jenes Freien, vor dem Adam und Eva erröten mußten. O finde jene Liebe, so nicht Genuß will, sondern Andacht! Ganz oben in lichter Höhe hauset sie, auf dem Gipfel der Verklärung, und ist eine wunderschöne Jungfrau. Erschauen läßt sie sich von manchem Menschenkinde, und am Strahle ihrer Schönheit entzündet, spricht das Menschenkind: Du meine liebste Braut, gern möcht ich kosten deine Süßigkeit. Doch die himmlische Jungfrau erwidert: So deine Liebe mein ewig Gut erstrebt, sei sie willkommen. Bedenke aber, daß du dem ewigen Gute nicht näher kommst, so du es in die Arme schleußest, wie Menschen mit irdischer Habe tun, die sie für sich allein begehren und den andern wegnehmen. Das ewige Gut ist jenes Wunderbrot, mit dem der Heiland die Fünftausend speiste, ohne daß es weniger ward. Wann du aber noch nicht [429] die Kraft hast, aus aller Verblendung dich zu reißen, so wisse, daß deine Umarmung meine Strahlenkrone raubt und trübe macht mein weißes Gewand. Ach, mancher Erdenjüngling hat im Rausch der Sinne sein Ohr verschlossen solcher Mahnung und hat sich selbst hinausgetrieben aus dem Garten Eden, dieweilen der verbotene Apfel ihm die Enttäuschung beigebracht, so als ein Schatten sich heftet an Habgier und Genußsucht. Da muß der Verstoßene irren in Düsterkeit und Regen, durch Dorn und Distel, Gefahr und Sorge, Schande und Reue. Doch wenn er schließlich verzweifelt am Bergeshang gen Mitternacht liegt, wenn als ein Drache schnaubt der Sturm und alle Bäume heulen, so gehet dem armen Jüngling wohl ein Traum wie erlösende Morgensonne auf. Und siehe, diese Morgensonne ist seine Jungfrau, sie bestrahlt ein fernes Tal, daß es engelgleich lächelt. – Ist das nicht Eden? frägt mit frohem Staunen der Jüngling. Und die Antwort lautet: Das ist die liebe Erde, nur anders angeschaut als sonsten von dir. Im Fegefeuer der Enttäuschung lerntest du nach Unschuld dich sehnen, mit deiner Sehnsucht aber ist auch die Erfüllung erwachsen. Im Auge blühet dir dein Himmelreich. Sei denn mit uns allen der Unschuld Friede!«
Nach dieser Rede griff ich wieder in die Harfe und sang dazu dies Lied:
Es sprach die Ewigkeit:
»Nur still, ihr Kindlein, ruht!
Bewahrt vor allem Streit,
Bleibt Gottes Fleisch und Blut!«
Doch ein Geschrei erwacht:
»Laß uns geboren werden!«
– So wurden Tag und Nacht,
Luft, Wasser, Himmel, Erden.
Das Menschenkindlein sog
Mit Auge, Mund und Ohr.
Die Sondergier betrog,
Daß es sein Herz verlor.
[430]Von Habsucht ausgefüllt,
Denkt es der Herkunft kaum;
Die Heimat liegt verhüllt,
Vergessen wie ein Traum.
Und wenn es rückwärts lauscht,
Grüßt keine Mutter mehr;
Ach, nur ein Garten rauscht,
Ein wogend Wipfelheer.
Mit lichtem Schwerte droht
Ein Wächter vor der Pforte,
Wie Blitz sein Auge loht,
Wie Donner seine Worte:
»Im Heim der Ewigkeit
War einer bei dem andern.
Die unrastvolle Zeit
Läßt euch entfremdet wandern.
O Wüste Einsamkeit,
Wo jeder einzeln irrt!
Die Völker sind entzweit,
Die Sprachen sind verwirrt.
Und weil um Rache schreit
Vergoßnes Bruderblut,
Nun denn, ihr Mörder, seid
Einander Höllenglut!« –
So grollt der Rachegeist.
Doch horch, der Garten Eden,
Er säuselt und verheißt:
»Herbei! Ich heile jeden!
Erlösung wird beschert,
Wenn ihr, der Wüste leid,
Euch reuevoll belehrt
Zur treuen Ewigkeit.
Herbei, ihr Zagen! Kommt
An meine Gartenmauer!
Zu eurem Troste frommt
Der ahnungsvolle Schauer.
Wenn meine Wipfel raunen,
Und Nachtigallen singen,
Will euch vor süßem Staunen
Das volle Herz zerspringen.
[431]Und wo sich zwei vereinen
In Lieben und Erbarmen,
Da halten sie mit Weinen
Ihr Eden in den Armen.«
Dem Nachhall lauschte die kleine Gemeinde. Wie ich die Harfe über die Schulter nahm, erhuben sich die Frauen von der Steinbank, es gingen meine Zuhörer. Ich ergriff die Fackel und verließ die Höhle.
In meiner Klause fand ich auf dem Tisch ein Körblein mit Brot und Eiern. Dazu ein Schreiben von Sibyllens Hand:
»Für die Speise, so Ihr bedürftigen Seelen gespendet, danken wir mit Liebe und möchten Euch gern etwelche Wohltat erweisen. Nehme dahero der Herr Johannes diese geringe Gabe für sein leiblich Wohl und bleibe uns fürder gewogen.«
Durch das Fenster blickte ich meinen Gästen nach und sahe sie bei den Gräbern. Entblößten Hauptes stund Heinrich neben dem Oheim am Kreuze meines Bruders Zetteritz. Vor des Kindes Kreuzlein knieten die Frauen; Agnete hielt die Hände vors Gesicht, als weine sie. Mußte wohl vernommen haben von des Kindes Opferung.
Wiederum sah ich den Scheidenden nach, bis sie im Walde verschwanden, und meine Seele, sonst ruhig, war erfüllt von heimlicher Unrast. Machte mir den Vorwurf, in meiner Rede weit mehr empfohlen zu haben, als ich selber zu leisten imstande.
Nächsten Sonntag in der Frühe begab ich mich auf den Weg zur Kieselwaldbaude. Ich wählte den Weg durchs Jammertal, schritt über den Steg des Zacken und fand mich in den Pfaden zurecht, so den Forst durchqueren. Den Kochelbach, vom trockenen Sonnenwetter Septembris seicht gemacht, konnte ich auf Steinblöcken überschreiten und klomm nun die Waldhöhe hinan, deren höchste Kuppe der Breite Berg.
[432] Dann hörte ich Rinder brüllen, und auf der Weide war ein alter Mann nebst dem Knaben, der mir Sibyllens Brief überbracht hatte. Die Hunde kläfften, bis sie der Knabe durch Steinwürfe von mir zurücktrieb.
Oben auf der Matte, nahe dem Walde, lag die Balkenbaude, mit einem Unterbau aus Felsen. Über das Schindeldach stieg Rauch, ein Kätzlein sonnte sich unter der Haustür. Hinter der Baude dehnte sich zum Walde die aus Baumstämmen gefügte Hürde. Ein Bächlein floß hindurch und füllte etliche Holztröge. Von Tannen war die Weidematte umzingelt. Gleich einem Helm wölbte sich der Breite Berg. Seitlich an ihm vorbei blickte ich in die Schneegruben, gen Abend lag der Schwarze Berg mit dem Hohen Stein. Wieder zu Kiesewalds Baude gewendet, sah ich Heinrich auf mich zukommen, von Sibyllen gefolgt.
»Guten Morgen, Herr Johannes!« sprach er freundlich und bot mir die Hand.
»Seid willkommen!« fügte Sybille hinzu, »und sitzet an unserm Herd.« In beider Antlitz war zu lesen, mit welcher Freude sie mich aufnahmen. Wir traten in die Stube, wo es warm war. Setzten uns um den Tisch, darauf hatte es Buttermilch, Brot und Käse, auch Hammelschinken und eine Flasche Eibereschengeist.
»Nehmt fürlieb,« sprach Heinrich, »stärket Euch nach dem Wege.« Wie er hörte, daß ich übers Jammertal gekommen, meinte er: »Über den Schwarzen Wog hättet Ihr es näher gehabt. Gern will ich Euch auf dem Heimweg bis dorthin geleiten.«
Während ich aß und trank, verwunderte ich mich, daß Agnete nicht sichtbar. Sybille merkte, wen mein Blick suchte, und gab Aufklärung: »Agnete lässet Euch grüßen und um Entschuldigung bitten, daß sie abwesend. Sie begibt sich alle Sonntage hinunter gen Petersdorf oder Giersdorf zu Kranken sowie zu einsamen Leuten und Kindern, so in diesen schweren Zeiten verwaiset oder sonst hilfsbedürftig [433] sind. Den Kindern ist sie Mutter, so gut sie vermag, unterweiset sie im Lesen und Schreiben, legt auch die Schrift aus, daß es zu Herzen geht. Bei einbrechender Dunkelheit wird Agnete von Dorfleuten heimgeleitet. So lange aber, Herr Johannes, dürfet Ihr nicht bei uns bleiben, zumal Agnete Euch bitten läßt, nicht auf sie zu warten.«
Es war mir leid, die Frau zu verpassen, deren edle und geheimnisvolle Art eine sonderliche Teilnahme in mir wachgerufen. Meine Enttäuschung mag ich nicht ganz verhehlt haben, da ich zur Antwort gab: »Hätte ich früher erfahren, daß Agnete heute nicht daheim, würde ich Euch an einem andern Tage besucht haben.«
Errötend versetzte Sibylle: »Ich will gestehen, Agnete wäre auch dann Eurem Besuche ausgewichen. Doch denket nichts Arges. Sie verehrt Euch. Aber sie wünscht, bei Eurem ersten Herkommen möchtet Ihr bloß Heinrich und mich sprechen. Den Grund mag Euch Heinrich nennen.«
»So ist es,« – sagte der Mann zögernd. »Meine Frau hat den Wunsch, ich soll mich mit Euch aussprechen, ohne daß ihr Beisein unsere Offenherzigkeit beengt.«
»Ja, redet frei mitsammen,« meinte Sibylle und verließ die Stube. Heinrich suchte nach Worten: »Ich danke Euch für Eure Auslegung des Evangeliums, und ich muß Euch wohl beistimmen, daß man im Himmelreich nicht also freiet, wie irdische Menschen tun. So Ihr aber vom schwachen Sterblichen verlanget, er solle gleich hier auf Erden ebenso heilig und verklärt sein, wie die Engel, und solle ein geliebtes Weib nicht für sich allein begehren, so mutet Ihr dem Sohne des Staubes zu, daß er mit einem Sprung über eine Kluft hinweggelange. Wann wir hinuntersteigen zum Schwarzen Wog, kommen wir an solch eine Kluft. So breit ist sie, daß, ich keinen Stein hinüberschleudern kann, und tief im Abgrunde strudelt über Felsblöcke der Zackenfluß. Wer nicht Flügel an den Schultern hat, wie die Engel, vermag nicht stracks hinüber zu gelangen. Fein behutsam [434] muß er den Ab stieg nehmen über Geröll und durch Gestrüpp, muß den Fuß auf die Baumstämme setzen, so eine Brücke bilden, und muß am andern Ufer mühselig die Felsen emporklimmen. Die Sinnenwelt, so habet Ihr gesagt, ist ein Gleichnis für das Reich des Geistes. Nun freilich, an einen andern Abgrund, nicht unähnlich dem Schwarzen Wog, hat Eure Predigt mich geführt und heißet mich nun einen übermenschlichen Sprung durch die Luft hinübertun. Hinter der Kluft lächelt verklärt jenes Himmelreich, allwo man nicht freiet und nicht freien lässet. Hinüber aber weiß ich nicht zu gelangen, habe nicht einmal solch einen mühsamen Pfad durch den Abgrund, wie er vom Schwarzen Wog zum Zackenberge führt. Bedenk ich nämlich, es könne ein andrer Mann kommen und meines ehelichen Weibes Minne auf sich lenken, – o Herr, ich hätte nicht die Kraft, zu beherzigen, daß schon hienieden das Himmelreich anhebet. Wie denn? Soll ich etwan zu Agneten sprechen: gehe hin und lebe mit dem andern? Soll ich wie ein Heiliger zuschauen, wenn sie jenen herzet, wie sie mich nie geherzt hat? Ratet Ihr mir, ich solle verzichtend beiseite schleichen, so wär ich vielleicht, wofern Gott mich stärkt, hiezu imstande. Doch gebrochenen Herzens würd ich es tun, und nicht im Himmelreiche wär ich, vielmehr an einer Stätte höllischer Pein. Wahrscheinlich aber wird meine Kraft zum Verzichte gar nicht ausreichen; mag sein, daß mein Nebenbuhler quälenden Neid, gärenden Haß in mir weckt, und wer weiß, was ich dann tue. O Heiland, steh mir bei, daß nicht die Sünde Kains mich hinreiße.« Heinrichs Angesicht glühte, unter finsteren Brauen rollten die Augen. Beschwichtigend ergriff ich seine Faust und löste die zusammengekrampften Finger. »Ihr sagtet, Heinrich, daß ich Euch zumute, ohne Pfad und ohne Stütze über den Abgrund zu gelangen. Aber der Abgrund im inneren Menschen hat wohl Pfad und Brücke; hat auch einen Freund, der dem Unkundigen weiset, wie er gehen soll. Weiset Ihr mich,[435] lieber Heinrich, über den Abgrund am Schwarzen Wog, so lasset mich hinwiederum Euch helfen, über den Abgrund des Herzens zu gelangen.«
»Seid Ihr das imstande?« fragte Heinrich, und vor seinem durchdringenden Auge irrte mein Blick zur Seite. »Wirklich? Seid Ihr das imstande?« wiederholte er mit erhobener Stimme; »oder gehöret Ihr zu jenen Prädikanten, so da meinen: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten?«
Er hatte mir weh getan; doch ich gab im stillen zu, daß er wahr gesprochen.
»Ja Heinrich, zu denen gehöre ich. Auch ich sage: Richtet Euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten.«
Da er mich stutzig ansah, gab ich die Erklärung: »Könnet Ihr denn nicht begreifen, daß eines Men schen Auge weiter reicht, als die Kraft seiner Füße? Wenn ich den Gipfel der Verklärung schaue, so bin ich doch nicht alsogleich imstande, hinaufzugelangen, obwohl ich mich anstrenge, nicht bloß im Schauen, sondern auch im Wandeln. Bittet mich nun ein Zweifler, ihm die Wahrheit zu zeigen, wie ich sie schaue, so schildere ich zwar den Gipfel der Verklärung, möchte aber nicht derart verstanden sein, als ob ich mich selber zu den Verklärten rechne; vielmehr knie ich demütig in der Tiefe neben demselbigen, dessen Auge sich führen lässet von meinem Auge.«
Heinrich war milde worden: »Verzeihet, Herr Johannes; ich schäme mich des rauhen Wortes, so mir aus dem Munde gefahren, und ich weiß nun, daß Ihr mitnichten den heuchlerischen Prädikanten angehört. Wer die Kraft hat, ohne Zürnen sich mahnen zu lassen an seine Unzulänglichkeit, der ist ein Wegweiser zum Heil, nicht bloß mit Aug und Mund, sondern zugleich mit Herz und Wandel. Ihr habet mich still gemacht mit Eurer guten Antwort. So fahret fort, das Strudeln meines Abgrundflusses zu sänftigen und zeiget mir, wie Schritt für Schritt die Kluft mag überwunden werden.«
[436] Getröstet fuhr ich zu reden fort: »Wohlan, betrachtet noch einmal den Fall, daß jener andere kommt und spricht: ich bin Agnetens erster Mann. Würde er ebenso wie Ihr voll Eifersucht toben, so wäre jeder von euch beiden in Gefahr, den Platz zu verlieren, zu dem euch Agnetens Minne geführet. Erinnert Euch, wie nach meiner Auslegung die Gattenminne unter die Himmelspforte zu führen vermag. Ihr beide also würdet im eifersüchtigen Hader den Eingang zum Paradiese verlieren und wohl gar miteinander in einen höllischen Abgrund taumeln – es sei denn, daß der andere stärker ist denn Ihr, lieber Heinrich, und eben das vollbringt, was die Wahrheit Euch zumutet.«
Betroffen fragte Heinrich: »Stärker denn ich? Er sollte vollbringen, was die Wahrheit mir zumutet? Was mutet sie mir zu?«
Ich entgegnete: »Nehmet einmal an, der andre spräche zu Euch mit Tränen im Auge: Dich liebt Agnete, wie sie einst mich geliebet hat. Aber vielleicht liebt sie mich noch immer. Sei es, wie es sei; ihr Herz ist mir so heilig, daß ich sein Lieben nicht hemmen mag. Darum, lieber Bruder, der du ebenso, wie ich von ihr unter des Himmelreiches Pforte geführt bist, laß uns einträchtiglich vor ihr Antlitz treten; mag sie dann entscheiden, in welcher Verfassung wir drei die wenigen Tage durchleben sollen, so uns – wer weiß – anoch beschieden sind. Wenn sie aber ratlos ist, oder wenn du, ihr jetziger Mann, nicht dulden magst, daß wir als drei Geschwister beisammen bleiben, so will ich still beiseite schleichen und darin Trost suchen, daß ich uns erspart habe, Übles zu tun, und daß ich auch in der Trennung tief im Herzen eins bin mit unserer Schwesterseele.«
Groß sahe mich Heinrich an und schüttelte den Kopf: »Das ist kein Mensch, von dem Ihr redet. Menschen gehorchen dem Trieb der Kreatur. Diesen Trieb beobachtet doch an Kampfhähnen, die eifersüchtig hadern mit Schnabel und Sporn ...« – »Aber, Heinrich!« unterbrach ich ihn lächelnd. [437] »Soll dem Menschen unvernünftig Getier ein Muster sein? Erkläret Ihr seines Herzens Sehnsucht nach Hoheit für eitel Narretei? Und verdient Eure Agnete, die zur Stunde in Petersdorf auf lichten Pfaden wandelt, wie eine Beute dem Stärksten zugeeignet zu werden?« Heinrich errötete. Ich aber fuhr fort: »Eure Frau ist nicht Euer Eigentum. Ein Herz hat Frau Agnete, und darin lebt der heilige Urgrund. Dieses Herzens Neigung soll niemand antasten mit rauher Hand. Angenommen, Ihr tätet es, was käme Euch davon Gewinn? Mag sein, im Kämpfen wäret Ihr dem andern über, – würde dann aber nicht Agnete, wofern sie Liebe für jenen hegt, seine Wunden in sich fühlen? Und würde sie ihn, der um sie gelitten, nicht noch inniger lieben, Euch aber für einen Wüterich halten?«
Verwirrt antwortete Heinrich: »So soll ich mich von ihm verdrängen lassen?« – »Wie wunderlich Ihr redet! Wohnt jener in ihrem Herzen, so vermag kein Ankämpfen ihn daraus zu entfernen; schafftet Ihr ihn auch aus ihren Augen, so erlangtet Ihr nichts weniger als Beförderung in ihrem Herzen. Und so wenig Ihr ihn von dort verdrängen könnet, so wenig ist er imstande, Euch diejenige Liebe zu rauben, die Euch Agnete gewährt ...« Des Mannes Angesicht ward heller: »Ihr meinet also?« – »Ganz gewiß! Wie könnte Agnete, sintemalen Treue sie beherrscht, jemals vergessen, was ihr Heinrich war und ist.« – »Doch ihre Liebe teilt sich zwischen zweien.« – »Lasset gut sein! Liebe ist nicht wie ein irdisch Ding. Ein Laib Brot freilich, das zweien ausgeteilt wird, gewährt einem jeden nur die Hälfte. Die Liebe jedoch gleichet der Sonne; wen sie bescheinet, der hat die ganze Sonne, und mögen es Myriaden Sonnenkindlein sein.«
Leuchtenden Auges legte nun Heinrich Kiesewald die Hand auf meine Schulter, sah mir ins Aug und raunte, als wär's ein Geheimnis: »Ja, wenn ich wüßte, daß mir Agnetens Liebe also sicher wäre, und wenn ich wüßte, daß der [438] andre ... Doch wer weiß denn, was er bringen kann! Sehet, dieser Zweifel nagt an meinem Herzen, und meine Sorge ist wie eine Krankheit auf Agneten übergangen. Das ist der Grund, warum wir Euch, Herr Johannes, bemühen mit unserer Herzensangelegenheit. Agnete ist beglückt von Eurer Antwort und möchte auch mir das Heil zuwenden. Hat drum zu mir gesprochen: Sei du allein mit Herrn Johannes, damit du frei dein Herz ihm offenbaren kannst. Vielleicht, daß er dich heilt von deiner Sorge, er hat Macht über die Herzen, inmaßen ihm die Wahrheit nicht bloß in der Rede lebt, sondern zugleich in der Tatkraft. Sehet nun, Herr Johannes, wie sie so zu mir gesprochen, ist mir das ungefüge Spottwort beigefallen: richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten. Nicht wahr? Saget selbst, es ist ein harter Weg zum Gipfel der Verklärung, und solang ich nicht weiß, ob jener andre wirklich sprechen würde, wie Ihr ihn sprechen lasset, so lange fehlt mir der Glaube. Was dieser rechte Glaube ist, weiß ich nun allerdings, seit Ihr mir das Glauben vorgemacht. Denn fürwahr, der rechte Glaube ist das Vertrauen auf eine Kraft, so als Keim im Menschenherzen wohnet.«
»Recht so, Heinrich, das Vertrauen auf das bessere Selbst, so im Menschen sich entfalten soll zum Baume himmlischen Lebens.«
Heinrich nickte sinnend: »Wie gleichet Ihr doch in Eurer Lehre meiner Agnete. Auch sie hat uns oft gesagt: Gott und das Himmelreich sind im Menschenherzen und sollen allbereits auf Erden zur Macht gelangen. Was mich betrifft, so bin ich ein Kleingläubiger. Doch ist meine Schwester Sibylle wie Agnete gesonnen. Wären diese edeln Weibsbilder nicht an meiner Seiten gestanden gleich Abgesandten des Lichtes, ich wäre wohl gänzlich verkommen im blutigen Schlamm der Heerstraße. Denn meines väterlichen Erbes beraubt und aus der Heimat vertrieben, bin ich der Widerspenstigkeit voll geworden und der Rachsucht. Habe mir [439] fürgesetzt, der Menschen Härte mit gleicher Härte zu vergelten. Getreulich, wenn auch traurigen Herzens ist meine Schwester Sibylle mit mir gezogen auf den Kriegsfahrten; hat gemildert und gesänftigt, wo ich zu rauh, hat alle Tage mich gemahnt an den Schatz im innern Acker, daß ich den nicht vergessen solle. Wie wir nun in diese Baude hier gekommen und von den Petersdorfern erfuhren, auf der Abendburg hause ein Buschprediger, so das Himmelreich allbereits hienieden gründen wolle, hat Sibylle gleich gesagt: zu dem müssen wir hin! Und vollends, seit wir Eure Predigt vernommen, ist Sibylle Eure Jüngerin geworden. Ja, lieber Herr Johannes, meinen Weibsbildern habet Ihr es angetan. Doch wo ist Sibylle? Sie hat sich hinausbegeben, auf daß wir ungestört uns bereden könnten.« Und Heinrich rief: »Sibylle!«
Gleich darauf trat Sibylle in die Stube, eine Rolle Papier in der Hand. »Seid ihr zwei beide denn nun einig worden?« fragte sie.
Ich stund auf und versetzte: »Euer Bruder hat mir sein Herz aufgetan, und ich habe an seinem Schicksal Anteil genommen. Das ist vorerst genung der Einigkeit.«
Nachdem wir eine Weile in Nachdenken geschwiegen, begunnte Sibylle: »An das Evangelium von der Frau, die mit sieben Brüdern in die Ehe getreten, klinget eine Mär an, die ich euch beiden erzählen möchte, so es euch beliebt.«
Da ich nebst Heinrich zustimmte, setzte sie sich zum Spinnrade, spann aber nicht, sondern hub in getragenem Tone an:
Eine Königstochter war ins Elend gekommen. Ihr Vater hatte seine Krone vom Haupte fallen lassen in einen schwarzen See, und seitdem hat ihn sein Volk nicht mehr als Herrscher anerkannt. Da er nun vor Gram verstorben, ist die Königstochter weinend durch die Welt geirrt. Doch nicht immerfort kann der Mensch traurig sein, zumal wenn er jung und [440] schön ist. Wie also die Königstochter besserer Laune geworden, ist ihr einmal ein junger Bergmann begegnet, der hat mit frischer Stimme das Liedlein gesungen:
Das Gold zur blanken Krone
Liegt in der Tiefe Schrein,
Und wer den Schatz gehoben,
Soll bald ein König sein.
Aufhorchend hemmte die Königstochter ihren Schritt, betrachtete den Jüngling, und da sie ihn schön befunden, sprach sie schelmisch zu ihm: Magst lange in der Erde tappen und schürfen, bis du Gold genung gefunden zu einer Königskrone. Eher wird dein gülden Haar wie Silber bleich, als daß dein Handwerk den Goldschatz hebt. Wüßte dir wohl ein ander Mittel, die Königskrone zu gewinnen. Hör einmal, was ich für ein Liedlein singe:
Im dunkeln See vom Grunde
Winkt einer Krone Gold,
Und hast du sie gefunden,
Wird Minne dir zum Sold.
Der Jüngling spähte in der Königstochter Auge, das ihm nicht anders fürkam, denn wie solch ein See, der am Grunde einen Schatz birgt; und fragte pochenden Herzens: Wie soll ich dein Liedlein deuten?
Da antwortete sie: Ich weiß einen See, drin liegt wirklich und wahrhaftig die Königskrone, nach der dein Streben geht. Mein Vater hat sie verloren und mit ihr sein Königreich. So du aber die Krone vom Grunde holst, mir auf das Haupt setzest und mich zurückleitest in mein verloren Königreich, wird mich das Volk als seine Fürstin anerkennen. Um dich zu besolden, will ich dir alsdann meine Hand reichen, auf daß du neben mir auf dem Throne sitzest, mein ehelich Gemahl.
Da erglühte der Jüngling im Angesicht und antwortete blitzenden Auges: Ich nehme dich beim Wort. Will dir die Krone vom Grunde holen; doch tue ich das nicht, um [441] reich zu werden und zu herrschen, sondern um deine Hand zu gewinnen; denn du bist mir ein größerer Schatz als alles Gold und alle Kronen. Wohlan, führe mich hin, wo die Krone liegt.
Hierauf so gingen die beiden zum schwarzen See. In dessen Schlamm aber hausete eine Sumpfhexe. Wie nun der Jüngling hinuntertauchte in die Flut, tat ihm die Hexe einen Zauber an, daß er nicht mehr aus dem Wasser zurückkehren konnte und bei ihr auf dem Grunde bleiben mußte. Vergebens harrte oben am Ufer die Königstochter in banger Sorge, vergebens rang sie ihre weißen Hände, weinte und betete; ihr Liebster kam und kam nicht.
Nachdem ihre Verzweiflung bis zum Abend getobt, ward sie schwach und wimmerte nur noch leise; dann sank sie zur Erde und verfiel in einen tiefen Schlaf. Und es ward ihr dies Traumgesicht:
Zwischen Felsenblöcken stieg sie angstvoll bergan, dornige Ranken zerfetzten ihr Gewand und Füße. Der Sturmwind raufte das flatternde Haar, und Hagel peitschte schneidend ihr Gesicht. Wie sie endlich die Höhe erreicht hatte, ward der Himmel blau, und von warmer Sonne beschienen lag auf blumiger Wiese eine trauliche Hütte, bei der eine Schafherde weidete. Die Königstochter ging voll Hoffnung auf die Hütte zu und öffnete die Pforte. Da saß eine weißhaarige Alte, mit Spinnen beschäftigt, und nickte freundlich mit einem Gesicht, das viel Gram durchgemacht, aber köstlichen Frieden gewonnen.
Weinend kniete die Königstochter zu der Alten Füßen und hub an, ihr Schicksal zu beichten. Doch die Alte unterbrach sie begütigend: Weiß schon, liebe Tochter, alles ist mir wohlbekannt. Nur nach dem einen laß dich fragen .... nicht als ob es mir unbewußt wäre, sondern bloß aus dem Grunde, damit du selber dir klar darüber werdest –: Wenn dein junger Bergmann wieder aus dem schwarzen See zurückkehrte, jedoch ohne deines Vaters Krone, sag an, wie würdest du ihn dann empfangen?
[442] Da ward die Königstochter sehnsüchtigen Verlangens voll, und hastig gab sie zur Antwort: Wie ich ihn empfangen würde? O herzen würd ich ihn und küssen; jauchzend spräch ich zu ihm: Was kümmert mich die Königskrone, so ich nur meinen Liebsten habe! O hilf mir, hilf mir, gute Mutter, daß ich des Liebsten Leben rette. An seiner Seite will ich gern niedrigen Standes bleiben. Seine Liebe ist mein wahres Königreich.
Lächelnd nickte die Alte: Schön, mein Kind! Dieweilen du so liebevollen Sinnes, will ich dir helfen und dir sagen, wie du den Liebsten wiederfindest, und dazu einen Schatz, besser noch als deines Vaters Krone. Freilich wird dir dabei fürder Leid mitnichten erspart. Allein fürchte dich nimmer vor dem Leide; faltig macht es das Angesicht, doch spiegelklar die Seele. Und wenn du wieder einmal leidvoll zu meiner Hütte kommst, so sollst du meiner Lehren gedenken und dein Gemüt zur Klarheit bringen, indem du spinnst und meine Schafe weidest. Was aber deinen Liebsten anlangt, so kehre zurück zum schwarzen See, und wenn nach Untergang der Sonne der Vollmond vom Walde aufsteigt, dann sprich mit starker Stimme zum Wasser:
Was gibst du, Hexe, mir zum Lohne,
So deinem Sumpf verbleibt die Krone?
Gib meinen Liebsten aus dem Teich,
Denn der gehört ins Himmelreich!
In dem Augenblicke erwachte die Königstochter und hörte noch im Ohre die Worte der Alten klingen. Es war heller Tag, warm schien die Sonne auf die Erwachte nieder. Sie erhub sich, und nachdem sie zunächst abermals ihrer Trauer nachgegeben und vorwurfsvoll in den schwarzen See gestarrt hatte, faßte sie den Entschluß, ihren Traum zu beherzigen.
Getröstet ging sie in den Wald und sammelte Beeren zu ihrer Speise. Lang ward die Zeit für ihre Ungeduld. Wie es endlich dämmerte, ging sie zum See und setzte sich auf [443] einen überhängenden Felsen. Nun stieg vom schwarzen Wald am veilchenblauen Himmel der rote Vollmond auf, eine Eule schrie, und im Nachthauch begunnten die Bäume zu raunen. Gespannter Erwartung erhub sich die Königstochter und sprach mit starker Stimme:
Was gibst du, Hexe, mir zum Lohne,
So deinem Sumpf verbleibt die Krone?
Gib meinen Liebsten aus dem Teich,
Denn der gehört ins Himmelreich!
Da regte sich die Mitte des Wassers, als ob es kochte. Brausend schwollen kreisförmige Wellen, und daraus tauchte der verlorene Jüngling empor. Mit starkem Arme teilte er die Flut und schwamm unter Winken und Jauchzen auf die Königstochter zu, die sich vor Freude kaum zu lassen wußte. Hinter dem Jüngling aber schwoll auf einmal das Wasser zu einem ungeheuren Berge, rollte auf den Schwimmer los und riß ihn mit sich, ging dann übers Ufer und erfaßte auch die Königstochter. Die Wasserwoge, der ganze schwarze Teich, strömte donnernd weit übers Land. Die Königstochter schluckte Wasser, daß ihr die Sinne vergingen.
Wie sie die Augen wieder auftat, lag sie am Hange desselben Berges, den sie im Traume erschaut. In banger Unrast suchte sie nach ihrem Liebsten, fand aber keine Spur von ihm und nicht einmal vom schwarzen See. Gänzlich verändert war die Gegend; die Wasserwoge mußte eine weite Strecke ins Land hinein gespült und ihre Opfer hoffnungslos voneinander getrennt haben.
Nachdem die Königstochter das Suchen aufgegeben, dachte sie an die Worte der Alten und beschloß, deren Hütte auszufinden. Stieg also auf rauhem Pfade durch Dornenranken aufwärts, bis sie auf einer Wiese in der Tat die Hütte fand, bei der Schafe weideten. In der Stube freilich war keine Alte zu finden, obwohl der Spinnrocken, wie im Traume, bereit stund. Etliche Tage wartete die Königstochter auf die Ankunft der Alten, spann Flachs, den sie oft mit [444] ihren Tränen netzte, hütete auch die Schafe, deren Milch ihr Nahrung gab. Es kam und kam keine Alte. So vergingen Jahre und abermals Jahre; die Königstochter war eine Spinnerin und Hirtin worden, und das Leid hatte allerdings, wie die Alte vorhergesagt, ihr Angesicht faltenreich, ihre Seele aber spiegelklar gemacht. Ihres Liebsten hatte sie in den ersten Jahren oft mit heißer Sehnsucht gedacht. Doch war mit der Zeit ihr Herz stille worden, bis die Stunden der ersten Liebe sie nur ein holder Traum deuchten, von dem keine Brücke zur wirklichen Welt führt.
Wie nun der Frühling wieder einmal Gras und Blumen aus der Matte herfürgetrieben, ging die Schafherde, der die bejahrte Hirtin folgte, über ihren gewöhnlichen Weideplatz hinaus und nahte einer andern Herde, bei der ein alter Hirte war. Nun konnte es nicht ausbleiben, daß die beiden Menschen miteinander redeten. Es fand ein jeder im andern ein Herz voll Güte und Weisheit; und das so geschlungene Band der Freundschaft ward hinfüro nicht locker. Von nun an trieben sie täglich ihre Herden zueinander, und wiewohl sie nicht viel redeten, fühlten sie sich doch so recht einmütig und gewannen mitsammen immer mehr Glückseligkeit.
Zuweilen nahm der Hirt aus seiner Tasche die Flöte und blies ein friedevolles Lied. Da sagte einmal die Hirtin: Kannst du auch singen?
Und es gab ihr silberhaariger Freund den Bescheid: In meiner Jugend sang ich manch Lied. Jedoch ist mir das Singen vergangen. Ein Lied nämlich hat mich für viele Jahre traurig gemacht.
Was war denn das für ein Lied? fragte die alte Hirtin.
Und mit leiser Stimme summte der Greis:
Das Gold zur blanken Krone
Liegt in der Tiefe Schrein,
Und wer den Schatz gehoben,
Soll bald ein König sein.
[445] Da sah ihn seine Freundin eine Weile mit großen Augen an und nickte. Erst war ihr Nicken voll Wehmut, dann aber leuchtete ihr Blick verklärt, und sie sagte: So will auch ich dir ein Lied singen, du mein Guter; worauf sie mit zitternder Stimme sang:
Im dunklen Seelengrunde
Winkt einer Krone Gold,
Und hast du sie gefunden,
Wird Minne dir zum Sold.
Nun glitt auch dem greisen Hirten die Decke von den Augen, und in der Freundin, mit der er etliche Jahre bereits beisammen gewesen, und die er liebgewonnen wie eine Schwester, erkannte er seine allerliebste Königstochter wieder.
Anfangs verfiel er in langes Weinen und meinte trübe: Wo sind die Jahre unserer Jugend geblieben? Ach, verfehlt dünkt mich meine Lebenszeit. Welch ein Schatz ist mir entgangen, da wir so frühe voneinander gerissen und erst jetzt, nun wir verblüht, wieder vereinigt wurden.
Sei still, mein Liebster, gab die Hirtin zur Antwort. Nun sind wir ja so weit, wie wir ersehnt; nur daß freilich unser Schicksal anders gestaltet ist, als unser Jugendsinn erwartet hatte. Wir haben erreicht, was wir erreichen konnten, nur daß wir nicht den Weg der Lust gegangen sind, sondern Trennung und Tränen erlitten haben. Doch dieser andere Weg hat einen Vorzug, den mir im Traume die weise Alte angedeutet hat. Blieben denn nicht unsere Herzen bewahrt von Gier und Schuld? Sind sie nicht rein worden, so wie auf diesen Bergwiesen die Lüfte rein sind, die Blumen und Quellen? Und im klaren Spiegel unserer Herzen dürfen wir nun einander schauen, darin lesend, wie lieb ein jeder den andern hat, und wie himmlisch diese Liebe. Komm, Liebster, laß uns jauchzen und laß uns jung sein, gedenkend an jeden Augenblick, den wir in unserer Jugend mitsammen verlebt.
Da ward der Hirt getröstet und stimmte in seiner Liebsten Jubel ein. Wie sie nun in der Sonne bei einem Quell sich [446] niedergesetzt hatten, einander zu erzählen, sprach der Hirt: Sag mir doch, liebste Königstochter, ob mein Gedächtnis irrt. Mir scheint, das Lied, so du gesungen, lautet eigentlich etwas anders. Sangest du nicht damals:
Im dunklen See vom Grunde
Winkt einer Krone Gold?
Mag sein, entgegnete die Liebste. Doch das ist falsch. Es muß heißen: Im dunklen Seelengrunde winkt einer Krone Gold. Dabei laß uns bleiben; denn die Krone, so uns beide krönen soll, hat nicht im Sumpf gelegen und ist kein harter kalter Erdenstoff. Gleicherweise ist auch das Reich, zu dessen Herrschaft wir berufen sind, ganz anders denn meines Vaters Königreich.
Hier machte die Erzählerin Sibylle eine Pause und meinte dann: »Nun saget, ihr zwei, die ihr meiner Mär gelauschet habt: Ist nicht das Reich, in dem die beiden alten Hirtenleute mit ihrer unsichtbaren Krone herrschen, ebendasselbige, von dem der Heiland sagt, daß man darinnen nicht freiet, noch sich freien lässet, sondern mitsammen Gottes Kind ist?«
Mein Herz war weich worden, und auch Heinrich schien ergriffen. »Ich danke Euch, Sibylle«, sprach ich »für dies Märlein, so ich voll Freude dem Schatze meiner Andacht einverleibe. Wo habt Ihr diesen Fund getan?«
»Ja, sprich,« meinte auch Heinrich, »woher dir die Mär kommt; ich habe sie bisher noch nie vernommen.«
Sibylle zauderte und blickte schelmisch, wobei ihr mütterlich volles Angesicht auf einmal jugendlich schien. »Eine Poetin bin ich«, scherzte sie. »Doch nein, ich will gestehen: es hat mir jemand, eine Frau, das alles erzählt. Und daß der Herren Neugier endlich Frieden habe, mögen sie wissen, die Königstochter selber hat mir das erzählet. Nun aber frage keiner mehr! Ich bleibe stumm; denn meine Mär ist aus.«
[447] Nach diesen Worten kam mir der Gedanke, für diesmal sei wohl auch mein Besuch aus; denn was ich in Kiesewalds Baude ausrichten und vernehmen wollte, schien vorläufig zu einem Ende gediehen. Inmaßen stund ich auf und dankte für Gastfreundschaft. Auch Heinrich erhub sich: »Euer Besuch hat mich erquickt, ich danke Euch. Und nicht wahr, wir werden uns des öfteren sehen, so es Euch beliebt.«
Als ich zustimmte, sagte Sibylle ernst vor sich hin: »So der Himmel alles gnädig fügt.«
Heinrich, der mich ja ein Stück Weges geleiten wollte, ging hinaus, seine Partisane zu holen. Da reichte mir Sibylle die Rolle Papier mit den hastigen Worten: »Nehmet und berget es in Eurer Tasche. Agnete gibt es Euch und bittet, daß Ihr morgen leset, was auf dem Papiere geschrieben steht. Nicht heute aber dürfet Ihr es lesen, weder abends noch bei Nacht, sondern erst, wenn Ihr ausgeschlafen habt. Fraget nicht weiter; alles, was Ihr wissen möchtet, findet Ihr in dem Schreiben.«
Da nahm ich das Päcklein und steckte es zu mir, indem ich erwiderte: »Bestellet Eurer Schwägerin meinen Gruß! Ich will tun nach ihrem Geheiß.«
Als nun Heinrich wieder eintrat, reichte ich Sibyllen die Hand, und wir gingen. »Sturm werden wir bekommen,« sagte ich mit einem Blick auf den Gebirgsrücken, da über den Sattel schwarz Gewölk herübergezogen kam.
Schweigend schritten wir zur Kochelschlucht hinunter. Sibyllens Märlein ging mir durch den Sinn. Dachte mir wohl, Agnete werde die Geschichte ihrer Schwäherin erzählt haben mit dem Auftrage, sie uns Männern mitzuteilen. Rätselhaft aber deuchte mich Sibyllens Wort, von der Königstochter selber habe sie alles vernommen. Wie konnte denn Agnete sich mit der Königstochter vergleichen, da doch Agnetens Lebensgang kein Recht hiezu begründete? Hier wob ein Geheimnis. Und welche Bewandtnis hatte es mit der mir anvertrauten Schrift? Warum ward sie verstohlen mir übergeben? [448] Durfte Heinrich von dem Inhalt nichts erfahren? Und was sollte mir die Bitte, nicht heute noch die Schrift zu lesen? Daß mich Agnete heute gemieden, mußte wohl noch einen andern Grund haben, als ihre mütterliche Fürsorge für die Petersdorfer Kinder.
»Erzählet von Eurer Frau, Heinrich. Was hat sie denn veranlaßt, ihr mütterlich Amt bei den Petersdorfern zu übernehmen?«
»Sie kann es nur schwer verwinden, daß ihr das eigene Kind geraubt und Klein-Anneliesel, der Sprößling meiner ersten Ehe, durch den Tod entrissen worden ist. Da sucht nun ihr liebreich Herz sich in fremden Kindern und in allerlei hilfsbedürftigen Menschen Ersatz zu schaffen. Mir ist es recht, daß ihr Sinn heiter wird bei der Jugend drunten im Tale. Nur werd ich die Sorge nicht los, daß der schwierige Weg ihrem Körper zum Schaden gereichen könne. Denn ihre Brust ist schwach von jenem Unfall her, der sie mir zugesellte.«
»Was war das für ein Unfall?«
»Haben wir das noch nicht erzählt? Ein Messerstich hatte ihr von der Schulter her die Lunge verletzt, und wiewohl die Wunde geheilt ist, blieb doch eine Schwäche zurück, und einmal hat sich Blutspeien eingestellt. Deshalb bin ich nicht ohne Sorge, wenn sie an jedem Sonntag sich den Weg zu Tal und wieder herauf zumutet.«
»Warum ist sie denn aber neulich sogar bis zur Abendburg gegangen, und warum habt Ihr sie nicht davon zurückgehalten? Es hätte ja genügt, wenn Ihr bei Eurem ersten Besuche mich zu Eurer Baude eingeladen hättet.«
»Ich weiß nicht, warum Agnete also begierig war, mit eigenen Augen Eure Klause zu schauen. Genung, sie hat gebeten, den Gang mitmachen zu dürfen, und wenn sie ernstlich bittet, kann ich nicht widerstreben. Bin auch gewohnt, nicht mit ihr zu feilschen und zu rechten.«
Nun verfielen wir in sinnendes Schweigen. Zum Kochelgrund gelangt, überschritten wir das Flüßlein mittels einer [449] quer darübergestürzten Fichte und klommen jenseits auf rauhem Pfade die Felsenhöhe hinan, bis wir aus dichtem Tann auf eine kleine Wiese traten und nun freien Blick ins Tal des Zacken hatten. Der brausete drunten über Felsenblöcke, und drüben ging es wieder steil empor.
»Hier ist der Schwarze Wog,« sagte Heinrich, »und dieser geschlängelte Pfad führt Euch hinüber. Gebt mir nun Urlaub, denn ich möchte zurück, um meiner Frau nach Petersdorf entgegenzugehen.«
Dankend schüttelte ich Heinrich die Hand und verfolgte meinen Weg, indem ich den Spieß als Stütze gebrauchte. Bald ward mir klar, daß allerdings hier der nächste Weg zwischen meinem Heim und der Kiesewaldbaude gehe, wiewohl der Abstieg zum Zacken und noch mehr der Aufstieg zur jenseitigen Felsenhöhe also beschwerlich war, daß ich mit lächelnder Zustimmung Heinrichs Wunsch bedachte, auf Engelsfittichen über diese Kluft zu schweben.
Wie ich am Zackenberge oberhalb des Baches, Böhmischer Furt geheißen, durch den Tann schritt, neigten sich die Wipfel mit Brausen und kündeten, daß der Sturm beginne. Wiederum gedachte ich des Märleins von der Königstochter und versetzte mich in ihren Liebsten hinein, wie er als alter Mann die Braut seiner Jugend endlich wiedergefunden, jedoch zu spät, als daß die heiße Sehnsucht junger Jahre sich jetzo erfüllen konnte. Mein Träumen verlieh der Königstochter Theklas Züge, und ich legte mir die Frage vor, wie wohl mir zu Sinn sein möchte, so auf einmal jetzt, nach zwölfjähriger Trennung von einer lieben Frau, ein Weib vor mich hinträte, sprechend: »Ich bin deine Thekla!«
Von jähem Schrecken fühlt' ich mich betroffen, da mir der Einfall kam, Agnete, von der das Märlein ausging, könne Thekla sein. Aber nein, Thekla war ja tot, erdolcht von der eifersüchtigen Berthulde! Oder war das ein falscher Bericht? Lebte Thekla vielleicht? War denn nicht auch Agnete, trotz des Stiches, so ihre Lunge getroffen, wieder genesen? Und [450] was ist das? Agnete ist gestochen, Thekla desgleichen! Und Agneten ward ein Kind geraubt? Brausend wie die Luft flatterten mir die Gefühle, und mein Schritt stürmte dahin. Dann blieb ich stehen und nahm aus meiner Tasche das Päcklein, so Agnete mir vermacht. Mein brennender Blick hätte die Hülle durchdringen mögen; doch ihr Wunsch, daß ich vor morgen nicht lesen solle, zügelte meine Ungeduld.
Daheim angelangt, sah ich meines Oheims Auge erschrocken auf mich gerichtet, da er aus seiner Geistesverwirrung heraus die Worte stammelte: »Was ist? Geht's wieder los mit den Dämonen? Ja, ja ich habe mir's gedacht; es hat sich wieder was angemeldet. O Jesus und Vater!«
Wie ich am prasselnden Ofen saß, und ein Krug Beerenwein mein bänglich Herz ermunterte, ward ich geneigt, mich einen Träumer zu schelten, der an wilder Phantasei schier dem verstörten Oheim gleichkomme. Wie denn? Agnete sollte Thekla sein? Unsinnige Einbildung! Und doch! und doch! Die Art, wie Agnete sich gab, paßte auf Thekla. Zwar hatte ich in Thekla nichts von einem Trachten nach Heiligkeit gespürt. Doch konnten zehn Jahre wohl den Sinn also umwandeln; und solche Wandlung war meiner edlen Frau zuzutrauen, zumal sie die Schule des Leidens durchgemacht. Überdies gemahnte Agnetens Wuchs an Thekla. Freilich lebte diese in meiner Erinnerung als eine ebenso straffe wie schlanke Gestalt, während Agnete mich kleiner deuchte und in ihrer zusammengesunkenen Haltung körperliche Schwäche verriet. Doch auch diese Veränderung konnte sich ergeben haben aus alledem, was ihr inzwischen begegnet.
In solchen Gedanken verbrachte ich den Abend, und nur durch strenges Meditieren und heißes Ringen um Seelenfrieden gelang es mir, etliche Ruhe zu finden.
Die Sonne neigt sich abe
Zum blauen Hügelgrabe.
So leb denn wohl, du rotes Liebesfeuer!
[451]Ich stehe ganz allein
Auf ödem Berggestein.
Wohl heime möcht ich gahn
Und weiß doch nicht, wo Herberg han ...
Schon dräun die Wolken schwarz wie Ungeheuer.
Da mahnt die Sonn im Sinken:
Sieh dort die Zinnen winken!
Den irren Wandrer laden sie, zu hausen.
Des Burgherrn Trostlicht wacht
Getreu die ganze Nacht.
Entzünde dran dein Herze
Als eine fromme Klausenkerze!
Ums Fenstergitter laß Unholde sausen!
Am Morgen allerdings kam ich mir verstört für, als hätten der Sorge Unholde die ganze Nacht mein Gehäus umraunt. Zur Vorbereitung auf Agnetens Eröffnung sammelte ich meinen Sinn und dachte an das Ewige, vor dem wie Spreu verwehen muß, womit die Zeit uns ängstigt.
Wohlan, tritt nun über meine Schwelle, dunkles Schicksal, und enthülle dich! Du findest mich gefaßt! Und ich nahm das Packet aus meiner Tasche und tat seine Hülle ab. Papiere waren mit hastigen Schriftzügen bedeckt. Und ich las: »Mein Johannes!« Mich durchzuckte ein freudiger Schrecken. Thekla! Waren das nicht ihre Schriftzüge?
Fliegenden Blickes las ich weiter: »Durch meine Schwäherin hab ich Dich bitten lassen, Du mögest erst nach durchschlafener Nacht diesen Brief lesen. So tat ich, weil mir wohl bewußt, daß alle Deine Kraft beisammen sein muß, um Dein Herz in seiner Hoheit aufrecht zu erhalten vor dem, was ich Dir zu eröffnen habe. Das Märlein von der Königstochter hast Du vernommen und hast vielleicht vermeinet, es sei insonderheit an Heinrichs Ohr gerichtet. Dem ist nicht also; es gilt vor allem Dir. Ich hab's ersonnen, um durch ein [452] Gleichnis zu Dir zu sprechen. O daß sich doch mein Wunsch erfüllete, und Deiner Wahrheit Kraft auf den Wachtposten gerufen würde durch mein Märlein, wie durch unser Gespräch über die sieben Brüder, so dasselbe Weib geehelicht. Jener Friede, den die alte Hirtin ihrem Liebsten mitgeteilt hat, sei mit Dir, Herzliebster! Hast Du wohl darüber nachgesonnen, wer die beiden sind, der Goldgräber und die Königstochter, so nach langer Trennung im Hirtenleben einander wiederfanden? Das sind wir zwei, Du und ich! Ja, Deine Thekla lebt! Ich bin es, seit etlichen Jahren Agnete geheißen ...«
Geblendet war mein Auge – konnte nicht weiter lesen. Um mich schwankte die Welt. Auf sprang ich und taumelte. Dann kam ein Schrei: »Thekla!« Ich warf mich auf die Knie und krampfte die Hände zusammen: »Mein Gottesquell – du lebst – hast mich nicht verlassen!«
Aber wie denn? Agnete? Nicht mehr Thekla? Eines anderen Weib? – Hastig setzte ich mich wieder zur Schrift:
»Für Dich bin ich noch immer Deine Thekla und will es bleiben in Ewigkeit. Für die anderen freilich bin ich Agnete; so hab ich mich vor Heinrich benamset, da wir einander begegnet sind. Ich wollte meine Vergangenheit verhüllen – als Agnete Kiesewaldin bin ich ihm vom Priester angetraut ...«
Das war nun die härteste Prüfung! Auseinandergerissen fühlte sich mein Herz, zerspalten mein Wesen. Es trieb mich stürmisch zu Thekla, die Gattin zärtlich zu umarmen; eine strenge Macht aber gebot mir Halt ... Heiß fielen Zähren auf meine Hand, o wie zitterte die Hand! Endlich faßte ich mich und las weiter:
»Kraft freilich ist vonnöten, so wir den Gipfel der Verklärung erreichen wollen. Du wirst sie zusammenbringen, da ja in Dir ein reicher Quell himmlischen Lebens strömt. Was mich betrifft, so bin ich Deine geistliche Tochter, und Du wirst mich emporführen. Nun aber laß uns unverzüglich beginnen mit dem Sammeln unserer Kraft. Sei denn stark, mein [453] armer Liebling, bei dem Allertraurigsten, das ich jetzunder zu eröffnen habe ...«
Neuer Schrecken fuhr mir in die Glieder. Wie denn? Noch etwas Schlimmes kommt? – Mein ganzer Körper bebte, als ich weiter las:
»Es betrifft jenes Knäblein, so auf der Abendburg den Opfertod starb, und dessen Asche Du unter dem Kreuzlein beigesetzt hast. Wessen ist dies Kind? Wer ist sein Vater? Bleib aufrecht, wenn ich Dir jetzo sage: Da wir Hochzeit hielten im unterirdischen Gewölbe zu Magdeburg, ward uns beiden dies Kind geschenkt – der kleine Johannes ...«
Keuchend sank ich vornüber, gewaltsam aber richtete ich mich wieder auf. Laut hinausschreien wollte ich meinen Schmerz. Wie ich dann schluchzte, trat Tobias in die Balkenstube und legte die Hand auf meine Schulter, bang loderten die Augen in den düsteren Höhlen. »Tobias!« rief ich verzweifelt. »Mein Kind war's! Meins!« Blöde starrte er und schüttelte das greise Haupt: »Nicht weinen!« Zugleich begunnte mein Hund zu winseln. Ich griff mir an den Kopf und sammelte mich. Dem Oheim drückte ich die Hand, schickte ihn hinaus, tat einen Aufblick zur Höhe und wandte das Auge wieder zur Schrift.
»Friede sei mit Dir, Johannes! Ergib Dich drein! Unser Kind ist ja geborgen – ruhet in des Ewigen Schoße.« – Damals freilich, als das Grausige geschah – als der kleine Johannes der Teufelsmette zum Opfer fiel ... doch das alles sollst du später hören. Einstweilen will ich nur sagen: Eine Mutter, die mit eigenen Augen zuschauen mußte, wie ihres Leibes Frucht dem Flammentode preisgegeben ward von wahnwitzigen Menschen – sie hat mit solchem Leid einen Dämpfer empfangen, der den Trieb ihrer Sinne, falls er hinfüro einmal unbändig werden will, zu beschwichtigen weiß.
Nun aber laß mich der Reihe nach erzählen, wie das alles mit mir gekommen ist, seit ich Dich verlor.
In Scham und Zittern hatte mich Dein jähzorniger Handel [454] mit dem Ritter Zetteritz versetzt. Als man Dich fesselte und auf Deck schleppte, war ich versucht, hinterdrein zu stürzen und wie ein Raubtier um Dich zu kämpfen. Dann aber drückte ich hilfloses Weib die Hand auf mein wild Herze: »Stille, still! und nicht den Kopf verloren! Raserei kann hier nur schaden, Hilfe wird nicht ohne Besonnenheit erlangt.«
Ich beobachtete den Zetteritz. Aufgebracht maß er den Schiffsraum mit großen Schritten und zischte mit höhnischem Lachen zwischen den Zähnen: »Hei warte nur, Tielsch, das sollst du mir büßen!« Gar nicht schildern mag ich, welch wilde Drohungen er ausstieß. Besorgt, man könne Dich töten, sank ich dem Tobenden vor die Füße: »Erbarmen, Herr Ritter; Ihr werdet edelmütig handeln. Habet mir ja angeboten, meiner Hilflosigkeit beizustehen. Nun erfüllet Euer Versprechen, so Euch wirklich an meinem Wohle gelegen.«
Solch Flehen aus Frauenmunde machte den Ritter verwirrt, daß er mich aufhub: »Verzeihe die Jungfer Gräfin meine Wildheit; aber dieser kecke Rebell ...«
Da ich ihn bat, innezuhalten, mäßigte er sich: »Gebiete das Fräulein über mich. Soweit Sie für sich selbst etwas begehrt, bin ich Ihr Kavalier. Den Tielsch aber lasse Sie endlich aus dem Spiele. Danke Sie mir lieber, daß ich Sie befreiet von diesem lästigen Kommißhund. Sakrament, er soll Elbwasser schlucken wie eine versaufende Katze.« Und von neuem lief er wütend umher.
Da überfiel mich Verzweiflung. Im Geiste sah ich Dich gefesselt in die Todesflut sinken, hilflos Entsetzen auf Deinem erbleichenden Angesicht. Ich schrie auf, und ein Toben kam über mich, das ich bisher nicht gekannt. Das Messer, so auf dem Tisch gelegen, zückte ich wider meinen Busen.
Die Augen aufgerissen, stund Zetteritz vor mir, ohne mir in den Arm zu fallen, da er wohl besorgte, in meiner Raserei möcht ich ihm zuvorkommen und zustoßen. »Halt! Besinnt Euch!« rief er heiser. »Mein Blut über Euch!« entgegnete ich und fühlte des Messers Spitze auf meinem Busen. Zetteritz [455] machte ein ganz entsetztes Gesicht, streckte zitternde Hände aus und rief: »Ich begnadige den Tielsch! Messer weg!«
»Hebet erst die Hand zum Schwur, bei Eurer Ehre schwöret, daß Ihr ihn nicht tötet!«
Er tat nach meinem Geheiß: »Bei meiner Ehre!«
Nun ließ ich das Messer fallen, atmete tief und sank auf die Bank.
Da rief Zetteritz nach seinen Leuten, und ein paar Dragoner kamen von oben. »Tut das Messer weg und verweilet bei der Jungfer Gräfin. Ihr habet sie zu bewachen, daß sie sich kein Leides antut. Mit keinem Schritte darf sie auf Deck, und wenn sie nach dem gefangenen Rebellen fragt, daß mir keiner mit einem Wörtlein antworte! Sonsten aber sind des Fräuleins Wünsche zu respektieren und mir zu melden, wie denn die Jungfer Gräfin als eine Person von Stand zu behandeln.«
Zu mir wandte sich Zetteritz mit den Worten: »Wolle die Jungfer Gräfin bedenken, daß unser Kahn durch unsicheres Gebiet fährt, wo feindliche Parteien herumschweifen, die mit ihren Kugeln auf Deck leicht Schaden anrichten. Hier unten aber ist ein sicherer Ort. Drum hab ich befohlen, Sie solle diesen Raum nicht verlassen.« Höfisch neigte sich Zetteritz und ging.
Da saß ich nun, zwar etwas beruhigt, doch sattsam in banger Unsicherheit. Durch Lauschen wollt ich erraten, was auf dem Deck vorging. Vernahm nur die dumpfen Ruderschläge, zuweilen das Wiehern der Pferde.
Auf einmal scholl Hornsignal, und die Ruderschläge hörten auf. Über mir stampften die schweren Reiterstiefel, und bald darauf schienen Ruderschläge jenes kleine Boot, mittels dessen unsere Gefangennahme erfolgt war, vom Kahn wegzutreiben.
Ich sprang auf und rief: »Was geschiehet meinem Gatten? ich will es wissen!« Doch die Dragoner griffen mich bei den Handgelenken, daß ich mich nicht rühren konnte. Hilflos hub ich zu weinen an.
[456] Eine Zeitlang blieb alles still. Dann hörte ich die Ruderschläge sich wieder nähern; das Boot ward am Kahne befestigt, und am Stampfen über mir erkannte ich, daß seine Bemannung an Bord zurückkehre.
Auf einmal knallte ein Schuß vom Ufer her. Sogleich hörte ich Zetteritz kommandieren, und dann gab man über mir mehrere Schüsse ab. Das Rudern ward wieder aufgenommen und beschleunigt.
Die Dragoner bei mir hatten Worte gewechselt, aus denen ich entnahm, daß eine Partei Schweden auf unsern Kahn geschossen habe. Mir gereichte das Gefecht zum Troste, denn ich sagte mir: Zum Kundschaften ist das Boot benutzt worden, und so wird meine Sorge, man könne den Johannes weggeschafft haben, wohl unzutreffend sein.
Beruhigten Herzens blieb ich bis zur Abenddämmerung an meinem Platze. Dann kam Zetteritz und hieß seine Leute, einen Verschlag neben der Kajüte für mich mit einem Strohlager versehen. Mich streifte sein scheuer Blick, und da ich wegen Johannes ihn befragte, wehrte er mit düsterm Schweigen ab. Man brachte mir eine Lampe, Speise und Trank. Ohne die Nahrung anzurühren, warf ich mich auf mein Lager, und da ich sehr erschöpft war, erbarmte sich mein der Schlummer.
Erwacht, sah ich den Tag durch einen Türspalt in mein Kämmerlein lugen. Da ich keine Ruderschläge mehr vernahm, dachte ich mir, unser Kahn müsse gelandet und also wohl am Ziel sein. Flehend hub ich meine Hände zum Himmel: »Was wirst du heute über uns verhängen? Darf ich mit meinem lieben Manne heute deine Güte erfahren, oder möchtest du uns noch länger prüfen? Nun, wie du willst, dein Wille geschehe!« So sprachen meine Lippen, das Herz wußte nichts von solcher Ergebung. Vielmehr suchten die Gedanken in banger Unrast nach Mitteln, mich und meinen Mann aus den Nöten herauszuwinden. Daß meine Jugendblüte Eindruck auf den Ritter gemacht hatte, konnte ich mir nicht [457] hehlen. Sorgsam richtete ich mein Antlitz, Haar und Gewand für diese eitle Welt her. Wie ich nun aus dem Schlafraum trat, saß Zetteritz schmausend am Tische. Errötend stund er auf, neigte sich und lud mich ein, am Frühstück teilzunehmen. Auf den ersten Blick erkannte ich, daß er eine Schuld auf dem Herzen habe, und dieser Argwohn brachte mich in solche Erregung, daß ich meinen Blick in sein Auge bohrte und wie eine gereizte Tigerin losfuhr: »Wo ist mein Mann? Was habt Ihr mit ihm getan?«
Da Zetteritz keine Worte fand, brach ich in lautes Weinen aus und schalt ihn ins Gesicht einen wortbrüchigen Kavalier.
»Schweige Sie, Jungfer«, herrschte er mich an und stampfte mit dem Fuße: »was ich versprochen, das habe ich gehalten. Habe den Tielsch nicht ersäuft, wie er es verdient hatte, sondern an Land setzen lassen.«
»Tückischer Jesuiter!« schrie ich. »Das nennet Ihr begnadigen?« Ich wollte noch weiter toben, doch er eilte an Deck, und die Dragoner vertraten mir den Weg, als ich nachstürzen wollte. Wiederum verfiel ich in Schluchzen und Klagen. Da ließ sich auf einmal eine gebieterische Frauenstimme vernehmen, und in die Kajüte hinunter stieg eine Frau in dunklem Sammetkleid, auf dem weißen Haar einen Federhut. Sie blickte groß und mild auf mich, und sprach streng zu Zetteritz: »Tu die Kerle weg!« Worauf die Soldaten an Deck mußten.
Und Zetteritz zog seinen Hut: »Wolle die Jungfer Gräfin hier meine Mutter begrüßen, die Edelfrau Katharina Zetteritz. Meine Mutter hat sich in Mechelnburg aufgehalten, und mit dem Kahn, drauf wir uns befinden, bin ich ihr entgegengeeilt, um sie vor den andrängenden Schweden zu sichern.«
»Mein armes Fräulein,« sprach die edle Frau und griff nach meiner Hand; »mein Sohn hat mir gebeichtet, wie übel er Euch mitgespielt, da bin ich nun resolvieret, kraft meiner Mutterwürde darauf zu halten, daß er seine rauhe Soldatenart zügele und als Edelmann den Willen eines hochedel geborenen Fräuleins erfülle. Euern Vater habe ich verehrt, [458] und wenn er sprechen könnte, so würde er bestätigen, wie gern er sich der Freiin von Smiritzky entsinnt.«
Nun herrschte die Edelfrau den Sohn an: »Laß unverzüglich das ganze Ufer absuchen, an dem der Gatte meiner Schutzbefohlenen ausgesetzt worden. Wir müssen alles tun, die voneinander getrennten Gatten wieder zu vereinigen. Seid getrost, Gräfin, harret in Geduld! Zuvörderst will ich Euch Kleider aus meiner Truhe schicken.«
Dankbar warf ich mich vor meiner Retterin auf die Knie und bedeckte ihre Hand mit Küssen. Sie zog mich empor, streichelte mein Haupt, drückte mich sanft auf die Bank und ging, von ihrem Sohne gefolgt. Gleich darauf hörte ich über mir ein Stampfen von Rossen, und durfte nun hoffen, daß Zetteritz dich suchen lassen wolle, teurer Gatte.
Es dauerte nicht lange, so kamen Soldaten in die Kajüte und brachten eine Truhe. Dann erschien Frau Zetteritz, grüßte mich abermals, schloß die Truhe auf und suchte eine feine weibliche Tracht aus, worauf sie mich bat, mich einzukleiden und mit ihr einen Gang durch das Städtlein zu tun, damit ich mir die Sorgen aus dem Sinn schlage. Der Kahn sei am Ziel, in Wittenberge; und nun werde die Rückfahrt nach Magdeburg unverzüglich beginnen, da der Nordwind tüchtig in die Segel blase. Nach meinem Gatten sei man schon auf der Suche.
Der Gang durchs Städlein tat mir wohl. Bei unserer Rückkehr zum Kahn war man mit den letzten Zurüstungen zur Abfahrt beschäftigt. Ein Mast war aufgerichtet, bald blähte sich das Segel, und nun stießen Schiffer und Soldaten mit Stangen vom Ufer ab, während Ritter Zetteritz nebst seinem Leutnant Befehle gab.
So schnell, wie wir vorher gefahren waren, ging es jetzo nicht, da wir ja gegen den Strom angingen. Immerhin kamen wir bei dem guten Segelwinde zu des Ritters Zufriedenheit vorwärts. Mehrfach wandte ich mich an Zetteritz mit der Frage, ob die Soldaten auch wirklich meinen Gatten [459] ausfindig machen würden, und jedesmal ängstete es mich, daß er seine zuversichtlichen Worte durch die Miene scheuen Bedenkens Lügen strafte.
Der Abend rötete den Himmel, als ein Hornsignal erscholl, und das Rudern eingestellt ward. »Unsere Leute!« rief der Korporal, worauf der Steuermann den Kahn auf das havelländische Elbufer zusteuerte.
In zitternder Spannung spähte ich zum Ufer, wo etliche Reiter nebst einem Hunde zwischen den Weidenbüschen erschienen. Meine Knie wankten, als ich von Dir, mein Johannes, nichts wahrnahm. An dem Angesicht des Ritters erkannte ich, daß auch er von Schrecken erfüllt war. Ich fühlte, wie ein Weinen mich anwandelte, da ich nun den Kopf zur Frau Zetteritz wandte und mit brechender Stimme sagte: »Sie haben ihn nicht, haben ihn nicht ... O weh, mein lieber Mann!«
Dann sank ich unmächtigen Geistes hin und kam erst wieder zu mir, als man mich in der Kajüte auf die Bank gelegt hatte und meine Schläfe mit Wein rieb. Mein erstes Wort war: »Mein Mann – warum hat man ihn nicht? Was ist mit ihm?«
Frau Zetteritz suchte zu beschwichtigen: »Er wird ja wohl am Leben sein. Nur gefunden hat man ihn nicht.«
»Aber warum suchen die Reiter nicht länger?« rief ich vorwurfsvoll.
Verlegen blickte Frau Zetteritz ihren Sohn an. Der starrete düster zu Boden und zuckte die Achsel. Dann sprach er kleinlaut: »Es ging nicht, bisweilen schwedische Völker durch das Brandenburgische streifen und unsere Leute zurückgejagt haben.«
Frau Zetteritz fügte hinzu: »Drum so dürfet Ihr annehmen, Gräfin, daß Euer Gemahl bei den Schweden ist.«
Diese Hoffnung blieb in der nächsten Zeit mein einziger Trost. Allerdings machte es mir Unruhe, daß die Dragoner auf alle meine Fragen nach dem, was ihnen beim Suchen begegnet sei, immer nur ausweichend, mit schweigendem Achselzucken [460] antworteten und zu guter Letzt erklärten, sie hätten dem Ritter alles gemeldet und nichts mehr hinzuzufügen.
Nach vielem Weinen in einsamen Stunden ergab ich mich in des Himmels Schickung und stellte ihm die Zukunft anheim. Wie nun Frau Zetteritz sahe, daß ich mich in mein Unglück gefunden, eröffnete sie mir eines Tages, sie habe bisher nicht die volle Wahrheit gesagt, weil sie mir nicht auf einmal einen so großen Schmerz habe antun wollen. Es sei kein Zweifel, daß der Verlorene nicht mehr unter den Lebenden weile; eine Beute der Wölfe sei er worden. Von den ausgesandten Dragonern seien nämlich an der Stelle, wo man meinen Gatten ans Ufer gesetzt habe, die Reste eines Menschen gefunden, der von Wölfen zerrissen gewesen; dabei seien die Kleidungsstücke gelegen, die mein Gatte angehabt. Zum Wahrzeichen habe ein Dragoner ein ledern Wams mit schwarzer Stickerei gebracht.
Nachdem ich mich über diese Schreckenskunde ausgeweint, hat Frau Zetteritz mir das Wams gezeigt, und es war das Deinige, mein Johannes, wie Du es in den gemeinsam verlebten Schreckenstagen an Deinem Körper getragen hast. So deuchte mich nun gewiß, Du werdest mir nimmermehr auf Erden begegnen.
Ich brauche nicht zu berichten, wie wir aus dem Magdeburgischen nach Altenhof in Böheim gereiset sind. Genung, ich folgte der Witfrau Zetteritz in ihr Haus und verblieb daselbst jahrelang als ihre Gefährtin und Helferin.
Nach etlichen Monden kam mir ein wehmütig Glück, indem nun sichtbar war, daß ich in den kargen Stunden unserer Ehe gesegneten Leibes worden. Am 6. Hornung des Jahres 1632 hat mir Gott unser Knäblein, den kleinen Johannes, geschenkt, und der ist mir sowohl, wie auch meiner mütterlichen Freundin ein rechter Sonnenschein worden und die wenigen Jahre hindurch geblieben, so er in meinen Armen verlebte. O daß es mir dereinst noch vergönnt sein möchte, teurer Mann, Dir all die lieblichen Stunden zu schildern, da [461] ich unseres Knaben Stammeln belauschte, da ich ihn gängelte und dann die ersten Male frei laufen sah, da sein lieblich Stimmlein singend mit meiner Stimme zusammenging, da wir jauchzend einander im Garten haschten und den Ball in die Lüfte warfen. Für jetzo darf ich nicht verweilen bei solchen Wonnen; schon trüben Zähren mein Aug, indessen ich doch weiter schreiben muß. Zu bemerken wäre noch, daß Zetteritz sich vergebens bemüht hat, von Kaiserlicher Majestät ein Gnadengeschenk für mich zu erwirken; denn es hat der Kaiser die Bitte nur unter der Bedingung erfüllen gewollt, daß ich zur papistischen Kirche mich bekehre. Solch Ansinnen hab ich abgelehnt, nicht bloß aus Treue für den Glauben, den mein teurer Vater mit seinem Märtyrertode besiegelt, sondern auch, weil mir die Lehren der Brüdergemeinde nahegekommen und dann gar lebendig ins Herze gepflanzt worden sind. Ein Gesuch, das ich an den Schwedenkönig richtete, kam zu spät, da dieser Held etliche Tage vorher auf dem Schlachtfelde von Lützen den Geist aufgegeben.
Meine Armut ist mir insofern zum Segen gediehen, als Frau Zetteritz meiner Verheiratung mit ihrem Sohne widerstrebte, indem sie ganz offenherzig geltend machte, bei seinem geringen Vermögen müsse ihr Sohn eine begüterte Frau haben. Ich hatte nun guten Vorwand, die dargebotene Hand des Ritters abzulehnen. War gewillt, nicht mehr zu ehelichen, insonderheit nicht den Mann, durch dessen Verschulden mein Gatte ums Leben gekommen. Aber die Dinge änderten sich, als meine mütterliche Freundin unerwartet das Zeitliche segnete, und Ritter Zetteritz etliche Wochen später sein ererbtes Gut bezog. Da er mich jetzo des öfteren sah, entflammte aufs neue sein Herz, also daß er vor seinem Abschied unter Beteuerungen der Liebe in mich drang, einstweilen sein Haus zu verwalten, dann aber als Gattin ihm die Hand zu reichen. Ich wies ihn abermals zurück, wiewohl ich mich geneigt stellte, ihm als Schaffnerin zu dienen. Dabei beruhigte er sich, hoffend, die Zeit werde mich willig machen, und zog [462] wieder in den Krieg. Hierauf hatte ich nur gewartet, entschlossen, sein Haus zu verlassen. Doch wohin mich wenden? Dich hielt ich ja für tot, Verwandte hatte ich nicht mehr, und von Marianka war keine Spur zu finden. Wußte sonst niemanden, wo ich Zuflucht suchen konnte, als die Preislerin in Schreiberhau. Ging sie also brieflich an, mich bei sich aufzunehmen, damit ich vom Ritter Zetteritz nicht zu einer mir widerstrebenden Ehe gedrängt werde. Wenige Tage nachdem ich den Brief abgeschickt hatte, erhielt ich Botschaft, Zetteritz sei auf dem Heimwege und könne jede Stunde eintreffen. Unverzüglich raffte ich meine geringe Habe zum Bündel zusammen und wollte mit meinem Knaben eben aus der Wohnung gehen, als meine Magd meldete, es sei da ein Weib zu Pferd gekommen und habe Wichtiges mit mir zu reden.
»Laß eintreten,« sagte ich, und es kam eine Jungfer, gut gekleidet, fein und schön von Antlitz und Gestalt; hatte flächsern Haar und eine weiße Haut, jedoch, was selten dabei zu finden, kohlschwarze Augen; die dunklen Brauen waren ob der Nase zusammengewachsen. Sie neigte sich und küßte mein Gewand; sie komme von der Preislerin, sagte sie, mich nach Schreiberhau zu holen. Gab sich für eine Emigrantin aus, so glaubenshalber verfolgt, zu Schreiberhau ein ander Heim gefunden habe. Nannte sich Berthulde. Ungeachtet sie liebreich tat, entging mir nicht etwas Lauerndes, Wildes in ihrem Blicke. Doch ich beschwichtigte mein leis Mißtrauen, zumal sie alsogleich eine lebhafte Neigung für den Knaben zeigte. Als sie vernommen, es sei mein Kind, fragte sie, ob Zetteritz der Vater. »Nicht doch!« entgegnete ich und konnte meinen Unwillen nicht ganz verhehlen. »Nichts für ungut, gnädige Gräfin,« bat die Jungfer; »Ihr habt ja der Preislerin geschrieben, daß Ihr längst im Hause eines Ritters weilet, der Euch zum Weibe begehrt. Aber wollet mir sagen, wie Euer Knabe geheißen.« – »Johannes,« entgegnete ich. Da verschlang sie ihn mit lodernden Augen und nickte: »Wie sein Vater.« Ich stutzte: »Was weiß Sie denn von seinem [463] Vater?« Sie lächelte: »Ich habe nur sagen wollen, daß er seinem Vater ähneln muß, inmaßen die Frau Gräfin ja braune Augen und dunkles Haar, der kleine Johannes aber blaue Augen und güldene Locken hat.« Dabei kniete sie zum Kinde, schaute ihm zärtlich ins Gesicht und küßte es. Lieb war mir, von der Jungfer zu hören, daß sie Pferde für uns bereithalte. An einem Bachbrücklein unweit des Dorfes wollten wir uns treffen. Vor den Augen der Magd nahm Berthulde Urlaub und ritt davon, indessen ich mit dem kleinen Johannes in den Garten ging und durch ein Hinterpförtlein ins nahe Gebüsch schlüpfte. Auf einem Umwege gelangte ich zum Bachbrücklein und fand die Jungfer mit zwei Reisepferden. Unverzüglich stieg ich in den Sattel und ließ mir den Knaben reichen. Berthulde schwang sich gleichfalls aufs Pferd, und wir trabten los. Meine Führerin wählte lauter ein same Waldwege.
Abends kamen wir in ein Dorf namens Altenhain und wollten daselbst herbergen. Die Jungfer besorgte im Gasthause für uns Quartier. Die Pferde wurden in den Stall gebracht, und wir aßen zu Nacht. Berthulde war gern um den kleinen Johannes beflissen und hätschelte ihn. Derweilen kamen andere Gäste. Ein Planwagen, mit zwei Pferden bespannt, ward von einem Mann soldatischen Aussehens in den Hof geführt. Herunter stiegen zwo Frauen mit einem Kinde. Als die Pferde eingestellt waren, kamen die Leute in die Wirtsstube und setzten sich. Des Kindes Mutter war bleich und krank. Der Mann bestellte beim Wirt zu essen. Die neuen Gäste sprachen nur leise mitsammen. Ich hörte, wie der Mann Heinrich genannt wurde und das gesunde Weib Schwester Sibylle anredete. Nach beendeter Mahlzeit suchten wir unsere Kammer, wo eine Streu mit Decken belegt war. Der kleine Johannes schlief sofort ein, wir aber beredeten noch dies und jenes. Berthulde brachte das Gespräch auf den Ritter Zetteritz, und mich überraschte ihr Wort: »Warum will die gnädige Gräfin nicht den Ritter heuren?«
[464] Von neuem stieg mir Mißtrauen auf, und ich fragte, wie sie dazu komme, mir den Ritter Zetteritz zu empfehlen. »Es wäre doch für den kleinen Johannes gut, einen Vater zu haben, zumal wenn es ein Ritter ist,« antwortete sie. Ich schwieg, und wir legten uns schlafen. Ich fand aber wenig Ruhe, da ich mir Gedanken über der Jungfer verdächtige Art machte.
Mitten in der Nacht ward ich inne, wie Berthulde sich aufrichtete und nach mir lauschte, wie sie dann behutsam sich erhub und aus dem Gemach schlich. Argwöhnisch folgte ich ihr und sahe, wie sie über den Hof in den Pferdestall ging. Nach einer Weile kehrte sie zurück, ich huschte vor ihr in die Kammer und stellte mich schlafend, während sie auf leisen Sohlen kam und sich niederlegte. Was hatte sie bei den Pferden zu schaffen? Es ließ mir keine Ruhe, und wie ich bald darauf die Jungfer schnarchen hörte, schlich ich zur Kammer hinaus, die Treppe hinunter, zündete eine vorgefundene Laterne an und trat in den Pferdestall. Durchleuchtete ihn, um herauszufinden, was Berthulde Heimlichkeit getrieben, fand aber nichts Absonderliches. Auffällig war nur, daß mein Pferd mit dem einen Vorderfuß scharren wollte und dabei zusammenzuckte. Da entdeckte ich unterm Huf eine Nadel, die an einer empfindlichen Stelle hineingesteckt war. Ich zog die Nadel heraus, und nun konnte das Pferd schmerzlos auftreten. Nun wußte ich, daß Berthulde mir eine Tücke antun wollte; resolvierete mich, unverzüglich meinen Knaben zu holen und mit dem besseren Pferde davonzureiten.
In diesem Augenblicke erschien Berthulde in der Stalltür. »Warum hat Sie meinem Pferde eine Nadel beigebracht?« herrschte ich sie an. Sie tat unschuldig, konnte aber das Feindselige ihres Blickes nicht hehlen. »Sie will meine Reise aufhalten,« sagte ich ihr ins Gesicht; »warum das? Und weshalb hat Sie mir gestern geraten, ich solle den Zetteritz heuren? Stehet Sie etwan gar im Bunde mit ihm?« – Berthulde biß sich auf die Lippe, scheu rollte ihr Auge unter den finstern [465] Brauen: »Weil ich dem kleinen Johannes wohl will. Was soll denn der Knabe in Schreiberhau, wo doch nur ein Glasmacher aus ihm wird. Indessen er als Sohn des Ritters zu Ansehnlichem gelangt. Auch hehle ich nicht, daß die Preislerin ebenso gesonnen wie ich.« »Was?« entgegnete ich befremdet; »die Preislerin ebenso gesonnen? Wie kann sie mich alsdann zu sich laden und holen lassen?« Hart versetzte die Jungfer: »Die Frau Gräfin irrt, oder vielmehr, ich habe ihr nicht die Wahrheit gesagt. Die Preislerin mag nichts davon wissen, daß Ihr in ihr Haus kommet, will hingegen, daß ich Euch in die Hand des Ritters Zetteritz liefre. Den habe ich auch bereits verständigt, wohin Ihr entweichen wollet, daß ich Euch geleite und in Gewahrsam halte. Jede Stunde kann der Ritter hier eintreffen, und möget Ihr Euch wenden, wohin Ihr wollt, er wird Euch einholen.« Wie eine Betäubte wankte ich bei dieser Enthüllung. Dann witterte ich das Falsche darin und gab entrüstet zurück: »Du willst mich täuschen! Was du vorgibst, ist ohne Sinn. Die Preislerin ist eine gute Frau; sie kann nicht also gesonnen sein. Du leugest, und das wird an den Tag kommen, sobald ich in Schreiberhau anlange.« Wie ein Tier, das sich in der Schlinge gefangen hat, ließ Berthulde ihre Augen umherirren, dann ballte sie die Faust und knirrschte mit den Zähnen: »Wehe Euch, so Ihr waget nach Schreiberhau zu kommen! Des Todes seid Ihr!« Verächtlich entgegnete ich: »Des Todes? Ha, blinder Lärm! Wer sollte denn in Schreiberhau wider mich sein?« – »Wer? Der Zetteritz! ich hetze ihn hinter Euch drein.« – »Man wird mich vor ihm schützen.« – Scheu tat die Jungfer einen Blick hinter sich nach der Stalltür. Dann verzog sich ihr Mund zu einem grimmen Lächeln: »Wer wird Euch schützen? Wer denn? Etwan Euer Buhle? Der ist ja tot.« Da überwältigte mich das Leidvolle meiner Verlassenheit. Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: »Tot! tot!« – »Ihr habt es ja selber gesagt, er sei längst tot,« setzte Berthulde hinzu und lachte auf. Entrüstet fand ich wieder meinen Mut und [466] fuhr meine Feindin an: »Teufelin! Es sind noch andere Männer zu Schreiberhau, die mich schützen.« Unschlüssig stund sie da und schien nach Rat zu suchen. Ihr Angesicht war verzerrt, und sie zitterte wie von Fieberfrost geschüttelt. Fletschte dann die Zähne wie ein Hund, und auf einmal blinkte in ihrer erhobenen Rechten ein Dolch, während ihre Linke meinen Arm packte und mich auf die Knie riß. »Die Schwurhand hoch!« zischte sie; »Schwöret, Euch nicht in Schreiberhau blicken zu lassen. Auf der Stelle seid Ihr sonst des Todes.« Ich rang mit der Entsetzlichen, und in meiner Hilflosigkeit entfuhr mir der Schrei: »Johannes!« – – »Johannes?« kreischte sie. »Den bekommst du nicht! Nimm lieber das da!« Und sie stach nach mir, daß ich den Stich bei der Schulter fühlte. Der Odem ging mir aus, ich taumelte und verlor die Besinnung.
Wieder zu mir gekommen, lag ich entkleidet in der Kammer, wo ich die Nacht zugebracht hatte. Der Gast, den man Heinrich nannte, und seine Schwester waren bei mir. Meine Wunde brannte, war mit nassen Linnen verbunden. Hastig sah ich mich um, wo der kleine Johannes wäre. Aber das Weib, Sibylle mit Namen, faßte mich beim Arm: »Stille, bleibet liegen; Ihr seid ja verwundet.« – »Aber wo ist mein Kind?« wiederholte ich in Angst und wollte aufspringen. Der Mann lief sogleich hinaus und rief: »Wo ist ihr Kind?« Schrecken malte sich auf Sibyllens Angesicht; »Euer Kind? Ich weiß, gestern abend, da saß es bei Euch. Ja, wo ist es nur? In dieser Kammer war es nicht.« Da schrie ich auf: »Sie hat's mitgenommen, mein Kind geraubt, geraubt! Hinterdrein!« Und ich sprang auf. Doch es drehte sich alles um mich, und ich sank in Sibyllens Arme. Dann kamen Heinrich, der Wirt und andere Leute, und man rief: »Sie ist mit dem Kinde davon. Hat es bei sich auf dem Pferde.« – »Ich habe sie reiten sehen,« bestätigte der Knecht. »Hinterdrein, hinterdrein! rettet mein Kind!« – »Fort, Heinrich,« riefen seine Frau und Sibylle. Er flugs hinaus, rief drunten nach einem [467] Pferde und trabte davon. Hilflos faltete ich die Hände und konnte nur wimmern. Tränen im Auge, suchten mich die Frauen zu beschwichtigen; die Kranke streichelte meine Hand, Sibylle tröstete: »Heinrich wird sie einholen, er ist Soldat.« Ich fand keine Ruhe. Mich verlangte, selber mein Kind zu suchen. Wie nun eine heilkundige Frau kam, die Wunde zu behandeln, bat ich um einen festen Verband, der mir unverzügliche Reise gestatte. Die Heilkundige warnte, doch ich erklärte, die Sorge um mein Kind werde mich eher umbringen als die Wunde. Bald darauf kehrte Heinrich zurück und sagte: »Die Spur der Räuberin ist wie weggeblasen, habet denn Ihr keine Vermutung, wohin sie sich gewandt?« – »Ich reise mit Euch,« entgegnete ich, »und wir wollen übers Isergebirge ins Schlesierland nach Schreiberhau. Dorthin wird sie trachten. Denn sie forderte von mir, ich solle mich nicht in Schreiberhau blicken lassen.« – »Ich werde allein hinreiten,« sagte Heinrich. Aber ich stund von meinem Lager auf und überwand alle Schwäche. Da sagte Heinrichs kranke Frau zu Sibyllen: »Geh auch mit, derweilen ich hier bleibe; eine längere Rast kommt mir und dem Kinde zustatten. Helfet erst dieser armen Mutter.« Indessen nun meine Wunde einen neuen Verband erhielt, sorgte Heinrich für drei Pferde, dann brachte man mich behutsam in den Sattel. Erst ritten wir langsam. Wie es aber gut mit mir ging, setzten wir uns in Trab. Heinrich spähte immerfort nach der Spur der Räuberin. In der Hand trug er ein Feuerrohr, an der Hüfte das Schwert. Wir Frauen waren mit Pistolen und Dolchen bewaffnet. Nach mehrstündigem Ritt hielt Heinrich sein Pferd an und deutete auf den Weg: »Hier ist vor kurzem jemand aus dem Walde geritten. Das wird die Räuberin sein. Die Hufspur hat sie zuerst dadurch verborgen, daß sie vom Weg an einer felsigen Stelle in den Wald abgebogen ist; hier jedoch hat sie wieder den Weg aufgesucht. Er führt zum Isergebirge.« Als wir eine Strecke weitergeritten waren und die Spur noch immer sahen, meinte Heinrich: »Jetzo müssen[468] wir rasten; Eure Wunde bedarf der Ruhe. Unterwegs holen wir die Räuberin doch nicht ein. Es genügt, daß wir wissen, wohin sie sich gewandt. Wir finden sie in wenigen Tagen. Keine Sorge, sie wird dem Kinde nichts tun.« Mein Herz ward leichter, da ich bedachte, wie die Entführerin zum kleinen Johannes zärtlich gewesen. Was sollte sie ihm denn auch antun? Nur für sich haben möchte sie das Kind. Aber wir werden es zurückgewinnen. Nach einer ausgiebigen Rast, bei der wir Speise und Trank zu uns nahmen, ging es weiter, bis wir abends zu Hütten gelangten und Quartier fanden. Es war mir tröstlich, zu vernehmen, am Mittag sei hier eine Reiterin mit einem Kinde vorübergetrabt in der Richtung auf Starkenbach. Da sich beim Untersuchen meiner Wunde herausstellte, daß keine Blutung erfolgt sei, so durften wir hoffen, bald am Ziele zu sein.
Andern Tages ging die Reise bis Tannwald, am übernächsten ward uns mittags bei einer Baude im Tal des Iserflusses die Auskunft, gestern sei hier ein Weib mit einem Kinde gen Schreiberhau geritten. Wir waren auf demselben Wege, den ich vor Jahren mit Dir, Johannes, bei Nacht zurückgelegt hatte. Im Schritt ging es weiter, und als die Sonne in die Wälder sank, waren wir nahe der Grünen Koppe.
Bei einbrechender Dunkelheit sahen wir Leuchtkäferlein über Wiesen taumeln, dann glomm an einem Berge, so bei einer Waldlichtung sichtbar geworden, ein Feuer auf, und Heinrich sagte: »Morgen ist Sankt Johannistag, dorten grüßen sie ihn mit Fackeln.« Wir kamen nun zur Abendburg; es war Nacht; beim Felsen droben wirbelte roter Rauch mit Funken. Viele Menschen jauchzten und johlten zu Harfen und Geigen. Was gab es dorten? Sonst war die Abendburg doch gänzlich einsam. Ich sprach mich darüber zu Heinrich aus, und er beschloß, als Kundschafter vor zugehen, derweilen wir Frauen harren sollten. Wir banden die Pferde an Bäume, und ich setzte mich nebst Sibyllen, indessen Heinrich, in der Hand sein Feuerrohr, durch Dickicht schlich. Immerwährend[469] scholl Geschrei und Singen von der Abendburg. Endlich knackte ein Ast im Walde, und Heinrich war wieder bei uns. »Das Kind ist da!« raunte er froh, und mir sank die schwere Last vom Herzen. An seine Hand geklammert, stammelte ich heißen Dank. »Wo ist es?« – »Droben!« sagte Heinrich. »Sie feiern die Johannisnacht; im Feuerschein hab ich Euer Kind bei seiner Entführerin gesehen. Toll muß sie sein, und die Menge trunken. Berthulde, schlohweiß gekleidet, auf dem Haupte einen Kranz, hat vom hohen Felsen, an dessen Fuß ein groß Feuer lodert, zum Volke geredet. Mann und Weib sind hierauf wie närrisch um die Glut getanzt; schwingen brennende Besen, gleich Flammenrädern. Burschen hüpfen mit ihren Dirnen jauchzend über kleinere Feuer. Kerle taumeln mit erhobenen Bechern, aus Tonnen wird Bier gezapft.« – »Gehen wir sogleich hin,« sagte ich mit erneuter Angst. Aber Heinrich tat den Einwand: »Hinter dem Graben stehen gewappnete Wächter, die möchten uns leichtlich gefangen nehmen, weil wir fremd. Drum wollen wir uns gleichfalls mit Fichtengrün kränzen und so tun, als gehörten wir zum Sonnwendfeste. Ich nähere mich sachte dem Kinde und führe es unbemerkt beiseite. Ihr lauert indessen nahebei und deckt mit euren Pistolen meinen Rückzug, wann ich den Knaben bringe.« Sogleich schnitt Heinrich Zweige von den Fichten, und wir Frauen machten Kränze. Dann prüften wir die Pistolen und schlichen hinter Heinrich her zum Felsengipfel. Wie wir zur Lichtung kamen, war ich erstaunt, die Stätte gänzlich verändert zu finden. Wo früher Wald gestanden, war eine Matte. An den Felsen lehnte ein Balkenhaus, im weiten Kreise umgeben von Graben und Wall. Das große Feuer war nicht bei dem Gehäus, sondern auf des Felsens andrer Seite. Wie besessen tanzten bekränzte Männer und Frauen in bunten Kleidern um die lodernde Flamme, in die soeben ein Tannenwipfel gestürzt war, daß es prasselte. Vom Walde geborgen, schlichen wir an eine Stelle, wo wir aus nächster Nähe den Vorgang betrachten konnten. Was uns [470] hinderte, vollends heranzukommen, war der Graben und dahinter der Wall, so mit zugespitzten Pfählen versehen war. Auf der Matte, die sich innerhalb dieser Wehr zum Abendburgfelsen hinan erstreckte, waren vereinzelte Männer mit Feuerrohren und Partisanen. Sie bewachten den Platz.
Auf einmal kam neue Bewegung in die Menge, weil jemand etwas ausgerufen hatte. Man lief und drängte zum großen Feuer. Ein paar Geigen intonierten eine wildfeierliche Weise, und dann sangen Kranzjungfern:
»Komm ins Leuchten, komm ins Leuchten,
O du wunderweiße Braut!
Deine trüben Erdentage
Sind nun alle, alle aus.
O weh und juchhe! O weh und juchhe!
Weinet und lachet: Lichtbraut ade!
Bald mit Flügeln angetan,
Fleugst du wie der rote Hahn.«
Da war auf einmal die bekränzte Berthulde auf dem Felsen, in ihrem weißen Gewand rot angestrahlt. Nicht weit von ihr stund mein kleiner Johannes, ebenfalls weiß gekleidet und bekränzt. Staunend hielt er das Fingerlein an seinen Mund. Mir jauchzte das Herz, daß mein Kind heil und munter. Ich wollte hineilen, ward aber von Sibyllen zurückgehalten.
Den Arm erhoben, gebot Berthulde Stille, und dann brachte man ihr eine Harfe. Wie eine Verzückte starrte sie in die Glut und redete getragen zum Harfenschall: »Lichtsonne, Born der Lust!« Wie eine betende Prozession murmelte die Menge: »Lichtvater in uns, nicht über uns.« Und Berthulde fuhr fort: »Zu deines Gottesleibes Gliedern heilige uns! Absterben laß dein Kind der Schattentiefe, begrabe das Opfer in läuternden Flammen.« Gleich einem Widerhall scholl es: »Lichtvater in uns, nicht über uns.« Nach diesem Gebet gab Berthulde die Harfe zurück und sprach, erhoben die Hand: »Höret mich an! Heilig ist die Stunde, da wir feiern des Lichtes Triumphieren, und weil allhie eine Braut stehet, sich hinzugeben der Flamme. Wohlan, lasset mich bekennen, wer [471] diese Lichtbraut ist. Von Mitternacht aus dem Harzgebirge bin ich kommen, eine Flüchtige, nebst meinem Bruder. Dieweilen ich schon in der Heimat dem Lichtvater gehuldiget, haben mich die dummen Pfaffenknechte zu Asche brennen wollen. Eine Hexe haben sie mich gescholten, unwissend, daß die Hexen mit Magie das Beste zu erlangen suchen, was die Erde ihren Kindern darbeut: Lust und Minne! Gern wär ich eine Hexe worden, habe mir auch ein magisch Ding zugelegt, denn auf minnigliche Lust ging all mein Seufzen aus. Ein ander Los indessen ward mir vom Lichtvater bestimmet. Zu seiner Lichtbraut hat er mich erkoren; blieb mir doch das Glück der Minne alleweil versagt, als habe Frau Venussin den Auftrag, mir den Rücken zu kehren. Den ich zuletzt und am heißesten liebgewann, dessen Burg heut eingeweihet wird, auch er hat mich verschmäht – oh, verschmäht ...« Schmerzlich preßte die Tolle die Faust auf ihre Brust und starrte in die Glut. »Und warum verschmäht? Ein sanft Weibsbild hat es ihm angetan und mir sein Herz entwendet. Ich aber habe meinen Dolch in ihr Herzblut getaucht, daß sie hingegangen ist, wohin sie gehört. Mag sie Halleluja singen in ihrem Pfaffenhimmel! Ihr Herz hab ich bluten lassen, denn sie hat das meine zuvor bluten lassen. Und weil sie an mir zur Räuberin worden, hab ich ihr Kind geraubt ... Hie stehet es ja, das Schätzchen.«
Heinrich wandte in stummer Frage sein Angesicht zu mir, Sibylle preßte meine Hand, ich war wie versteinert vor Angst. Die unsinnige Lichtbraut aber sank nach dem Auflodern ihrer Wildheit wieder in dumpfen Trübsinn. Griff sich an die Schläfe und sahe ratlos umher: »Was soll ich anoch allhie? Will lieber tun, was mir bestimmt ist. Sterben will ich ...« Wie Verzückung kam es über sie: »Doch in Minne sterb ich, für meinen Liebsten sterb ich, für sein Lichtreich sterb ich, für euch alle sterb ich!« Die Menschen drunten, mit aufgerissenen Augen regten sich murmelnd, und Zurufe kamen: »Heil Berthulde! Lichtbraut! Lichtvater in uns, nicht über [472] uns!« – »Ja, Lichtvater in uns –« triumphierte die Besessene. »Er bleibt in mir, ich bleib in ihm. Stirb dem finstern Abgrunde, so gewinnst du Geburt im seligen Lichtreiche. Gehet nun auch mein Liebster in das Reich – und bald wird er mir folgen –, hei, welch selig Willkommen beut ihm seine Verlobte! Denn ich verlobe mich ihm, werde unauflöslich ihm angetraut durch freien Opfertod in den Flammen« ... »Um Gottes willen!« raunte Heinrich. »Ich muß hin. Bleibet hier, rühret Euch nicht! Ich will auf der andern Seite über Graben und Wall gelangen.« Und geduckt schlich er hinweg, während ich zitterte und vor Angst kaum vernahm, was die Tolle weiter redete. Doch klingt mir noch ein Kreischen im Ohre: »Und vor Lichtvaters Thron will ich weisen das Pfand meiner Minne, das ich mit mir nehme von dieser Erde ... Und sollt ich nicht rein genung sein, euch zu entführen, mag denn das andere Opfer die Erlösung vollbringen. Die geopferte Unschuld macht uneinnehmbar diese Burg. Nun ade, ihr alle! Ein Ade auch meinem Liebsten! Hineilen soll er, wo ich sein harre. Für mich hebet jetzo an der Hochzeitstanz.« – Und drunten sangen sie; später – wie oft habe ich darüber grübeln müssen! – sind mir die grausigen Worte, alles Einzelne, wieder deutlich geworden:
»Springe denn, springe denn
Deinen allerletzten Tanz.
Morgen darfst du schweben
In des ew'gen Vaters Glanz.
O weh und juchhe! O weh und juchhe!
Weinet und lachet: Lichtbraut ade!
Laß die schwarze Erde stahn,
Heim ins Lichtmeer sollst du gahn.«
Indessen hatte sich die Hexe umgewandt und mit Lächeln meinem Knaben gewinkt. Ich war vor Grauen gelähmt, der Schrei erstickte in meiner Kehle. Und zur lockenden Teufelsbraut kam der kleine Johannes, wie ein Vögelchen vom Blick der Schlange in ihren offenen Rachen gelockt. Jauchzend nahm sie das Kind auf den Arm, küßte es und sprang in [473] die Glut – mit meinem Kind in die Glut! Ich sah Funkengarben, hörte den Aufschrei der Menge, dann fühlte ich in meiner wunden Brust einen Stich, heiß quoll es mir vom Munde, hintaumelnd verlor ich die Sinne.
Wieder erwacht, lag ich im finstern Walde am rauschenden Bache. Sibylle netzte mir den Mund. »Mein Kind!« wimmerte ich und hörte Heinrich schluchzen. »Still, still,« sagte Sibylle weinend. »Ergebt Euch in des Ewigen Schickung; einst werdet Ihr Trost finden ob der harten Prüfung. Nur stille, stille!« Und sie streichelte mir die Hand. Ach, wie höhnische Höllengeister kamen mir jetzo die Leuchtkäfer vor, so trunken durchs Dunkel taumelten.
Was soll ich weiter sagen? Höllenpein leide ich, sooft ich bedenke, was damals geschehen. Von Heinrich vernahm ich, er habe die tolle Berthulde niederschießen wollen, doch sei sie ihm mit ihrem Sprunge zuvorgekommen. Zurückgekehrt, habe er mich ohnmächtig gefunden, und auch Sibylle sei halb von Sinnen gewesen. Das Blut sei mir aus dem Munde gequollen, aus meiner Wunde müsse es sich in die Lunge ergossen haben.
Ein wilder Taumel habe nach dem Opfer die Versammlung hingerissen. Ein Weinen und Jauchzen sei losgegangen, Weibsbilder seien in Entrückung hingesunken, schluchzend habe man einander umarmt, sei dann lachend ums Feuer gesprungen und habe emsig Holz hineingeworfen. Hätten damals die Grabenwächter besonnen gespähet, wir wären entdeckt worden und dann wohl des Todes gewesen. Aber die Wächter hatten sich nach dem Schauspiel umgewandt, und die ganze Teufelsgemeinde war von dem Opfervorgang derart hingerissen, daß sie für nichts andres Augen hatte.
Auf mein Flehen trugen mich Heinrich und Sibylle fort. Ich wimmerte nur immer: »Fort von hier! Die Hölle ist hier!« Erst wie kein Laut und kein Feuerschein von der Teufelsmette mehr zu spüren, ward Rast gemacht, und ich lag zum Sterben erschöpft, von Fiebergesichten geängstet. Mein [474] Gatte kann mitfühlen, was in der Mutter vorging, da sie ihr Kindlein, ihren einzigen Trost, so schaurig ins Flammengrab sinken sah. Verzweifelt bin ich zuerst an Gottes Barmherzigkeit, und die Folter hätte mir bald das Hirn zerrissen. Dann aber, im tiefsten Abgrund des Leides, spürte ich ein Fünklein, und innen klang mir ein sanftes Lied. Aus der Finsternis dämmerte und leuchtete ein Lichtkreuz. Und ich betete immerfort: »Selig, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.« So bin ich langsam, ein neuer Mensch worden. Gottes Stille ist über mich kommen, ich habe gelernt, demütig alles hinnehmen, was seine Hand mir schickt. Im übrigen hat es sich mit mir folgendermaßen begeben. Heinrich und Sibylle hatten ihre liebe Not, als ich wegen meines Kindes Opferung halb von Sinnen und vom Blutverlust erschöpft war. Auf der Iserwiese war eine Baude gelegen; dorthin brachten sie mich und pflegten mein länger als eine Woche. Wie ich dann halbwegs zu Kräften gelangt war, reiseten wir zurück nach Altenhain, wo Heinrichs krankes Eheweib nebst dem Kinde geblieben war. Ach wie blind waren wir – blind vor Entsetzen. Wir unterließen es, Näheres über die Teufelsmette zu erforschen – wiewohl die Rede der Lichtbraut ein Rätsel enthielt, von dem eine geheime Stimme in meiner Tiefe sagte: »Sollst es aufklären!« Wir unterließen es, weil ich nichts hören mochte von dem grausigen Erlebnis, auch weil wir bald darauf von einem neuen Schmerz in Anspruch genommen wurden. Wir fanden nämlich Heinrichs Frau dem Tode nahe und kamen kaum rechtzeitig, ihren letzten Willen zu vernehmen. Mich bat sie, ihr Kind fürder als das meine anzusehen und bei ihren Lieben zu verbleiben. So hab ich es denn auch gehalten und habe mit Heinrich, der Feldweibel eines kursächsischen Regimentes war, länger denn ein Jahr Heereszüge mitgemacht. Immer herzlicher mir zugetan, hat er mich zum Eheweibe begehrt, von mir aber die Antwort erhalten, mein Gatte sei vielleicht noch am Leben. Mit Betrübnis hat Heinrich diesen Bescheid vernommen, sich [475] aber nicht zufrieden gegeben und oft angedeutet, wie er auf meine günstige Antwort noch immer hoffe.
Wie sein Regiment einmal am Flusse Unstrut quartierte, hat sich jenes Unglück zugetragen, das Du kennst. Klein Anneliesel, das mir anvertraute Mägdlein, ist, da ich im Behüten nachlässig gewesen und unter einem Weidenbaume eingeschlafen bin, beim Blumenpflücken ins Wasser gefallen und ertrunken. Drauf hab ich heftige Anklagen wider mich erhoben und nur den einen Trost vor mir gesehn, dem unglücklichen Vater durch alle mögliche Güte die Herzenswunde zu heilen, wenn anders dies möglich. Und aufs neue ist Heinrich in mich gedrungen, daß ich die Seine werden solle. Da deuchte es mich Pflicht, die Lücke in seinem Herzen auszufüllen, die seines Kindes und Weibes Verlust ihm gerissen. Und da er endlich meine Bedingung, daß ich ihm nach unserer Trauung nur Schwester sein wolle, bewilligte, gelobte ich ihm vor dem Geistlichen alle Treue, so er von mir beanspruchen durfte.
Ein Trost ist es mir bei diesem Schritte gewesen, daß ich Heinrich bestimmen gekonnt, sein blutig Handwerk aufzugeben und nach einem friedlichen, unschuldigen Brote zu trachten. Schließlich ist uns das Glück zuteil worden, daß Heinrich das Hirtenamt auf dem Breiten Berge erhielt. Aber die Ruhe, so in den ersten Tagen unseres Hirtenberufes in den klaren Berglüften mein Herz besänftigte, hat gar bald einem wilden Sturme weichen müssen.
Wie ich nämlich einen Besuch bei Petersdorfer Leuten gemacht und das Gespräch auf die Teufelsmette gelenkt habe, um Genaueres zu erkunden, da ist mir das Herz schier stillegestanden, als ich vernommen, Johannes Tielsch, der die Hexe Berthulde zu unsinniger Minne entzündet und so die Teufelsmette veranlaßt habe, sei anoch am Leben und in den Trümmern der ehemaligen Beste als Eremite wohnhaft. Meine Aufregung, ein seltsam Gemisch von Schrecken und Jubel, von Gram, Reue und Trost, hab ich vor den Leuten kaum [476] hehlen können, als sie mir des weiteren über Dein Geschick berichteten. Zuerst mit Verzweiflung, dann mit trüber Ergebung hab ich bedacht, wie nah uns das Glück gewesen, da Du und ich und unser Kind auf dem engen Raum der Abendburg beisammen gewesen, und wie eine herbe Schickung gleich darauf den kleinen Johannes uns entrissen, seine Eltern aber voneinander geschieden hat, daß sie erst nach Jahren ihr Wiedersehen gefunden haben und dabei zögern müssen, einander in die Arme zu schließen.
Und was nun weiter? Was soll hinfürder mit uns zwei armen Herzen geschehen? Mit stets erneuter Wildheit wird diese Frage meinen Johannes bestürmen, und alle Leiden wird er durchmachen, mit denen ich selber ringen gemußt. O wie bitter hab ich den Himmel verklagt: »Warum nur hast du der Frau, die ihren Gatten suchte, dicht vor ihrem Ziel ein Hemmnis in den Weg geworfen, das ihr Hoffen vereitelte und auch noch ein höchst jämmerlich Klagewort heraufbeschwört? Mein Johannes kennt dies Wort; es heißt: beinahe! Beinahe wär's geglückt – so klagen unsere armen Herzen. Es fehlte nur diese oder jene Winzigkeit. Eine mißlungene Botschaft, ein eitel Gerücht, falsche Deutungen, dazu Tücke und Unzuverlässigkeit der Menschen – das alles hat neue Wirren zwischen den getrennten Gatten angestiftet, also daß sie nicht zueinander gelangten – nicht rechtzeitig ... Zu spät, ach zu spät! Erst als ich des festen Glaubens, du seiest tot, Heinrichs Ehehälfte worden, hat die Sonne den Nebel zwischen uns beiden verscheucht, so daß wir einander mit unsern Augen gefunden haben.
Da geht nun zugleich ein Jauchzen und ein Schluchzen durch unsere Seelen. Beglückt sind wir, weil jeder den andern noch am Leben weiß und nahe bei sich hat. Und doch können wir nicht unterlassen, bitterlich zu weinen, weil wir nicht unverzüglich einander in die Arme eilen können. Vor mir ist ja eine Kluft und hinter mir ein Band; halt an, du ungestüm Herze, so weh es auch tut, wenn der Zügel zurückreißet und [477] Sorge verstört. Solches Weh durchzumachen ist nunmehr Dein Los, teurer Mann. Und ich, obwohl allbereits etlichen Friedens teilhaftig, werde im Geiste bei Dir, Deine schaurigen Seelenstürme mitfühlen. Da ich indessen tief innen ein Plätzlein des Friedens gefunden, so möcht ich gern meinen armen Liebling aus seinen Kümmernissen an meine Seite retten und aus meinem gesammelten Seelenschatze erquicken. Wohlan denn, erwäge folgenden Trost, den ich für dich wie für mich ausfindig gemacht:
Zum ersten: Wir dürfen nicht unbescheiden im Wünschen sein. Ein unsagbar Glück allerdings scheint es auch mir, so wir zwei beide endlich dauernd und friedreich einander als Gatten angehören. Ja, himmlisch wäre solch Los hier auf den einsamen Weidematten im Schutze der Waldberge. Doch nur des Himmels Güte – und ich meine den Himmel im Menschenherzen – nicht Ungestüm und Kampf, kann dieses Glück bescheren. Harren wir in Demut, bis er alles zum Besten fügt, trösten wir uns einstweilen mit der Gunst, die uns allbereits beschieden. Ist denn nicht das, was wir jetzunder schon haben, weit besser, denn ein ander Los, so uns doch auch nahe lag? Mein Johannes hätte ja wirklich des Todes sein können, so daß uns in diesem Leben kein Stündlein des Wiederfindens mehr vergönnt wäre. Und Berthuldens Dolch hätte ein wenig tiefer treffen können, wo das Herz liegt. Nun aber leben wir beide und wohnen sogar nahe beisammen, dürfen wohl bald, ich hoffe in etlichen Monden, mit Heinrichs Einwilligung einander Liebes erweisen. Gestehe, Johannes: Ist das nicht ein Heil? Drum sollst du stets ermessen, was du gewonnen hast, und sollst bedenken, daß die Entbehrung nur da Schmerzen macht, wo das Verlangen über die Habe hinausgreift.
Zum andern: In dem jetzo eingetretenen Zustande haben wir beide Gelegenheit, jenes Eden zu erschließen, das mein Johannes seiner Thekla in einer unvergeßlichen Predigt gewiesen hat. Ist denn nicht die Minne, so wir füreinander [478] hegen, wert, zu jener adligen Verklärung zu gelangen, so mein Johannes in Gesichten gekostet hat? Ich nehme Dich beim Wort, verehrter Prädikante; zeige jetzo, daß Du nicht bloß mit Traum und Rede gen Himmel zu fliegen verstehst, sondern daß die Beherzigung auf Adlers Fittichen nachfolgt. Auch das Wort ist ja wie der rauhe Abendburgfels. Die Tat erst wandelt ihn zum Königsschloß, drin güldne Schätze funkeln. So laß uns heben den wahren Abendburghort, geliebter Schatzbeschwörer!
Endlich wisse: unheilbaren Schmerz würdest Du mir zufügen, so Du es wagen solltest, vor mein Angesicht zu treten, ehe die Stürme Deines Herzens ausgetobt haben. Dies ist mein fester Wille: erst muß uns beiden die Läuterung gelungen sein, bevor wir einander der Gefahr aussetzen, durch das geliebte Bild zu neuer Glut entzündet zu werden. Insonderheit müssen wir an Heinrichs Seelenheil denken. Das ist gefährdet, sobald er in Dir den Nebenbuhler wittert; Dich würde er verantwortlich machen für meine Sprödigkeit, und es grauset mir, so ich an die Heftigkeit seines Willens denke. Seiner ersten Frau, zu deren Tode, wie zum Tode ihres Kindes, mein Schicksal beigetragen hat, hab ich in die erkaltende Hand gelobet, ihre Lieben getreulich zu stützen. Heget nun mein Johannes anoch Minne für mich, so muß er mir beistehen in allem guten Trachten. Drum so darf nichts geschehen, was Heinrich in Eifersucht und Grämen stürzen könnte. Er weiß nicht, was Du mir bist – und einstweilen soll er nichts davon ahnen. Was den kleinen Johannes betrifft, den hält er für das Kind meines ungestümen Freiers Zetteritz. Laß ihn bei diesem Glauben! Führen wir ihn zu dem Ziel, das Deiner heiligen Sehnsucht vorschwebt! Bringen wir ihn dahin, daß er ohne Groll an meiner Linken, wie Du an meiner Rechten, die Schwelle des Himmelreiches überschreitet. Fühlen wir, daß uns diese Aufgabe gelingen wird, so mag es sein, daß wir beide einander von Angesicht zu Angesicht schauen.
[479] Vorerst suche keinen anderen Verkehr zwischen uns als den heimlichen Austausch von Briefen! Ich flehe Dich an, laß dies unser Gesetz sein. Mag jeder dem andern schreiben, wie es ihm ums Herz. Laß uns aber zuvor die Herzen rein und schön machen. Den allerersten Brief sollst Du nicht eher senden, als bis diese Woche vergangen ist. Am Sonntag um die Mittagszeit, doch keinen Tag früher – es hülfe nichts – entzünde beim Hohenstein ein Feuer, nachdem Du Dein Schreiben wohlverwahrt in den hohlen Buchenbaum beim Kesselstein getan, Du kennst den Felsen mit der kesselartigen Grube gegenüber dem Schreiberhauer Wachstein. Sehe ich Deine Rauchsäule, so sende ich meine Schwäherin Sibylle, in allem meine treue Vertraute, zum Kesselstein, Dein Briefel zu holen. Im Baume wirst Du ein Schreiben von mir jedesmal vorfinden, wenn vom Breiten Berge eine Rauchsäule das Zeichen gegeben hat.
Nun denn, mein Hirt und Heil, halte stets den Geist der Güte und Weisheit im Herzen und übertritt nicht das Gesetz, so unverbrüchlich zwischen uns beiden walten muß. Die Treue zu Heinrich darf nicht verletzt werden. Harre aus, Geliebter – ringe nieder, so heißes Ungestüm Dich hinreißen will – laß den Winter vergehen – dann im Lenze vielleicht ... Einstweilen gibt es keinen anderen Weg für Dich als den von Deiner Thekla gewiesenen. Liebst Du sie wahrhaft, so mußt Du den Gott in ihrem Herzen walten lassen. Gewiß, das tust Du, fromme Seele, und so wirst Du nach Versuchungen und Schmerzen als Sieger vereinigt werden mit Deiner Dich segnenden Hirtin Thekla.«