293. Traum von der Brücke.

1.

Dem Freischulzen zu Holldorf wird von der Regierung sein kaiserlicher Lehnbrief abverlangt, um sein Eigenthumsrecht an dem Schulzenhof nachzuweisen. Er kann ihn aber nicht finden. Noch einmal wird ihm ein Termin gesetzt, an welchem er entweder den Lehnbrief vorzeigen oder den Schulzenhof abtreten müsse. Da träumt ihm eines Nachts, er solle nach Berlin reisen, dort von einer bestimmten Brücke in die Spree sehen und er werde seinen kaiserlichen Lehnbrief finden. Am nächsten Morgen erzählt er seiner Frau von dem Traume, aber die will nichts davon wissen. In nächster Nacht träumt ihm dasselbe. In der dritten Nacht derselbe Traum. Nun läßt sich der Schulze nicht länger halten, er macht sich reisefertig und kommt auch glücklich in Berlin an. Bald hat er die im Traum wahrgenommene Brücke gefunden und stiert nun von ihr in die unten fließende Spree. Aber was er nicht sieht, das ist sein kaiserlicher Lehnbrief. Da kommt endlich ein Herr auf ihn zu und fragt, was er denn eigentlich hier zu sehen habe. Der Schulze erzählt ihm, daß ihm geträumt habe, er solle von dieser Brücke in die Spree sehen, da werde er ein Papier finden, durch welches er sein Glück mache. Der Fremde ist verwundert darüber und erzählt ihm gleichfalls, wie merkwürdig es doch sei, daß er auch mehrmals nacheinander geträumt habe, er solle nach einem Dorfe Namens Holldorf gehen, in dem Schulzengarten daselbst stehe ein alter hohler Baum, in dem werde er einen Schatz finden. Aber er wisse nicht, wo das Dorf liege, und so könne er den ihm zugedachten Schatz nicht heben. Halt, dachte der Schulze, da findest du gewiß deinen Lehnbrief, und indem er dem fremden Herrn sagte, daß sie wohl Beide durch ihren Traum angeführt seien, machte er sich sobald als möglich auf den Rückweg, und zu Hause angekommen, untersuchte er den hohlen Baum und siehe da! er fand seinen kaiserlichen Lehnbrief. Als nun an dem festgesetzten Tage die Herren von der Regierung ankamen, um von dem Hof Besitz zu nehmen, trat er ihnen an der Heckenthüre entgegen und hielt triumphirend sein Papier in die Höhe und sagte ›Hir is't, un keen Düwel sall mi nu min'n Schultenhof nehm'n.‹


F.C.W. Jacoby bei Niederh. 4, 199ff.

[226] 2.

Einem armen Bauern träumte in drei aufeinanderfolgenden Nächten, er solle sich nach Hamburg auf eine bestimmte Brücke begeben, da werde er einen großen Schatz finden. Am Morgen des vierten Tages theilte er seiner Frau den Traum mit, wurde aber von ihr ausgelacht. Er aber machte sich auf den Weg und erreichte, Tag und Nacht durch gehend, endlich Hamburg. Hier suchte er sich die Brücke auf und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Lange wollte nichts erscheinen, da endlich kommt ein Mann dahergegangen, der ihm auf den ersten Blick bekannt erscheint, und bald stellt sich heraus, daß der Fremde ein vor vielen Jahren von Hause gegangener Landsmann des Bauern ist. Auf seine Frage, was ihn nach Hamburg führe, erzählt ihm der Bauer seine Träume. Verwundert ruft Jener aus ›Auch mir hat in drei Nächten derselbe Traum geträumt, nämlich daß in deinem Garten unter dem großen Apfelbaume ein Schatz verborgen sei.‹ Sofort machte sich der Bauer auf den Rückweg. Als er zu Hause angekommen, ließ er seine Frau schelten so viel sie wollte. In der Nacht grub er unter dem Apfelbaume nach. Bald stieß er auf einen harten Gegenstand und hebt eine Kiste mit Geld aus der Oeffnung. Dieselbe ist eine Tafel mit ihm unbekannten Schriftzügen. Seinen Fund verschwieg er, nur die Tafel diente fortan als Wandschmuck in der Stube des Bauern. Da führte der Zufall einmal einen reisenden Studenten in die Wohnung. Sein Auge fiel auf das Bild. Er fragt den Landmann, wie er in den Besitz desselben komme. Um nicht die Geschichte von dem Schatze zu verrathen, sagt er, daß er dasselbe aus der Erbschaft seines Vaters habe. Der Student liest jetzt auf die Bitte des Bauern ›Unter diesem Schatz liegt ein noch viel größerer Schatz verborgen.‹ Jetzt wußte der Bauer genug. In der folgenden Nacht findet er an der vorigen Stelle einen Schatz, der ihm und seinen Nachkommen ein ansehnliches Vermögen sicherte. Die Tafel aber zierte von Kind zu Kind die Stubenwand.


Lehrer F. Haase in Rostock; vgl. Müllenhoff S. 206.


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TextGrid Repository (2012). Bartsch, Karl. 293. Traum von der Brücke. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-F10E-D