475. Warum die Grevismühlener Krähen heißen.

In uralten Zeiten kannten die Grevismühlener noch keine Węsbäume. Darum hatten sie ihre liebe Noth, wenn Korn oder [346] Heu eingefahren wurde. Eines Tages kam ein Fremder in die Stadt und erzählte einem Grevismühlener Stadtkinde, bei ihm zu Hause hätte man Węsbäume. Das schrieb sich unser Stadtkind hinter die Ohren. Als nun die Ernte vor die Thür kam, hatte er nichts Eiligeres zu thun, als bekannt zu machen, er habe ein Instrument erfunden, das leiste beim Einfahren des Kornes oder Heues große Dienste; man könne die Fuder so hoch laden, wie man wolle, und verloren gehe kein Spierchen. Er bestimmte einen Tag, an dem seine Mitbürger mit eigenen Augen die wundersame Erfindung schauen sollten. Der bestimmte Tag kam heran, und was von den Grevismühlenern Beine hatte, eilte hinaus auf den Acker des Erfinders. Das Fuder wurde geladen, so hoch, wie die Grevismühlener noch keines gesehen hatten und der Węsbaum hinaufgebracht. Aber der kluge Erfinder band den Baum nicht der Länge nach aufs Fuder, wie's doch jeder rechtschaffene Christenmensch thut, sondern verquer, so daß die Enden des Baumes rechts und links vom Wagen abstanden, wie ein Paar ausgebreitete Riesenarme. Die Fahrt ging ab und das Fuder kam glücklich bis ans Thor. Da aber war Holland in Noth – der Węsbaum wollte den Wagen nicht hindurchlassen. Da stand denn die ganze Bürgerschaft und rathschlagte, wie es nun werden solle. Da flog eine Krähe vorüber und schrie ›Scharp, scharp, scharp vör! scharp vör!‹ Da legte, was der oberste Rathsherr war, den Finger an die Nase und sagte auf plattdeutsch ›Holt still, de Kreih hett Recht; scharp vör möt 't.‹ Und geht zu dem Erfinder und sagt ›De Kreih hett Recht; scharp vör möt 't.‹ Da geht auch diesem ein Licht auf, und er sagt ›Ja, Herr Rathsherr, sei hett Recht!‹ Sogleich steigt er auf den Wagen und legt das scharfe Ende des Baumes vor. Und richtig! der Wagen fährt ohne Ruck und Zuck durch das Thor.


Vgl. L. Kreutzer bei Niederh. 4, 241 ff.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Bartsch, Karl. Märchen und Sagen. Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg. Erster Band: Sagen und Märchen. Sagen. 475. Warum die Grevismühlener Krähen heißen. 475. Warum die Grevismühlener Krähen heißen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-ED88-F