Sendschreiben an die Herren Verfasser derer gelehrten Hamburgischen Berichte, in welchem kürzlich abgehandelt wird: Daß ein Philosoph nicht allezeit bey demjenigen, was ihm begegnet, ein Stoicker seyn könne, vielweniger seyn dürfe.

Bey dem Antritt des 1737sten Jahres überschickt

Hochedelgebohrne und Hochgelahrte,

Insonders Hochgeehrteste Herren!


Ich nehme mir die Freyheit Ihnen Hochgeehrteste Herren, bey dem Antritt dieses Neuen Jahres so wohl meine aufrichtigen Wünsche zu überschreiben; als auch meine ergebenste Danksagung vor die besondere hohe Ehre, die mir Ew. Hochedelgeb. in dem vergangenen Jahre erwiesen, hierdurch abzustatten.

Sie sind nicht vergnügt gewesen, mich Ihres gelehrten Briefwechsels schon eine geraume Zeit zu würdigen, und meine geringe Poesien mit unverdienten Lobe zu belegen; Sie sind noch weiter gegangen und haben sich so gar nicht entblödet mein Bildniß einem Theile Ihrer gelehrte Berichte vorzusetzten. Was [418] wird die allzukluge Welt von diesem seltsamen Beginnen zu urtheilen finden? Unsere ecklen Deutschen sind noch nicht gewohnt denen Weibes-Personen eine Ubung in freyen Künsten zu verstatten. Ihre öffentlichen Lehrsäle dürfen von unserm Geschlechte eben so wenig entheiliget werden, als die Moscheen derer aberglaubischen Muselmänner. Ein Frauenzimmer, das nach Weisheit trachtet, muß ihren Haß so sehr empfinden, als kaum in England ein Catholischer Prätendente.

Ihnen, Hochgeehrteste Herren! ist dieses alles mehr als zu wohl bewust, und gleichwohl handeln Sie wider die so strenge Gewohnheit Ihrer weitsehenden Lands-Leute. Sie ertheilen meiner geringen Arbeit einen Platz unter denen Aufsätzen derer gelehrtesten Männer, und überlegen nicht, was vor Verdruß, so wohl Ihnen, als auch mir dadurch zuwachsen könne. Was meinen Sie wohl zu ihrer Entschuldigung vorzuwenden? Wäre Italien mein Vaterland, und ich besäse die Geschicklichkeit einer berühmten Laura, so möchte ihnen dieses Verfahren wohl noch zu vergeben seyn; So aber bin ich in Deutschland gebohren, in Deutschland sage ich, wo die Weibsbilder ihre natürliche Fähigkeit zu gelehrten Wissenschaften schlechterdings unterdrücken, und gleichsam ihr menschliches Wesen ablegen müssen.

In Franckreich und Engeland sind die Mannes-Personen bey weiten nicht von so hohen Geiste, als in Deutschland, weil sie leiden können, daß sich das Frauenzimmer hervor zu thun und den Verstand zu schärfen suchet.

Wie viele sinnreiche Köpfe, die sonst das Licht[419] scheuen, und selbst kaum wißen, wie durchdringend ihr Verstand sey, werden sich auf einmahl bemühen, an uns Ehre einzulegen. Wer weiß, ob sie nicht den Lehrsatz des Pythagoras von der Wandelung der Seele aus einem Cörper in den andern, bey solcher Gelegenheit in ein grösseres Licht zu setzen, sich befleisigen werden? Und gewiß, was könte man wohl schöners aussinnen? Wer wird sich überreden lassen, daß ein Frauenzimmer, in so ferne es als ein Frauenzimmer betrachtet wird, so viel natürliche Fähigkeit etwas gründliches zu lernen, besitzen solte, als eine Mannes-Person? Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß sich hier und da Frauenzimmer finden, die dem männlichen-Geschlechte an Geschicklichkeit nichts nachgeben. Wie solte dieses aber anders möglich seyn, wenn man ihnen nicht zugestände, es sey der Leib eines solchen Frauenzimmers von der Seele einer verstorbenen gelehrten Mannes-Person belebt worden?

Jedoch, diese hochverständige Naturkündiger werden uns nicht übel deuten, wenn wir die Wandelung unserer Seelen in ihre Leiber mit besserem Recht zu behaupten suchen, als sie die Wandelung der ihrigen in unsere.

Ich nehme mir die Freyheit zu glauben, das Pythagoras unter dieser Wandelung nichts anders verstanden habe, als die Verkehrung guter Sitten in böse, und böser Sitten in gute.

Gesetzt aber, es sey Pythagoras der würklichen Meinung gewesen, daß die Seele nach dem Tode ihren Sitz in einem andern, bald menschlichen, und bald viehischen Cörper zu nehmen pflegte; was würde daraus anders folgen, als daß unsere Seelen eine unzehliche Menge männlicher Leiber beleben müssen. [420] Was finden wir nicht unter dem männlichen Geschlechte vor weibische Gemüther? was vor Zärtlinge stellen sich täglich unsern Augen dar? Was vor eine grosse Anzahl feiger und furchtsamer Creaturen trift man unter ihnen an? Wie viele sind von einem so blöden und seigten Verstande, daß sie sich nicht einmahl unterstehen dürfen, in unsern Zusammenkünften zu erscheinen, wenn sie nicht von uns wollen verspottet werden?

Doch wo gerathe ich hin? Mein Vorsatz ist nicht mit einem Schatten zu streiten. Vieleicht bekomme ich mit solchen Leuten zu thun, die mich und mein Geschlecht aus der menschlichen Gesellschaft auszuschliessen suchen? Daß Weiber keine Menschen sind, ist bereits so klar und gründlich bewiesen, daß derjenige fast vor thörigt zu achten wäre, welcher an dieser Wahrheit nur einigermassen zweiflen solte.

Und gleichwohl betaure ich, daß ich nicht glauben kan, ich sey kein Mensch. Ich merke daß ich einen, Verstand habe, das Wahre von dem Falschen, das Gute von dem Bösen zu unterscheiden; ich finde in mir gleichfals einen Willen, dieses zu erwehlen und jenes zuverwerfen; dieses zu thun und jenes zu lassen. Ich sehe, daß ich mit einem Gedächtniß, mit einer Einbildungs-Kraft und mit einer Beurtheilungs-Kraft ausgerüstet bin. Dieses alles aber sind Eigenschaften einer vernünftigen Seele. Da nun das Wesen eines Menschen darinnen bestehet, daß er mit einer im Leibe wohnenden vernünftigen Seele begabet ist; so kan ich nicht begreifen, wie ich dieses beydes besitzen, und doch kein Mensch seyn solle.

Von Ihnen Hochgeehrteste Herren! bin ich versichert, das Sie mich vor ein menschliches Geschöpfe[421] halten; sonst würden sie nicht diejenigen Stücke, so aus meiner Feder geflossen, Ihren gelehrten Berichten einverleibet haben. Ob aber Dieselben darinnen recht gehandelt, daß Sie mir, als einer ungeübten und in gelehrten Wissenschaften unerfahrnen Person so grosse Ehre angethan/ solches überlasse Ihnen zur Vertheidigung.

Hätte ich so vortrefliche Eigenschaften an mir, wie alle diejenigen, deren Aufsätze in Ihren gelehrten Berichten erscheinen, und mit allgemeinem Beyfall angenommen werden; so würde ich mich glücklich schätzen, eine solche Ehre erlangt zu haben; da mir aber allzuwohl wißend ist, wie wenig ich dieselbe meiner schlechten Einsicht wegen verdiene; so betaure vielmehr, daß ich Dero weltbekannten Ruhm durch meine Unwürdigkeit verdunklen soll.

Bin ich gleich bißhero so glücklich gewesen, daß keiner von denen so genannten starken Geistern mit vergifteten Pfeilen wieder mich zu Felde gezogen; so besorge doch es möchte ins Künftige desto nachdrücklicher geschehen, woferne Ewr. Hochedelgeb. fortfahren solten, meiner unreifen Gedanken in Ihren gelehrten Blättern mit unverdientem Ruhm zu gedenke.

Jedoch worzu dienen diese Sorgen? warum bekümmere ich mich um eine Sache, die mir keinen Schaden bringen kan? bevoraus, da ich mir schmeicheln darf, an Ihnen, Hochgeehrteste Herren, großmüthige Beschützer und Vertheidiger zu finden. Es ist vielmehr Zeit, daß ich meinem Vorsatz ins Werk zu richten,Ihnen Hochgeehrteste Herren, bey dieser Gelegenheit zu zeigen suche, wie weit sich die Kräfte meines Verstandes auch in ungebundener Schreibart erstrecken.

[422] Jederman pflegt bey dem glücklichen Antrit einesNeuenJahres seine Freude und Vergnügen an den Tag zu legen. Die angenehme Art, wormit einer dem andern seine Wünsche vorzutragen bemüht ist, gibt uns gnugsam zu erkennen, wie empfindlich das menschliche Gemüthe sey, und wie nachdrücklich es von denen mancherley Zufällen, die ihm begegnen könne gerühret werden. Je genauer ich dieses bey mir überlegt, je mehr bin ich überzeugt worden,

Daß ein Philosoph nicht allezeit bey demjenigen was ihm begnet, ein Stoicker seyn könne, vielweniger seyn dürffe.

Ein Mensch zu heissen, und doch keine Empfindung zu haben, scheinet zwar einander vollkommen zu widerstreiten; gleichwohl hat es eine Art Leute gegeben, welche behauptet, man müsse alle Gemüths-Bewegungen unterdrücken lernen, und gegen alles, was uns begegnete, unempfindlich seyn. Was soll ich sagen? es giebt heute zu Tage dergleichen Personen, welche dieser Meinung beypflichten und durch Ausrottung aller Leidenschaften den Namen großer Philosophen zu verdienen suchen. Diese sind es, welche man mit einem Worte Stoicker zu nennen pfleget.

Ihre Lehre hat einen der berühmtesten alten Weltweisen, den vortreflichen Zeno zum Uhrheber. Allein, ich zweifle, ob sein Begrif von Austilgung derer Leidenschaften, dem Begrif seiner Nachfolger gleich gewesen sey. Die Zusammenhaltung derer sämtlichen Lehrsätze, die uns von ihm hinterlassen worden, erwecket nicht unbillig diesen Zweifel in meinem Gemüthe. Ja ich wolte bey nahe vor gewiß behaupten; daß dieser unvergleichliche Philosoph mit mir einerley Meinung geführt habe; da hingegen [423] seine Schüler von meinem Gedancken bey weiten entfernet sind.

Suchte nicht Zeno die einzige Glückseligkeit in der Tugend? wie kan aber ein Mensch tugendhaft seyn, der gar keine Leidenschaft besitzet, und sich weder die Betrachtung des Guten, noch die Vorstellung des Bösen rühren läst? Die Tugend bestehet in einer Fertigkeit unser Thun und Laßen nach dem Gesetze der Natur einzurichten. Was fordert aber das natürliche Gesetz anders von uns, als, daß wir uns befleißigen sollen, nach demjenigen mit äussersten Kräften zu streben, was uns und unsern Zustand könne vollkommen machen; hingegen dasjenige sorgfältig zu meiden, wodurch wir und unser Zustand in Unvollkommenheit gerathen möchten?

Wer bey allem, was ihm begegnet, unempfindlich ist, der wird vieles, das zu seiner und seines Zustandes Vollkommenheit etwas beytragen könte, verscherzen. Wer so leichtsinnig ist, daß er sich nicht darum bekümmert, ob er etwas, das ihn und seinen Zustand vollkommen machen könte, verscherze oder nicht, der bemüht sich nicht nach dem natürlichen Gesetze zu leben; folglich trachtet er nicht, eine Fertigkeit zu erlangen, sein Thun und Lassen naturmässig einzurichten; mithin suchet er nicht tugendhaftig und nach desZeno Vorschrift glückseelig zu werden.

Vieleicht finden sich einige, welche dafür halten, Zeno habe eine ganz andere Idee von der Tugend gehabt, als ich; dannenhero stimmte dasjenige, was ich anjetzo angeführet, zwar mit meinen, nicht aber mit des Zeno Begriffen überein.

Allein ich hoffe, sie werden diese Meinung fahren lassen, wenn sie sich die Mühe geben nachzuforschen, [424] wodurch Zeno die größte Glückseligkeit zu erlangen gesucht hat. Lehret er nicht ausdrücklich, man müßte der Natur gemäß leben, wenn man der größten Glückseligkeit wolle theilhaftig werden?

Mir ist dieses anders gesagt, als, man müsse eine Fertigkeit zu erlangen suchen, sein Thun und Lassen nach dem Gesetze der Natur einzurichten, wenn man wahrhaftig wolle glückselig heisen. Denn wie kan einer der Natur gemäß leben, wenn er sich nicht bemühet, diejenigen Pflichten, worzu ihn das Gesetz der Natur verbindet, zu beobachten? Was entstehet aber aus einer solchen steswährenden Bemühung anders, als eine Fertigkeit? Hieraus erhellet klärlich, daß Zeno mit mir einerley Begrif von der Tugend gehabt habe, und folglich auch von Ausrottung derer Leidenschaften einer ganz andern Meinung gewesen sey als man bey seinen Nachfolgern Antrift.

Ich würde mich vielleicht von meinem Entzweck zu weit entfernen, wenn ich alle Sätze dieses grundgelehrten Philosophens allhier anführen, und wie genau sie mit denen bereits erwehnten, übereinstimmen, darthun wolte. Es wird genug seyn, wenn ich noch einen einzigen beyfüge, nehmlich die Lehre von Bestrafung derer Verbrechen. Zeno hielte davor, alle Verbrechen wären einander gleich zu schätzen, sie möchten groß, oder geringe seyn, dahero sie auch einerley Bestrafung verdienten.

So gewiß Zeno diese Gedanken von denen Verbrechen gehabt; so wenig stimmen sie mit der gänzlichen Ausrottung derer Leidenschaften überein. Wer unempfindlich ist, und sich von keiner Sache, die ihm begegnet, sie sey angenehm oder unangenehm, gut oder böse, auf einige Art und Weise rühren läßt; der wird so wohl die Pflichten gegen sich [425] selbst als gegen seinen Nächsten aus den Augen setzen. Thut er dieses, so handelt er wieder das natürliche Gesetz; folglich macht er sich eines Verbrechens schuldig, mithin verdienet er deßwegen bestraft zu werden.

Ein Exempel wird dieses deutlicher machen: Ich setze den Fall: Es siehet ein Philosoph seinen Nächsten Noth leiden, er ist auch in dem Stande ihn aus seiner Noth zu erretten, allein er bleibet unempfindlich, läßt sich die Noth seines Nächsten nicht rühren, entziehet ihm seine Hülfe, wird verursachet dadurch, daß dieser in seinem Elende umkommen muß. Wie kan ich sagen, daß ein solcher Philosoph die Pflichten gegen seinen Nächsten, worzu ihm das natürliche Gesetz verbindet, beobachtet habe? Muß ich nicht vielmehr seine Unempfindlichkeit als ein grosses Verbrechen ansehen, daß auf die nachdrücklichste Art zu bestrafen sey?

Eine gleiche Beschaffenheit hat es auch mit der Unempfindlichkeit, die ein Philosoph gegen sich selbst bezeuget, indem er der Pflicht, die er sich nach dem Gesetz der Natur selbst schuldig ist, vergisset, und folglich ein strafbares Verbrechen begehet. Wer solte nun glauben, daß Zeno eine solche gänzliche Unempfindlichkeit und Ausrottung aller Leidenschaften, wie seine Nachfolger von einem Philosophen erfordern, verstanden habe? Würde er sich nicht selbst widersprechen, und dasjenige, was er von denen Verbrechen und derselben Bestrafung behauptet, durch diese Meinung über den Haufen geworfen haben; Gewiß, wer dieses ohne Vorurtheil überleget, wird den vortrefflichen Zeno von allen denen Thorheiten, die seine Schüler in diesem Stücke [426] begangen, und noch begehen, völlig lossprechen, und seine Gedanken von Austilgung derer Leidenschaften nach dem Sinn seiner andern Lehr-Sätze beurtheilen müssen.

Ein anders ist, sich in denen Leidenschaften zu mäßigen, und so viel als möglich von denen unordentlichen Gemüths-Bewegungen loszureisen suchen; ein anders ist, alle Empfindlichkeit aus seinem Gemüthe zu verbannen. Und alles, was einem begegnet, mit einer hartnäckigen Gleichgültigkeit ansehen. Jenes ist die Meinung des unvorgleichlichen Zeno, mit welcher alle unsere heutige Philosophen übereinstimmen; Dieses aber sind die Gedanken derjenigen, die sich zwar vor des Zeno Nachfolger ausgeben, nichts weniger aber als diesen Namen verdienen, indem sie nicht allein von seiner Lehre gänzlich abweichen, sondern auch dieselbe auf die schändlichste Art verkehren und verdrehen.

So sehr ich demnach den grundgelehrten Zeno, und unsern grösten Philosophen wegen Mäßigung und möglichster Uberwindung derer Leidenschaften beypflichte; so wenig kan ich seinen unwürdigen Schülern das Wort sprechen, und ihre Meinung, mit welcher die Unmöglichkeit schlechterdings streitet, billigen.

Ich habe bereits oben einige Gründe einfliessen lassen, welche beweisen, daß ein Philosoph nicht allezeit bey demjenigen, was ihm begegnet, ein Stoicker seyn könne. Es ist also nicht nöthig, dieselben allhier zu wiederholen. Es wird gnug seyn, wenn ich diesen schon angezeigten Gründen, noch einige andere beyzufügen suche.

Wer die Menschen nach ihren verschiedenen Temperamenten [427] betrachtet, wird gar leicht begreifen, daß mancher nach Beschaffenheit seines Temperamentes eine Sache geringe schätzen könne, die der andere, vermöge seines Temperaments kaum gnug zu loben und hochzuachten weiß. Einem Menschen von Cholerischen Temperamente ist es ein leichtes, denen Reitzungen der Liebe zu wiederstehen, besonders, wenn er siehet, daß seine Ehre dadurch könte Schiffbruch leiden. Dahingegen ein sogenanter Sanguineus sein Gemüthe, in Ansehung der Ehre gar leicht zufrieden sprechen kan, vornehmlich wenn sein Vergnügen darunter leiden könte. Ja, ein Melancholicus wird sich weder um Ehre noch um Wollust bekümmern, wenn er seinem Vermögen den geringsten Abbruch thun soll.

Diesemnach ist es wohl möglich, daß ein Cholericus seinen Gemüths-Bewegungen in der Begierde zur Wollust und Reichthum; ein Sanguineus in der Begierde zur Ehre und Wollust mäßigen, ja wol gar unterdrücken könne; daß aber ein Cholericus die Verletzung seiner Ehre, ein Sanguineus die Hindernisse in seiner Liebe, und wollüstigen Vergnügen, der Melancholicus die Beraubung seiner Güter mit einer Stoischen Unempfindlichkeit solte ansehen können, solches ist schlechterdings unmöglich. Ich sage mit einer Stoischen Unempfindlichkeit. Sintemahl ich nicht läugne, daß ein Mensch, er mag nach seinem Temperament beschaffen seyn, wie er will, denen aufsteigenden Begierden, auf eine nachdrückliche Art widerstehen könne. Daß er aber dieselben gänzlich zu unterdrücken vermögend sey, solches ist wider seine Natur, und folglich schlechterdings unmöglich.

So wenig ein Mensch, vermöge der natürlichen [428] Beschaffenheit seines Leibes, ohne alle Speise und Trank leben kan, so wenig kan er in Ansehung seiner Seele ohne alle Empfindung seyn. Wer von einem Menschen verlanget, daß er ganz unempfindlich seyn soll, der will haben, er solle sein menschliches Wesen ablegen und eine leblose Creatur werden: Sintemal alle Thiere, sie mögen vernünftig oder unvernünftig seyn, von denen leblosen Creaturen, durch die Empfindlichkeit unterschieden werden. Denn wo kein Leben ist, da ist keine Empfindung, und wo keine Empfindung ist, da ist auch kein Leben. Ein Baum mag noch so viel Schläge von der Axt bekommen, so wird er dennoch keine Empfindung spüren lassen; dahingegen der geringste und kleinste Wurm bey der geringsten Verletzung sich krümmen und winden, und also seine Empfindung an den Tag legen wird.

Wie solte denn ein Mensch, der wegen der vernünftigen Seele, die in ihm wohnet, und vermöge welcher er das angenehme von dem unangenehmen, das nützliche von dem schädlichen, das erfreuliche von dem verdrüßlichen, das Gute von dem Bösen, so weislich unterscheiden kan, bey allem, was ihm vorfällt, unempfindlich seyn können?

Die Begebenheiten, so uns Menschen ganz unverhofft und ausserordentlich zustossen, sind von weit grösserem Eindruck, als diejenigen, deren wir schon gewohnet sind, weil sie uns täglich vorfallen. Eine unverhoffte glückselige Begebenheit erwecket eine jählinge Freude, ehe wir noch im Stande sind dieselbe zurück zu halten; dahingegen eine ausserordentliche unglückliche Begebenheit eine nicht wenige geschwinde Traurigkeit in unserm Gemüthe hervorzubringen vermögend ist. Ein jeder Mensch, er mag[429] seine Affecten noch so wohl mäßigen und zwingen können, wird dieses zugeben müssen, wenn er anders aufrichtig handeln, und dasjenige, was in seinem Gemüthe vorgehet, ohn Heucheley entdecken will.

Gleichwie nun ein Philosoph, weil er ein Mensch ist, denen ersten Bewegungen seiner Seele eben so wenig, als ein anderer Mensch wiederstehen kan; also kan er auch unmöglich das Gute und Angenehme, so ihm zustößt, ohne Vergnügen; das Böse und Unangenehme aber ohne Mißvergnügen ansehen.

Ich will mich hierbey nicht länger aufhalten, sondern weiter gehen, und nunmehr beweisen, daß ein Philosoph bey allem, was ihm begegnet, kein Stoicker seyn dürffe.

Wo ist jemahls ein Philosoph gewesen, der das natürliche Gesetz in Zweifel gezogen hätte? Da nun ein jeder Philosoph durch die Vernunft einen Unterschied zu machen weiß, unter demjenigen, was ihm nützlich und was ihm schädlich ist; so erkennet er auch aus dem Gesetzte der Natur, daß er verbunden ist, das Nützliche zu erwehlen, und hingegen das Schädliche zu fliehen und zu verabscheuen. Will er nun bey allen Glücks- und Unglücks-Fällen ein Stoicker seyn; das ist: alles was ihm begegnet, es möge zu seinem Nutzen, oder Schaden gereichen können, mit einer hartnäckigten Unempfindlichkeit betrachten und ansehen; so wird er weder das nützliche erwehlen, noch das Schädliche fliehen und verabscheuen; folglich wird er zeigen, daß er weder seine Vernunft zu gebrauchen, noch dem Gesetze der Natur gemäß zu leben wisse.

Ferner erkennet ein Philosoph, aus dem Lichte der Natur, daß er nicht von sich selbst entsprungen sey, sondern sein Wesen einem höhern und unendlich vollkommenen [430] Wesen zu danken habe. Er bemerket weiter, daß sein allmächtiger Schöpfer zugleich sein liebreicher und gnädigster Erhalter sey. Hieraus schließt er, daß er seinem Schöpfer und Erhalter, vor alle das Gute, so er ihm erzeiget, den innigsten Dank abstatten und folglich auch bey allen denen glücklichen Begebenheiten, die ihm durch Gottes Zuschickung begegnen, nicht unempfindlich seyn müsse. Denn woferne er keine Freude und Vergnügen über die Wohlthaten, die ihm durch Gottes Güte zuwachsen, in seinem Gemüthe empfindet, so kan es nicht anders seyn, er wird vergessen die schuldigste Danksagung davor abzulegen.

Dieses aber wäre eine höchst-schändliche und sündliche That, wodurch er seinen Schöpfer auf das gröblichste beleidigen würde. Ohne Gottes Zulassung kan uns auf der Welt nichts widriges begegnen. Wir wissen auch, daß wir durch die Abweichung von dem Gesetze, das Gott in unser Herze eingepflanzet, sehr viele Strafen verdienen. Begegnet uns nun etwas widriges, und wir sind darbey ganz unempfindlich, so, daß wir auch nicht die geringste Betrübniß darüber blicken lassen; so geben wir dadurch zu erkennen, daß wir uns vor Gott nicht fürchten/ und die gerechten Strafen, die er über uns ergehen läßt, vor nichts achten. Wir werden dadurch abgehalten, unsere Verbrechen zu erkennen und zu bereuen; solches aber wird zu nichts anders dienen, als den Zorn Gottes nur desto stärker wider uns anzufeuren.

Gleichwie aber alles dieses einen Philosophen nicht nur unanständig ist/ sondern auch mit denen Pflichten gegen Gott, und gegen sich selbst, die er aus dem Gesetze der Natur zu erkennen fähig ist/ streitet; so folgt hieraus nothwendig, daß ein Philosoph [431] nicht ganz und gar unempfindlich seyn dürffe.

Sich selber zu schaden, da man doch solches hintertreiben könte, ist ohne Zweifel die gröste Thorheit, die man nur erdenken mag, und viel eher von einem Menschen, der seinen Verstand verlohren hat, als von einem Philosophen zu vermuthen. Wer dieses in genauere betrachtung ziehet, wird gar leicht erkennen, was von einem Philosophen, der ohne alle Leidenschaften seyn will, zu halten sey. Denn man bedenke nur, wie vielen Verfolgungen ein solcher Mensch ausgesezt bleibe? Ein jeder wird sich bemühen dessen Geduld auf die Probe zu setzen. Die muthwillige Jugend wird ihn vor einen Menschen ansehen, an dem sie sich durch allerhand ungebührliche Beleidigungen belustigen könne. Auf diese Art wird er aller Welt zum Spotte dienen. Niemand wird sich selber bey solchen Fällen, da er nothwendig Hülffe bedarf, annehmen, weil er sich anderer Leute Unglück nicht rühren lassen.

Ein Mensch ist nicht allein schuldig, Gott und sich selbst zu dienen; sondern er muß auch dem gemeinen Wesen nützliche Dienste zu erweisen trachten, sonst ist er nicht werth den Namen eines Menschen zu führen. Wie will er aber dem gemeinen Wesen Nutzen schaffen, wenn er gantz und gar unempfindlich ist; Gewiß, ihm wird weder die Aufnahme desselben zu Herzen gehen; noch der Verfall desselben einigermassen rühren; folglich wird er sich nicht bestreben dessen Aufnahme zu befördern; noch dessen Verfall zu verhindern; mithin wird er ein unnützes Glied der Menschlichen Gesellschaft seyn.

Ich würde alhier noch vieles beyzufügen haben/wenn ich die Gränzen, so ich mir gesetzet, überschreiten [432] wolte. Inzwischen hoffe, es werde das Wenige, so ich anjetzo angeführet, schon genug seyn, einen jedweden zu überzeugen, daß ein Philosoph nicht allezeit bey demjenigen, was ihm begegnet, ein Stoicker seyn könne, vielweniger seyn dürffe.

Ich schliesse dannenhero, und erinnere mich der Schuldigkeit, welche mir befiehlet, Ihnen, Hochgeehrteste Herren, bey diesem vergnügten Jahres-Wechsel so wohl meine gehorsamste Danksagung vor die Ehre, so mir Dieselben bishero so gütigst zu erzeigen, beliebet haben, abzulegen; wie auch meinen ergebensten Glückwunsch nach Art aller derjenigen, welche bey dieser angenehmen Zeit keine Stoicker sind, beyzufügen.

Allein auf was Art soll ich dieses ins Werk richten, da ich mich nicht stark genug befinde, meine Feder, welche noch ganz ungeübt ist, geschickt zu führen? Gleichwohl richtet mich das feste Vertrauen, zu Ewr. Hochedelgeb. bekannten Gütigkeit und Ubersehung meiner Schwachheit, kräftig auf. Diesemnach danke ich Ihnen Hochgeehrteste Herren hiermit öffentlich, vor die geneigte Aufnahme meiner geringen Schriften; wie auch vor die gütigsten Urtheile, so Dieselben von meiner schlechten Arbeit bishero zu fällen Sich beflissen haben. Hiernächst füge ich noch diesen herzlichen Wunsch bey: Daß die ewige Vorsicht Dieselben allerseits in ihren mächtigen Schutz nehmen, und wieder alle Gefährlichkeit, und Verletzung Ihrer Ruhe und Zufriedenheit gnädigst beschützen wolle. Die höchste Güte segne Dero Vornehmen und gelehrte Arbeit, damit Dieselben fernerhin der gelehrten Welt, und dem gemeinen Wesen so vieles Vergnügen, [433] Vortheil und Nutzen, wie bishero geschehen, verschaffen mögen.

Wie ich denn in dieser Absicht die höchste Majestät Gottes ersuche, daß sie Ihnen auch in diesem Jahre, die vollkommenste Gesundheit des Leibes mittheilen, und Dieselben vor allen Krankheits- und Unglücks-Fällen gnädigst behüten wolle. Ich aber wünsche mir nichts mehr, als die Geschicklichkeit zu erlangen, Ihnen etwas angenehmers und bessers aufzusetzen, und einzusenden, als in dem vorigen Jahre geschehen, damit es so wohl Ew. Hochedelgeb. als auch andern Kennern der Wissenschaften gefallen möge.

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TextGrid Repository (2012). Zäunemann, Sidonia Hedwig. Gedichte. Poetische Rosen in Knospen. Lob- Ehren- und Glückwünschende Gedichte. Sendschreiben an die Herren Verfasser derer Hamburgischen Berichte. Sendschreiben an die Herren Verfasser derer Hamburgischen Berichte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-AD2F-4