82. Auf seinen innig-geliebten Bruder, Melchior Nitschmann, Aeltesten zu Herrnhut, als er seinen 24jährigen Lauf im Gefängnis geendet

1729.


Wo gingt ihr hin, wo kamt ihr her,
Ihr grünende Gebeine:
Dir nach, Du Ober-Aeltester
Der heiligen Gemeine;
Sie kamen aus der Friedens-Stadt,
Von Seelen-Hunger müd und matt.
Gelobet sey dein muntrer Gang,
Und deiner Füsse Rauschen,
Du wilst die Freyheit gegen Zwang,
Für Unruh, Ruhe tauschen.
Es ist der Welt die höchste Noth:
Geh hin, du bist ein guter Bot.
Du weißst, wohin der Eifer reicht
Der blinden Pharisäer,
Wo man um Land und Wasser zeucht,
Und treibt das Werk nicht höher,
Als daß ein Thor den andern macht,
Ein Träumer bey dem andern wacht.
Die Pharisäer wurden alt
Bey ihrem Lasten binden:
Der Heiland sagte nicht so bald:
Kommt Menschen! Ruh zu finden,
So war die ganze Hölle auf,
Und hemmete des Lehrers Lauf.
Mein Bruder! kennst du deinen Weg?
Er geht ins Todes Rachen;
[228]
Das ist der allgemeine Steg
Für die, so Friede machen:
Bleib da; du kanst nicht; Ey so geh!
Durchs Todes-Thal zur Lebens-Höh.
Nur fliehe die Gelegenheit,
Die deine Ehre schändet:
Der Feind bemüht sich allezeit,
Damit ers also wendet,
Daß, wers mit Christo treulich meynt,
Um Uebelthat zu leiden scheint.
Wie wir gedacht, so ists geschehn:
Du bist dahin gegangen:
Der Feind hat sich die Zeit ersehn,
Und hat dich aufgefangen,
Noch eh' du das Gebiet erreicht,
Wohin dich Trieb und Zug geneigt.
Was hat die Schlange für Gewinn?
Die alte Thörin lachte:
Sie wußte nicht, daß ohnehin
Die morsche Hütte krachte,
Und daß der Geist ihr Ehren-Bett
Mit diesem Lauf bestellet hätt.
Dein Mitknecht fehlt. Er höret kaum,
Daß Schmidt und Nitschmann sitzen,
So läßt er seiner Regung Raum,
Und übersieht die Ritzen,
Durch die ein Geist zur Ruh gestrekt,
Den Weg des Herrn gar bald entdekt.
Dein Mitknecht eilt, um Christi Ruhm
In deinen Leidens-Ketten,
Vor Obrigkeit und Priesterthum
Bald öffentlich zu retten,
Bezeuget seinen Bund mit dir,
Und bringet deine Unschuld für.
[229]
Allein in kurzem sahe man,
Was unser König wolte,
Er merkte der Gemeine an,
Was Nitschmann bey ihr golte,
Er wußt, es wär in Freud und Schmerz,
Sein Herz und meins als wie Ein Herz.
Drum mußtest du dich auf dein Wort
In Mähren 1 nicht besinnen,
An einem unbezielten Ort
Viel Volk durchs Wort gewinnen;
Wir dachten, du wärst hie und da,
Und war dein Lehr-Stuhl doch so nah.
Mein Bruder! wer erkennet dich,
Und deinen Creutz-Gesellen?
Der Heilgen Weg ist wunderlich,
Und schwerlich vorzustellen;
Wer glaubts, daß ihr nach Seelen zielt,
Und nicht mit Meynungs-Lappen spielt?
Wohlan! die Lieb ist schon vergnügt,
Ihr leidet unverschuldet,
Und du, mein Bruder! hast gesiegt,
Nachdem du auserduldet;
Dein Grab hat meines Willens Nacht
Begraben, und mir Licht gemacht.
Geh hin, du muntrer Zeuge, geh!
Des Bischofs ohne gleichen,
Du Ueberwinder ohne Weh,
Du Vater vieler Reichen,
Fahr hin, du treues Bruder-Herz;
Verlisch der Welt, du Himmels-Kerz.
[230]
Ihr Bürger in der Herrenhut,
Ihr von des Herren Volke,
Ihr Funken von der Zeugen Gluht,

Ebr. 12.

Ihr Tropfen jener Wolke,
Verstärket die geehrte Schaar
Der Seelen unter dem Altar.
Dem Kaiser, was des Kaisers ist,
Und Gotte gebt, was Gottes;
Den Brüdern Herzen ohne List,
Dem Herrn ein Haupt voll Spottes,
Der Heilgen ihre Bande küßt,
Und fahret hin, wo dieser ist.

Fußnoten

1 Er hatte bey seinem Abschiede versprochen, auf seiner Durchreise durch Böhmen und Mähren sich nicht einzulassen, weil es nicht der Zwek seiner Reise war.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von. Gedichte. Teutsche Gedichte. 82. Auf seinen innig-geliebten Bruder, Melchior Nitschmann. 82. Auf seinen innig-geliebten Bruder, Melchior Nitschmann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-B9C2-8